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Im Kampf gegen die Dunkelheit, bleibt nur eine Hoffnung – die Fantasie
Die packende Romantasy, die in eine magische Welt entführt
Als plötzlich in ganz Irland auf mysteriöse Art und Weise Kinder sterben, verändert sich das Leben von Liska Cavanaugh und Anian Rohwer für immer. Auf einmal sind die beiden Studierenden auf der Flucht vor furchterregenden Schattenwesen, die es nach dem Leben der Jugendlichen dürstet. Liska und Anian haben keine Ahnung, wie sie sich gegen die sonderbaren Wesen verteidigen sollen. Doch dann erhalten sie mysteriöse Briefe, die Antworten auf ihre tausend Fragen versprechen. Sofort machen sie sich zum genannten Treffpunkt auf und erfahren, was wirklich hinter den Ereignissen steckt: Der Fürst der Dunkelheit versucht die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Liska und Anian sollen zusammen mit weiteren Begabten in den Kampf ziehen und werden in ein magisches Ausbildungslager gebracht, in dem sie ihre Fähigkeiten trainieren. Doch wem können sie vertrauen und werden sie es schaffen, gegen die Dunkelheit zu siegen?
Erste Leser:innenstimmen
„Magisch, bewegend, packend – klare Empfehlung für Fantasy-Fans!“
„Hat mich von Seite eins an in den Bann gezogen und auf ein wunderbares Abenteuer mitgenommen.“
„Fesselnd geschriebene Urban Fantasy mit schöner Liebesgeschichte.“
„Romantasy voller Spannung und Gefühl!“
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Seitenzahl: 439
Als plötzlich in ganz Irland auf mysteriöse Art und Weise Kinder sterben, verändert sich das Leben von Liska Cavanaugh und Anian Rohwer für immer. Auf einmal sind die beiden Studierenden auf der Flucht vor furchterregenden Schattenwesen, die es nach dem Leben der Jugendlichen dürstet. Liska und Anian haben keine Ahnung, wie sie sich gegen die sonderbaren Wesen verteidigen sollen. Doch dann erhalten sie mysteriöse Briefe, die Antworten auf ihre tausend Fragen versprechen. Sofort machen sie sich zum genannten Treffpunkt auf und erfahren, was wirklich hinter den Ereignissen steckt: Der Fürst der Dunkelheit versucht die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Liska und Anian sollen zusammen mit weiteren Begabten in den Kampf ziehen und werden in ein magisches Ausbildungslager gebracht, in dem sie ihre Fähigkeiten trainieren. Doch wem können sie vertrauen und werden sie es schaffen, gegen die Dunkelheit zu siegen?
Erstausgabe Oktober 2021
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-847-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-987-2
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Boiko Olha, © Dean Drobot freepik.com: © wirestock, © nensuria, © vectorrific23, © createvil Lektorat: Stephanie Schilling
E-Book-Version 31.07.2024, 09:36:57.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Es war ein ganz gewöhnlicher Dienstagmorgen während eines ganz gewöhnlichen Sommers. Das Licht der aufgehenden Sonne verdrängte die Dunkelheit der vergangenen Nacht, die Vögel sangen ihre Lieder und die Menschen erwachten aus ihren Träumen – oder aber aktivierten wohlig seufzend die Schlummerfunktion ihrer Wecker und setzten ihren Schlaf fort.
Niemand spürte, dass sich etwas verändert hatte.
Auch nicht das 22-jährige Mädchen mit den unzähligen Sommersprossen und den widerspenstigen roten Locken, das an seinem Schreibtisch saß und das vor ihm ausgebreitete Lehrbuch feindselig anstarrte.
Liska Cavanaugh hielt es für ausgesprochen ungerecht, einen Tag, der dem wolkenlosen Himmel nach zu urteilen ein ganz besonders herrlicher zu werden schien, mit Lernen vergeuden zu müssen. Sie stellte sich vor, dass die Gleichungen und Koordinatenkreuze in ihren Heften einfach zu sprechen begännen und voller Enthusiasmus den Sinn ihrer Existenz erklärten.
Einmal mehr fragte sie sich, welcher böse Geist sie vor knapp zwei Jahren dazu veranlasst haben mochte, sich für das Studium der Mathematik einzuschreiben.
Ein Geist, der den Namen meiner Eltern trägt, beantwortete sie sich ihre eigene Frage im Stillen und kam sich dabei fürchterlich verbittert vor. Immerhin hatte sie ja niemand gezwungen, den Weg einzuschlagen, auf dem sie nun mehr oder weniger ins Straucheln geriet. Liska schnaubte. An guten Tagen konnte sie darüber lachen, als offenbar einziger kreativer Kopf unter hunderten Logik- und Vernunftfanatikern in stickigen Hörsälen vor sich hinzuvegetieren. An schlechten Tagen jedoch war es mit dem Lachen nicht weit her.
Beinahe widerwillig warf sie einen Blick über ihre Schulter. Aus dem Regal in der rechten Ecke des Zimmers, das nebst Schreibtisch gerade noch Platz für ein schmales Schlafsofa bot, quollen diverse Zeichenutensilien.
Ein Wirrwarr aus Farben, Papier, Pinseln und Stiften, wild durcheinandergeworfen und in Liskas Augen das Wertvollste, was sie besaß. Auf dem Papier konnte sie sein, wer sie wollte, konnte jeden erdenklichen Ort erschaffen, Imagination und Realität verschmelzen lassen.
In der Kunst hatte sie Zuflucht gesucht und gefunden.
Es war, als wäre sie einen Pakt eingegangen.
Nur, dass es nicht der Teufel war, der ihre Seele besaß.
Liska unterdrückte einen sich anbahnenden Inspirationsschub, der sich mit Vorliebe dann einstellte, wenn sie ihren studentischen Pflichten nachkommen musste, und wandte sich ab. Die für das Semester angesetzten Prüfungen rückten immer näher und sie konnte es sich beim besten Willen nicht leisten, das Lernen wieder einmal hintenanzustellen. Andererseits lockten die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster auf ihren Schreibtisch fielen, sie mit süßen Versprechungen. Verträumt sah sie hinaus.
Wenn sie es sich recht überlegte, sprach wohl kaum etwas dagegen, der Enge der Wohnung zu entfliehen, um draußen im nahegelegenen Park für die Klausuren zu lernen.
Außer natürlich die Gefahr, dass der Sommer um mich herum meine Kreativität anzapft und ich aufs Zeichnen umsteige.
Liska schnappte sich ihr Handy und tippte eine schnelle Nachricht an ihre beste Freundin Maida:
Hast du Zeit, mit mir für die Prüfung bei Mrs. Kittleman zu lernen? In einer halben Stunde, am üblichen Treffpunkt? Brauche dringend jemanden, der mich vom Malen abhält.
Grinsend verstaute sie Bücher, Picknickdecke, Pinsel, Farbe, Stifte und Papier in ihrem Rucksack und verließ, die Melodie eines Liedes summend, die Wohnung.
***
Zur selben Zeit an einem anderen Ort beugte sich ein Junge namens Anian Rohwer so tief über sein Notizbuch, dass er es fast mit der Nasenspitze berührte und seine Lesebrille in Schieflage geriet. Den Stift umklammert, als hinge sein Leben davon ab, kritzelte er fiebrig Worte auf das Papier. Wie immer, hatte er das quälende Gefühl, seine Gedanken würden ihm entfallen, wenn er sie nicht schnell genug niederschrieb. Sein Wahn wurde jäh durch einen Krampf in der Hand unterbrochen.
„Autsch! Verdammt!“
Der Füllfederhalter rutschte ihm aus den Fingern, fiel auf seine Hose und hinterließ dort einen hässlichen Fleck.
Mit einem Kugelschreiber – oder gar einem Notebook – wäre ihm das wohl nicht passiert, dachte er mürrisch.
Doch Anian hatte nun einmal seine ersten Geschichten mit dem Füller verfasst und redete sich ein, mit anderen Schreibgeräten weniger zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Ebenso verhielt es sich mit seiner Lesebrille, die, und das war sein Geheimnis, nicht einmal eine Sehstärke besaß.
Die Gläser waren ohne jede Funktion, doch er gab sich gern der Illusion hin, dass es eine echte, eine ganz besondere Brille sei; eine, die ihm zu einer vollkommen ungetrübten Sicht verhalf und es ihm so ermöglichte, seinen Sätzen mehr Gewicht zu verleihen. Das war natürlich Unsinn und eigentlich war er sich dessen bewusst, doch alte Gewohnheiten ließen sich bekanntlich nur schwer ablegen.
Verärgert schlurfte Anian in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Nun, da der Krampf seinen Schreibfluss unterbrochen hatte, konnte er genauso gut eine Pause einlegen. Er hatte ohnehin den Faden verloren.
Anian schrieb gern und wenn er schrieb, schrieb er viel, doch er schrieb selten. Das lag weniger an äußeren Umständen wie Zeitmangel - Anian befand sich in seinem obligatorischen Selbstfindungsjahr zwischen Schule und Ausbildung und arbeitete lediglich an den Wochenenden - als vielmehr daran, dass es ihm unheimlich schwerfiel, seine Umwelt vollständig auszublenden und einen Zustand der vollen Konzentration zu erreichen.
Das Gurgeln der Kaffeemaschine beruhigte ihn ein wenig.
Ich muss aufhören, mir einen solchen Druck zu machen, dachte er und strich sich mit dem Mittelfinger nervös über jene Stelle über der Nasenwurzel, an der er bereits in wenigen Jahren eine tiefe Zornesfalte vermutete.
Es führt doch zu nichts. Niemand liest meine Texte und der Einzige, der etwas von mir erwartet, bin ich selbst.
Er zuckte die Achseln.
Andererseits … Lieber sinnlos ehrgeizig als faul ohne Sinn. Das sollte ich aufschreiben.
Ein Scheppern im Hausflur riss Anian aus seinen Gedanken.
Er hatte bei weitem zu viele Krimis gelesen, um arglos zu sein und ein Teil von ihm hätte die Quelle des Geräusches daher liebend gern sich selbst überlassen.
Doch wie so oft streckte die Neugier auch jetzt ihre langen Arme nach ihm aus und versuchte, die Vorsicht im Keim zu ersticken. Zögerlich näherte er sich der Wohnungstür, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinaus.
„Alles in Ordnung?“, rief er in das Treppenhaus.
Mitten am Tage würde wohl kaum ein Einbrecher sein Unwesen treiben … oder?
Nein.
Vielleicht war ja einer der Anwohner gestürzt oder steckte in anderen Schwierigkeiten. Diese Vorstellung eines möglicherweise in Not geratenen Nachbarn war es schließlich, die Anian dazu bewegte, die Tür vollständig zu öffnen und in den Flur hinauszutreten.
Am Absatz der Treppe blieb er stehen.
Ein neuerliches, diesmal vernehmlich lauteres und vor allem länger andauerndes Scheppern ließ Anian zusammenfahren.
Das Geräusch schien seinen Ursprung im Fahrradkeller des Wohnhauses zu haben.
„Hallo?“, rief er, „Was ist da unten los?“
„Sorry, Alter! Hab versehentlich ‘ne kleine Domino-Nummer mit den Rädern abgezogen.“
Anian atmete geräuschvoll aus.
Die Stimme, die ihm entgegen hallte, gehörte zu seinem Sandkastenfreund Emmett, der neben dem zweifelhaften Talent für unangemeldete Besuche auch eines für das Treten in Fettnäpfchen jeglicher Art besaß.
„Stell die Dinger wieder hin und dann komm rauf“, zischte Anian entnervt. „Und wie bist du überhaupt reingekommen? Hast du wieder bei Mrs. Harrison geklingelt?“
Mrs. Harrison war eine alte, kontaktfreudige Dame, die ein Apartment im Erdgeschoss bewohnte und, blauäugig, wie sie war, jedem bereitwillig Einlass gewährte, der die Klingel betätigte.
Ein Umstand, der Anian vor allem nachts sehr beunruhigte, wenn er zuvor wieder einmal in einem Krimi geschmökert hatte.
„Kann schon sein“, keuchte Emmett, der, zwei Stufen auf einmal nehmend, in Anians Sichtfeld auftauchte.
Die Aufforderung seines Freundes, das verursachte Chaos wieder zu beseitigen, hatte er offenbar überhört.
„Na?“, strahlte er, „Was unternehmen wir zwei Hübschen heute?“
Liska hatte die Zeit vergessen.
Nachdem Maida auf ihre SMS geantwortet hatte, dass sie auf ihre kleine Schwester aufpassen müsse und der Freundin deswegen keinen Besuch würde abstatten können, hatte sie zunächst noch einige Minuten tapfer durchgehalten und war ihrem Lehrplan gefolgt. Tatsächlich hatte sie an der frischen Luft um einiges effektiver arbeiten können als in ihrem stickigen Schlafzimmer, das die Wärme der Julisonne großzügig speicherte.
Allerdings hatte Liska schon bald den Fehler begangen, ihren Blick für einen Moment von den mathematischen Formeln zu lösen und die herrliche Natur in sich aufzusaugen.
Da war das goldene Licht der Sonne, das sich im satten Grün der Baumwipfel brach. Die farbenfrohen, feengleichen Falter, die miteinander tanzten. Die Gesichter, die sie aus den nun vereinzelt am Himmel stehenden Wolken heraus anlächelten.
Wie von selbst hatte Liska, gefesselt von der Schönheit des Tages, das Lehrbuch gegen ihren Skizzenblock ausgetauscht und sich ihrer Leidenschaft zunächst widerstrebend, dann voller Wonne, hingegeben.
Sie entfloh der Realität auf eine Weise, wie es ihr sonst nur in Träumen gelang. Erst, als die feinen Linien, die sie zu Papier gebracht hatte, sich in der Dunkelheit verloren, verließ Liska diesen sonderbaren Zustand wieder.
Die vielen anderen Menschen, die die Wiese bei ihrer Ankunft im Park noch gesäumt hatten, waren längst verschwunden. Nur ein einziges Pärchen, dessen eng aneinandergeschmiegte Schemen sie auf einer Bank ausmachen konnte, war geblieben.
Nun, da sie allmählich ins Hier und Jetzt zurückkehrte, nahm Liska die Kälte wahr, die Hand in Hand mit dem Abend über Galway hereingebrochen war. Auf ihren nackten Armen und Beinen hatte sich eine Gänsehaut gebildet.
Es war verrückt, dachte sie, dass die Tage in diesem Sommer so heiß und die Nächte so kühl waren.
Irgendetwas dazwischen wäre ihr sehr willkommen gewesen.
Fröstelnd und mit zusammengekniffenen Augen suchte Liska ihre Sachen zusammen, schüttelte die Decke, auf der sie gesessen hatte, noch einmal aus und stopfte diese schließlich zusammen mit ihrem restlichen Hab und Gut in ihren Rucksack.
Nachdenklich schlug sie den Weg nach Hause ein.
Mit jedem Schritt, den sie tat, lichtete sich der angenehme Schleier, der sie den ganzen wundervollen Nachmittag über von ihren alltäglichen Sorgen und Problemen ferngehalten hatte, etwas mehr. Es wurde wirklich Zeit, dass sie sich dem Lernen widmete. Wenn sie die Klausuren nun in den Sand setzte …
Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was ihre Eltern dazu sagen würden: „Wir haben es immer gewusst, Liska. Aus dir wird niemals etwas werden, wenn du nicht langsam erwachsen wirst und den Ernst des Lebens begreifst. Du hast uns schwer enttäuscht.“
Liska schnaubte und verbannte ihre inneren Dämonen an einen Ort, an dem sie ihr vorerst nichts würden anhaben können.
Sie musste die Prüfungen bestehen, sich auf ihren Hintern setzen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Trotz des in ihr aufsteigenden Bedürfnisses, schnell an den Schreibtisch zurückzukehren, verlangsamte Liska ihre Schritte. Die Schönheit des Abends war zu bemerkenswert, um ihr nicht ein paar Sekunden ihrer Zeit zu widmen.
Noch kämpfte das samtige Blau des Firmaments seinen aussichtslosen Kampf gegen die Schwärze der Nacht, den es schon bald verlieren würde. Doch bis dahin waren die Dächer der Häuser entlang der Straße umgeben von einem ganz eigentümlichen, mystischen Glanz.
Die Luft war erfüllt von verklingendem Kinderlachen, klirrenden Gläsern und dem Geruch von Grillkohle.
Liska liebte diese dem Sommer eigene, ganz besondere Stimmung, die ihr aus jedem der Gärten, die sie passierte, entgegenschlug.
Als sie das Ende der Snipe Avenue und somit ihr bescheidenes Heim erreichte, zog sie kurz in Erwägung, ihren Spaziergang auszudehnen, entschied sich dann aber doch dagegen. Sie wusste, dass sie andernfalls erst irgendwann des Nachts zurück sein und sich in Träumereien verlieren würde – eine verlockende Vorstellung, doch ausnahmsweise einmal siegte ihre Vernunft.
Während sie mit einer Hand lustlos nach ihrem Schlüssel wühlte, betrachtete Liska das Haus, dessen Obergeschoss sie bewohnte, wieder einmal einigermaßen fassungslos. In der schicken Wohngegend wirkte es, mit seiner bröckelnden Fassade und den schiefen Außenmauern, wie ein Fremdkörper. Sie hatte nie verstanden, warum die Stadt es zuließ, dass ein derart heruntergekommenes Gebäude in der Snipe Avenue stand, die gesäumt war von noblen Einfamilienhäuser hinter schmiedeeisernen Toren.
Doch genau das war letztlich Liskas Glück gewesen, denn es hatte ihr ermöglicht, zu einem verhältnismäßig geringen Preis in einem guten Viertel unweit des Campus zu wohnen, was bereits drei Attribute waren, von denen die meisten ihrer Kommilitonen nur träumen konnten.
Endlich bekam Liska ihren Schlüssel zu fassen.
Routiniert wich sie einem verirrten Strauch aus, der über die Stufen vor der Eingangstür wucherte und von allen Bewohnern des Hauses konsequent ignoriert wurde, verschaffte sich Zutritt und erklomm leichtfüßig die Treppe, die sie unters Dach und zu ihrer Wohnung führte.
Kaum dass sie den Schlüssel herumgedreht hatte, überfiel sie eine bleierne Müdigkeit.
Nanu. Dieses Haus scheint einem tatsächlich jegliche Lebensenergie zu rauben, dachte sie schmunzelnd.
Bemüht, ihre Augen offen zu halten, streifte Liska ihre Schuhe ab, warf Jacke und Rucksack achtlos in den schmalen Flur und schlurfte in das angrenzende Zimmer, in dem sie sich sogleich auf ihr Schlafsofa fallen ließ.
Nur kurz die Augen ausruhen.Ein paar Stündchen bloß. Danach kann ich immer noch lernen.
Im Normalfall achtete sie akribisch darauf, sich vor dem Zubettgehen ausgiebig die Zähne zu putzen, das Gesicht zu waschen und sich umzuziehen. Doch heute war sie, aus welchen Gründen auch immer, entschieden zu kraftlos.
Seufzend zog sie sich ihre Decke bis zum Kinn, suchte eine bequeme Position, verharrte schließlich in Embryonalhaltung und lächelte schwach in ihr Kissen.
Ihr Bewusstsein schwebte bereits dahin, als ihr schlagartig klar wurde, dass etwas nicht stimmte.
Sie war sich sicher, ihr Sofa vor dem Verlassen der Wohnung nicht zu einem behelfsmäßigen Bett ausgeklappt zu haben.
Jeden Morgen nach dem Aufstehen brachte sie den ausziehbaren Teil der Couch in seine Ausgangsposition zurück.
Ein Ritual, das ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Denn andernfalls erlaubte die Enge des Raumes ihr nicht einmal, an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
Und an dem hatte sie doch vorhin noch gesessen. Mit ihrem Lehrbuch. Verlor sie jetzt etwa den Verstand?
Die Müdigkeit, die Liskas Sinne eben noch vernebelt hatte, war wie weggeblasen. Stattdessen versetzte ein immer stärker werdendes Gefühl der Bedrohung sie in höchste Alarmbereitschaft.
Schmerzhaft pochte ihr das Herz gegen die Rippen, als sie sich aufrichtete und hektisch in alle Richtungen sah.
Nach und nach fielen ihr weitere Unstimmigkeiten ins Auge. Die vor dem Wäschekübel verstreute Kleidung etwa. Oder die Tür ihres Kleiderschranks, die zur Hälfte offenstand.
Das ergibt doch keinen Sinn, unternahm Liska einen Versuch der Beruhigung. Wer dringt schon in eine Wohnung ein, um dem Abwesenden das Bett herzurichten und in seinen Klamotten zu wühlen?
Sie schüttelte den Kopf. Außerdem war die Tür doch abgeschlossen gewesen, oder etwa nicht? Liskas Pulsschlag machte gleichwohl keine Anstalten, sich zu verlangsamen.
Jemand – oder etwas, schoss es ihr durch den Kopf – war hier gewesen, das spürte sie. Sie widerstand dem Impuls, sich die Decke über den Kopf zu ziehen, zählte in Gedanken bis zehn und versuchte mit aller Kraft, die Panik niederzukämpfen, die sie zu überwältigen drohte.
Als sich ihre Atmung zumindest soweit beruhigt hatte, dass der Schwindel sich aus ihren Schläfen zurückzog, schlich sie auf Zehenspitzen in den Flur.
Wenn sie tatsächlich nicht allein war, hatte der ungebetene Gast natürlich längst bemerkt, dass sie von ihrem Ausflug zurückgekehrt war; ob sie sich nun vorsichtig bewegte oder nicht.
Dennoch riet ihr Instinkt ihr, keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Unsicher warf Liska einen Blick in Richtung Haustür. Was sollte sie tun? Die Polizei verständigen? Jemanden herbei ordern und dann jedes einzelne Zimmer auf den Kopf stellen? Oder das Ganze selbst in die Hand nehmen?
Letztere Möglichkeit kam ihr trotz des lähmenden Gefühls der Angst am Vernünftigsten vor.
Immerhin fanden sich bisher keinerlei Hinweise auf einen Einbruch. Und wäre es nicht höchst unangenehm, einen riesigen Wirbel um Nichts und Wiedernichts zu veranstalten?
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stürzte Liska zum Lichtschalter, riss die Verbindungstüren zu Küche und Badezimmer auf und tauchte auch diese Räume in ein helles Licht.
Ihr Blick jagte von Winkel zu Winkel, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches einfangen. Küche und Badezimmer sahen genauso aus, wie sie sie zurückgelassen hatte.
Auf einmal kam sie sich albern vor.
Große Klasse, Liska. Todesmutig versuchst du, den gemeingefährlichen, weltweit gesuchten Bettenmacher dingfest zu machen. Wie wäre es zur Abwechslung mal mit etwas weniger Fantasie und dafür etwas mehr rationalem Denken?
Sie sah sich ein letztes Mal prüfend um, schüttelte dann energisch den Kopf und kehrte zurück in ihren Schlafbereich.
Der abklingende Adrenalinschub hatte zur Folge, dass Liska noch müder war als zuvor. Verunsichert setzte sie sich aufs Bett, zog sich die Decke bis ans Kinn und lehnte sich, ein Kissen im Rücken, gegen die Wand. Zuerst wehrte sie sich gegen die bleierne Schwere auf ihren Lidern.
Dann jedoch siegte die Erschöpfung.
Das ungute Gefühl aber wollte nicht verschwinden.
Es folgte ihr bis in den Schlaf hinein.
„Nichts. Hier ist rein gar nichts, Alter.“
Emmett sah Anian mit einer sonderbaren Mischung aus Belustigung und ernsthafter Besorgnis an.
„Das sehe ich selbst. Aber jemand muss hier gewesen sein. Oder willst du mir erzählen, ich hätte mir in einem Zeitraum von sage und schreibe einer Minute, die ich jetzt hier oben bin, selbst ein Teelicht aufs Kopfkissen gelegt, es angezündet und anschließend einfach vergessen, dass ich das getan habe?!“
Herausfordernd sah er seinen Freund an.
Anian hatte nicht beabsichtigt, seiner Stimme einen derart aggressiven Unterton zu verleihen, doch seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Nachdem er Emmett vor einigen Stunden hereingebeten hatte, waren sie zunächst in die Küche gegangen und hatten gemeinsam Kaffee getrunken.
Danach waren sie in die Stadt geschlendert, um Eis zu essen und hatten anschließend den ganzen Nachmittag in einem Elektrowarengeschäft gestöbert.
Bei Einbruch der Dämmerung waren sie zu Anians Wohnblock zurückgekehrt und hatten sich im Hausflur voneinander verabschiedet.
Als Anian die mysteriöse Kerze in seinem Schlafzimmer entdeckt hatte, war Emmett glücklicherweise noch mit dem Chaos aus umgestürzten Fahrrädern beschäftigt gewesen, sodass er die Rufe seines Kumpels hören und ihm zu Hilfe eilen konnte.
Nun standen die Freunde, beide ratlos, doch einer deutlich amüsierter als der andere, einander im Schlafzimmer gegenüber.
„Weiß nicht, ehrlich nicht. Wäre jedenfalls ganz schön beängstigend, wenn es so wäre.“
„Hör zu, das ist verdammt unheimlich, ja? Schau dir den Docht doch an, der ist kaum heruntergebrannt. Hier muss eben noch jemand gewesen sein!“
„Okay, okay, bleib ruhig. Ich würde mir an deiner Stelle nicht allzu große Sorgen machen, klar? Immerhin gibt es weitaus Bedrohlicheres auf der Welt als … na ja … Teelichter. Vielleicht hast du eine heimliche Verehrerin oder so, was bei deiner Fresse zwar eher unwahrscheinlich ist, aber Wunder soll’s ja immer wieder geben.“
„Wow“, sagte Anian lakonisch. „Danke.“
„Immer wieder gerne. Könnte natürlich auch ein arbeitsloser Innendekorateur gewesen sein, der die Trostlosigkeit deiner Bude nicht mehr mitansehen konnte und deshalb –“
„Schon gut, ich hab’s kapiert, du hältst mich für bescheuert. Vielleicht bin ich das ja auch! Immerhin war die Tür abgeschlossen, also wie sollte sich jemand Zutritt verschafft haben?“
„Ich hab‘ keine Ahnung, Mann. Schreib doch eine Geschichte drüber. Ist es in Ordnung, wenn ich demnächst abzische? Muss morgen früh raus.“
Anian nickte steif. Seine Beine waren weich wie Butter.
Natürlich war es nicht in Ordnung, wenn Emmett jetzt ging, doch er wollte sich nicht lächerlich machen.
Wahrscheinlich gab es eine ganz simple, logische Erklärung für das eigentümliche Präsent auf seinem Kopfkissen.
Er würde die ganze Sache einfach vergessen – es zumindest versuchen – oder tatsächlich darüber schreiben.
Auch wenn er noch nicht genau wusste, wie er das Erlebte in Worte fassen sollte.
„Gut. Wenn noch irgendwas sein sollte, ruf an, ja? Und denk dran: Niemand, der jemand anderem etwas Böses will, läutet seine blutige Rache mit einem Teelicht ein.“
„Ja, ja. Du kannst mich mal.“
Emmett grinste und klopfte seinem Freund ein paarmal beschwichtigend auf die Schulter.
„Bringst du mich noch zur Tür?“
„Sicher.“
Geistesabwesend schlurfte Anian in Richtung Haustür, öffnete diese und starrte Emmett an, als offenbarte ihm sein Gesicht Antworten auf all die Fragen, die ihm durch den Kopf schossen. Er wusste, dass er dabei höchstwahrscheinlich ziemlich irre aussah und stellte mit grimmiger Genugtuung fest, dass Emmett sich zusehends unbehaglicher fühlte.
„Äh, gut. Ich werd‘ dann mal. Wir sehen uns die Tage, ja? Und … halt die Ohren steif.“
„Klar. Bis dann.“
Kaum, dass Emmett verschwunden war, bereute Anian, dass er seinen Freund nicht einfach gebeten hatte zu bleiben.
Zynismus hin oder her, Gesellschaft wäre ihm mehr als nur recht gewesen. Einige Minuten lang stand er wie angewurzelt da, kämpfte ein aufsteigendes Angstgefühl nieder und rang sich dann dazu durch, die Wohnung ein letztes Mal nach Indizien für ein unbefugtes Eindringen zu durchsuchen.
Dass er nicht den geringsten Hinweis fand – abgesehen von dem Teelicht natürlich, das immer noch unschuldig auf seinem Kopfkissen ruhte –, besänftigte ihn nur geringfügig.
Was Anian meistens wie ein Segen vorkam, entpuppte sich an diesem Abend als Fluch; seine Fantasie kannte keine Grenzen und nährte seinen Kopf mit den abstrusesten Szenarien.
Er beschloss, noch eine Weile fernzusehen, um sich abzulenken. Anian zappte durch die Kanäle, bis er eine Kinderserie gefunden hatte.
Eine Methode, die er sonst oftmals nach dem Konsum von Horrorfilmen anwandte und die sich bisher immer bewährt hatte. Das bunte Treiben auf dem Bildschirm, begleitet von fröhlichen Melodien, übte stets eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. So trug es auch dieses Mal dazu bei, Anians Gedankenkarussell zu entschleunigen.
Bald schon war er eingeschlafen.
Liska konnte sich nicht entsinnen, jemals erschöpfter gewesen zu sein. Die Prüfungsphase hatte ihr mehr abverlangt, als sie befürchtet hatte und all ihre Kraftreserven bis zum allerletzten Tropfen ausgeschöpft.
Dabei war es nicht einmal das Lernen selbst gewesen, dem ihre Energie zum Opfer gefallen war, sondern vielmehr der merkwürdige, äußerst beunruhigende Umstand, dass Liska offenbar das Schlafen verlernt hatte.
Es war nicht etwa so, als würde sie die Nacht zum Tage machen und deswegen keine Erholung finden.
Nein, es war ganz einfach ein traumloser, schwarzer, erdrückender Schlaf, der ihr Kopfschmerzen bescherte und sie von Innen auszuhöhlen schien.
Sie redete sich ein, dass ihre Abgeschlagenheit das Resultat eines überlasteten Studentinnenkörpers war, doch irgendwo in ihrem Hinterkopf glaubte sie zu wissen, wo die Ursache ihres Problems wirklich lag.
Zwar war seit jenem Abend, an dem sie aus dem Park heimgekommen war, nichts Ungewöhnliches mehr passiert. Doch hatte Liska das Gefühl, als hätte die Angst, die sie vor wenigen Wochen empfunden hatte, sich irgendwo unter ihrer Haut eingenistet und wäre mit ihren Zellen verwachsen.
Es ist wie damals, dachte sie immer wieder und drohte an der wiederbelebten Erinnerung eines längst verdrängten Tages zu ersticken.
Sie hatte versucht, ihre Empfindungen in ihren Bildern festzuhalten, doch es wollte ihr nicht recht gelingen.
Nun, da die Semesterferien endlich begonnen hatten, war Liska über ihr künstlerisches Unvermögen ganz besonders frustriert. Wochenlang hatte sie die Zeit, in der sie ihrer Kreativität ohne schlechtes Gewissen freien Lauf würde lassen können, herbeigesehnt.
Stattdessen hatten Leinwand und Pinsel sie vorübergehend zum Feind erklärt und Liska dazu verdammt, tatenlos in ihrem Schlafzimmer zu sitzen und Löcher in die Luft zu starren.
Und das tat sie mittlerweile mit großer Hingabe.
Gerade inspizierte sie eingehend die Struktur ihrer Zimmerdecke (wenn man genau hinsah, konnte man kleine Gesichter erkennen, die sich aus dem schmutzigen Weiß schälten), als das aufdringliche Klingeln ihres Handys ihre Trance unterbrach.
Beinahe verärgert über diese jähe Störung ihrer Träumerei, nahm sie den Anruf entgegen.
„Ja?“
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
„Hallo?“
Entnervt warf Liska einen Blick auf den Bildschirm ihres Smartphones. Die dort angezeigte Nummer kam ihr vage bekannt vor. „Wer ist da? Ich lege jetzt auf.“
Noch bevor Liska ihre Ankündigung wahr machen und die Verbindung unterbrechen konnte, zerriss ihr ein ohrenbetäubendes, seltsam verzerrtes Schluchzen beinahe das Trommelfell. Das Handy rutschte ihr aus den Fingern und fiel mit dem Display nach unten auf den Teppichboden.
Aus den Lautsprechern drang ein Schwall unverständlicher, dumpfer Worte. Fahrig griff Liska nach ihrem Smartphone und hielt es sich wieder ans Ohr.
„Hallo? Wer spricht da?“
„Ihre Arme waren aufgeschnitten! Kannst du dir das vorstellen?!“
„Was? Maida, bist du das? Seit wann rufst du vom Festnetztelefon an?“
„Sie hat versucht, sich umzubringen! Meine Schwester hat doch tatsächlich versucht, sich umzubringen!“
Maidas Stimme klang so hysterisch, dass Liska endlich aus ihrer Lethargie erwachte. Langsam, ganz langsam, drangen die Worte ihrer Freundin zu ihr durch. Und sprengten einen Krater in ihr Herz.
„Warte, was … Darcy?! Aber das kann nicht … wie sollte … Das ist doch nicht möglich!“
In ihrem Magen breitete sich eine fürchterliche Kälte aus.
Sie hat versucht, sich umzubringen.
Liskas Verstand weigerte sich, das Gehörte zu akzeptieren. Achtjährige schlitzten sich nicht die Arme auf. Sie genossen das Leben, spielten mit ihren Freunden, trugen noch den Mantel der Leichtigkeit auf ihren Schultern.
Das musste ein Irrtum sein. Liska schüttelte den Kopf so heftig, dass schwarze Punkte vor ihren Augen tanzten.
„Dad hat sie im Badezimmer gefunden“, schluchzte Maida, „es ist immer noch alles voller Blut.“
„Oh Gott. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Kannst du herkommen? Meine Eltern sind im Rettungswagen mitgefahren, ich bin allein hier im Haus … Nana und Grandpa sind schon auf dem Weg, glaube ich, aber trotzdem, ich -“
„Natürlich! Gib mir zehn Minuten!“
„Danke, wirklich. Danke.“
Maida begann herzzerreißend zu weinen.
„Ich lege jetzt auf und komme zu dir, halte durch.“
Liska bezweifelte, dass ihre Freundin sie gehört hatte.
Aus dem Weinen waren verzweifelte Klagelaute geworden, die ihr eine Gänsehaut bescherten. Wie betäubt saß sie eine Zeitlang einfach nur da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Liska wusste, wie sich der Verlust eines geliebten Menschen anfühlte. Auf keinen Fall sollte Maida dieselbe Erfahrung machen müssen. Nicht heute. Nicht mit Darcy.
Endlich löste sie sich aus ihrer Starre.
Gehetzt warf Liska Zahnbürste und Unterwäsche in ihren Rucksack - für den Fall, dass ihre Unterstützung über den Tag hinaus benötigt würde - und stürmte aus dem Haus.
Sie verfluchte sich innerlich dafür, weder Führerschein noch Auto oder wenigstens ein Fahrrad zu besitzen.
Maidas Elternhaus in den versprochenen zehn Minuten zu erreichen war allein aufgrund ihres Schocks nach dem Telefonat, der sie vorübergehend zur Statue hatte werden lassen, reichlich utopisch.
Also rannte Liska, so schnell sie ihre zittrigen Beine trugen. Sie rannte, bis sie nach Luft japste und ihre Lunge schmerzte und die Frage danach, was um alles in der Welt ein Kind zu einem Selbstmordversuch stürzen sollte, ihr die Tränen in die Augen trieb.
***
Während Liska den brennenden Feuerball, der ihre Kehle hinaufstieg, niederzukämpfen versuchte und Anian sich mit einem Teller Suppe vor den Fernseher setzte, hörten neunundneunzig Herzen auf zu schlagen.
Küchenmesser durchtrennten Pulsschlagadern, Scheren wurden in Hälse gerammt und improvisierte Stricke aus Schals und Krawatten ahnungsloser Familienväter schnürten Luftröhren zu. Pechschwarze, zu einem Knäuel verschlungene Linien verließen die toten Körper, zuckten über ihnen wie Miniaturgewitter und wurden schließlich von langen, wächsernen Fingern an sich gerissen.
Die Zeit der Schatten war gekommen.
Anian verfolgte die Nachrichten mit weit aufgerissenen Augen. Der hübschen Moderatorin fiel es angesichts der zu verkündenden Eilmeldung sichtlich schwer, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.
Eine Welle von Selbstmorden, begangen von Kindern, erschüttere Irland tief, so hieß es.
Begangen von Kindern. Tomatensuppe tropfte von Anians Löffel auf seine Jeans. Geistesabwesend stellte er die Schüssel auf dem Kaffeetisch ab. Er hoffte, dass es sich bei dieser Meldung um einen makabren Scherz handelte.
„Psychologen stehen vor einem Rätsel“, hallte es aus dem Fernseher. Nicht nur Psychologen, dachte Anian grimmig.
Die täglichen Zusammenfassungen des Weltgeschehens trugen ohnehin nicht unbedingt zu seiner Erheiterung bei, doch diese Bekanntgabe machte ihn besonders betroffen.
„Das Phänomen tritt grenzüberschreitend auf. Uns erreichten Meldungen aus Frankreich, Spanien, Deutschland, Schwe -“
Anian schaltete den Fernseher ab, bevor er endgültig den Glauben an die Menschheit verlieren konnte.
Was mochte in einem Kind vorgehen, das beschloss, sich selbst zu richten? Das das Leben nicht länger als lebenswert erachtete?
War die Psyche eines so jungen Geschöpfes überhaupt schon genug ausgereift, um die Schwere eines solchen Entschlusses zu begreifen? Und wie sollten die Eltern dieser armen Seelen sich jemals von diesem Schlag zu erholen?
Er wollte lieber nicht darüber nachdenken.
Ohnehin hatte Anian, wenn ihm diese Anschauung auch egoistisch vorkam, genug eigene Probleme, um die er sich kümmern musste.
Seit Tagen fühlte er sich auf eine Weise ausgelaugt, die ihm völlig fremd war. Er erwachte jeden Morgen mit sengenden Kopfschmerzen, die im Laufe des Tages zwar abklangen, jedoch nie ganz verschwinden wollten.
Diese teuflische Kombination aus Erschöpfung und Schmerz führte wiederum dazu, dass er völlig neben sich stand und den einfachsten Aufgaben des Alltags nicht mehr gewachsen war. Duschen, Aufräumen, Essen zubereiten; all das stellte auf einmal einen ungeheuerlichen Kraftakt dar.
Auf der Arbeit im Studentencafé hatte er sich krankgemeldet, nachdem ihm binnen einer Stunde auch das dritte Tablett aus den Händen gerutscht war. Nicht einmal das Schreiben weckte seine Lebensgeister, ganz im Gegenteil:
Anian hatte eher das Gefühl, beim Leser der Wörter, die er zu Papier brachte, vor Langeweile brechen zu müssen.
Sie waren tot. Ausdruckslos. Stumpf.
Er konnte sich nicht erklären, was mit ihm los war.
Manchmal, wenn er auf seinem Sofa saß und halbherzig eine Serie im Fernsehen verfolgte, fragte er sich, ob sein merkwürdiger Zustand wohl etwas mit dem Teelicht-Vorfall zu tun haben könnte.
Da er aber nicht die geringste Ahnung hatte, wie ein solcher Zusammenhang aussehen sollte und er außerdem fürchtete, über diese elendige Geschichte verrückt zu werden, verwarf er den Gedanken immer wieder.
Anian seufzte theatralisch.
Er hatte das dringende Bedürfnis, endlich wieder etwas Sinnvolles zu tun.
Aber das musste warten.
Er war müde, so müde …
Die Luft vibrierte wie ein Schwarm Stechmücken.
Träumte er schon?
Vermutlich.
Wie sonst ließe sich erklären, dass dort hinten, gleich neben dem Bücherregal, ein Paar weiße Augen auftauchte?
Dass sich etwas aus dem Schatten löste und langsam in seine Richtung … ja, was? … schwebte?
Er wollte aufspringen, doch sein Körper versteifte sich und ließ keine Bewegung zu.
Wach auf! Wach auf!
Das Wesen veränderte seine Form.
Groß und von einem alles verschlingenden Schwarz, ragte es bis knapp unter die Decke. Wo zuvor nur Augen gewesen waren, formte sich nun quälend langsam ein langes, bleiches Gesicht mit einem spitz zulaufenden Kinn, das der Gestalt beinahe bis zum Brustbein reichte.
Anian, von namenlosem Grauen gepackt und immer noch nicht imstande, aus diesem fürchterlichen Albtraum zu erwachen, begann zu schreien. Das Wesen, jetzt unmittelbar vor ihm stehend und nicht im Mindesten beeindruckt von den Lauten, die aus seinem Mund herausbrachen, beugte sich zu ihm herab.
Entblößte von irgendwo aus den Untiefen seines dunklen Leibes eine Hand. Eine Hand mit Fingern, die so lang waren wie Anians Arme und die seine Körpermitte beinahe liebevoll streichelten. Das Entsetzen, das ihn übermannte, erstickte seinen Schrei.
DAS IST NICHT REAL, DAS IST NICHT REAL, DAS IST NICHT REAL!
Irgendetwas in seinem Inneren zuckte unkontrolliert.
Dann war es vorbei.
Anian blinzelte.
Die Gestalt war verschwunden.
Er war allein.
Zögerlich wagte er einen Versuch, sich zu bewegen.
Seine Glieder schmerzten, aber sie taten wieder, was er wollte.
Ich bin aufgewacht.
Ich bin endlich aufgewacht.
Es ist alles wieder gut.
Vor lauter Erleichterung hätte er die ganze Welt umarmen können. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen derartig verstörenden Traum gehabt zu haben.
Sein Herz schlug noch immer viel zu schnell, auf der Stirn stand ihm der kalte Schweiß, aber es war überstanden. Das jedenfalls hoffte er mit jeder Faser seines Seins.
Stirnrunzelnd betrachtete Liska den Briefumschlag in ihrer Hand. Kein Absender, keine Briefmarke.
Nicht einmal ihre Adresse war auf dem weißen Papier vermerkt. Einzig ihr in blutroten, verschnörkelten Buchstaben geschriebener Vorname, der von einer Ecke bis in die andere reichte und sie förmlich anzuschreien schien, stand auf dem Umschlag.
Sie hatte gerade hinausgehen wollen, um einzukaufen, als sie den Brief durch den Schlitz unter ihrer Wohnungstür ragen sah. Einem ersten Impuls folgend, hatte sie im Treppenhaus nachgesehen, ob der Überbringer noch zugegen war, jedoch niemanden vorgefunden. Sie war sogar nach unten gelaufen und hatte links und rechts entlang der Straße Ausschau gehalten.
Schließlich war sie zurück in ihre Wohnung gegangen, wo sie nun, auf ihrem Schreibtischstuhl sitzend und den Umschlag in der Hand haltend, wieder und wieder ihren Namen las.
Aus irgendeinem Grund sträubte sie sich dagegen, das Kuvert zu öffnen.
Was immer das ist, es kann nichts Gutes bedeuten.
Der Gedanke wollte nicht verschwinden.
Aber war es nicht allzu verständlich, dass sie aufgewühlt war? Der Schock, dass Maida um ein Haar ihre kleine Schwester aufgrund eines Selbstmordversuches verloren hatte, steckte ihr noch tief in den Knochen.
Die Ärzte hatten das Mädchen retten können, doch die Familie war nach wie vor maßlos erschüttert über das Geschehene.
Dass Darcy, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, bei weitem nicht das einzige Kind war, das eine solch grausame Tat gegen sich selbst verübt hatte, machte es nicht leichter.
Zeitungen und Nachrichtensender berichteten von nichts anderem mehr als dem „großen Sterben“.
Nicht nur die Krankenhäuser, auch sämtliche psychiatrische Anstalten des Landes platzten bereits aus allen Nähten.
Die Welt war in Aufruhr.
Liska war in Aufruhr.
„Also schön. Wehe, wenn du keine harmlose Geburtstagseinladung bist“, ermahnte sie den Briefumschlag und öffnete ihn mit zitternden Fingern.
Werte Liska,
fürchte dich nicht.
Ich weiß um die dunkle Macht, die versucht, sich deiner Seele zu bemächtigen. Du bist stärker als das, was dein Innerstes rauben will.
Noch.
Triff mich morgen Abend, wenn die Sonne schwindet, unter den Trauerweiden.
Du weißt, welchen Ort ich meine.
Ich erwarte dich.
Terenjo
Liska unterdrückte einen hysterischen Lachanfall.
Mechanisch faltete sie das Papier wieder zusammen, legte es auf ihren Schreibtisch und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Auf ihrer Kopfhaut hatte sich eine Gänsehaut gebildet.
Ich weiß um die dunkle Macht, die versucht, sich deiner Seele zu bemächtigen.
Ihr Magen rumorte.
Wer war dieser Terenjo?
Warum jagte er ihr einen solchen Schrecken ein?
Wie konnte er wissen, dass sie als Kind stundenlang unter den beiden Trauerweiden unten am See gelegen und mit ihnen gesprochen hatte?
Das musste er doch wissen, wenn er ihr diesen Ort für ein Treffen vorschlug, oder etwa nicht?
Liska konnte sich nicht erinnern, jemals eine ihrer Freundinnen dorthin mitgenommen zu haben, geschweige denn irgendjemanden.
Eines Tages hatte sie ihrer Mutter gebeichtet, dass sie ihre freien Nachmittage nicht auf dem Spielplatz, sondern in der Gesellschaft zweier wunderbarer stummer Zuhörer verbrachte. Aber auch Meredith Cavanaugh hatte sie diesen für sie damals unsagbar wertvollen Platz niemals gezeigt. Und außerdem hat meine Mutter sicherlich besseres zu tun, als ihrem Kind unter einem Pseudonym mysteriöse Botschaften zukommen zu lassen, schloss Liska glucksend ihren Gedankengang.
Es war absurd.
Hatte jemand sie beobachtet?
Jemand Gefährliches?
Aber warum sollte dieser Jemand dann jetzt, Jahre später, auf die Idee kommen, sie an diesen Ort ihrer Kindheit führen zu wollen?
Vor allem, wenn er schon weiß, wo ich wohne.
Von einer plötzlichen Panik getrieben, die ihr das Herz anschwellen ließ, hechtete Liska in den Flur, kramte ihren Haustürschlüssel aus der Innentasche ihrer Jacke hervor und verschloss die Tür von Innen.
War es nun an der Zeit, die Polizei zu alarmieren?
Sie versuchte, sich gegen die Vorstellung zu wehren, dass die nach wie vor ungeklärte Situation mit ihrem Schlafsofa etwas mit dem Brief – oder vielmehr dem Absender des Briefes – zu tun haben könnte.
Gerade erwog sie, ihr Mobiltelefon aus dem Schlafzimmer zu holen und tatsächlich den Notruf zu wählen, als ein Geräusch sie innehalten ließ.
Es war ein Knistern, ein Schwirren, ein Summen, das von irgendwo über ihrem Kopf auszugehen schien.
Langsam hob Liska den Blick zur Decke.
Ein unförmiger schwarzer Fleck hob sich von dem verwaschenen Weiß der Raufasertapete ab.
Was ist das? Eine Fliege? Eine Motte?
Angestrengt kniff Liska die Augen zusammen.
Das Summen schien nun die ganze Luft zu erfüllen.
Irgendetwas stimmt hier nicht! Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht!
Sie wollte den Blick abwenden, doch es gelang ihr nicht.
Gewichte zerrten an ihrem Hinterkopf und zwangen sie, den schwarzen Punkt zu fixieren, der plötzlich zu wabern begann.
Langsam, ganz langsam, formte sich aus dem vibrierenden Schwarz ein Gesicht.
Eine grässliche, verzerrte Fratze auf einem langen, dünnen Hals, der wie ein Schlauch aus der Zimmerdecke baumelte.
Wächsern die Haut, unnatürlich lang und spitz das Kinn, den Kiefer weit heruntergeklappt. Milchig weiße Pupillen in schwarzen Höhlen.
In Liskas Kehlkopf ballte sich ein markerschütternder Schrei zusammen. Doch noch bevor auch nur ein Laut über ihre Lippen kam, fiel ihr Bewusstsein in sich zusammen.
Das Nichts umfing sie mit schützenden Armen.
Anians Lungen füllten sich mit der lauen Luft des Sommerabends. Ihm war, als würde er zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig atmen.
Wie lange hatte er die Wohnung nicht mehr verlassen?
Er konnte es nicht sagen.
Die letzten Tage waren von einem Nebel umgeben, der die Konturen der Zeit verschwimmen ließ. Einzig die Erinnerung an die fürchterliche Begegnung mit dem albtraumhaften Wesen war gestochen scharf.
Danke, liebes Gehirn.
Vermutlich hätte sein vegetativer Zustand noch eine ganze Weile angedauert, wäre da nicht dieser Brief gewesen.
Er wusste nicht, wie oder warum er ihn entdeckt hatte.
Der Nebel erlaubte es ihm nicht. Wahrscheinlich, so mutmaßte Anian, waren ihm die leuchtend roten Lettern auf dem Umschlag ins Auge gestochen, als er den kurzen Weg vom Schlafzimmer zur Toilette zurückgelegt hatte.
Von diesem Moment an waren all seine Sinne, zuvor in Watte verpackt, auf einen Schlag zurückgekehrt.
Werter Anian,
hatte auf dem Papier gestanden.
fürchte dich nicht.
Ich weiß um die dunkle Macht, die versucht, sich deiner Seele zu bemächtigen.
Du bist stärker als das, was dein Innerstes rauben will.
Noch.
Triff mich morgen Abend, wenn die Sonne schwindet, an der alten Mühle.
Du weißt, welchen Ort ich meine.
Ich erwarte dich.
Terenjo
Mit flatterndem Herzen hatte er jedes einzelne Wort in sich aufgesogen. Anian wusste zu seiner Überraschung tatsächlich, welcher Ort gemeint war.
Die alte Mühle, äußerlich eigentlich gar nicht als solche erkennbar, da sie lediglich noch aus einer Art windschiefer und nicht allzu hoher Mauer sowie einigen vermoderten Holzbrettern bestand, war für ihn als Kind eine einzigartige Quelle der Magie gewesen. Er hatte sie eines Tages durch Zufall entdeckt, nach der Schule, als er von zwei besonders aufmüpfigen Viertklässlern belagert worden war.
Nach einigen äußerst schmerzvollen Minuten, in denen sie ihn gepieksackt und nach seinem Taschengeld verlangt hatten, war ihm die Flucht gelungen. Blindlings war er davongerannt, durch etliche Nebenstraßen, immer weiter, bis er den Stadtkern Tullamores hinter sich gelassen hatte und die Bäume immer grüner geworden waren.
Immer noch angetrieben von einer abenteuerlich kribbelnden Angst, wie nur ein Kind sie empfinden kann, war Anians hektisch umher peitschender Blick an einem Loch in einem Maschendrahtzaun zu seiner Rechten hängen geblieben.
Binnen weniger Sekunden hatte er seinen kleinen Körper durch die Öffnung manövriert und festgestellt, dass er sich im verwilderten Garten eines alten Fachwerkhauses befand. Er hatte begonnen, das Grundstück mit einem Anflug brennender Neugier zu erkunden, die ihn seine Angst schnell vergessen ließ. Schließlich, verloren in der Illusion eines großen Abenteuers, waren ihm dann die Überreste der alten Mühle ins Auge gefallen.
Wenn er jetzt an diesen Moment zurückdachte, kam es ihm vor, als wäre dies die Geburtsstunde seiner Fantasie gewesen.
In seinem Kopf entstanden an jenem Tage unzählige Geschichten, die Anian geradezu elektrisierten und den Wunsch weckten, auf Papier festgehalten zu werden.
Auf eine unerklärliche Weise hatten die Relikte der Mühle eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, dass er, wann immer er Zeit fand, zu ihnen zurückgekehrt war.
Er pflegte diese regelmäßigen Ausflüge in sein persönliches Refugium, bis seine Eltern sich scheiden ließen und er schließlich gemeinsam mit seiner Mutter, mehr oder weniger freiwillig, ans andere Ende der Stadt zog.
Der Weg war bald zu weit, der Alltag zu beschwerlich und Anian allmählich ohnehin zu groß geworden, um durch das Loch schlüpfen zu können, ohne es zu vergrößern.
Dem wäre leicht Abhilfe zu schaffen gewesen, etwa mit einem Bolzenschneider, doch er wertete es als Zeichen dafür, dass diese Episode seines Lebens dem Ende zuging.
Das Erbe der alten Mühle war seine Liebe zum Schreiben, die sich, seit Anian sie entdeckt hatte, stetig vergrößert hatte.
Es faszinierte und beunruhigte ihn zugleich, dass jemand über seine Unternehmungen aus Kindertagen Bescheid zu wissen schien. Dennoch verspürte er nun, da er den Weg zur Railway-Station einschlug, auch einen Anflug von Dankbarkeit.
Dieser Terenjo, wer immer er auch war, hatte ihn gewissermaßen vor dem Wahnsinn bewahrt. Anian glaubte nicht daran, dass tatsächlich dunkle Mächte für die Geschehnisse der letzten Tage verantwortlich waren. Er verbot es sich viel mehr, denn insbesondere dieses grässliche Wesen aus seinem Wohnzimmer durfte einfach nicht existieren. Viel plausibler war, dass der Unbekannte ihm auf perfide Art und Weise einen Streich gespielt hatte.
Vermutlich würde er ohnehin nicht am vereinbarten Treffpunkt erscheinen, doch Anian hatte sich entschlossen, das Spiel mitzuspielen. Und vielleicht, so hoffte er, ergab sich ja früher oder später doch noch eine Konfrontation. Er brannte darauf, zu erfahren, was für eine kranke Seele sich hinter der wahnwitzigen Idee verbarg, Teelichter in fremden Wohnungen zu platzieren, albtraumhafte Halluzinationen hervorzurufen und dubiose Briefe zu verschicken.
Getrieben von diesem Gedanken, beschleunigte er seine Schritte. Es würde noch einige Stunden dauern, bis die Sonne unterging, doch Anian hatte nebst seiner Neugier gleich noch mehrere Gründe, sich schon jetzt auf den Weg zu machen.
Zum einen war er sich nicht sicher, ob er den verwunschenen Garten nach jahrelanger Abwesenheit auf Anhieb wiederfinden würde. Das hieß, wenn das Grundstück nicht ohnehin längst neu bebaut worden war und der Absender des Briefes sich nur einen weiteren Scherz mit ihm erlaubte.
Zum anderen reizte ihn der Gedanke, sich erneut von der einzigartigen Magie des Ortes inspirieren zu lassen und ein paar Zeilen in sein Notizbuch zu schreiben, das er, samt seines Füllfederhalters, einer Flasche Wasser, einer Taschenlampe, Insektenspray und einer angebrochenen Packung Kekse in seinem Rucksack verstaut hatte.
Je länger er allerdings unter der unbarmherzigen Sommersonne wandelte, desto mehr wünschte Anian sich, einfach nackt aufgebrochen zu sein. Sein T-Shirt klebte an seinem Rücken wie eine zweite Haut und der Proviant auf seinen dürren Schultern wurde mit jedem Schritt, den er tat, schwerer.
Ich sollte wirklich mehr Sport treiben, schoss es ihm durch den Kopf. Wie zur ironischen Bestätigung seiner Gedanken brachte ihn schließlich die Treppe, die hinauf zu den Schnellbahnen führte, an seine Grenzen. Schwarze Pünktchen tanzten vor Anians Augen, als er atemlos zum Stehen kam und versuchte, die Schalttafel anzuvisieren, die ihm Auskunft über das Eintreffen seiner Bahn geben würde.
Du meine Güte. Ist es tatsächlich nur meine nicht vorhandene Kondition, die mir zu schaffen macht, oder …
Er schüttelte energisch den Kopf, was lediglich dazu führte, dass die schwarzen Pünktchen sich fröhlich vermehrten.
Oder was? Ist es dieses Monster aus meinem Wohnzimmer, das mir die Lungenflügel zusammenquetscht? Was für ein Blödsinn.
Anian besann sich wieder auf sein Vorhaben, Terenjo ausfindig zu machen und ihn zu Rede zu stellen.
Er würde die Bahn in Richtung des Stadtzentrums nehmen und an der Haltestelle aussteigen, die seiner alten Grundschule am nächsten gelegen war. Von dort aus würde er sich auf sein Erinnerungsvermögen verlassen müssen.
Straßennamen hatten ihn als Kind nicht interessiert; seine Wegweiser waren Häuser, Gärten und Bäume gewesen.
„Dann wollen wir mal sehen, ob ich diese Wegweiser noch lesen kann“, murmelte er in das Donnern des einfahrenden Zuges hinein.
***
Der Nachmittag zog sich zäh dahin.
Während die Sonne keinerlei Anstalten machte, ihre Kraft zu zügeln oder sich zumindest dann und wann hinter ein paar vereinzelten Wolken zu verstecken, verlor Anian allmählich die Geduld. Er war nun seit knapp zwei Stunden ununterbrochen gelaufen, hatte sich unter größter Anstrengung zu orientieren versucht und sich, so sagte es ihm zumindest sein Gefühl, immer wieder verlaufen.
Zwar musste die grobe Richtung stimmen - immerhin hatte er den Stadtkern hinter sich gelassen und war in die äußeren Bezirke vorgedrungen - doch ihm schwante, dass die Aussichten, das Loch im Zaun oder gar den Zaun selbst wiederzufinden, nicht allzu gut standen.
Dass sich auf seinem Weg nicht einmal das leiseste Wiedererkennen seiner Umgebung eingestellt hatte, empfand Anian ebenfalls als beunruhigend. Sicher, seine regelmäßigen Ausflüge zur alten Mühle waren ein paar Jahre her, aber er konnte doch nicht gänzlich vergessen haben, wie er dorthin gelangte, oder doch?
Anian ließ den Rucksack ungelenk von seinen Schultern plumpsen, kramte darin nach seiner Wasserflasche und genehmigte sich einige Schlucke der inzwischen viel zu warmen Flüssigkeit.
Vielleicht möchte jemand verhindern, dass du das Treffen wahrnimmst, schoss es ihm durch den Kopf.
Er wedelte mit dem freien Arm, wie um ein lästiges Insekt zu verscheuchen.
„Klar, du paranoider Spinner“, murmelte Anian und musste über seine rege Fantasie grinsen.
Er verstaute die Flasche wieder in seinem Rucksack, schulterte diesen und musterte die umstehenden Häuser samt ihrer Gärten genau. Da waren Außenmauern aus Backstein, holzverkleidete Wände, baufällige Schuppen, eine marode Schaukel, ein Wallnussbaum, ein Rasenmäher - und zu guter Letzt eine einflüglige Schwalbe, die auf einem Messingtor saß und ihn ansah.
Anian stutzte.
Ihr blauschwarzes Gefieder schimmerte im hellen Sonnenlicht und bildete einen auffälligen Kontrast zu ihrer schneeweißen Brust. Der gegabelte Schwanz wippte rhythmisch auf und ab.
Als er noch klein gewesen war, hatte Anian stets aufgeregt nach den Vögeln Ausschau gehalten, nachdem sein Onkel ihm versichert hatte, dass er an ihrem Flugverhalten das Wetter vorhersagen könne. Ob diese alte Bauernweisheit tatsächlich stimmte, vermochte Anian nicht zu sagen.
Was er allerdings sehr wohl zu sagen vermochte, war, dass Schwalben für gewöhnlich zwei Schwingen besaßen. Dieser hier aber fehlte ganz eindeutig eine. Diese Tatsache schien das Tier jedoch entweder nicht im Mindesten zu interessieren - oder es war sich des Fehlens seines rechten Flügels schlichtweg nicht bewusst.
Jedenfalls stieß es sich just in dem Moment, in dem Anian sich über das ungewöhnliche Erscheinungsbild wunderte, von den Messingstreben des Gartentors ab, vollführte fröhlich zwitschernd eine halbe Drehung, die eher an einen Tanz als an die Bewegungen eines Vogels erinnerte, und ließ sich dann elegant wieder auf seinem angestammten Platz nieder.
Anian lächelte anerkennend, hob eine Hand zum Gruß und kam sich sogleich unermesslich dämlich vor. Hier stand er nun, verschwitzt und orientierungslos, und winkte einem Vogel zu.
„Ich glaube, ich habe einen Sonnenstich“, verkündete er dem Tier ernst, das daraufhin aufgeregt mit dem Schnabel klackerte und den Kopf schieflegte. Die schwarzen Augen waren noch immer auf ihn gerichtet, verfolgten jede seiner Bewegungen mit unverhohlenem Interesse.
Einem Impuls folgend, streckte Anian seine Hand nach der Schwalbe aus. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass sie nicht davonfliegen, sondern sich auf seine Hand setzen würde. Und tatsächlich spürte er nur einen Wimpernschlag später, wie feingliedrige Zehen seinen Zeigefinger umschlossen.
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: Die Schwalbe stürzte sich so unvermittelt auf Anians Brust, dass ihm der Schreckensschrei im Halse stecken blieb und seine Kehle selbst dann nicht verließ, als das Tier wie von Sinnen begann, auf seine Brust einzupicken.
Im selben Moment wusste er mit einer Gewissheit, die ihn schwindeln ließ, ganz genau, wie er zur alten Mühle gelangen würde. Es war, als würde jemand mit einem Laubgebläse in seinem Kopf herum pusten und die letzten, verirrten Nebelschwaden, die im Verborgenen durch seine Hirnwindungen glitten, aus ihren Verstecken zwingen.
Es ging ihm besser, so viel besser.
Als wäre genau das ihr Ansinnen gewesen, hörte die Schwalbe augenblicklich auf, Anians Brustkorb zu malträtieren, ließ ein triumphierendes Kreischen verlauten und flog, ihrer Missbildung zum Trotz, mühelos davon; dem satten Blau des Himmels entgegen.
Er stand noch einige Minuten da, fassungslos blinzelnd, die Hände schützend über seinem pulsierenden Herzen gefaltet.
Dann beschloss Anian kurzerhand, dass er tatsächlich einen Sonnenstich haben musste. Sein Gehirn ließ für den Moment keine andere Erklärung zu; ein Umstand, für den er überaus dankbar war.
Vermutlich sollte er einen Arzt aufsuchen, doch dazu hatte er ganz einfach keine Lust. Sicher, mit Halluzinationen war nicht zu spaßen, aber immerhin war ihm mit Hilfe des jüngsten Produkts seiner Einbildung der Weg zu dem Ort wieder eingefallen, an dem er den ominösen Terenjo treffen würde.
Reflexartig tastete Anian in den Taschen seiner Jeans nach dem Brief und stellte erleichtert fest, dass er existierte (endlich etwas Greifbares, das sich nicht in Luft auflöste oder davonflog). Dann machte er sich, mit gemischten Gefühlen und immer noch wie verrückt klopfendem Herzen, auf den Weg.
Liska erreichte den Treffpunkt kurz vor Einbruch der Dämmerung. Wie gebrochene Riesen knieten die mächtigen Bäume am Ufer des Sees und starrten mit gesenktem Kopf herab auf ihre Spiegelbilder.
Als wüssten sie, was in der Welt geschieht, dachte Liska.
Sie stellte resigniert fest, dass sie kaum überrascht gewesen wäre, wenn die Trauerweiden sich zu ihr umgedreht und ihr eröffnet hätten, dass genau dies der Fall war und sie deswegen so krumm und gebückt über der Wasseroberfläche knieten, als trügen sie die alleinige Schuld für das große Sterben.
Aber waren denn derartige Gedanken angesichts der letzten Stunden, Tage und Wochen nicht gerechtfertigt?
Zuerst die Sache mit dem vermeintlichen Einbruch, dann der Selbstmordversuch Darcys, der Brief, die Mutation aus ihrer Deckenwand und schließlich ein verrücktgewordener Vogel, der vor wenigen Minuten aus dem Nichts aufgetaucht war und ihr die Brüste beinahe blutig gepickt hatte.
Die einflüglige Schwalbe hatte Liska geradezu überfallen, als sie stehengeblieben war, um sich in Ruhe an den Weg zu erinnern, den sie als Kind so oft eingeschlagen hatte.
Denn obwohl sie es nie für möglich gehalten hätte, war die einst so vertraute Strecke plötzlich nur noch eine verstaubte, löchrige Erinnerung gewesen. Ein altes Foto, dessen Hauptmotiv einfach ausgeschnitten worden war.
Mit dem Angriff des Vogels aber hatte Liska ihre Orientierung zurückgewonnen. Sie schrieb es dem Schrecken zu, den das außergewöhnliche Tier ihr eingejagt hatte, doch ein eigenartiges Restgefühl blieb.
Eine Stimme, die ihr zuflüsterte, dass mehr hinter der überraschenden Attacke steckte.
Viel mehr …
Alles in allem fand Liska, dass die jüngsten Geschehnisse einige Gründe boten, guten Gewissens den Verstand verlieren zu dürfen.
Atemlos schleuderte sie ihren Rucksack von sich und ließ sich mit ausgebreiteten Armen rückwärts in das hohe Gras fallen. Tief sog sie den herrlichen Geruch der Sommererde in ihre Lungen und beobachtete einen Käfer von beachtlicher Größe dabei, wie er im hellgrünen Vorhang der Weiden verschwand.
Es ist mir egal, dachte sie, es ist mir ganz egal, ob dieser Terenjo kommt oder nicht. Ich bleibe einfach hier liegen und warte darauf, dass alles wieder gut wird. Und das wird es. Ganz bestimmt.
Bevor sie dem merkwürdigen Vogel mit seinem einzelnden Flügel begegnet war, hatte Liska das Gefühl gehabt, in einer Wolke aus negativen Empfindungen gefangen zu sein. Das Gesicht ihres personifizierten Albtraums aus der Zimmerdecke hatte sie auf Schritt und Tritt verfolgt.
Der rational denkende Teil ihres Selbst hatte, kaum dass Liska aus ihrer Ohnmacht erwacht war, händeringend nach Erklärungen für das Geschehene gesucht.
Von Hirntumoren über Fieberkrämpfe und Wachträume waren alle Möglichkeiten nacheinander durchgegangen und schließlich wieder verworfen worden.
Es war zermürbend gewesen.
Sie erinnerte sich, stundenlang auf dem Fußboden gelegen zu haben, den ominösen Brief in der geschlossenen Faust, in einem beinahe apathischen Zustand.
Dann hatte die Zeit plötzlich ihre Struktur verloren; war mal gerannt, mal geschlichen und schließlich gänzlich in ihrer Bewegung erstarrt.
Erst am Morgen des heutigen Tages war sie wieder zur Vernunft gekommen und hatte Liska gestattet, endlich einen klaren Gedanken zu fassen. So war der Entschluss herangereift, der Aufforderung des Fremden nachzukommen und an den Ort zurückzukehren, an dem sie früher, vor so vielen Jahren, stets Zuflucht gefunden hatte.