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In einer zunehmend vernetzten und öffentlichen Welt werden sexuelle Belästigungen häufiger sichtbar – und trotzdem ist das Dunkelfeld gross. Dieser Tagungsband zum 14. Zürcher Präventionsforum gibt einen aktuellen Einblick in die drängende Frage, wie sexuelle Belästigung wirksam bekämpft werden kann. Expertinnen und Experten bieten fundierte Analysen, die von den rechtlichen Rahmenbedingungen über die Dunkelziffer im virtuellen Raum bis hin zu neuen Präventionsansätzen im Gesundheitswesen und Nachtleben reichen. Psychosoziale Schäden, das Schweigen der Betroffenen und die Notwendigkeit niederschwelliger Meldeangebote erfordern ein Umdenken auf gesellschaftlicher Ebene. Für alle, die sich für gesellschaftlichen Wandel und die Stärkung von Sicherheit und Präventionsarbeit einsetzen, ist dieser Tagungsband ein unverzichtbares Werk.
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Seitenzahl: 157
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Sexuelle Belästigung im öffentlichen und virtuellen Raum − Fokus der Kriminalprävention Copyright © by Christian Schwarzenegger; Rolf Nägeli; und Aurelia Gurt is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.
© 2024 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)
Herausgeber: Christian Schwarzenegger, Rolf Nägeli, Aurelia Gurt – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Produktion, Satz & Vertrieb:buchundnetz.comISBN:978-3-03805-746-8 (Print – Softcover)978-3-03805-747-5 (PDF)978-3-03805-748-2 (ePub)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-746Version: 1.01 – 20241125
Das Werk ist als gedrucktes Buch und als Open-Access-Publikation in verschiedenen digitalen Formaten verfügbar: https://eizpublishing.ch/publikationen/sexuelle-belaestigung-im-oeffentlichen-und-virtuellen-raum-fokus-der-kriminalpraevention/.
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Spätestens seit der #MeToo-Bewegung hat die Thematik „sexuelle Belästigung“ Gesellschaft und Politik sensibilisiert. Dies zu Recht, verzeichnet doch auch die polizeiliche Kriminalstatistik in den letzten Jahren eine Zunahme von sexuellen Belästigungen (Art. 198 StGB). Mit Blick auf die niedrige Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung weisen Fachpersonen zudem darauf hin, dass es ein noch deutlich grösseres Dunkelfeld geben muss. Der vorliegende Tagungsband fasst aktuelle wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse zusammen, die im Rahmen des 14. Zürcher Präventionsforums präsentiert wurden. Damit bietet er eine wertvolle Informationsgrundlage für alle, die sich mit der Prävention und Bekämpfung sexueller Belästigung auseinandersetzen.
Den Auftakt macht RA Dr. Aurelia Gurt, die in ihrem Beitrag „Sexuelle Belästigung – Tour d’Horizon“ grundlegende Begriffe, Erscheinungsformen und rechtliche Grundlagen darstellt und so einen umfassenden Überblick zum Thema bietet. Gurt erläutert, wie das Phänomen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auftritt und welche Herausforderungen in der Rechtsdurchsetzung bestehen.
Im Anschluss geben Dayana Mordasini und Naomi Chinasa Bögli Einblicke in das Projekt „Zürich schaut hin“, das Präventionsarbeit in Zürich leistet. Sie beschreiben die Umsetzung und Wirkung von präventiven Massnahmen auf kommunaler Ebene und betonen die Bedeutung der Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung.
Claudia Stam widmet sich den Herausforderungen der Prävention und Intervention bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Ihr Beitrag zeigt, dass Massnahmen zur Aufklärung und Prävention gezielt an den beruflichen Alltag angepasst werden müssen, um wirksam zu sein und ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen.
Aner Voloder beleuchtet sexuelle Belästigung im Gesundheitswesen und stellt heraus, dass auch im Kontext von Pflege und Gesundheitsversorgung spezifische Präventionsmassnahmen erforderlich sind. Dabei wird auf das besondere Näheverhältnis zwischen Pflegepersonal und Patienten eingegangen, welches angepasste Schutzvorkehrungen erfordert.
Mit ihrem Beitrag zur Kampagne „nachtsam“ stellt Dr. Pia Kuchenmüller präventive Strategien gegen sexualisierte Gewalt im Nachtleben dar. Sie zeigt, wie wichtig es ist, Präventionsmassnahmen für diese besonderen sozialen Räume zu entwickeln und die Sensibilisierung zu fördern.
RA Rebecca Sigg widmet sich schliesslich der sexuellen Belästigung im virtuellen Raum und fokussiert auf die Opfererfahrungen von Jugendlichen. Ihr Beitrag macht deutlich, dass die Präventionsarbeit hier besonders an den Schutz junger Menschen anknüpfen muss und sich vor allem auf den digitalen Raum ausweiten sollte.
Die Beiträge verdeutlichen die Aktualität des Themas. Der jüngste Bericht des Bundesrates zur sexuellen Belästigung in der Schweiz bestätigt, dass die Zahl der Berichte über solche Vorfälle in öffentlichen und virtuellen Räumen kontinuierlich steigt und dass neue Präventionsstrategien notwendig sind, um den komplexen Herausforderungen wirksam zu begegnen (Bundesrat, Sexuelle Belästigung in der Schweiz: Ausmass und Entwicklung. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 18.4048 Reynard Mathias vom 28. September 2018, Bern 2022).[1] Eine ergänzende Studie im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann zeigt drei zentrale Erkenntnisse auf, die die Dringlichkeit weiterer Präventionsanstrengungen unterstreichen (Lorenz Biberstein et al., Sexuelle Belästigung in der Schweiz. EBG Bern 2022):[2]
Hohe Dunkelziffer: Die meisten Betroffenen berichten sexuelle Belästigungen nicht, was darauf hinweist, dass das tatsächliche Ausmass deutlich höher liegt als die offiziellen Zahlen suggerieren.Psychosoziale Folgen: Viele Betroffene leiden anhaltend unter den Folgen der Belästigungen, insbesondere in Form von Stress, Angst und sozialem Rückzug.Bedarf an niedrigschwelligen Meldestrukturen: Die Studie betont die Notwendigkeit, einfach zugängliche Melde- und Beratungsangebote zu schaffen, um Betroffene besser zu unterstützen und das Meldeverhalten zu fördern.Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass das bestehende rechtliche und soziale Instrumentarium zur Prävention und Bekämpfung sexueller Belästigung ständig erweitert und angepasst werden muss. Neben rechtlichen Massnahmen bleibt eine verstärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit zentral, um ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen und eine gesellschaftliche Haltung der Nulltoleranz zu fördern. Die im Tagungsband vorgeschlagenen Massnahmen umfassen hierbei sowohl strukturelle als auch verhaltensorientierte Ansätze, die im individuellen wie im sozialen Kontext ansetzen.
Für die ausgezeichnete Organisation der Tagung danken wir Tiziana Rigamonti und ihrem Team vom Europa Institut an der Universität Zürich herzlich.
Die Herausgeberin und Herausgeber
Christian Schwarzenegger, Rolf Nägeli und Aurelia Gurt
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An dieser Stelle ist es mir ein besonderes Anliegen, eine besonders wichtige Person für das Zürcher Präventionsforum zu verabschieden. Es handelt sich um den Mitherausgeber und Mitorganisator dieser Tagung, Hauptmann Rolf Nägeli, der nach fast genau 14 Jahren von seiner Position als Chef des Kommissariats Prävention der Stadtpolizei Zürich zurücktritt. Rolf Nägeli übernahm die Leitung im April 2010 und prägte seither das Präventionsforum massgeblich. Bereits beim dritten Präventionsforum diskutierte er das Thema „Videoüberwachung als Prävention“ und zeigte in den darauffolgenden Jahren ein grosses Engagement für die Themenvielfalt und -entwicklung der Tagung.
Meine Zusammenarbeit mit Rolf Nägeli begann jedoch schon 2005, als er noch die Fachgruppe Kinderschutz bei der Kriminalpolizei leitete. Ich erinnere mich, wie hilfsbereit und offen er damals auf eine Anfrage zu Ermittlungen in Chatrooms reagierte – eine Antwort, die seine Einstellung zur Zusammenarbeit widerspiegelte: offen, kooperativ und immer bereit, Wissen zu teilen. Diese Offenheit hat sich auch in den gemeinsamen Forschungsprojekten gezeigt, beispielsweise bei einem frühen Pilotprojekt zu „Predictive Policing“. Rolf Nägelis Interesse an wissenschaftlicher Begleitforschung hat die Zusammenarbeit mit der Stadtpolizei Zürich geprägt und war von unschätzbarem Wert.
Über die Jahre haben wir gemeinsam das Zürcher Präventionsforum zwölfmal organisiert. In dieser Zeit entstanden Tagungsbände mit insgesamt 81 Beiträgen auf 1738 Seiten, die allesamt Open Access zur Verfügung stehen. Dank Rolf Nägelis Engagement sind die Themen Kinderschutz, Radikalisierung, Jugendmedienschutz, technische Prävention und viele andere im Rahmen des Forums tiefgreifend beleuchtet worden.
In Erinnerung bleiben auch zwei Zwischenfälle am Zürcher Präventionsforum: An einer unserer Tagungen wurde die Veranstaltung überraschend von polizeibekannten Taschendieben besucht – Rolf Nägeli reagierte sofort und veranlasste eine diskrete, aber erfolgreiche Intervention. Und beim dritten Präventionsforum 2010 warteten wir als Organisatoren gespannt, ob unser Referent von Berlin Tegel abfliegen könnte. Wegen eines Vulkanausbruchs auf Island sass er dort – wörtlich – angeschnallt im Flugzeug fest. Das Flugzeug erhielt aus Sicherheitsgründen keine Flugerlaubnis, was dazu führte, dass ich den
Vortrag des Referenten kurzfristig übernehmen musste. Solche Situationen haben die gemeinsame Zeit immer auch lebendig gemacht und uns vor besondere Herausforderungen gestellt.
Rolf Nägeli sei hier für die ausgezeichnete Zusammenarbeit herzlich gedankt.
Christian Schwarzenegger
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Sexuelle Belästigung − Tour d’Horizon
Dr. Aurelia Gurt, Rechtsanwältin, Associate bei Schellenberg Wittmer AG, Zürich
Sexualdelikte und Prävention − Erkenntnisse aus dem Projekt „Zürich schaut hin“
Dayana Mordasini, Delegierte Quartiersicherheit, Sicherheitsdepartement, Stadt ZürichNaomi Chinasa Bögli, Projektleiterin, Fachstelle für Gleichstellung, Stadt Zürich
Prävention und Intervention bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz
Claudia Stam, CEO & Inhaberin, Fachstelle Mobbing und Belästigung, Zürich
Sexuelle Belästigung im Gesundheitswesen
Aner Voloder, stv. Leiter Fachstelle für Gleichstellung, Stadt Zürich
Sexualisierte Gewalt im NachtlebenAm Beispiel der Landeskoordinierungsstelle Sicherheit im Nachtleben Baden-Württemberg mit seiner Kampagne nachtsam. Mit Sicherheit besser feiern.
Dr. Pia Kuchenmüller, Leitung Landeskoordinierungsstelle, Sicherheit im Nachtleben Baden-Württemberg, Referentin Öffentlichkeitsarbeit & Prävention, Frauenhorizonte − Gegen sexuelle Gewalt e.V., Freiburg im Breisgau
Tatort Cyberspace − unter besonderer Berücksichtigung der Viktimisierung Jugendlicher
Rebecca Sigg, Rechtsanwältin, Doktorandin, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität Zürich und stellvertretende Jugendanwältin Jugendanwaltschaft Limmattal/Albis
Aurelia Gurt
Regelmässig wird in den Medien von Fällen sexueller Belästigungen berichtet.[1] Auch auf politischer Ebene zeigt ein Blick in die Geschäftsdatenbank des Parlaments, dass laufend politische Vorstösse zur Thematik sexuelle Belästigung erfolgen.[2]
Sexuelle Belästigungen finden nicht nur im Nachtleben, sondern auch im (Berufs‑)Alltag vieler Personen statt.[3] Dabei bleiben auch Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht von sexuellen Belästigungen verschont, wie jüngst das Beispiel einer Profi-Fussballerin zeigte.[4] Doch was genau ist eine sexuelle Belästigung? Wie wird das Phänomen rechtlich erfasst? Und vor allem, wie können Vorfälle von sexueller Belästigung verhindert werden? Diese Fragen sollen in diesem Beitrag zumindest ansatzweise thematisiert und dadurch gleichzeitig eine Kurzübersicht zum Phänomen sexuelle Belästigung geschaffen werden.
Bereits bei der Frage der Definition von sexueller Belästigung zeigt sich die Vielschichtigkeit dieser Thematik, denn es existiert keine einheitliche (Legal‑)Definition.[5] Im rechtlichen Kontext werden – mit Ausnahme des Gleichstellungsgesetzes – unter sexuellen Belästigungen „niederschwellige verbale oder tätliche Übergriffe sexueller Natur“[6] verstanden. Im sozialwissenschaftlichen Kontext wird sexuelle Belästigung häufig als ein Verhalten mit sexuellem Bezug oder aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit definiert, das unerwünscht ist und eine Person in ihrer Würde verletzt.[7] Die sozialwissenschaftliche Definition erweist sich demzufolge als breiter bzw. umfassender als die rechtliche und stellt das Empfinden der betroffenen Person in den Mittelpunkt.[8]
Die Erscheinungsformen von sexueller Belästigung können – je nach Kontext – sehr unterschiedlich sein. Es lassen sich grob drei Formen sexueller Belästigung unterscheiden, nämlich die verbale, physische und visuelle sexuelle Belästigung.[9]
Eine verbale sexuelle Belästigung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen, so zunächst durch die Äusserung von unangebrachten, sexualisierten Witzen gegenüber Betroffenen oder durch das Zurufen sexistischer Kommentare bzw. Geräusche (sog. Catcalling).[10] Weiter können anzügliche, zweideutige oder verführerische Bemerkungen bzw. Komplimente gegenüber Betroffenen geäussert werden.[11] Schliesslich stellen auch herablassende sexistische Äusserungen, wie z.B. solche über die sexuelle Orientierung, eine verbale sexuelle Belästigung dar.[12]
Eine physische sexuelle Belästigung zeigt sich in unerwünschten Annäherungsversuchen oder Körperkontakten gegenüber Betroffenen, wie z.B. Berührungen oder Küssen.[13]
Bei einer visuellen sexuellen Belästigung werden Betroffene schliesslich durch die belästigende Person in aufdringlicher Weise beobachtet oder aber ungewollt zum Zuschauer gemacht, indem ihnen beispielsweise sexualisierte Bilder bzw. Darstellungen gezeigt oder an sie versendet werden.[14]
Sexuelle Belästigungen können an verschiedenen Örtlichkeiten auftreten und ganz unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche betreffen. Statistisch gesehen findet eine Vielzahl von sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz statt. Sexuelle Belästigungen können dabei über alle Hierarchiestufen hinweg vorkommen, d.h. unter Mitarbeitenden aber auch von Vorgesetzten gegenüber Mitarbeitenden ausgehen und umgekehrt. Neben dem Arbeitsplatz erfolgen sexuelle Belästigungen auch am Ausbildungsplatz, d.h. an Schulen, Hochschulen und weiteren Ausbildungsstätten.[15] Da viele Ausbildungseinrichtungen zum öffentlichen Raum gehören, ist eine starre Kategorisierung der Tatörtlichkeiten nicht möglich, vielmehr gibt es diesbezüglich verschiedentlich Überschneidungen.[16] Sexuelle Belästigungen an Ausbildungsplätzen können dabei ebenfalls von hierarchisch Gleichgestellten ausgehen, wie beispielsweise von einem Studienkommilitonen gegenüber einer Studentin oder aber von hierarchisch über- oder untergeordneten Personen, wie z.B. Ausbildner, Lehrer oder Professoren gegenüber Schülern bzw. Studenten wie auch umgekehrt.[17]
Als weitere Tatörtlichkeit ist das Gesundheitswesen anzuführen, worunter insbesondere Spitäler, Arzt- und Therapiepraxen, Alters- und Pflegeheime sowie Rehabilitationszentren fallen.[18] Sexuelle Belästigungen können dabei durch Angestellte des Gesundheitswesens gegenüber Patienten bzw. Heimbewohnern wie auch umgekehrt, d.h. von Patienten bzw. Heimbewohnern gegenüber dem Gesundheitspersonal, erfolgen. In letzterem Fall handelt es sich zumindest aus der Perspektive der Betroffenen gleichzeitig auch um eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
Statistisch gesehen am häufigsten kommen sexuelle Belästigungen jedoch im öffentlichen Raum vor.[19] Dabei gibt es drei Bereiche, in denen eine Vielzahl der sexuellen Belästigung stattfindet, nämlich (1) im Nachtleben, d.h. in Bars und Clubs, (2) im öffentlichen Verkehr und (3) auf der Strasse bzw. in öffentlichen Park- und Freizeitanlagen.[20]
Schliesslich erfolgen sexuelle Belästigungen auch im virtuellen Raum, insbesondere über soziale Netzwerke.[21] Vor allem unter Jugendlichen haben sexuelle Belästigungen im virtuellen Raum in den letzten Jahren zugenommen, wie die JAMES-Studie (Jugend, Aktivitäten, Medien-Erhebung Schweiz) aus dem Jahr 2022 zeigt.[22] Fast die Hälfte der im Rahmen der JAMES-Studie befragten Jugendlichen gab an, schon einmal online sexuell belästigt worden zu sein. Im Jahr 2014 war – im Vergleich – noch ein Fünftel der befragten Jugendlichen betroffen.[23]
Um einen Eindruck vom Ausmass der sexuellen Belästigung in der Schweiz gewinnen zu können, sind empirische Erkenntnisse von Relevanz. Die betreffende Datenlage zu sexueller Belästigung in der Schweiz erweist sich indes sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld als unbefriedigend.[24]
Das Hellfeld bildet diejenigen Fälle sexueller Belästigungen ab, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt werden, so insbesondere die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die Strafverfolgungsstatistik und die Opferhilfestatistik.[25] In der Schweiz liegen bedauerlicherweise für Erwachsene im Hellfeld nur statistische Daten zur polizeilichen Kriminalstatistik vor, da der Straftatbestand der sexuellen Belästigungen (Art. 198 StGB[26]) weder in der Strafurteils- noch in der Opferhilfestatistik ausgewiesen wird.[27]
Gemäss der polizeilichen Kriminalstatistik konnte für das Jahr 2022 im Vergleich zu den beiden Vorjahren ein Anstieg der Anzeigen wegen sexueller Belästigungen nach Art. 198 StGB verzeichnet werden.[28] Im Jahr 2023 war demgegenüber ein leichter Rückgang der Anzeigen wegen sexueller Belästigungen ersichtlich.[29] Gründe für diese leichte Abnahme um 3% im Vergleich zum Vorjahr (Jahr 2022) können nur vermutet werden und beispielsweise in einer Unkenntnis der Strafbarkeit von sexuellen Belästigungen oder in einem fehlenden Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden auf Opferseite begründet liegen.[30]
Es zeigen sich für das Jahr 2023 – wie auch bereits in den Vorjahren – zudem deutliche Geschlechterunterschiede: Von den beschuldigten Personen waren eine überwiegende Mehrheit (98%) männlich und gerade einmal 2% weiblich.[31] Auf Seite der geschädigten Personen zeigt sich indes das umgekehrte Bild, d.h. es wurden 90% weibliche und 10% männliche Geschädigte verzeichnet.[32] Von den angezeigten Fällen von sexuellen Belästigungen fand zudem eine deutliche Mehrheit, nämlich drei Viertel (77%), im öffentlichen Raum statt.[33] Hinsichtlich der Datenlage der polizeilichen Kriminalstatistik bleibt jedoch zu berücksichtigen, dass die Anzeigerate bei sexuellen Belästigungen – wie bei Sexualdelikten allgemein – erfahrungsgemäss sehr tief ist, sodass die tatsächliche Anzahl der Betroffenen um einiges höher sein dürfte, als dies in der polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesen wird.[34]
Anders als das Hellfeld bildet das Dunkelfeld die Summe aller sexuellen Belästigungen ab, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden.[35] Um das Dunkelfeld eruieren zu können sind Bevölkerungs- bzw. Opferbefragungen von grosser Bedeutung. Eine spezifische Befragungsstudie, die schwerpunktmässig die Viktimisierungserfahrungen von sexuellen Belästigungen in der Schweiz erfragte, existiert bis dato nicht. In der Vergangenheit wurden allerdings verschiedene repräsentative Befragungen zu den Viktimisierungserfahrungen von sexueller Belästigungen in bestimmten Kontexten durchgeführt, so beispielsweise zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz oder im Schulkontext.[36] Aufgrund der unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte der einzelnen Studien sowie der ihnen zugrunde liegenden abweichenden Methodik und Definition sind entsprechende Studienergebnisse allerdings nicht direkt miteinander vergleichbar.[37]
Die neuste Sicherheitsbefragung der Schweizer Bevölkerung zu Eigentums- und Gewaltdelikten aus dem Jahr 2022 erfragte jedoch die 15’519 Teilnehmenden unter anderem auch nach dem Erleben von sexuellen Belästigungen innerhalb der letzten fünf Jahre, d.h. zwischen 2017 und 2022.[38] Junge Frauen berichteten dabei sehr viel häufiger von sexuellen Belästigungen als Männer und ältere Personen. Betroffene gaben an, am häufigsten an Örtlichkeiten der Freizeitbeschäftigung, also beim Sport, im Nachtleben usw. (26.9%) und somit im öffentlichen Raum, sexuell belästigt worden zu sein, gefolgt von sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz (12.4%). Zudem wurden Betroffene am häufigsten verbal (49.7%) und am zweithäufigsten physisch (33.1%) sexuell belästigt. Physische sexuelle Belästigungen zeigten sich vor allem in Form von unerwünschten Küssen oder sexuellen Berührungen. Gefragt nach der Tatperson gaben rund 60% der Betroffenen an, die Tatperson nicht zu kennen und 24.5% der Betroffenen nannte einen Arbeitskollegen bzw. eine Arbeitskollegin als Tatperson. Schliesslich meldeten gerade einmal 6.8% der Betroffenen, die innerhalb der letzten fünf Jahre eine sexuelle Belästigung erlebten, diese der Polizei. Die Anzeigebereitschaft der befragten Betroffenen erwies sich demzufolge als sehr tief.[39]
Wie die vorangehenden Ausführungen zeigen, besteht in der Schweiz in Bezug auf sexuelle Belästigungen aktuell ein statistisches Datendefizit.[40] Über alle Studienergebnisse hinweg zeigt sich jedoch, dass Frauen deutlich häufiger von sexuellen Belästigungen betroffen sind als Männer.[41] Darüber hinaus weisen weibliche Personen auch ein höheres Risiko auf, Opfer von sexueller Belästigung zu werden.[42] Im Rahmen der vom Bundesrat verabschiedeten Gleichstellungsstrategie 2030 wird jüngst die Durchführung einer Prävalenzstudie zu sexueller Gewalt, worunter auch sexuelle Belästigungen zu zählen sind, geprüft.[43] Es wäre durchaus erfreulich, wenn eine entsprechende Studie in der Schweiz mit einem Fokus auf sexuelle Belästigungen durchgeführt würde.
Im Zusammenhang mit sexuellen Belästigungen weisen Studien bzw. Studienerkenntnisse darauf hin, dass drei Personengruppen als besonders vulnerabel anzusehen sind[44]: Zunächst gelten Frauen als vulnerabel hinsichtlich einer Viktimisierung im öffentlichen Raum, insbesondere jüngere Frauen im Nachtleben.[45] In diesem Zusammenhang wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Viktimisierung von sexuellen Belästigungen im Nachtleben im deutschsprachigen Raum wenig erforscht ist.[46]
Weiter wird von Experten aus der Praxis berichtet, dass LGBTQ+[47]-Personen sich vermehrt mit physischen sexuellen Belästigungen konfrontiert sehen.[48] Erschwerend kommt bei dieser Betroffenengruppe gemäss Fachleuten hinzu, dass die Hürde zu einer Anzeige aus Angst vor Queer- oder Transgenderfeindlichkeit der Polizei gross und demzufolge die Anzeigebereitschaft dieser Personengruppe noch geringer ist.[49]
Für beeinträchtigte pflegebedürftige Personen, insbesondere Menschen mit einer geistigen oder einer geistigen und körperlichen Beeinträchtigung (sog. Mehrfachbehinderung), wird in Fachkreisen ebenfalls eine erhöhte Vulnerabilität vermutet.[50] Bei einer Pflegebedürftigkeit sind körperliche Berührungen zur (Körper‑)Pflege seitens des Pflegepersonals notwendig, wobei sich solche von Berührungen mit sexueller Motivation, d.h. physischen sexuellen Belästigungen, teilweise nur schwer abgrenzen lassen.[51] Je nach Ausprägung der (geistigen) Beeinträchtigung können sich Betroffene schliesslich auch nicht adäquat mitteilen, weshalb die Betroffenheit dieser Personengruppe bisher auch nur wenig erforscht ist, da eine Befragung häufig nicht möglich ist.
Die Auswirkungen von sexuellen Belästigungen auf die Betroffenen sind vielfältig. Vorfälle von sexuellen Belästigungen können persönliche bzw. private, gesundheitliche aber auch berufliche Folgen nach sich ziehen; letzteres insbesondere in Fällen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.[52] Auswirkungen auf das Privatleben zeigen sich vor allem in einem sozialen Rückzug der Betroffenen, womit auch Probleme in einer Partnerschaft respektive im Familienleben einhergehen können.[53] Als gesundheitliche Folgen stehen zunächst psychosomatische Beschwerden im Vordergrund, wie z.B. Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden.[54] Es können aber auch psychische Probleme, z.B. Depressionen oder Suchterkrankungen, auftreten.[55] Berufliche Folgen zeigen sich vor allem in schlechteren Arbeitsleistungen (Leistungsabfall) der Betroffenen.[56] Finden sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz statt, berichten Betroffene zudem von einer Demotivation bei der Arbeit, dem Entwickeln eines Misstrauens gegenüber Arbeitskollegen und damit zusammenhängend einem sozialen Rückzug sowie von der Anpassung des persönlichen Auftretens, des Kleidungsstils, der Arbeitszeiten oder des Arbeitswegs.[57] Teilweise verlieren Betroffene sogar ihre Arbeitsstelle.[58]
Die Auswirkungen von sexuellen Belästigungen auf die Betroffenen sind in der Schweiz bisher allerdings wenig erforscht.[59] Entsprechende Erkenntnisse stützen sich dabei vorwiegend auf Studien im Kontext von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.[60] Zweifelsohne wäre es interessant, die Auswirkungen von sexuellen Belästigungen auf Betroffene in der Schweiz mithilfe einer schweizweiten, kontextübergreifenden Studie zu erforschen, indem beispielsweise im Rahmen der nächsten Sicherheitsbefragung der Schweizer Bevölkerung (vgl. oben, II.4.b)) die Teilnehmenden auch zu den Auswirkungen von sexueller Belästigung befragt würden.