Selbsterfahrung in der Gruppe - Wolfgang Schmidbauer - E-Book

Selbsterfahrung in der Gruppe E-Book

Wolfgang Schmidbauer

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Beschreibung

Psychoanalytisch orientierte Gruppenarbeit bietet – im Unterschied zu vielen modischen Schnellkursen – fundierte Möglichkeiten, sich selbst besser kennenzulernen, seine Verhaltensweisen zu analysieren, um sie bewußt steuern zu können. Im Gegensatz zur Einzelanalyse nach Freudschem Vorbild hat die Gruppenanalyse für den einzelnen Teilnehmer den Vorteil, sich selbst mit Hilfe der anderen erfahren zu können und zugleich für den Selbsterkennungsprozeß der anderen notwendig zu sein. Gemeinsames Bemühen ersetzt die Isolation auf der Couch, gegenseitiger verbaler und emotionaler Austausch den einsamen Monolog. Wolfgang Schmidbauer hat als Gruppenleiter und Ausbilder in der «Gesellschaft für analytische Gruppendynamik» profunde Kenntnisse über die Dynamik in Selbsterfahrungsgruppen gesammelt und setzt sich mit den einzelnen Phasen auseinander. Er informiert über notwendige Aktivitäten des Gruppenleiters und über mögliche Fehlentwicklungen, wenn dieser Einsatz unterbleibt. Außerdem über: • Ausbildung zum Gruppenleiter • Verschiedene Formen der Gruppenanalyse • Analytische Gruppendynamik: Vorsorge oder Schädigung • Entwicklungsgeschichte der Gruppenbildung • Die Paarbildung und die spezifisch menschlichen Gruppenformen. So entsteht ein lebendiger und durch viele Fallbeispiele anschaulich gemachter Überblick über Theorie, Praxis und Ergebnisse der Gruppenselbsterfahrung.

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Seitenzahl: 417

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Wolfgang Schmidbauer

Selbsterfahrung in der Gruppe

Theorie, Praxis, Ergebnisse analytischer Gruppendynamik

Ihr Verlagsname

Unter Mitarbeit von Siegfried Gröninger, Hans Kemper, Heinrich Küfner und Christian Maul

Über dieses Buch

Psychoanalytisch orientierte Gruppenarbeit bietet – im Unterschied zu vielen modischen Schnellkursen – fundierte Möglichkeiten, sich selbst besser kennenzulernen, seine Verhaltensweisen zu analysieren, um sie bewußt steuern zu können. Im Gegensatz zur Einzelanalyse nach Freudschem Vorbild hat die Gruppenanalyse für den einzelnen Teilnehmer den Vorteil, sich selbst mit Hilfe der anderen erfahren zu können und zugleich für den Selbsterkennungsprozeß der anderen notwendig zu sein. Gemeinsames Bemühen ersetzt die Isolation auf der Couch, gegenseitiger verbaler und emotionaler Austausch den einsamen Monolog.

Wolfgang Schmidbauer hat als Gruppenleiter und Ausbilder in der «Gesellschaft für analytische Gruppendynamik» profunde Kenntnisse über die Dynamik in Selbsterfahrungsgruppen gesammelt und setzt sich mit den einzelnen Phasen auseinander. Er informiert über notwendige Aktivitäten des Gruppenleiters und über mögliche Fehlentwicklungen, wenn dieser Einsatz unterbleibt. Außerdem über:

• Ausbildung zum Gruppenleiter

• Verschiedene Formen der Gruppenanalyse

• Analytische Gruppendynamik: Vorsorge oder Schädigung

• Entwicklungsgeschichte der Gruppenbildung

• Die Paarbildung und die spezifisch menschlichen Gruppenformen.

So entsteht ein lebendiger und durch viele Fallbeispiele anschaulich gemachter Überblick über Theorie, Praxis und Ergebnisse der Gruppenselbsterfahrung.

Über Wolfgang Schmidbauer

Wolfgang Schmidbauer, geboren 1941 in München, studierte Psychologie und promovierte 1968 über «Mythos und Psychologie». Heute ist er als Therapeut, freier Schriftsteller und Journalist tätig. Er schrieb u.a.: «Seele als Patient» (1971), «Erziehung ohne Angst» (1972), «Die sogenannte Aggression» (1973), «Sensitivitätstraining und analytische Gruppendynamik» (1973) und «Die hilflosen Helfer» (1977).

Inhaltsübersicht

VorwortI. EinleitungII. Die Fassade und das KindIII. Übertragung und WiderstandIV. Grundsituationen in der S-GruppePhasen der Gruppenentwicklung I: Abhängigkeit und RückzugExkurs: Der Zusammenhang von Abhängigkeit, Regression und idealisierender BeziehungPhasen der Gruppenentwicklung II: Abhängigkeitsprotest, Kampf und FluchtLösungen in der GruppeDas Hochgefühl (Bezauberung–Flucht; Pairing nach Bion)Erscheinungsformen des HochgefühlsZur Bewertung des HochgefühlsV. Der Traum in der GruppeVI. Gruppenphantasien – Co-Autor: Siegfried GröningerVII. Agieren in der SelbsterfahrungsgruppeRationalisierung und PsychoanalyseAgieren und die Aktivität des LeitersVIII. Die Aktivitäten des LeitersDie «Abstinenz» des LeitersIX. Anwendungsformen einer emanzipatorischen GruppendynamikDer «freie Markt» der GruppendynamikGruppendynamische Wochenenden: Technische FragenKlausurtagungenLangfristige S-Gruppen an WochenendenLangfristige Gruppen in wöchentlichem TurnusBerufsbezogene Gruppendynamik (Balint-Modell)PartnergruppenDie Arbeit in InstitutionenX. Die Ausbildung zum GruppenleiterXI. Die Grenze zwischen Selbsterfahrung und TherapieXII. Ergebnisse analytischer Selbsterfahrungsgruppen – von Hans Kemper, Heinrich Küfner und Christian MaulDie Erwartungen an analytische GruppenarbeitAuswirkungenAnalytische Gruppendynamik: Schädigung oder Vorsorge?Anhang IDie Entwicklungsgeschichte der GruppenbildungDie Paarbindung und die spezifisch menschlichen GruppenformenAnhang IITabellenLiteraturverzeichnisDie MitautorenNachwortPersonenregisterSachregister

Vorwort

Ziel dieses Buches ist, eine praxisnahe Einführung in die Arbeit mit psychoanalytisch orientierten Selbsterfahrungsgruppen zu geben. Sie richtet sich aber nicht nur an die Leiter solcher Gruppen, sondern auch an alle Interessierten, vor allem in den sozialen Berufen. Die S-Gruppe scheint mir in diesem Bereich eines der wichtigsten Mittel emanzipatorischer Arbeit zu sein, das wir haben. Studenten der Pädagogik, Psychologie, Rechtskunde und Medizin sollten über diese Möglichkeit in der Erwachsenenbildung ebenso orientiert sein wie praktisch tätige Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter oder Anwälte. Um das Ziel einer möglichst anschaulichen und lebendigen Darstellung zu erreichen, habe ich zahlreiche Beispiele in den Text aufgenommen. Sie wurden so verschlüsselt, daß die Betroffenen nicht identifizierbar sind.

Meine Erfahrungsgrundlage ist die Tätigkeit als Gruppenleiter und als Ausbilder in der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik (G.a. G.), in der sich durch die Initiative von Dr. med. Hans Kemper, Dipl.-Soz. Christian Maul und Dipl.-Psych. Heinrich Küfner eine rege wissenschaftliche Arbeit entfaltet hat, über deren Ergebnisse in einem Schlußkapitel berichtet wird. Dieses Buch wäre ohne die Gruppe von Psychotherapeuten, durch deren Initiative die G.a.G. entstanden ist, ebensowenig denkbar wie ohne die aktive Mitarbeit unserer Ausbildungskandidaten. Sie haben es mir ermöglicht, als Lehrer ein Lernender zu bleiben. Neben den Genannten danke ich Dr. Edmund Frühmann, Dr. Maria Helmrich, Dr. Ursula Heim und Dr. H.G. Preuss für ihre Anteile an meiner analytischen Ausbildung. Besonders viel habe ich aus dem Dialog mit Dr. Siegfried Gröninger gelernt; ihm und den anderen, mit denen ich zusammen Gruppen geleitet und Gruppenprozesse durchgesprochen habe, schulde ich Dank für das, was sie mir sagten, und für die Art, in der sie mir zuhörten. Dazu gehören Dr. Lenore Gröninger-Enzler, Karl-Gottfried von Knobloch-Droste, Roland Fink, Dr. Alois Tafertshofer, Ulrich Herzig, Silvia Kniepkamp, Dr. Clemens Cording, Barbara Langmaak, Adolf Heimler und last not least Ursula Schmidbauer-Schleibner.

 

München, August 1976

Wolfgang Schmidbauer

I. Einleitung

Mehrere Menschen, meist acht bis zwölf, die sich treffen, um über ihre wechselseitigen Beziehungen zu sprechen, sind der Ausgangspunkt dieser Darstellung. Die Gruppen-Selbsterfahrung soll hier unter ihren verschiedenen Aspekten geschildert und analysiert werden. Dabei geht es darum, einer Antwort auf Fragen näher zu kommen, die etwa lauten: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, daß die Selbsterfahrungsgruppe nützliche Lernerfahrungen ermöglicht? Wie entwickelt sich der Gruppenprozeß? Was kann der Leiter tun, um günstige Prozesse zu fördern? Welche theoretischen Grundlagen gibt es, um solche Gruppenvorgänge zu verstehen (und damit die Voraussetzung zu gewinnen, sie auch zu verändern)? Der Untertitel zeigt, daß Gruppendynamik hier durch ein psychoanalytisches Modell erklärt wird. Die Psychoanalyse scheint aus mehreren Gründen geeignet, K. Lewins Gedanken fortzuführen. Der Ansatz des Begründers der Gruppendynamik war (vielleicht auch durch seinen frühen Tod) lückenhaft geblieben. Die abstrakte, wenig auf konkrete soziale Vorgänge anwendbare Feldtheorie stand neben den genial erdachten Experimenten. Das Verharren ausschließlich im Hier und Jetzt, so sinnvoll es als Ausgehen von der Oberfläche und Erfassen von Emotionen (im Gegensatz zu den so oft «historisierend» vorgebrachten Rationalisationen[*]) sein mag, setzt doch enge Grenzen. Es gefährdet nicht nur die Übertragbarkeit der im Schonraum des «Laboratoriums» oder der T-Gruppe gewonnenen Einsichten, sondern führt auch zur Gefahr einer Einengung der Theorie.

Mir scheint, daß die verwirrende Vielfalt der gruppendynamischen Praxis ebenso wie die in zahllose «Schulen» und Einzelstudien zerfallende wissenschaftliche Bearbeitung dieses Gebietes nicht zuletzt dadurch entstanden sind, daß ohne eine umfassende Theorie gearbeitet wurde. Eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens ist ohne die Annahme unbewußter Vorgänge nicht denkbar. Das psychoanalytische Verständnis von Beziehungen ist gewissermaßen die Grundlage, auf der eine theoretische Arbeit überhaupt erst stattfinden kann. Zugleich sind gründliche Kenntnisse der Psychoanalyse auch für alle angewandten Formen der Gruppendynamik notwendig. Eine Encounter-Gruppe, in der vorwiegend mit Übungen gearbeitet wird, kann zu einem höchst befreienden und für die meisten Mitglieder produktiven Erlebnis werden oder die Teilnehmer frustriert und verängstigt zurücklassen – je nachdem, ob der Leiter die Übungen einsetzt, um den Gruppenmitgliedern zu Einsichten und neuen Gefühls- und Denkmöglichkeiten zu verhelfen, oder ob er sie blindlings verwendet, um die eigenen Allmachtsphantasien auszuleben und spontane Gruppenprozesse, die er nicht verstehen und bearbeiten kann, immer wieder zu unterbrechen. Nach den Erfahrungsberichten in der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik ist das Gespür für das Unbewußte in der Gruppe beim Leiter die wichtigste Voraussetzung für einen konstruktiven Gruppenprozeß. Die Problematik theoretisch wenig ausgearbeiteter, praktisch-handwerklich orientierter Verfahren in der Gruppendynamik liegt darin, daß mit ihrer Hilfe häufig rasch und in kurzen Zeiträumen wirksam gearbeitet werden kann, solange sie ein Gruppenleiter handhabt, der selbst über gründliche (tiefen)psychologische Kenntnisse verfügt. Diese bleiben im Hintergrund, fließen weniger in die neue gruppendynamische Technik als in die Art ihrer Handhabung ein. In der Hand von Epigonen verlieren dann diese Werkzeuge plötzlich ihren hilfreichen Charakter, werden zu einem unproduktiven, schematischen Verfahren. Sie sind nicht mehr das Ergebnis einer umfassenden Erfahrung, die sich in wenigen, aber optimal gehandhabten Interventionstechniken ausdrückt. Sie werden vielmehr mißbraucht, um einen Mangel an Gespür für die unbewußten Vorgänge in der Gruppe zu verdecken und Gegenübertragungsreaktionen des Leiters unentdeckt zu lassen.

In einem Seminar über Transaktionsanalyse fragt eine ältere Psychologin, die einen Kurs an einer Volkshochschule abhält, den Leiter, woran es denn liege, daß ihre Gruppenmitglieder vollständig unbeeindruckt blieben, wenn sie ihnen sage, sie sollten nicht so von ihrem Eltern-Ich aus sprechen. Es wird deutlich, daß durch solche vorwurfsvollen Feststellungen die Leiterin ihre eigenen Autoritätsprobleme verhüllt. Gleichzeitig wird dadurch der Gruppenprozeß blockiert: Wo ständig eine strenge Elternfigur präsent ist, verschanzt man sich möglichst hinter dem eigenen Eltern-Ich.

Ein Gruppenleiter pflegt weibliche Gruppenmitglieder, die besonders viel Zuwendung und Aufmerksamkeit von der Gruppe verlangen, nach kurzem Abwarten mit der Bemerkung abzufertigen, sie sollten über diese hysterische Unersättlichkeit nachdenken. Er überträgt damit seine eigenen Schwierigkeiten mit einer dominierenden Mutter und einem schwachen Vater auf die betreffenden Gruppenmitglieder (Abwehr der projizierten Gefräßigkeit der Mutter; Verteidigung der introjizierten Schwäche des Vaters, rationalisiert durch die Rücksicht auf die «an die Wand gedrängten» restlichen Gruppenmitglieder).

Das letzte Beispiel zeigt, daß auch die analytische Gruppendynamik (aus der es stammt) durchaus schematisch verwendet und in den Dienst der eigenen Abwehr gestellt werden kann. Doch ist die Psychoanalyse deshalb als Grundlage der vielfältigen Anwendungsbereiche der Gruppendynamik in Theorie und Praxis anzusehen, weil sie eine systematische Analyse der Vorgänge von Übertragung und Gegenübertragung in menschlichen Beziehungen ermöglicht. In der Praxis kommt man natürlich im günstigen Fall darum herum, Übertragung und Gegenübertragung zu analysieren. Aber das theoretische Konzept muß diese Möglichkeit einschließen; sonst ist es unvollständig und bietet keinen sinnvollen Ausweg, wenn es zu Störungen kommt. In einer Zeit, die technische Zweckrationalität in vielen Lebensbereichen als höchsten Wert anerkennt, ist diese Forderung der Psychoanalyse unbequem genug.[*] Nicht wenige Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und andere Berufsgruppen, die sich mit Gruppendynamik beschäftigen, wenden sich Ansätzen im Verständnis sozialpsychologischer Fragen zu, die wissenschaftsgeschichtlich einen Rückschritt darstellen, sosehr sie sich als Befreiung von einer angeblich unwissenschaftlichen Auffassung (eben in der Psychoanalyse) hinstellen mögen. Das gilt vor allem für die an dem engen Modell der behavioristischen Lernpsychologie orientierte Verhaltensforschung und Verhaltenstherapie, aber auch für andere Versuche, die Vielfalt emotionaler und intellektueller Handlungsmöglichkeiten, bewußter wie unbewußter Zusammenhänge auf wenige handliche Formeln zu bringen. Es scheint mir hier gar nicht notwendig, den viel debattierten Gegensatz zwischen der hermeneutischen Methode der Psychoanalyse und einem positivistischen Ansatz ins Spiel zu bringen. Auch vom Standpunkt der Biologie her kann man das Verhalten lebender Systeme nur dann angemessen beschreiben, seine Gesetze erkennen und Voraussagen ableiten, wenn sämtliche wichtigen Systemeigenschaften berücksichtigt werden. Hier scheint eine ich-psychologisch und gruppendynamisch erweiterte Fassung der psychoanalytischen Theorie am ehesten in der Lage, die verwickelte Entstehung des Verhaltens von Homo sapiens zu beschreiben. Theorien, welche das Unbewußte ausklammern und den Einfluß der frühen Bezugspersonen auf die Ebene bedingter Reflexe und operanter Reaktionen festlegen wollen, ergeben allenfalls eine Schönwetterpsychologie. Sie sind dem Versuch eines Piloten vergleichbar, auf meteorologische Informationen zu verzichten, weil der Wetterbericht nicht immer zuverlässig sei, und das Radargerät auszuschalten, weil die Deutung der flimmernden Lichtpunkte nicht einfach zu erlernen ist. Solange die Sicht gut ist, die Sonne scheint und der Himmel ohne Wolken bleibt, wird sich dieser Pilot über die Bedenken seiner auf umfassende Informationen bedachten Kollegen hinwegsetzen. Aber sobald das Wetter umschlägt, fliegt er in die Irre.

 

Die Psychoanalyse hat eine lange Tradition, hat ihre konservativen und fortschrittlichen Vertreter. Sie bietet ein so weites Spektrum von Aussagen, Begriffen, therapeutischen Methoden, daß viele Begründer neuer Verfahren (vor allem in der Gruppenarbeit) ihre eigene Originalität dadurch unter Beweis zu stellen suchten, daß sie sich von «der Psychoanalyse» abgrenzten. Tatsächlich übernahmen sie größere oder kleinere Teilbereiche der psychoanalytischen Gesamtaussagen. Die Polemik gegen ein Zerrbild der «orthodoxen» oder «klassischen» Analyse diente dann dazu, die Wurzeln des eigenen Denkens autochthoner erscheinen zu lassen, als sie es waren.[*]

Die analytische Gruppendynamik sieht demgegenüber den Ansatz zu einer umfassenden und praktikablen Hilfe für Klienten mit Selbsterfahrungs-, aber auch mit therapeutischen Bedürfnissen nicht in einer polemischen Position gegen die Psychoanalyse, sondern in ihrer Ergänzung durch spezielle gruppendynamische Gesichtspunkte und Techniken. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß dieser zunächst aus pragmatischen Gründen vollzogene Schritt – die Erweiterung der Psychoanalyse zu einer Gruppenpsychologie – mit einer engeren Verbindung zwischen Psychoanalyse, Kulturanthropologie und Evolutionstheorie einhergeht.[*] Wenn dieser Weg einer Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie beschritten wird, dann zeigt sich, daß die Gegen-Positionen zur Psychoanalyse, welche viele neuere Gruppenmethoden bezogen haben, keine objektive Grundlage haben, sondern eher auf Mißverständnisse zurückzuführen sind, auf einseitige Auffassung oder das einfühlbare, subjektive Bedürfnis, sich gegenüber den erdrückenden Entdecker-Leistungen Freuds zu profilieren. Andrerseits kann das nur dann deutlich werden, wenn nicht die bisherigen, aus der Einzelsituation gewonnenen Ergebnisse, sondern die Methoden der Analyse auf Gruppenprozesse angewandt werden. Das erste Vorgehen – die Anwendung der Ergebnisse – führt zu angeblich «psychoanalytisch» begründeten Vorurteilen, wie z.B., daß in Gruppen nur das Ich (und nicht das Es) angesprochen werde, daß die Übertragung nicht durchgearbeitet und damit eine neurotische Problematik nicht behoben werden könne usw. Diese Vorurteile brachten es mit sich, daß eine gründliche, der einzelanalytischen Ausbildung vergleichbare Schulung in analytischer Gruppenpsychotherapie bisher in vielen Ausbildungsinstituten unterblieben ist. Gruppendynamisch interessierte Analytiker waren und sind teilweise bis heute auf Ausbildungswege außerhalb der offiziellen Lehrinstitute angewiesen, vor allem, wenn ihnen auch das Kostüm der traditionellen analytischen Gruppenpsychotherapie zu eng wird. Die analytische Gruppendynamik weist auf das Verbindende, auf die Gemeinsamkeiten zwischen den in der psychoanalytischen Tradition entwickelten therapeutischen Verfahren und den neuen Anwendungsmöglichkeiten in der S-Gruppe hin. Sie versucht, keine neue Schule zu begründen, die sich feindselig gegenüber dem Bestehenden abgrenzt, sondern einen integrativen Ansatz. (Hier ist z.B. zu sagen, daß viele gruppendynamische Techniken nicht mit der klassischen Einzelanalyse verglichen werden sollten, sondern weit sinnvoller mit der analytischen Kindertherapie.)

 

Forschung und wissenschaftliche Kontrolle der praktischen Tätigkeit sind unerläßlich, wenn fundierte Arbeit geleistet werden soll. Nach Lewins Motto «Nichts ist praktischer als eine gute Theorie» sollte die Psychoanalyse sich nicht in den Elfenbeinturm der hermeneutischen Disziplin zurückziehen, sondern ihren Platz unter den biologisch (im weitesten Sinn) orientierten Wissenschaften vom Menschen suchen, deren Aussagen nachgeprüft werden können und müssen. Das wichtigste Forschungsmedium ist in der analytischen Gruppendynamik die kontrollierte Beobachtung, auf der einen Seite von Gruppenprozessen, auf der anderen Seite von Folgeerscheinungen bei den einzelnen Mitgliedern. Dieser Forschungsansatz spiegelt die Grundposition wider, mit der ganzen Gruppe und mit dem einzelnen in der Gruppe gleichermaßen zu arbeiten. Wenn die spontanen Reaktionen eines von Sachaufgaben befreiten Menschen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sind, ist es nicht sinnvoll, von künstlichen Eingrenzungen wie «Analyse der ganzen Gruppe» oder «Arbeit mit dem einzelnen» auszugehen. Beide Gesichtspunkte gehören unbedingt zusammen. Manche Mitglieder einer S-Gruppe werden nur dann angemessen gefördert, wenn sich der Leiter intensiv einschaltet und in der Gruppe mit ihnen arbeitet. Für andere wäre dieses Vorgehen wenig nützlich. Das Gefühl, in einer zeitweise symbiotisch verschmolzenen Gruppe geborgen zu sein, macht den wichtigsten Inhalt ihrer Selbsterfahrung aus. Solche Gesichtspunkte lassen sich durch Nachbefragung abklären.

Ich glaube nicht, daß es heute noch sinnvoll ist, gruppendynamische Methoden gewissermaßen in chemisch reiner Form zu entwickeln. In dieser Arbeit ist teilnahmslose Objektivität nicht möglich, es sei denn, man entschließt sich, mit einem Tonbandprogramm in Gruppen zu arbeiten. Ein Leiter mit standardisiertem, stets gleichbleibendem Verhalten ist nicht neutral, sondern wegen seiner unmenschlichen Wirkung auf die Gruppe sehr störend. Objektivität läßt sich hier nur durch umfassendes Einbeziehen des Subjekts erreichen; daher auch die Betonung der Analyse von Übertragungen und Gegenübertragungen in der analytischen Gruppendynamik. Die Wahl einer bestimmten Interventionstechnik ist kein rein technisches Problem mehr, sondern ebenfalls eine Frage in diesem Problemfeld von Übertragung (der Gruppenmitglieder) und Gegenübertragung (des Leiters). Es geht nicht um abgrenzbare technische Kunstgriffe oder um einzelne Teilstücke menschlicher Beziehungen (Transaktionen, Ich-Zustände, Gestalten, Muskelverspannungen, Urerlebnisse usw.), sondern um die umfassende Erforschung von zwischenmenschlichen Situationen. Deshalb wird es auch mit dieser (und wohl nur mit dieser) Methode möglich (wenn auch keineswegs nötig), auf strukturierende, unmittelbar «pädagogische» Verfahren in der Gruppe zu verzichten – auf Übungen, Interaktionsspiele, direktive Fragen und Aufforderungen, Rollenzuweisungen, Inszenierungen. Analytische Gruppendynamik ist somit kein eklektisches Verfahren, das versucht, aus den zahlreichen Richtungen der Psychotherapie und Gruppentherapie die für eine emanzipatorische Arbeit nützlichsten Teile herauszunehmen. Obwohl der Gruppenleiter nicht selten Komponenten aus anderen «Schulen» verwendet, geschieht das immer im Zusammenhang seiner analytischen Orientierung mit ihren unverwechselbaren Grundprinzipien. Gruppenleiter, die keine umfassende, an einem Längsschnittmodell der menschlichen Entwicklung orientierte Übersicht haben (wie sie die psychoanalytische Theorie bietet), leben in der Gruppe gewissermaßen aus der Hand in den Mund. Sie orientieren sich kurzfristig an der aktuellen Gruppensituation, deren Hier und Jetzt aber nur dann voll verständlich ist, wenn die lebensgeschichtliche Dimension der Mitglieder erfaßt wird. Die analytische Gruppendynamik vermittelt diese Perspektive, den Arbeitsrahmen, in den sich eingliedern läßt, was jetzt bei diesem Klienten mit diesem spezifischen Kernkonflikt mit welcher Methode (z.B. Exploration, Deutung, Übung, Provokation von Feedback aus der Gruppe) zu erreichen ist. Nur wer von diesem langfristigen Entwicklungsmodell ausgeht, wird die Möglichkeiten von Kurzzeitgruppen wirklich nützen, wird planvoll und gezielt vorgehen können. Analytische Gruppendynamik ist daher mehr als eine «Schule», d.h. ein Erklärungsprinzip, das andere ausschließen muß, um selbständig zu bleiben. Sie ist ein Teil der Wissenschaften vom Menschen; deren Prinzip, möglichst objektive und umfassende Theorien zu entwickeln, ist auch ihr Prinzip. «Die Psychoanalyse … ist unfähig, eine ihr besondere Weltanschauung zu schaffen. Sie braucht es nicht, sie ist ein Stück Wissenschaft und kann sich der wissenschaftlichen Weltanschauung anschließen. Diese verdient aber kaum den großtönenden Namen, denn sie schaut nicht alles an, sie ist zu unvollendet, erhebt keinen Anspruch auf Geschlossenheit und Systembildung. Das wissenschaftliche Denken ist noch sehr jung unter den Menschen, hat zu viele der großen Probleme noch nicht bewältigen können. Eine auf der Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung von Illusionen. Wer von unseren Mitmenschen mit diesem Stand der Dinge unzufrieden ist, wer zu seiner augenblicklichen Beschwichtigung mehr verlangt, der mag es sich beschaffen, wo er es findet. Wir werden es ihm nicht verübeln, können ihm nicht helfen, aber auch seinetwegen nicht anders denken.» (S. Freud, Über eine Weltanschauung, GW XV, S. 197).

Ich finde, diese Absage Freuds an alles Sektierertum, an alle Versuche – auch die in den eigenen Reihen, ja vielleicht sogar in ihm selbst –, aus der Psychoanalyse eine neue Glaubenslehre zu machen, ist gerade in der heutigen Situation der Gruppenarbeit sehr bedenkenswert. Wir müssen lernen, unsere Fähigkeit, andere Menschen zu beeinflussen, realistisch einzuschätzen und immer wieder kritisch zu überprüfen. Die analytische Gruppendynamik ist dazu eine unschätzbare Hilfe, solange sie eine offene, empirische und emanzipatorische Wissenschaft bleibt. Offen heißt dabei, daß es keinen Methodenkanon, keine Abschließung gegen andere Arbeitsweisen gibt, solange diese anderen Verfahren wissenschaftlich fundiert sind, das heißt – unser zweites Kriterium – eine empirische Überprüfung zulassen. Das dritte Merkmal – der emanzipatorische Charakter – besagt eine Überprüfung von Praxis und Theorie der gruppendynamischen Arbeit unter den Gesichtspunkten der menschlichen Selbstbefreiung, wie sie etwa in der Charta der Vereinten Nationen ausgesprochen wurden. Mir scheint, daß in einer Tätigkeit, in der die empirischen Ergebnisse noch sehr dürftig sind, trotzdem aber in der praktischen Arbeit immer wieder Entscheidungen getroffen werden müssen, die Frage nach den sozialen und politischen Gesichtspunkten unerläßlich ist. Wo sie unausgesprochen bleibt, einem positivistischen Wissenschaftsideal gemäß, überwuchert das Dunkel unreflektierter Subjektivität und persönlicher Willkür weite Bereiche eines ansonsten vorgeblich «objektiven» Denkens und auch Handelns.

II. Die Fassade und das Kind[*]

Ich war mit einer Gruppe anderer Studenten vor dem Haus von Prof. X. Wir sollten eine Glocke an dieses Haus montieren. Ich sehe die hohen, aus Kalksteinen gemauerten Wände noch vor mir. Die Sache mit der Glocke klappte nicht gut. Wir brauchten noch Material, Seile und so. Deshalb ging ich zu einem Schuppen in der Nähe. Als ich herankam, hörte ich in dem Schuppen ein leises Weinen. Ich öffnete die Tür. Da sah ich etwas ganz Schreckliches: Ein halb verdurstetes und verhungertes Kind, ganz verdreckt und mit Spinnweben überzogen, steckte zwischen dem Gerümpel eingeklemmt (Der Traum eines 30jährigen Arztes während seiner Lehranalyse).

 

1. Nach dem dieser Arbeit zugrundegelegten Konzept einer evolutionstheoretisch gesehenen Psychoanalyse[*] geht die seelische Entwicklung von einem primär dem Überleben dienenden, mit zweckmäßigen emotionalen Mechanismen ausgerüsteten inneren System aus, das einen größeren Umfang hat als das «Ich» der zweiten Topik Freuds, aber diesem Ich ähnliche Aufgaben erfüllt. Unter dem Einfluß der Primärgruppe entstehen aus diesem noch wenig differenzierten Ich das Es und parallel dazu das Über-Ich. Anders gesprochen: Teile des Ichs werden abgespalten, weil sie von der Primärgruppe nicht durch Gewährung von Reizschutz in ihrer Entwicklung gefördert oder sogar aktiv verboten und abgelehnt werden.

 

2. In der Selbsterfahrungsgruppe finden sich die Mitglieder in einer einzigartigen sozialen Situation. Sie sind aufgefordert, sich über ihre wechselseitigen Gefühle und Beziehungen klarer zu werden. Hinter diesen Gefühlen stehen die verschiedensten Wünsche: Abwehrformen werden wiederbelebt, die im sozialen Alltag mit mehr oder weniger Geschick überspielt werden und verdeckt bleiben.

Eine typische Folge ist der Unterschied zwischen dem Gefühl in der Gruppe während der gemeinsamen Sitzungen und bei «Nachsitzungen», etwa im Wirtshaus nach dem Gruppentreffen, oder in informellen Gesprächen zwischen Gruppenmitgliedern auf dem Nachhauseweg usw. Dann ist, so sagen die Gruppenmitglieder häufig, die Stimmung lockerer, man rede lauter, äußere offener Gefühle, fühle sich wohler. (Solche Schilderungen bleiben nicht unwidersprochen; die Nachsitzungen werden manchmal, vor allem in länger bestehenden Gruppen oder auch von Mitgliedern, die solche Äußerungen als Kritik am Gruppenleiter verstehen und deshalb vermeiden, als «Klatsch», «Stammtischgerede» u.ä. abgewertet.) In der Gruppe werden zunächst verwundert das lange Schweigen registriert, die gespannte Atmosphäre, die starken Gefühle von Angst und Unsicherheit. Teilweise gilt der Leiter als ihre Quelle (er ist es auch manchmal, wenn er die analytische Haltung als «graue Wand» und Kälte mißversteht), doch erkennen viele Gruppen bald, daß die Tatsache des Sprechens zu einer ganzen Gruppe, die sich auf den Sprecher konzentriert, für die Gruppenspannung verantwortlich ist. Die Gruppe, welche durch soziale Rituale unbeschwichtigt dem einzelnen volle Aufmerksamkeit zuwendet, enthüllt die Formen des Grundgefühls in der Primärgruppe. – Sie lassen sich in inneren Formeln darstellen wie: «Ich darf nicht auffallen!» – «Ich darf nur dann aggressiv werden, wenn es um andere geht, die ich in Schutz nehme!» – «Ich muß um Aufmerksamkeit kämpfen!» – «Wenn ihr mich nicht liebt, werde ich euch schon zeigen, wie ich euch dazu bringe, mich abzulehnen!» – «Hier ist zuwenig los, keiner kümmert sich um den anderen!» – «Hier ist eine schreckliche Unruhe, man springt von einem Thema zum nächsten!» Insgesamt ist die Anfangsphase einer analytischen Gruppe ein überzeugender Beweis dafür, wie oft die genaue Beobachtung eines Menschen als strafend empfunden wird, wie oft für den Menschen unserer Zivilisation Aufmerksamkeit als Angriff gilt, wie wenige Menschen fähig sind, sich spontan, ohne vorher erbrachte Anpassungs- oder Abwehrleistung, in einer Gruppe angenommen zu fühlen.

3. Auf der Ebene der elementaren Lernprozesse des Konditionierens schafft diese gesteigerte soziale Angst in der Anfangsphase einer analytischen Selbsterfahrungsgruppe eine wirksame Möglichkeit zum Angstabbau. Wer es über sich bringt, angstbesetzte (da von der Primärgruppe nicht bestätigte) Bereiche seines Erlebens zu äußern, gewinnt mehr innere und äußere Freiheit. Die scheinbare Erschwerung solcher Äußerungen durch den Verzicht des analytischen Leiters auf beschwichtigende Rituale führt letzten Endes zu einer wirksameren und tiefer gehenden Arbeit in der Gruppe. Denn in den Situationen des Lebens, in denen die offene Äußerung von Gefühlen notwendig und für Beziehungen produktiv ist, kann niemand damit rechnen, daß er sofort von anderen gestützt wird. In der analytischen Gruppe wird eine Haltung beobachtbar und damit korrigierbar, bei der Gefühle immer erst dann gezeigt werden, wenn die emotionale Position des Partners genau bekannt ist. Durch solche Absicherungen wird die produktive Erweiterung einer Beziehung aber erschwert. Das nüchterne Wohlwollen des analytischen Leiters ermöglicht es, eine realitätsbezogene Haltung gegenüber den eigenen Gefühlen zu gewinnen.

 

4. Das Ziel einer Selbsterfahrungsgruppe ist Einsicht. Echte Einsicht schließt eine korrigierende emotionale Erfahrung ein; sie muß von bloßem Wissen unterschieden werden. Zugrunde liegt eine Haltung der Einfühlung im Unterschied zu der Haltung des Rechthabens und der Feststellung von Tatsachen.

Zu Beginn einer Selbsterfahrungsgruppe verspricht sich ein Teilnehmer. Er gebraucht ein offenbar emotional bedeutsames Wort an der Stelle eines distanziert-neutralen. Der Leiter greift diese Fehlleistung auf und fragt nach ihrer Bedeutung. Dieses Verhalten wird von anderen Gruppenmitgliedern als Bosheit, als Kritik, als Versuch, ihnen etwas Schlechtes nachzuweisen, ohne sich selbst preiszugeben, aufgefaßt.

In einer Selbsterfahrungsgruppe für Ehepaare berichtet ein Paar über immer wiederholte, scheinbar unlösbare Streitigkeiten. Der Mann schlägt vor, man müsse doch immer ein Tonband laufen lassen, um dann feststellen zu können, wer recht gehabt habe. Er sagt öfter: Wenn sie mir einen Fehler nachweisen will … weil sie mir doch immer unterstellt … Allmählich bemerkt die Gruppe, daß der Mann kaum fähig ist, sich in seine Frau einzufühlen. Er reagiert nicht auf ihre (nur angedeuteten: das ist ihr Anteil am Streit) emotionalen Wünsche, sondern erst dann, wenn sie diese Wünsche über ihr eigenes Über-Ich ausdrückt, d.h. als Vorwürfe. Seine Verteidigung gegen diese Vorwürfe auf der Ebene des Rechthabens empfindet sie als Zurückweisung ihrer Gefühle und reagiert wütend oder deprimiert. Die Frau fragt etwas zögernd, weil sie sich scheut, einen Wunsch offen zu äußern: «Möchtest du heute mit mir ausgehen?» Der Mann spürt das Gefühl nicht und lehnt ab. Die Frau ist enttäuscht; nach einer Weile sagt sie nachdrücklich: «Nie gehst du mit mir aus, alles schlägst du mir ab!» Der Mann beginnt, sich zu rechtfertigen und ihr vorzurechnen, wann er zuletzt mit ihr ausgegangen sei. Auf dieser Ebene des Rechthabens und der Rechtfertigung (der Über-Ich-Ebene) ist aber ein Fortschritt nicht möglich. Es können keine Einsichten gewonnen werden, da Einsicht mit Nachgeben, Sich-in-die-Kinderrolle-bringen-Lassen, Hilflos- und Abhängig-Sein und ähnlichen Situationen verknüpft ist. Solche Verknüpfungen aufzulösen, ist beträchtliche Arbeit notwendig: Erst wenn die Gruppe in den gegenseitigen Beziehungen die Fruchtbarkeit der einfühlenden Haltung erfährt, werden die Mitglieder allmählich fähig, den eigenen Gefühlen gegenüber eine bejahende, realitätsorientierte Haltung einzunehmen. Ihr inneres Kind verkümmert nicht mehr hinter einer zweidimensionalen Fassade von «richtig» oder «falsch», sondern lernt, sich in einem inneren Haus zu bewegen, das viele Fenster und Ausgänge hat.

5. Während die Lernprozesse und Identifizierungen in der Primärgruppe dazu führen, daß rasche Antworten auf soziale Situationen eingeübt werden, bietet die S-Gruppe eine Möglichkeit, Reaktionen des zweiten Schritts zu erarbeiten. Bildlich gesprochen: Das innere Kind, die spontanen, aus den natürlichen Anlagen kommenden emotionalen Bedürfnisse, Wünsche und Phantasien werden weniger unter die Diktatur des «man tut» oder «man tut nicht» gestellt. Das Kind ruft nicht durch sein Erwachen sofort das Eingreifen der verinnerlichten Eltern hervor, sondern es darf seine Neugieraktivität entfalten, wie es etwa in der Beziehung zu einem einfühlenden Erwachsenen der Fall ist. Unsere ersten, fast automatisch erfolgenden Antworten auf soziale Situationen in unseren Gefühlen, Körperhaltungen oder «vernünftigen» Ansichten sind fast immer durch die Eltern in unserem Kopf diktiert. Solche schnellen Antworten halten Verdrängungen aufrecht, weil sie verhindern, daß bestimmte seelische Vorgänge einmal genauer untersucht und ins helle Licht der bewußten Aufmerksamkeit gerückt werden. Die S-Gruppe bietet, mehr noch als die Deutung des Analytikers in der Einzeltherapie, eine Möglichkeit, bisher im Hintergrund gebliebene, automatisierte Abwehrvorgänge klarer zu erfassen und auf diese Weise mehr innere Freiheit zu gewinnen.

Diese innere Freiheit wird oft in der S-Gruppe selbst später deutlich als außerhalb. Ein 30jähriger Handwerker, der durch seine Verschlossenheit und äußere Kälte immer wieder seine Ehefrau enttäuscht und zu heftigen Flirts mit anderen Männern provoziert hatte, berichtete nach einem halben Jahr Teilnahme an einer S-Gruppe über erstaunliche Veränderungen in seinen Beziehungen außerhalb der Gruppe. Er hatte erstmals engeren Kontakt zu einer anderen Frau gefunden, seine Ehe damit in eine schwere Krise gebracht, die er dann gemeinsam mit seiner Partnerin überwand. Die Ehe wurde erheblich befriedigender für beide Partner. Während dieser ganzen Veränderungen verhielt sich dieser Mann in der Gruppe immer gleich. Er meldete sich nie zuerst, überlegte sich die wenigen Sätze, die er hie und da sagte, sehr sorgfältig, berichtete im Gegensatz zu den übrigen Gruppenmitgliedern niemals über belastende Erlebnisse aus seiner Kindheit oder aus seinem Beruf. Dennoch war hinter dieser glatten, unangreifbaren Fassade eine Weiterentwicklung ermöglicht worden. Dieses Gruppenmitglied hatte seine ganze späte Kindheit und Jugend in Internaten verbracht; hier übernahm es (wohl auf einer bereits aus der frühen Kindheit stammenden Grundlage) die innere Haltung, die sich etwa in der Formel ausdrücken läßt: «Ich muß mich abschließen und meine Gefühle zurückhalten, dann kann ich überleben.» Die Verschmelzung mit den in der Gruppe von anderen Mitgliedern geäußerten Gefühlen und Konflikten gestattete ihm nun, die eigenen, wohlverkapselten Gefühle bewußter zu erleben – allerdings nicht, sie in der Gruppensituation zu äußern.

6. Die Fassade ist von berechenbaren, genau definierten und in der Welt der Eltern oder der Über-Eltern (der Vorbilder und Ideologien) gültigen Sprachformen bestimmt. Die Sprache des Kindes ist bildhaft, emotional, sie hat wenige abgrenzbare Begriffe, unterliegt den Einflüssen von Verdichtung und Verschiebung. Das Ziel der analytischen S-Gruppe ist eine fortschreitende Integration zwischen den Sekundärvorgängen des vernünftigen und weitgehend fassadenhaften Ichs und den Primärprozessen des Kindes, die dem Erwachsenen in künstlerischer Arbeit, in Traum, Spiel und in der Gruppenarbeit zugänglich bleiben. Im Gegensatz zu Freud, der die Primärprozesse für biologisch nicht angepaßt und kulturfeindlich hielt, geht die evolutionstheoretisch orientierte Psychoanalyse davon aus, daß sich Organismen als ganze Systeme entwickeln. Es widerspricht diesem Wachstumsprinzip, daß sich einem urtümlichen, undifferenzierten, dem Überleben gleichgültig gegenüberstehenden Kern (wie Freud das Es sah) differenzierte, realitätsorientierte Randzonen anlagern. Vielmehr schreitet die gesamte Organisation von einfacheren zu komplexeren Formen fort, wobei auf jeder Stufe durch kultur- und gruppenspezifische Einflüsse Anteile von dem weiteren Entwicklungsprozeß ausgeschlossen werden können. Das Ergebnis ist in der bildhaften Sprache, die notwendig ist, um Kopf und Bauch zugleich anzusprechen, das vernachlässigte, verwahrloste Kind hinter der prächtigen Fassade – die innere Beschaffenheit der meisten Menschen in unserer Gesellschaft.

 

7. Zwar ist das Unbewußte von Primärprozessen bestimmt, doch sind nicht alle Primärprozesse unbewußt, z.B. in der künstlerischen Phantasie oder im Traum. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist das Fehlen einer verbindlichen Grammatik, Syntax und lexikalischer Bedeutungen, welche die diskursive Symbolik des Sekundärprozesses kennzeichnen. Die Primärprozesse lassen sich nur durch Negationen verbal definieren. Ihre Elemente werden durch ihre unmittelbaren, sinnlichen Bezüge zueinander verbunden; es gibt keine verbindlichen Regeln dafür.

In einer S-Gruppe berichtet ein 35jähriger Arzt, ein Mann, der sehr gefaßt, ordentlich, sportlich und abgehärtet wirkt, über ein merkwürdiges Erlebnis: Er ging auf der Straße an einer Militärkapelle vorbei und blieb stehen, um zuzuhören. Auf einmal fühlte er sich dem Weinen nahe und hatte von sich die Vorstellung, ein Ei ohne die harte Kalkschale zu sein, das ungeheuer gefährdet sei und bei der kleinsten Verletzung auslaufen könnte. Er schüttelte die Vorstellung ab (bei dem Bericht darüber in der Gruppe zuckte er mit den Schultern), wandte sich seinen Besorgungen zu – die Musik sei Zeitverschwendung –, doch verfolgte und beunruhigte ihn die Vorstellung weiter.

Eine solche Vorstellung ist ein typisches Beispiel für eine primärprozeßhafte Phantasie, die zwar dem Bewußtsein zugänglich ist, aber deren Bedeutung erst nach einer längeren Arbeit erschlossen werden kann. Dabei ist das Bild als solches wahrscheinlich nie wirklich erschöpfend mit Hilfe sekundärprozeßhafter Aufklärungen zu erfassen. Doch die Auseinandersetzung damit schafft eine innere Situation, in der das Bild nicht mehr fremd ist, sondern an die ganze Person angegliedert wird, die damit ein Stück mehr innere Freiheit gewinnt. Im Verlauf einer Stunde erarbeitete die Gruppe unter anderem folgende Aspekte:

A. «Früher habe ich gedacht, du bist wie ein fest verwurzelter Baum. Dann habe ich gemerkt, was für ein eigentümliches Verhältnis zu Frauen du hast, und ich habe den Baum so gesehen: groß und stark, aber ohne Blätter und bedrohlich. Jetzt sehe ich dich wie einen zarten Baum, den jeder Wind bewegen kann, wenn ich höre, du hast geweint» (Eine 26jährige Frau).

B. «So ein Ei, das aufplatzt, das ist doch eine Wiedergeburt» (Ein 35jähriger).

C. «Ich möchte dir sagen, laß doch das Ei mitschwingen, du brauchst diese harte Schale nicht, und niemand will dich zerstören» (Eine 30jährige).

D. Der Leiter fordert ihn auf, sich erst mit dem Ei, dann mit der Musik der Militärkapelle zu identifizieren und ein Zwiegespräch zwischen beiden zu führen. Diese aus der Gestalt-Therapie übernommene Technik fügt sich gut in eine analytische Gruppe ein, da sie eine intensive Auseinandersetzung mit den primärprozeßhaften Bildern ermöglicht. In diesem Dialog wird deutlich, daß die Musik narzißtische Verschmelzungsphantasien weckt, ähnlich den Gefühlen beim Dahintreiben in einem Gewässer. Dem betreffenden Mitglied gelingt es, die mit dem Bild verbundenen Verschmelzungswünsche deutlicher zu erleben (gestalttherapeutisch formuliert: das «unerledigte Geschäft» des vermiedenen, abgeschüttelten und deshalb immer wieder auftauchenden Bildes zu Ende zu führen); er stellt sich endlich vor, wie das Ei aufplatzt und um die bewegten Noten der Musik eine Girlande bildet.

E. Die gruppendynamische Bedeutung dieser Auseinandersetzung wird darin gefunden, daß dieses Mitglied in den bisherigen, etwa 30 Sitzungen noch nie als erster gesprochen hat. In Verbindung mit dem Gefühl, den Tränen nahe zu sein, hat er berichtet, vor einigen Tagen geweint zu haben, als er erkannte, daß sein Vater ihn nie wirklich liebte. Der Gruppe fällt auf, daß er seine Gefühle noch nie so intensiv äußern konnte, sondern sie in einer Einzeltherapie mit einer Analytikerin besprach. Der Leiter: «Durch diesen Schritt in der Auseinandersetzung mit Ihrem Vater scheint es Ihnen auch eher möglich, sich in dieser Gruppe zu äußern, und nicht wie bisher nur in der Analyse, in der Sie ja mehr die Mutter finden.»

An diesem Ausschnitt läßt sich erkennen, wie in einer analytischen S-Gruppe auf beiden Ebenen – der des Primär- und der des Sekundärvorgangs – gesprochen wird. Diese beiden Sprachen durchdringen sich in der Gruppeninteraktion; dadurch wird auch eine bessere Verbindung und Integration zwischen der Fassade und dem Kind, zwischen den kulturspezifischen, durch Erziehung geprägten rationalen Umgangsformen und den spontanen Gefühlen und Phantasien erreicht. In der analytischen Gruppendynamik gelten Gefühle und Triebwünsche nicht als primär chaotisch. Sie sind ebenso angepaßt (im biologischen Sinn, nicht im Sinn vieler kultureller Situationen) wie die diskursiven, sekundärprozeßhaften Formen der Realitätsbewältigung. Gefühle und Phantasien spielen vor allem in menschlichen Intimbeziehungen eine sehr wichtige adaptive Rolle.

 

8. Die Spaltung zwischen Primär- und Sekundärprozessen, zwischen den spontanen Gefühlen und den verinnerlichten Vorschriften der Primärgruppe und der Sozietät wird in der analytischen S-Gruppe auf zweifache Weise deutlich. Die geschilderte Situation des mehrfachen, intensiven Beobachtet- und Beachtetwerdens führt dazu, daß die verinnerlichten Eltern besonders mächtig werden.

«In mir ist in diesen Gruppen etwas wie ein Sieb mit ganz großen Maschen. Eigentlich fällt alles durch, eigentlich sind die Probleme der anderen immer viel wichtiger als alles, was ich zu sagen hätte» (34jähriger Lehrer auf einer Klausurtagung).

«Ich hatte das Gefühl, daß ich mich nicht so gut artikulieren, so gut ausdrücken kann wie die anderen hier. Deshalb habe ich die ganze Zeit geschwiegen. Die anderen sind alle viel besser als ich. In mir ist alles so unfertig, daß ich noch nicht vernünftig darüber sprechen kann» (27jähriger Student in einer Langzeit-S-Gruppe an Wochenenden).

Nur was dem eigenen Ich-Ideal nahekommt, wird als Äußerung in der Gruppe möglich. In diesem Ideal spiegeln sich die Werte des elterlichen Ich-Ideals, der in der Pubertät gewählten Vorbilder und der mit diesen Introjekten verbundenen Reaktionen (z.B. gerade nicht so zu sein wie der aggressive, unversöhnliche Großvater, der die eigenen Eltern unterdrückte und in Abhängigkeit hielt). Auf der anderen Seite bedingt die der analytischen Grundregel vergleichbare Interaktions-Freiheit in der Gruppe, die durch den Verzicht auf Strukturierung durch den Leiter entsteht, eine Situation, in der auch das Kind hinter der Fassade von Über-Ich und Ich-Ideal wach wird. Es fordert für seine unverstellten, nicht unter die Diktatur des Ich-Ideals gebrachten Wünsche nach Liebe, nach Bestätigung, nach spontaner Äußerung von Neugieraktivität die Zuwendung der Gruppe.

 

9. Der Leiter einer analytischen S-Gruppe versucht, in der Gruppe Möglichkeiten zu schaffen, daß die Spaltung zwischen Primär- und Sekundärvorgang, zwischen Gefühl und Rationalität bewußt gemacht und überbrückt wird. Das geschieht durch seine Einleitung der Gruppenarbeit (im Sinn eines mehr oder weniger deutlich formulierten analytischen Vertrags mit der Gruppe), durch seine Interventionen (klärende Fragen, Konfrontationen, Deutungen) und nicht zuletzt durch sein persönliches Vorbild. Oft zeigt der Leiter dabei gerade das Verhalten besonders häufig und besonders ausgeprägt, das die augenblicklich in der Gruppe vernachlässigten Aspekte enthält. Er verkörpert z.B. angesichts der affektiven Krise eines Gruppenmitglieds den realitätsorientierten Sekundärprozeß, während er in einer durch rationale Fragen und die Debatte über Themen außerhalb der Gruppe bestimmten Situation nach den Gefühlen und Phantasien innerhalb der Gruppe fragt (und zu diesem Zweck z.B. nichtverbale Ausdrucksformen, wie Körperhaltung, Mienenspiel, Kleidung aufgreift oder nach Träumen forscht). In jedem Fall stellt der Leiter beide Aspekte seines Handelns unter die einfühlende (nicht starre) Kontrolle seines vernünftigen Ichs. Er ist selektiv authentisch, d.h. er geht von seinen gegenwärtigen Gefühlen aus, versucht aber, sie in einer Form in die Gruppe einzubringen, welche die Möglichkeiten zum Gewinn von Einsicht erweitert. Er engagiert sich für die Mitglieder (denn ein teilnahmsloser Leiter ermutigt nicht, sich selbst zu erforschen), aber er wird nicht von ihrer Zuwendung abhängig oder durch ihre Angriffe verstört.

 

10. Wenn die erste Aufgabe der Sprache nicht der Ausdruck rationaler Inhalte, sondern ganzheitlicher, mystisch-religiöser oder rituell ausgelebter Akte war[*], dann ist es falsch, den Beginn der Sprachentwicklung mit dem Beginn der Spaltung gleichzusetzen. Sprache ist in Mythen begründet (Mythos heißt in seiner ersten Bedeutung das Wort), und der Mythos umfaßt noch beides, den Primär- wie den Sekundärvorgang, die Vergangenheit wie die Zukunft, die Emotionalität und das rationale Erklärungsbedürfnis.[*]

Die Sprache ist das wichtigste Mittel, die Spaltung zu schaffen – und auch, sie zu überwinden. In der analytischen S-Gruppe wird versucht, die Sprache von der Rationalisierung, vom Gerede, vom fassadenhaften Argumentieren zu befreien. Sie soll ihre vielfältigen, ursprünglichen Ausdrucksmöglichkeiten zurückgewinnen. Der unmittelbare Ausdruck von Gefühlen durch die Aktion wird aber nur nach genauer Überlegung durch den Leiter inszeniert.

In einer S-Gruppe greift eine 35jährige Künstlerin heftig einen 30jährigen Juristen an und wirft ihm Gefühllosigkeit und Hinterhältigkeit vor. Nach einiger Zeit sagt sie, sie habe durch diesen Angriff heftige Kopfschmerzen bekommen und eingesehen, es sei alles Übertragung, sie hätte im Grunde nur ihre Mutter gemeint, es hätte nichts mit dem Verhalten des Angegriffenen zu tun. Sie ist sichtlich unzufrieden mit sich selbst und meint, der Gruppenleiter könne viel besser als sie solche Äußerungen konstruktiv vortragen. Die Gruppe äußert Unverständnis und Unwillen über diese Zurücknahme ihrer spontanen Gefühle. Der Jurist bemerkt, gerade ihre emotionale Aussage habe ihn stark berührt und nachdenklich gemacht. Der Leiter sagt: «Sie haben Ihr inneres Kind hier laufen lassen, und jetzt holen Sie es wieder zurück, wie eine Mutter, die nur ein perfektes Kind annehmen will … Aber Sie sehen, daß das Kind gar keinen Schaden angerichtet hat, sondern uns etwas gegeben hat.» Ihre Antwort: «Das ist für mich eine ganz neue Erfahrung, daß ich auch als Kind hier sein darf … das Kind möchte Sie jetzt am liebsten umarmen …»

Dieses Beispiel zeigt, daß die Sprache feinere Möglichkeiten zum Ausdruck von Gefühlen bietet als die Handlung. Hätte diese Teilnehmerin den Leiter tatsächlich umarmt, dann wäre die Nuance «das Kind möchte Sie jetzt umarmen» verlorengegangen. Die auf der Über-Ich-Ebene bestehende Rivalität zum Leiter würde durch diese Umarmung zugedeckt. Sprachlich läßt sich ausdrücken, daß ein Mensch zugleich Ziel zärtlicher und rivalisierender Gefühle sein kann. Die Handlung verdeckt solche Zwiespältigkeiten. Sie engt die innere Freiheit durch ihren verbindlicheren Charakter ein. Wenn in einer analytischen S-Gruppe ein Mitglied handelt und seine Wünsche nicht verbal ausdrückt, dann geschieht das spontan. Diese Situation gleicht dem Verhalten im wirklichen Leben weit mehr als das Gruppengeschehen angesichts einer Aufforderung, Gefühle durch Tun auszudrücken. Doch sollte nicht in einem abschätzigen Sinn von «Ausagieren» gesprochen werden. Es gibt innere Situationen, in denen das Kind sich nur durch die Handlung ausdrücken kann, weil die Sprache fast vollständig in der Hand der introjizierten Eltern ist. Der Gefühlsausdruck im nichtverbalen Verhalten kann hier einen ersten Zugang zum Kind eröffnen. Das Ziel der Gruppenarbeit ist jedoch eine Befreiung des ganzen Menschen und nicht das Sich-austoben-Lassen des Kindes in einer Schonsituation (welches dazu einen ersten Schritt darstellen kann). Alle Ausdrucksverfahren (Psychodrama, Urschrei, Gestalttechnik, Bioenergetik, Bewegungstherapie usw.) können die verbale Arbeit vorbereiten oder fortführen, aber nicht ersetzen. In der S-Gruppe wird die Spaltung durch die Arbeit an Widerstand und Übertragung mit Hilfe des Gewinns an Einsicht überbrückt. Die wechselseitigen Beziehungen von Sekundär- und Primärprozessen, von Eltern- und Kindheits-Ich, von Über-Ich bzw. Ich-Ideal und Es, von der Fassade und dem Kind werden zugleich emotional erfahren und rational geklärt. Rational-direktive Verfahren (wie die Transaktionsanalyse) oder emotional-direktive Verfahren (wie die Gestalttechnik, die Urschrei-Therapie und die Bioenergetik) können die Situation der Spaltung deutlicher machen oder bisher unterlassene Möglichkeiten des Gefühlsausdrucks erarbeiten. Aus diesem Grund sollte der Leiter von analytischen S-Gruppen mindestens zwei dieser Techniken gründlich kennen. Doch bleibt die S-Gruppe in ihrer Möglichkeit unübertroffen, nicht nur etwas geschehen zu lassen, sondern auch zu verstehen, warum etwas geschieht und was tatsächlich geschieht, eben weil in ihr Widerstände nicht manipuliert und Übertragungen nicht ausgebeutet oder ausagiert werden.

 

11. Theorie und Technik der Psychoanalyse beruhen darauf, die irrationalen Primärvorgänge als wichtigen, ja beherrschenden Teil unseres seelischen Apparats anzuerkennen und sie mit den Mitteln der rationalen Sekundärvorgänge zu erfassen. Im Lauf der analytischen Arbeit sollen abgespaltene, verdrängte, dem Primärvorgang unterliegende seelische Inhalte dem bewußten Ich zugänglich gemacht werden, indem sie in die Sprache der Sekundärvorgänge übersetzt werden. Diese Übersetzung ist eine Integrationsarbeit und keine Kolonisation, wie sie Freuds Bild von der «Trockenlegung der Zuidersee» andeutet. Wenn aus Es Ich wird, dann wird gleichzeitig aus Ich auch Es, d.h. die Entschlüsselung und Rekonstruktion der Primärvorgänge mit Hilfe der Sekundärvorgänge verändert in einem zweiten Schritt die Sekundärvorgänge selbst. Die Grenzen zwischen beiden werden durchlässiger, die Gefühle realitätsbezogener, die Realitätsorientierung gefühlsoffener.

«Vor der Analyse habe ich immer nach der Natur gezeichnet, und immer nur auf kleinen Formaten. Jetzt male ich frei, nach der Phantasie, und auf viel größeren Formaten, auch mit Farben, die ich mir nie vorher zu verwenden traute. Ich mag auch ganz andere Maler, die ich früher gehaßt habe, wie den Paul Klee» (34jähriger Graphiker im zweiten Jahr einer kombinierten analytischen Behandlung, einzeln und in einer Gruppe).

12. Die Spaltung hängt in der kulturellen Evolution eng mit dem von K. Marx beschriebenen Prozeß der Entfremdung und mit der Entwicklung einer patriarchalischen, arbeitsteiligen Gesellschaft zusammen. In den urtümlichen Kulturen der Jäger und Sammler, welche den weit überwiegenden Teil der menschlichen Evolution prägten[*], gibt es keine nennenswerten Besitz- und Klassenunterschiede, keine hierarchische Trennung zwischen Frauen und Männern, Führern und Untertanen, Wissenden und Unwissenden, Ausbeutern und Ausgebeuteten. Doch verfügen alle diese Kulturen über eine Sprache, deren linguistische Merkmale nicht primitiver sind als die der Sprachen in den Hochkulturen.

Wahrscheinlich hängt die Entwicklung der Schrift enger als die Sprachentwicklung mit den Anfängen der Spaltung zusammen. Claude Lévi-Strauss[*] hat auf den geschichtlichen Zusammenhang zwischen der Erfindung der Schrift und der Gründung von Städten und Reichen, der Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System und ihrer Aufteilung in Kasten und Klassen hingewiesen. Die Schrift ermöglichte es, große Menschenansammlungen zu kontrollieren, die Herrschaft über sie zu festigen, Steuerregister und die Rechnungen von Wucherern festzuhalten, Gesetze und religiöse Rituale ein für allemal aufzuzeichnen, Abstammungslinien (die im Patriarchat von zentraler Bedeutung wurden) nachzuzeichnen und damit Machtansprüche zu begründen.

 

13. Die Spaltung innerhalb des Individuums spiegelt immer auch eine Spaltung in der Primärgruppe und in der Gesamtgesellschaft wider. Seit der Seßhaftwerdung in der neolithischen Revolution sind zahlreiche solcher Spaltungen eingetreten: der Gegensatz zwischen jenen, die Boden oder Herden zahmer Tiere besitzen, und den Besitzlosen; zwischen Herren und Sklaven; zwischen Männern und Frauen; zwischen den Spezialisten für bestimmte Aufgaben (Führung, Handwerk, Priestertum, Heilkunst) und den Nicht-Spezialisten. Alle diese Spaltungen sind auch Aspekte der Trennung von Primär- und Sekundärprozeß.

«Ich finde es nicht schön, daß wir uns immer hier in der Stadt treffen. Ich möchte mit euch auf eine Berghütte gehen, oder auf eine Insel in der Südsee … Es müßte alles grün sein und warm» (30jähriger in einer Therapiegruppe, in der ein gemeinsames Intensiv-Wochenende geplant wird).

14. Die Trennung der unmittelbaren, gefühlshaften Reaktionen von dem, was durch Sach- und Leistungszwänge gefordert wird, hängt unmittelbar mit dem Seßhaftwerden der Menschen zusammen. Jäger und Sammler lösen zwischenmenschliche Konflikte meist durch physische «Spaltung». Miteinander zerstrittene Gruppenmitglieder trennen sich, gehen in ein anderes Lager, bis die Verstimmung verflogen ist. Auch Kindern scheint diese Möglichkeit in gewissen Grenzen offenzustehen. Da sie zu allen Erwachsenen der Gruppe (deren Größe in der Regel bei der auch für die S-Gruppe typischen Zahl von acht bis zwanzig Erwachsenen liegt) freundschaftliche Beziehungen unterhalten, werden Konflikte durch Trennung von der zeitweise schlecht gelaunten Bezugsperson lösbar. Ersatz-Eltern stehen jederzeit zur Verfügung, da nach dem «matristischen» (Borneman) Prinzip der altsteinzeitlichen Kulturen die Sippe bzw. lokale Gruppe sich für alle (auch Kinder und Greise) ähnlich sorgend verantwortlich fühlt wie eine (gute) Mutter für ihren Säugling, der Zuwendung und Nahrung ohne Gegenleistung erhält. Mit der Seßhaftigkeit wurden solche Formen der Konfliktlösung zwischen Erwachsenen unmöglich. Wer seine festen Hauspfosten hat, muß sich verteidigen, muß den Konflikt aggressiv austragen. Hier setzt die kulturelle Evolution der Aggression ein.[*] Die Spaltung, welche erst räumlich erfolgte, mußte verinnerlicht werden. Sie betraf jene Teile der primären gefühlshaften Reaktionsweisen und Erlebnisformen, die den Anforderungen der seßhaften Gesellschaften widersprachen.

 

15. Die Spaltung stand ursprünglich im Dienst der Anpassung und des Überlebens. Bereits für den Jäger und Sammler muß die Zurückstellung spontaner Wünsche und Gefühlsäußerungen in vielen sozialen Situationen von Nutzen gewesen sein. Die Fähigkeit, die Spaltung zu vollziehen, war wohl die psychische Voraussetzung, daß überhaupt der Prozeß der Seßhaftwerdung beginnen konnte. Der Ackerbau setzt, ebenso wie die Viehzucht, voraus, unmittelbare und bequeme Befriedigung für Langzeitziele zu opfern. Beide Produktionsformen sind nicht möglich, solange die Muttertiere gebraten oder das Saatgut aufgegessen werden. Die durch die Spaltung gebotenen Anpassungschancen wurden schon sehr früh durch die Konkurrenz zwischen den einzelnen seßhaften Kulturen überfordert. Diese Konkurrenz erzwang ein patriarchalisches Gesellschaftssystem mit einem Leitbild harter, aggressiver Männlichkeit, da nur solche Kulturen sich gegenüber anderen, ähnlichen Kulturen durchsetzen konnten. Kennzeichnend für diesen Übergang ist z.B. der Beginn der Prügelstrafe in der Erziehung. Jäger und Sammler schlagen ihre Kinder in der Regel nicht. Wenn es geschieht, dann im Affekt, nicht als planmäßige «pädagogische» Maßnahme, wie es in den frühen Stadtkulturen und Nomadenstämmen nicht selten war. Diesen Umschlag in der Erziehung, der die Spaltung durch massive Drohungen und Strafen erzwang, kennzeichnen Sprüche wie «Das Ohr des Schülers sitzt auf seinem Rücken: Er hört nur, wenn man ihn schlägt» (Altägypten), oder in der Bibel «Zerschlage seine Rippen, solange er noch klein ist, damit er nicht, groß geworden, dir den Gehorsam verweigere». Die freie Anpassungsfähigkeit, die mit einer Umkehrbarkeit der Spaltung und durchlässig gebliebenen Wegen zwischen der Fassade und dem Kind zusammenhängt, wurde ganz oder teilweise in einen Anpassungszwang umgesetzt, bei dem die Spaltung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und eine Rückkehr zu den kindlich-urtümlichen Erlebnisformen im Dienste des Ich unmöglich scheint. Die irreversible Spaltung entfremdet den Betroffenen seinen emotionalen, imaginativen und intuitiven Fähigkeiten. Er kann sich kaum in andere Menschen einfühlen und ersetzt Empathie durch starres Festhalten an Regeln und Gesetzen. Folgerichtig fühlt er sich nur erwachsen und akzeptiert, solange er recht hat. Unrecht haben ist für ihn gleichbedeutend mit schlecht und ungeliebt sein.

 

16. Durch die Spaltung wird die Phantasie, von der Realität und den mitmenschlichen Beziehungen in ihr getrennt, zu einer entfremdeten Aktivität im Hintergrund des Bewußtseins. Nur jene Phantasien, die dem Ich gemäß sind, bleiben differenziert und reich genug, um dem Bewußtsein zugänglich zu werden. Andrerseits entfernen sie sich auf diese Weise nie ganz von der Lebenswirklichkeit. Abgespaltene Phantasien behalten ihren ursprünglichen, infantilen Charakter. Sie sind chaotisch, bizarr, angsterregend. Wo die Neugieraktivität des Kindes blockiert wurde, schlägt sie in Aggression gegen die Hindernisse um. Sind diese die primären Bezugspersonen, kann die Phantasie, diese Hindernisse wegzuräumen, vom bewußten Ich nicht aufgenommen werden. Verdrängt, bleibt sie im Unbewußten als archaischer Tötungswunsch. Da nun jede realitätsgerechte Aggression – etwa das Sich-Durchsetzen gegenüber einem Arbeitskollegen – diese archaischen Tötungsphantasien zum Mitschwingen bringt, unterbleibt auch das Sich-Durchsetzen. Durch die übermäßige Rücksicht und die Vermeidung von Auseinandersetzungen steigt andrerseits die Triebkraft für die aggressiven Phantasien; deshalb werden vermehrte Gegenbesetzungen und Reaktionsbildungen notwendig.

Ein 34jähriger, stets korrekt, zurückhaltend und distanziert auftretender Angestellter berichtet über einen Konflikt mit einem älteren Kollegen, der eine frühere Vereinbarung verletzte und ihm eine begehrte Aktivität wegschnappte. Er habe, obwohl persönlich verletzt, sich nicht widersetzen können, «denn ich kann dem Mann doch nicht sagen, daß er zu blöd für den Posten ist und in den letzten Jahren sowieso nur Mist gemacht hat, so verkalkt wie er ist!» Hier wird im vorbewußten Bereich deutlich, wie aggressive Phantasien die realistische Durchsetzung hemmen können. Der vom handelnden Ich abgespaltene, nicht an die reale Umwelt herangetragene Teil der Person blockiert bestimmte Verhaltensbereiche, weil er in ihnen an die spontanen Handlungsentwürfe die Produkte einer übersteigerten, primärprozeßhaften und kindlichen Reaktionsweisen entsprechenden Phantasie knüpft. Der Betroffene kann sich nicht vorstellen, daß er zu seinem Rivalen auch ruhig sagen könnte, er sei nicht bereit, auf die vereinbarte Position zu verzichten, weil die Situation eine Reaktion des Unbewußten hervorruft, in der sich z.B. seine Geschwistersituation wiederholt. Durch eine unbewußte Gleichung von «Durchsetzen» und «Brudermord» (oder «Vatermord») unterbleibt das in der Realität mögliche Verhalten. Weil es unterbleibt, steigt die Macht dieser Gleichung und ihr Einfluß auf das künftige soziale Verhalten (wobei die Umwelt, z.B. im Betrieb, durch ihre Verhaltenserwartungen an den Aggressionsgehemmten diesen Kreisvorgang noch steigert).