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Für Sophie Clarke gibt es nichts Schöneres als die Winterzeit. Bis sie ihre alte Zeitkapsel findet - und deren Inhalt wirft die 29-Jährige vollkommen aus der Bahn. Denn von all den Träumen für die Zukunft, die sie damals aufgeschrieben hat, ist kein einziger wahr geworden. Schlimmer noch, Sophie hat sie alle aus den Augen verloren und sie hat das Gefühl, das Leben zieht nur an ihr vorbei. Obwohl sie die Festtage liebt, ist ihr dieses Jahr nicht nach Feiern zumute. Nur die Besuche bei ihren Freunden in der Rainbow-Hearts-Library können sie noch kurzzeitig aufmuntern. Und vielleicht Hayden, der Enkel von Mr Donnelly, der in Howth endlich seinen Großvater kennenlernen will und Sophie immer häufiger in der Bücherei Gesellschaft leistet ...
Der dritte Band der Reihe um die liebenswerte Bücherei der Herzen!
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Seitenzahl: 412
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Für Sophie gibt es nichts Schöneres als die Weihnachtszeit. Doch in diesem Jahr ist ihr gar nicht feierlich zumute. Vor kurzem hat sie ihre alte Zeitkapsel wiedergefunden – deren Inhalt Sophie vollkommen aus der Bahn geworfen hat. Von all den Träumen, die sie für die Zukunft hatte, ist bisher keiner wahr geworden. Schlimmer noch: Sophie hat ihre Träume aus den Augen verloren und das Gefühl, das Leben ziehe nur an ihr vorbei. Allein die Besuche bei ihren Freunden in der Rainbow-Hearts-Library können Sophie noch aufmuntern. Und vielleicht Hayden, der Enkel von Mr Donnelly, der in Howth seinen Großvater kennenlernen will und Sophie immer häufiger in der Bücherei Gesellschaft leistet ...
Band 3 der herzerwärmenden Reihe um die ganz besondere Bücherei in Irland
Jana Schikorra
Für alle, die ...
Moment, nein.
Dieses Buch ist für alle.
Ohne Komma dahinter. Oder vielleicht doch?
Einigen wir uns darauf: Für alle, die es gerade brauchen.
Ein schneidender Wind drang durch das geöffnete Fenster der Wohnung in der Church Street und forderte die Vorhänge zum Tanz auf. Der lavendelfarbene Stoff bauschte sich unter diesem ganz und gar winterlichen Gruß, den das Meer herbeischickte.
Sophie Clarke saß ein paar Fuß weit entfernt in ihrem Lesesessel und beobachtete das Schauspiel, während sie sich die Decke um ihre Schultern ein wenig enger zog.
Es war so früh am Tag, dass die Sonnenstrahlen hinter der Wolkendecke des Dezemberhimmels noch nicht genügend Kraft besaßen, um das Grau ein wenig heller zu färben.
Die Winter in Howth waren kalt, nass und lang, und Sophie war sicher, dass viele Bewohner des Küstendorfes diese Jahreszeit als die unliebsamste von allen empfanden – vom Weihnachtsfest und dem Silvesterabend einmal abgesehen.
Sie selbst hingegen hatte diese Monate, in denen Howth und die es umgebene Küste seine raue, wilde Seite zeigten, schon immer geliebt.
Vielleicht, weil sie selbst eine solche Seite in sich trug.
Unwillkürlich zuckten ihre Mundwinkel. Was für ernste, tiefsinnige Gedanken für eine junge Frau, die vorletzte Nacht dreißig Jahre alt geworden war – und vor allem für eine Frau, die diesen Geburtstag mit einem albernen Partyhut auf dem Kopf gefeiert und ungeniert das Tanzbein geschwungen hatte. Der Gedanke an die kleine, auf den ersten Blick wild zusammengewürfelt wirkende Gruppe ihrer Begleiter brachte sie nun tatsächlich zum Kichern: eine betagte Dame, eine Frau mittleren Alters, ihre Tante und deren beste Freundin, ein liebenswerter älterer Herr und zwei aus Deutschland zugezogene Wahl-Irinnen, von denen eine die beliebteste Bücherei an der ganzen Nordküste betrieb und die andere einen wunderbaren Bücherbus durch die umliegenden Dörfer fuhr. Letztere war seit diesem Sommer sogar zu Sophies direkter Nachbarin geworden.
Sophie unterhielt nicht viele enge Freundschaften, aber die wenigen Menschen, die sie nahe genug an sich heranließ – in diesem Falle Luca, Kate und Penny –, bedeuteten ihr inzwischen die Welt. Doch auch die anderen Mitglieder der Truppe waren ihr ans Herz gewachsen. Einzig das zuweilen unterkühlte Verhältnis zu ihrer Tante drückte die harmonische Stimmung hin und wieder, aber während der Feier im Pub war Brianna tatsächlich ohne Einschränkung lammfromm gewesen.
Sophie griff nach ihrer Tasse, die auf dem runden Beistelltischchen vor sich hin dampfte, und nippte daran.
Warme Hagebutte statt, wie am Samstag, Cocktails und Shots.
Richtig so, dachte sie scherzhaft, immerhin gehöre ich jetzt zum alten Eisen.
In Wahrheit fühlte sie sich allerdings keinen Tag älter als zwanzig. Jedenfalls, wenn man einmal von der emotionalen Reife, die sie seither sicher erlangt hatte, absah.
Die Energie ihres ein ganzes Jahrzehnt jüngeren Ichs hingegen hatte sie beibehalten.
Sophie war schon immer eine leidenschaftliche Frühaufsteherin gewesen, die entweder beim ersten Weckerklingeln aufstand oder sogar erwachte, noch bevor der Alarm ertönte. Sie liebte die Weichheit eines beginnenden Tages, die Stille, das unverbrauchte, langsam erwachende Licht und den noch jungfräulichen Himmel.
Am liebsten beobachtete sie all das mit einem leckeren Heißgetränk in den Händen, bevor sie sich ganz entspannt auf den Weg zur Arbeit machte. Auch heute zwang Sophie nichts zur Eile – ihr blieben noch rund zweieinhalb Stunden, ehe sie in der Boutique erwartet wurde.
Das Schrillen der Türklingel durchbrach den Schild ihrer trägen Zufriedenheit. Sophie brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte. Erst als es ein zweites Mal läutete, streifte sie sich die Decke ab und sprang auf. Sophie eilte zur Tür und betätigte den Knopf der Gegensprechanlage.
»Hallo?«
»Post für Sie, Miss Clarke.«
Lächelnd drückte Sophie nun auf den sich unter dem Knopf befindlichen Öffner, der Besuchern und Paketboten Einlass in das Gebäude gewährte. Es surrte kurz, dann erklang ein vernehmliches Klicken, als jemand die Eingangstür aufdrückte. Sophie streckte ihren Kopf ins Treppenhaus und lauschte auf die zügig näher kommenden, eindeutig zu Thomas Sullivan gehörenden Schritte.
Auch ohne Gegensprechanlage hätte sie ihn sowohl am Quietschen seiner Turnschuhe als auch am Duft seines Aftershaves erkannt, der ihm in der Regel mindestens ein halbes Stockwerk vorauseilte.
Nur wenige Momente später erschien das vor Kälte und Anstrengung gerötete Gesicht des Kurierfahrers auf der anderen Seite des Flurs. Unter dem Arm trug Thomas ein Paket, von dem Sophie ganz sicher wusste, dass sie es nicht bestellt hatte – und allein diese Gewissheit reichte aus, um den Absender zu erraten.
»Mum«, murmelte Sophie und lehnte sich seufzend gegen den Türrahmen. Ihre Mutter schickte jedes Jahr zum Geburtstag ihrer Tochter ein Paket, das entweder zu früh oder zu spät, aber in jeder dieser beiden Szenarien per Expresssendung ankam. Sophie wusste nicht einmal, ob diese zu Anfang aller Wahrscheinlichkeit nach versehentliche Unpünktlichkeit mittlerweile zu einer Art Ritual geworden war.
Und obwohl sie sich selbstverständlich über die alljährlichen Überraschungen ihrer Mutter freute, hätte sie viel dafür gegeben, dass diese ihr wieder einmal persönlich gratulierte.
»Guten Morgen, Miss Clarke«, begrüßte Thomas sie atemlos. Kerzengerade kam er vor Sophie zum Stehen und überreichte ihr den mit mehreren Schichten Klebeband umwickelten Karton.
»Miss Clarke?« Sophie hob ob dieser Förmlichkeit in gespieltem Tadeln die Brauen. »Aber Thomas, das hatten wir doch schon längst. Trotzdem danke.«
Auf den Wangen des Briefträgers, der seinem Aussehen nach nur unbedeutend älter als Sophie zu sein schien, nahm der gerade noch zarte Rosaton eine dunklere Färbung an. Ihr entging nicht, wie er jedes Mal nervös seine Lippen befeuchtete, wenn er vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Sophie wohnte, aus seinem Transporter stieg und sein Blick wieder und wieder zur ihrem Fenster zuckte.
Sie wusste, dass sie mit ihrem üppigen roten Haarschopf, den vollen Lippen und ihren zahlreichen Sommersprossen vermutlich für die meisten Menschen als attraktiv gelten mochte, und doch vergaß sie diese Tatsache regelmäßig wieder. Etwas, das angesichts ihres nicht enden wollenden Singledaseins vermutlich wenig überraschend war.
»Stimmt. Entschuldigung, Miss – ähm – Sophie.« Thomas räusperte sich in einem vergeblichen Versuch, seine Stimme weniger heiser klingen zu lassen. »Alles Gute nachträglich zum Geburtstag! Du siehst ... ich meine, du bist ...« Er atmete tief durch, und Sophie widerstand dem Drang, ihm mitfühlend die Schulter zu tätscheln. Besser, sie sandte ihm keine falschen Signale. »Du siehst immer noch wirklich klasse aus. Die Dreißig steht dir.« Die Worte sprudelten nur so über seine Lippen. Thomas machte sich nicht die Mühe, die anschließende Erleichterung darüber, dass er dieses Kompliment nun ausgesprochen hatte, zu verbergen. Er war so herrlich sympathisch, dass Sophie sich inbrünstig darüber ärgerte, dass Thomas schlicht und ergreifend nicht ihr Typ war.
»Danke. Das ist lieb von dir.«
»Nur die Wahrheit, Miss ... Sophie. Ich werd dann mal wieder. Bis bald.« Er salutierte ein wenig unbeholfen und machte auf dem Absatz kehrt.
»Bis bald«, rief sie ihm nach und zog sich mit ihrem Paket wieder in die Wohnung zurück.
»Öffne ich dich nach der Arbeit oder jetzt noch?«, fragte sie das Geschenk und schüttelte es vorsichtig.
»Jetzt noch, meinst du? Na gut. Wenn du das sagst.«
Sophie ging in die offene, ans Wohnzimmer grenzende Küche, durchtrennte die endlosen Lagen Klebeband mit einem Messer und öffnete den Karton mit einem Anflug von ... ja, was?
War es Heimweh, das ihr den Magen zusammenzog? Heimweh nach Killarney, das sie vor sieben Jahren verlassen hatte? Oder etwas Harmloseres, einfach bloß ein Hauch von Nostalgie, ausgelöst durch den Duft nach Zimt, der ihr aus dem Inneren des Päckchens entgegenschlug?
Sophie schloss für ein paar Sekunden die Augen und sog den Geruch tief in ihre Lunge. In der kleinen Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter aufgewachsen war, hatte es das ganze Jahr über nach Weihnachtsplätzchen gerochen. Vor allem, wenn ihre Grandma zu Besuch gewesen war. Trotzdem war Sophie dieser würzigen Note nie überdrüssig geworden. Ganz im Gegenteil.
Lächelnd griff sie in den Karton und befreite ihn von den zusammengeknüllten Bällen aus Zeitungspapier, mit denen ihre Mutter stets großzügig für Polsterung sorgte. Darunter kamen etliche kleine Tüten erlesenster Süßigkeiten und Backzutaten zum Vorschein, für die ihre Mutter ein halbes Vermögen ausgegeben haben musste.
Sophie verzog das Gesicht. »Ach, Mum.«
Vanilleschoten, Safranfäden, Kuvertüre-Chips, Modellierschokolade, Fruchtpuder ... Und, zuletzt, die Quelle des wunderbaren Geruchs: Ceylon-Zimt.
Nacheinander nahm sie die mit gepunkteten Schleifchen verschlossenen Tütchen heraus und reihte sie neben dem Paket auf. Einen deutlicheren Wink, künftige Feierabende endlich wieder mit dem Kreieren kleiner Törtchen und Kuchen zuzubringen, hätte Sophies Mutter ihr wohl kaum geben können.
In der Tat war dieses Hobby in letzter Zeit zu kurz gekommen – viel zu kurz. Sie hatte mit ihrer Mutter nicht weiter darüber geredet, aber im Trubel des Alltags, den vor allem ihr regelmäßiges Job-Hopping verursachte, war ihre Leidenschaft fürs Backen und Verzieren irgendwann einfach auf der Strecke geblieben; war eingestaubt wie ein altes Bücherregal.
Vermutlich hatte Brianna gegenüber ihrer Schwester wieder einmal darüber lamentiert, dass Sophie das Backen ›ohne jeden Kampfgeist‹, der doch eigentlich typisch für die Frauen in ihrer Familie war, aufgegeben habe.
Doch Sophie konnte nichts dagegen tun: Sie fühlte sich bei dem Gedanken daran, wieder mit dem Backen anzufangen, regelrecht blockiert.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie würde noch einige Wochen in der örtlichen Boutique ihrer Tante aushelfen und hätte damit erheblich mehr Freizeit als gewöhnlich. Erst ab März würde sie der Abwechslung halber bis zum Herbst wieder in Dublin als Kellnerin arbeiten und somit mehr Stunden in der Stadt zubringen als in Howth.
Wenn sie also versuchen wollte, diese Blockade zu lösen, wäre jetzt vermutlich ein günstiger Zeitpunkt.
Seufzend sammelte Sophie die wenigen verbliebenen Zeitungspapier-Bälle aus dem Karton, um sie zu entsorgen – und entdeckte darunter überraschend ein weiteres Geschenk. Eines, das in weihnachtliches, mit bunten Christbaumkugeln bedrucktes Papier gehüllt war.
Sophie stutzte. Nun, das wiederum war ungewöhnlich.
Denn obwohl ihr Geburtstag und ihre allerliebste Feierlichkeit des Jahres dicht beieinanderlagen – genau genommen siebzehn Tage –, hatte Sophies Mutter ihr noch nie ein verfrühtes Präsent zum Fest geschickt.
Und in der Tat entdeckte Sophie einen kleinen Post-It-Sticker auf dem Geschenkpapier, auf den ihre Mutter die Aufforderung Jetzt öffnen geschrieben und mehrfach unterstrichen hatte.
Stirnrunzelnd nahm sie das Geschenk heraus und wog es in den Händen. Es war federleicht. Leicht genug, um sich als eine weitere Backzutat zu entpuppen. Doch warum sollte diese eine verpackt sein, wenn es die anderen nicht gewesen waren? Entgegen ihres sonst behutsamen Vorgehens riss Sophie, von einer drängenden Neugier gepackt, das Papier einfach achtlos auf – und stieß ein leises, überraschtes Lachen aus.
»Meine Zeitkapsel. Darf das wahr sein?«
Sie öffnete die zylinderförmige Aufbewahrungsbox aus Kunststoff, die sie mit zwölf Jahren unter einer losen Diele in ihrem Kinderzimmer versteckt hatte. Ihre Freundinnen hatten damals andere Behältnisse gewählt – solche, die selbst den härtesten Witterungsbedingungen standhielten, um sie in ihren Gärten vergraben zu können.
Doch Sophie und ihre Mutter hatten keinen Garten besessen, und überhaupt war ihr die Vorstellung zuwider gewesen, die Kapsel einfach in der Erde zu verscharren.
Allerdings hatte sie deren Existenz bis eben gerade vollständig vergessen. Ihrer Mutter hatte sie nie von der Zeitkapsel erzählt, sie musste diese beim Entrümpeln ihres Zimmers zufällig gefunden haben.
Sophie zog und drehte am Deckel der Kunststoffhülle, bis er sich mit einem Ploppen löste.
Nacheinander schüttelte sie die wenigen Gegenstände heraus, die sie damals hineingepackt hatte: eine Packung ihres liebsten Kirschkaugummis, Lipgloss, eine Haarspange mit angeschlagenen Steinchen, ein paar irische Pfund ... und ein zusammengefalteter Zettel. Die Erinnerung, die an diesem mit Zuckerstangen und Mistelzweigen illustrierten Stück Papier hing, traf Sophie mit aller Macht. Denn was sie hier in den Händen hielt, war nicht bloß irgendeine Gedanken-Ansammlung eines Mädchens an der Schwelle zum Teenager-Dasein. Nein, es war eine Liste all dessen, was sich die frühere Sophie für die ältere Sophie gewünscht hatte – erstellt ein paar Abende, nachdem sie mit ihren Freundinnen den Film 30 über Nacht angesehen hatte.
Sophie faltete den Zettel auseinander und las:
Mein Wunschzettel – was ich erreicht haben möchte, bis ich dreißig bin
• Haus mit Garten (groß genug, damit man darin zelten kann)
• einen Hund haben (oder zwei)
• eigenes Café/eigene Bäckerei betreiben
• jemanden finden, mit dem ich unterm Weihnachtsbaum sitzen und Omas Kekse essen kann (einen ›Für-immer-Menschen‹, der mich liebt, bis ich selber eine Oma bin)
Sophie knibbelte mit den Nägeln an der Faltkante des Papiers, das sie vor so vielen Jahren mit klopfendem Herzen aus der Schreibtischschublade ihrer Großmutter genommen hatte. Sylvia Clarke war nur wenige Jahre, nachdem Sophie in ihrem roten Pyjama unter dem Weihnachtsbaum gesessen und ihre Wünsche niedergeschrieben hatte, verstorben. Plötzlich wallte Scham in Sophie aus. Scham darüber, dass sie, obwohl so viel Zeit ins Land gegangen war, seit ihre Großmutter Sophie von einem zerwühlten Krankenhausbett aus ein letztes Lächeln geschenkt hatte, keinen ihrer Träume verwirklicht hatte. Nicht einen einzigen.
Sie starrte auf die in so kindlicher Schrift verfassten Sätze, las sie wieder und wieder und spürte, wie das selig-träge Gefühl, mit dem sie eben noch aus dem Fenster gesehen hatte, verschwand. Was blieb, war eine seltsame Leere – und das zum ersten Mal seit Monaten aufkeimende Bedürfnis, einfach loszuheulen.
Sophie faltete den Zettel zusammen und schloss ihn zusammen mit den restlichen Schätzen der Vergangenheit wieder in die behelfsmäßige Zeitkapsel. »Vielen Dank auch, Mum«, sagte sie in die Stille ihrer Küche hinein und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte.
Nun, das hatte ihre Mutter, aller Gedankenlosigkeit zum Trotz, die sie manchmal im Umgang mit Sophie an den Tag legte, gewiss nicht bezweckt, als sie dieses Paket auf die Reise geschickt hatte. Bestimmt hatte sie es ganz einfach lustig gefunden, Sophie mit ihren Kindheitsträumen zu konfrontieren, oder nur die Überschrift gelesen. Oder, was für die beigelegten Backzutaten sprach, ihrer Tochter die Augen öffnen und sie an ihre Ziele erinnern wollen. Und trotzdem war Sophie gerade danach zumute, in Killarney anzurufen und ihrem Ärger über diesen plötzlich unter einem ganz anderen Stern stehenden Tag Luft zu machen.
Dabei war es am Ende einfach nur sie selbst, gegen die ihre aufflammende Wut sich richtete. Sie, die in ihrem Leben irgendwo falsch abgebogen war und seither nicht mehr aus dem Irrgarten verschlungener Wege herausfand.
Vielleicht, überlegte Sophie, war es nun ganz einfach an der Zeit, sich von diesen alten Wünschen zu verabschieden, um neuen Platz zu machen. Den Zettel und das, was auf ihm geschrieben stand, nicht nur symbolisch, sondern wahrhaftig loszulassen. Sophie lächelte. Wie gut, dass sie einen Ort kannte, an dem solche kleinen Rituale an der Tagesordnung waren.
Bereits wenige Minuten später befand Sophie sich auf dem Weg zur Rainbow-Hearts-Library. Im Eiltempo hatte sie den Rest ihres erkalteten Tees heruntergestürzt, sich in Wintermantel, Schal und Pudelmütze geworfen und war fluchtartig hinaus in den Wintermorgen gestolpert. So war es oft, wenn eine Idee in ihrem Kopf erst einmal Gestalt angenommen hatte: Eine nagende Ungeduld breitete sich hinter ihrem Brustbein aus und veranlasste sie zu sofortigem Handeln. Das war einerseits gut, weil sie wichtige Dinge so nie auf die lange Bank schob. Andererseits versetzte es Sophie zeitweise in einen geradezu erschöpfenden Zustand von Ruhelosigkeit. Heute war es irgendetwas dazwischen. Denn obwohl Sophie es kaum erwarten konnte, den sie in ihrer Manteltasche begleitenden Teil ihrer Vergangenheit zwischen zwei Buchdeckeln zu begraben, genoss sie die klare Luft, die ihr um die Nase wehte.
Howth war bei jeder Wetterlage paradiesisch schön, aber wenn der Himmel so rau war wie das Meer, das die Halbinsel umschloss, sang Sophies Herz am lautesten. Sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in das aufgewühlte Grau, das sich über der Hafenpromenade erstreckte. Ob es dieses Jahr wohl nach Langem wieder einmal schneien würde?
Vermutlich war der Wunsch nach einer weißen Weihnacht in Zeiten des Klimawandels ähnlich unrealistisch wie die restlichen Stichpunkte auf ihrer Liste. Trotzdem wurde Sophie nicht müde, sich das mit üppig mit Lichterketten geschmückte Dorf unter einer Schicht makellosen Pulverschnees vorzustellen.
Seufzend löste sie den Blick wieder von den Wolken und schickte ihn die leicht ansteigende Querstraße hinauf, in die sie nun einbog.
Die Bücherei befand sich etwa auf mittlerer Höhe der Smithroad, direkt verbunden mit dem Haus, das Kates Tante Fiona ihr nach ihrem Tod vererbt hatte. Schon zu Fionas Zeiten war die Rainbow-Hearts-Library ein Ort gewesen, der Einheimische wie Touristen aufgrund seines besonderen Konzepts magisch angezogen hatte. Aber seit der Wiedereröffnung – und vor allem seitdem Kate regelmäßig Veranstaltungen wie Literatur-Bingo, Zitate-Raten und Schreibabende organisierte –, strömten mehr Besucher denn je in die kleine Bücherei. Inzwischen gab es sogar einen zur Rainbow-Hearts-Library zugehörigen Bus, der Leser aus den umliegenden Dörfern oder unpässliche Mitglieder versorgte. Am liebsten aber war allen nach wie vor die simple wie wundervolle Tatsache, dass sie Briefe jeder Art zwischen den Seiten der Bücher verstecken konnten, die die Regale der Rainbow-Hearts-Library bevölkerten. Für jedes Geheimnis, jede Angst und jede Hoffnung gab es dort einen Platz.
Und für jeden altersschwachen Wunsch, der sich schon lange vor seiner Erfüllung zur Ruhe setzen wollte.
Trotz dieses wenig erheiternden Gedankens musste Sophie lächeln.
Erst recht, als die leuchtende Fassade der Bücherei in Sicht kam. Kate hatte sich in Sachen Dekoration wirklich ausgetobt – genau wie Fiona damals. Der Gehweg vor dem Schaufenster war in schummrige Gold- und Rottöne getaucht und lieferte bereits einen Vorgeschmack auf das ganz und gar nicht zurückhaltende Gewand, in das die Bücherei stets zu Weihnachten gehüllt wurde.
Sophie hatte den ausgeleuchteten Bereich fast erreicht, als ihr ein Mann auffiel, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab lief. Das für sich genommen war natürlich nicht ungewöhnlich, und vielleicht hätte Sophie ihn in seinem langen grauen Mantel und mit dem dicken schwarzen Wollschal vor dem Gesicht auch gar nicht bemerkt, wenn er die Rainbow-Hearts-Library dabei nicht so intensiv angestarrt hätte. Stirnrunzelnd beobachtete sie, wie der Mann nun ein Handy hervorholte und Fotos von der Bücherei schoss. Konzentriert widmete er sich dem Ergebnis, und die Bewegung seiner Finger auf dem Display legte nahe, dass er die Zoom-Funktion nutzte, um die Bilder zu vergrößern.
Sophie runzelte die Stirn.
Ein Weihnachtsfan, der eine hübsche Erinnerung für sein digitales Fotoalbum knipste? Jemand von der Zeitung, der in Absprache mit Kate einen Artikel über die Bücherei und irgendein besonderes Event brachte?
Oder einfach ein faszinierter Tourist?
Nein. Irgendetwas am Verhalten dieses Typen sagte Sophie, dass keine dieser Möglichkeiten zutraf. Und da sie sich nicht gern mit Rätselraten aufhielt, beschloss sie kurzerhand, dass sie den Fremden einfach fragen konnte.
»Entschuldigung? Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Die Hände in den Manteltaschen vergraben, überquerte sie die schmale Straße und näherte sich dem immer noch auf seinen Handybildschirm starrenden Mann. Sofort hob dieser den Kopf und steckte das Telefon wieder weg. Nicht wie jemand, der sich ertappt fühlte, aber trotzdem schnell genug, um Sophies Neugier noch weiter anzufachen.
»Oh, hallo. Wie nett, dass Sie fragen.«
Der Fremde sprach mit einer samtweichen Stimme – und mit einem Akzent, den Sophie spontan in einer kanadischen Region verortete. Er lächelte. Letzteres machte Sophie an dem kleinen Kranz aus Lachfältchen fest, der sich um die hellgrauen Augen des Fremden herum ausbreiteten, denn die untere Hälfte seines Gesichts lag noch immer unter seinem Schal verborgen.
Sophie blinzelte. Aus irgendeinem Grund überrumpelte sie die Attraktivität dieses Mannes. Vielleicht gerade, weil das bisschen, das sie von ihm sah, bereits ausreichte, um ihr die Zunge zu verknoten.
Denn verdammt, hatte sie jemals so bemerkenswerte Augen gesehen? Es war nicht nur das fast stählerne Grau darin, sondern auch die Art, auf die es strahlte. Ein Strahlen, das durch den Kontrast der kastanienbraunen, leicht gelockten Haare des Mannes geradezu anderweltlich schön wirkte.
Über der Schläfe konnte sie eine einzige silberne Strähne inmitten des kräftigen Brauns ausmachen.
»Möglich, dass Sie mir tatsächlich helfen können. Kommen Sie von hier?«
»Ja«, bestätigte Sophie, obwohl das genau genommen ja nicht stimmte. Aber den Fremden würde kaum interessieren, wo sie geboren und wann sie hergezogen war.
Der Mann lächelte wieder. Dieses Mal konnte Sophie sogar die ganze Dimension dieses Lächelns erfassen, denn er hatte den Schal nun heruntergezogen.
Himmel, der Rest dieses Gesichts, das Sophie noch nie zuvor in Howth gesehen hatte, war genauso zum Niederknien wie die Augenpartie. Eine gerade Nase, geschwungene Lippen und ein kantiges, mit dunklen Bartstoppeln und einem Grübchen versehenes Kinn.
Sophie schluckte. Sie hatte im Laufe ihres katastrophalen Dating-Lebens auf die harte Tour gelernt, sich nicht von solchen Oberflächlichkeiten blenden zu lassen. Aber hier und jetzt, an diesem bilderbuchartigen Wintermorgen, schien sich ein Rückfall in derlei Dingen anzukündigen.
»Dann kennen Sie doch bestimmt Mr. Donnelly?«, fragte der anbetungswürdige Fremde.
»Jeder hier kennt Mr. Donnelly.«
Das war nicht einmal übertrieben. Der alte Mann und Mitbegründer der Rainbow-Hearts-Library war im Dorf allseits beliebt.
»Wissen Sie auch, wo ich ihn finden kann? Wenn er gerade nicht zu Hause ist, meine ich?«
Sophie zog die Brauen hoch. Erlaubte sich dieser hinreißende Vielleicht-Kanadier gerade etwa einen Scherz mit ihr, oder war er tatsächlich so ahnungslos?
»Das fragen Sie mich, obwohl Sie gerade genau den Ort mit Augen und Kamera seziert haben, den Ihnen wohl jeder hier als erste Anlaufstelle nennen würde?«
Der Fremde lachte. Ein Klang, der so betörend war, dass er in Sophie eine ganze Reihe kitschiger Metaphern heraufbeschwor.
»Mit Augen und Kamera seziert. Soso. Mir ist nur die hübsche Dekoration aufgefallen. Und der Name. ›Rainbow-Hearts-Library‹ – ich habe mich gefragt, was wohl dahinterstecken mag.«
Sophie schämte sich fast ein bisschen, dass sie sich so leicht davon hatte abbringen lassen, ebendiese Dekoration zu bewundern. Lichterketten, deren Leuchten wie winzige Bücher geformt waren, schimmernde, um Mistelgirlanden gewundene Buchstaben und mittendrin bemalte Tannenzapfen. Ein Teil davon zierte die Außenfassade der Bücherei, der andere ließ sich durch das breite Schaufenster hindurch erahnen. Ebenso wie die mit aktuellen und saisonalen Romanen bestückten Tische, die sich direkt hinter der Scheibe befanden.
Sophie deutete mit dem Kinn in Richtung Eingangstür, durch die hindurch schon so viele Geheimnisse ins Innere der kleinen Bücherei getragen worden waren.
»Ich würde vorschlagen, das finden Sie am besten selbst heraus.«
Begleitet von melodischem Glöckchengebimmel betraten sie die Rainbow-Hearts-Library. Es war ein klein wenig verrückt, fand Sophie, dass sie nun nicht mehr bloß mit ihrem Wunschzettel aus Kindertagen, sondern außerdem gemeinsam mit einem geheimnisvollen Typen hereinkam. Denn genau das war der gut aussehende Unbekannte doch – geheimnisvoll. Und sie hatte wenig bis gar nichts getan, um das zu ändern. Weder wusste sie, was er von Mr Donnelly wollte, noch, wie er überhaupt hieß. Und irgendwie schien es an einem Ort voller Geheimnisse, wie die kleine Bücherei einer war, fast vermessen, nach derlei Dingen zu fragen.
Sophie nahm einen tiefen Atemzug. Der Duft nach Büchern und Holz, diese herrliche Melange, legte sich beruhigend schwer auf ihre Sinne. Mit Beginn der Weihnachtszeit hatte sich außerdem eine zimtige Note dazugesellt. Eine solche, die Sophie auch aus dem Geschenkpäckchen ihrer Mutter entgegengeschwebt war und die das Kind in ihr stets an sein Zuhause denken ließ.
»Wow«, entfuhr es dem Fremden, der schräg hinter Sophie stehen geblieben war und sich, wie ihr ein Schulterblick verriet, mit einem faszinierten Glanz in seinen schönen Augen umsah.
Sophie musste schmunzeln. Jemanden dabei zu beobachten, wie er die Rainbow-Hearts-Library zum ersten Mal von innen bewunderte, hatte wahrlich etwas Herzerwärmendes.
Sophie konnte sich noch gut an ihren ersten Besuch erinnern. Daran, wie angetan sie davon gewesen war, dass der Raum in verschiedene Bereiche unterteilt war: einen kleinen, in dem Bücher verkauft wurden, und einen größeren, in dem welche entliehen werden konnten. Zwischen den Regalen gab es damals wie heute außerdem eine mit Stiften und Papier ausgestattete Schreibecke, in der Besucher ihren Gefühlen in Form von Briefen Ausdruck verleihen konnten. Briefe, die sie im Anschluss in einem Roman ihrer Wahl verstecken konnten.
Zuerst hatte sie gezögert, einen solchen Brief zu schreiben. Die Vorstellung, dass jemand auf ihre Zeilen stieß, wenn er das von ihr zum Versteck auserwählte Buch entlieh, war ihr ganz und gar nicht geheuer gewesen, Anonymität hin oder her. Dann aber hatte sie sich doch dazu durchgerungen, es zu probieren – und schnell herausgefunden, dass ihre Befürchtungen umsonst gewesen waren.
Denn plötzlich, nachdem sie dem Papier anvertraut hatte, was in ihr vorging, war der Gedanke an einen künftigen Leser tröstlich gewesen. Wie eine Zusicherung, dass sie nicht allein mit ihren Gefühlen war – und es auch nie sein würde.
»Hallooo?« Katherines Begrüßung, mehr wie eine Frage klingend, lichtete den Nebel ihrer Erinnerung. Sophie grinste ihre Freundin und Inhaberin der Rainbow-Hearts-Library an, die gerade den handbemalten Tresen umrundete und auf sie zukam. Auf dem hübschen Gesicht der gebürtigen Münchnerin lag ein Ausdruck von Neugier, der ihre grünen Augen zum Leuchten brachte.
»Hi, Kate. Schön, dich zu sehen.« Sie umarmten einander. Sophie war jedes Mal aufs Neue froh darum, dass die Halbirin ihr den kleinen moralischen Fehltritt von vor rund zwei Jahren restlos verziehen hatte. Keiner von ihnen hatte den Kuss, den Sophie Cadan ungefragt verpasst hatte, seit ihrer Aussprache je wieder thematisiert. Während Kate und Cadan damals nämlich noch in der Kennlernphase gewesen waren, hatte Sophie auf Biegen und Brechen versucht, den Fotografen doch noch für sich zu gewinnen. Etwas, das ihr rückblickend schrecklich unangenehm war, hatte sie damit doch ihre eigenen Gefühle über die ihrer jetzt so guten Freundin gestellt.
Verstohlen warf Sophie nun einen Seitenblick auf ihren Begleiter. Von der Haarfarbe einmal abgesehen hatten er und Cadan nicht die geringste Ähnlichkeit. Die vibrierende Nervosität jedoch, die ihren Magen hier und jetzt ins Schlingern brachte, kam ihr sehr wohl bekannt vor.
Und das, obwohl sie diesen Typen gerade einmal fünf Minuten lang kannte. Die Zeitkapsel musste sie wirklich aus dem Konzept gebracht haben.
»Sehr erfreut.« Höflich streckte er die Hand nach Katherines aus und schüttelte sie. »Ich bin Hayden.«
Hayden.
Sophie nestelte am Ärmel ihres Mantels.
Der Name passte zu ihm. Ästhetisch, außergewöhnlich ... und genauso samtig weich wie seine Stimme.
Als Sophie merkte, dass Hayden nicht mehr länger Kate, sondern sie ansah, wurde ihr unter ihrer Pudelmütze beinahe unerträglich warm. Was in Dreiteufelsnamen war nur los mit ihr?
»Sophie«, nuschelte sie ihren eigenen Namen, weil sie vermutete, dass Hayden sie deswegen so erwartungsvoll musterte.
Halb wartete sie darauf, dass er auch ihr nun die Hand schütteln würde, doch er tat nichts dergleichen. Lächelte sie nur auf diese absurd schöne Weise an, die das Grau seiner Augen in sonnenbeschienene Ozeane verwandelte.
»Hi, Sophie.«
»Hi, Hayden.«
Sophie brauchte Kate nicht anzusehen, um zu wissen, dass ihr diverse Fragezeichen ins Gesicht geschrieben standen.
Aber weil sie sich nun einmal unbedingt vom Anblick dieser funkelnden Meeresaugen lösen musste, tat sie es trotzdem. Das perplexe Blinzeln ihrer Freundin entlockte ihr prompt ein Glucksen. Katherine schien noch mit sich zu ringen, ob sie ihre Verwirrung in Haydens Anwesenheit kundtun oder lieber warten wollte, bis er gegangen war.
»Hayden ist auf der Suche nach Doran«, beeilte Sophie sich zu sagen, bevor die Atmosphäre noch seltsamer werden konnte. »Ist er hier?« Sie spähte durch den Raum, ohne den charakteristischen weißen Haarschopf des alten Mannes unter der Handvoll Besucher, die sie zwischen den Regalen entdeckte, ausmachen zu können.
Kate angelte sich das Ende ihres langen Zopfes über die Schulter und nestelte an den Spitzen. »Nicht mehr, nein. Er ist mit Luca im Bücherbus unterwegs. Die zwei bringen einen Schwung Bestellungen rüber nach Portmarnock.«
»Oh. Okay.« Sophie wandte sich an Hayden. »Ich weiß ja nicht, wie viel Zeit du hast, aber vielleicht magst du einfach hier warten, bis die beiden zurück sind. Das heißt, wenn es Kate recht ist.«
Katherine gluckste. »Das kommt ganz darauf an. Was genau willst du denn überhaupt von Doran, wenn ich dich mal so dreist fragen darf, mysteriöser Unbekannter?«
Sophie fand diese Frage weniger dreist als vielmehr längst überfällig. Immerhin würde sie andersherum auch erwarten, dass ihre Freunde sich über die Absichten von jemandem informierten, der sie zu sehen verlangte. Leider schien ihr Verstand sich aber bereits in einen verfrühten Feierabend verabschiedet zu haben.
Hayden verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und kaute einen Moment zu lang auf seiner Unterlippe, um noch einen unbefangenen Eindruck machen zu können. »Ihn endlich kennenlernen.«
Sophie hatte das Gefühl, als müsste sie mit diesen Worten irgendetwas begreifen. Doch was es auch war, es streifte sie nur mit der Zurückhaltung einer vagen Ahnung.
Katherine hingegen sog scharf die Luft ein.
»Kilian«, sagte sie leise. »Du hast die Augen seines Sohnes. Das heißt, du bist ...«
Sophie hätte sich am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Natürlich! Daher der kanadische Akzent. Dorans Sohns lebte in Kanada. Folglich war Hayden ...
»Sein Enkel. Ich bin Mr Donnellys Enkel.«
Sophie ahnte, dass die Besucher zwischen den Regalen gerade den Atem anhielten. Die Neuigkeit würde sich verbreiten wie ein Lauffeuer, ganz ohne Frage. Gut, dass Doran gerade unterwegs war und somit unter keinen Umständen von einem Außenstehenden über die Ankunft seines Enkels informiert werden würde.
»Das ist ja so was von abgefahren«, murmelte Sophie, was ihr sofort einen amüsierten Blick von Hayden eintrug.
»Dir ist klar, dass du jetzt quasi einen Prominenten-Status innehast?«, witzelte Kate und formte mit den Händen eine Kamera, die Haydens Gesicht einfing. Sophie entging nicht, dass sie hinter dieser humoristischen Fassade ziemlich geschockt war.
Hayden lachte, und Sophie musste sofort an jene häufig beschriebene Stelle in Romanen denken, in denen die Protagonisten das Lachen des jeweils anderen als schönste Melodie empfanden, die sie in ihrem Leben gehört hatten.
Herrgott, sie hatte wirklich nicht mehr alle Sinne beisammen, wenn sie nun schon anfing, solche Vergleiche zu ziehen.
»Okay, daran muss ich mich wohl erst mal gewöhnen. Wisst ihr was, vielleicht gebt ihr Doran einfach meine Nummer, wenn er wieder da ist ... Dann stehe ich mir nicht die Beine in den Bauch, ihr könnt ihn schon einmal vorwarnen, und er entscheidet selbst, ob er sich bei mir melden möchte.« Hayden nickte, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass das die vernünftigste Lösung war.
»Klar. Wie du möchtest. Ich wollte dich mit diesem Promi-Witz jetzt aber nicht abschrecken oder so.«
»Hast du nicht, keine Sorge.« Er zwinkerte. »Habt ihr etwas zu schreiben parat? Oder darf ich meinen Kontakt in einem von euren Handys einspeichern?«
Kate klopfte demonstrativ auf die Taschen ihrer Jeans. »Keins dabei.«
Sophie unterdrückte einen Seufzer. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Freundin dasselbe gesagt hätte, wenn sich unter dem Stoff die deutlichen Umrisse eines Smartphones abgezeichnet hätten. Und zwar deswegen, weil ihr ebenso sicher nicht entgangen war, wie attraktiv Sophie Dorans Enkel fand. Oder eher, wie attraktiv sie ihn gefunden hatte. Denn irgendwie kam es ihr ein bisschen seltsam vor, ausgerechnet den Abkömmling dieses herzensguten alten Mannes anzuschmachten, der etwas durch und durch Großväterliches ausstrahlte. Trotzdem öffnete sie nun die obersten Knöpfe ihres Mantels, befreite ihr Handy aus der gefütterten Innentasche und reichte es Hayden. »Nur zu«, forderte sie ihn auf, nachdem sie es entsperrt hatte. Haydens Finger flogen in Sekundenschnelle über den Bildschirm. Darauf bedacht, diese Finger ja nicht zu berühren, nahm Sophie das Handy kurz darauf wieder entgegen.
»Danke«, sagte Hayden mit so viel Nachdruck, dass sie kurz argwöhnte, ob er es vielleicht zynisch meinte. Aber der Schatten, der über sein markantes Gesicht huschte, belehrte sie eines Besseren.
Ihr schwante, dass Hayden hinter seiner lässigen Fassade ziemlich nervös sein musste. Man konnte es ihm nicht verdenken. Schließlich war eine Reise von mehreren Tausend Kilometern zu einem bis dato vollkommen unbekannten Verwandten nicht unbedingt etwas Alltägliches. Zwar stand Sophie Doran Donnelly längst nicht so nahe wie Kate, doch wusste auch sie um das unterkühlte Verhältnis zu seinem ausgewanderten Sohn. Dass Hayden hier war – der Enkel, den er bisher nur von wenigen Fotos kannte –, musste ihm die Welt bedeuten.
Sophie wünschte, sie könnte dem Kanadier genau das mitteilen, um ihm die Aufregung ein Stück weit zu nehmen. Doch irgendwie fand sie es anmaßend, in dieser Angelegenheit für Doran zu sprechen. Also begnügte sie sich mit einem aufmunternden Lächeln.
»Danke«, sagte Hayden noch einmal, als wäre Lächeln neuerdings etwas, das man explizit honorieren musste. »Ich werde mich dann mal auf mysteriöse Weise zurückziehen, wie es sich für einen echten Promi gehört. Aber ich komme zurück, sobald mein Kopf etwas freier ist.« Er zwinkerte. »Bücher haben schließlich ungeteilte Aufmerksamkeit verdient, oder? Macht's gut, ihr zwei.«
Er sah von Sophie zu Kate und zurück, und für den Bruchteil einer Sekunde verhakten ihre Blicke sich regelrecht ineinander. Ein Schauder – keiner von der unangenehmen Sorte – kroch Sophie die Wirbelsäule hinauf und breitete sich auf ihrer Kopfhaut aus. Dann war der Moment vorüber.
»Du auch«, sagten sie und Kate wie aus einem Mund, und Hayden zog sich winkend zurück.
»Doran wird ausflippen«, stellte Kate unverblümt fest, kaum dass er die Bücherei verlassen hatte. Sophie hatte halb erwartet, dass nun auch die anwesenden Leser zwischen den Regalen hervorkommen und gegebenenfalls Fragen zum gerade Gehörten stellen würden. Doch offenbar waren sie diskret genug, um davon abzusehen – oder aber tatsächlich so tief versunken in die Welt der Geschichten, dass sie alles um sie herum ausblendeten. »Er wird sogar so was von ausflippen«, ergänzte Kate, während sie mit den Fingern auf die hölzerne Oberfläche des Tresens trommelte.
»Da kann ich dir nicht widersprechen. Das ist immerhin schon so etwas wie ein kleines frühzeitiges Weihnachtswunder, oder?« Sophie sah ihre Freundin über den Bildschirm ihres Handys hinweg kurz an und senkte den Blick dann wieder auf ihren offenen Chat. »Ich schicke dir Haydens Nummer, dann kannst du ihn nachher informieren.«
Kate starrte versonnen ins Leere und antwortete mit einem leisen »Mh-hm.« Dann kehrte sie blinzelnd zurück in die Wirklichkeit. »Ein Vorweihnachtswunder für Doran Donnelly. Das wäre ein schöner Buchtitel, wenn du mich fragst.«
Sophie nickte. »Ich freue mich für Doran, dass es nicht bloß eine Geschichte ist, sondern wirklich passiert.«
Der alte Mann war ein Familienmensch durch und durch. Etwas, das den frühen Tod seiner Frau und den Umzug seines wenig kontaktfreudigen Sohnes umso tragischer machte.
»Da sagst du was.«
Kate hörte auf, den Tresen zu betrommeln, und schob sich seitlich in Sophies direktes Sichtfeld. Gut so. Dann hörte sie vielleicht auf, Haydens Silhouette auf dem inzwischen leeren Gehsteig zu suchen. »Und er hat wirklich einfach so vor der Tür gestanden?« Kates Verblüffung darüber schien nicht abzunehmen.
»Na ja. Ich habe ihn mir nicht gebacken und mit hergenommen. Also, ob du's glaubst oder nicht, er hat einfach so vor der Tür gestanden.«
»Nur, um das klarzustellen: Würdest du dir deinen Traummann denn so backen, wie Hayden aussieht?«
Sophie verdrehte die Augen. »War ja klar, dass das Gespräch früher oder später diese Wendung nimmt.«
Kate stieß sie mit dem Ellbogen an. »Das war keine Antwort auf meine Frage. Wobei ... vielleicht ja doch, wenn ich mir die Farbe deiner Wangen so ansehe.«
Sophie hoffte inständig, dass sie nicht schon in Haydens Gegenwart so rot geworden war, wie Kates Kommentar vermuten ließ. »Ich würde gern weiter mit dir über meinen Teint philosophieren, aber ursprünglich bin ich heute Morgen wegen etwas ganz anderem zu dir gekommen.«
Abwesend tastete sie nach dem in ihrer Manteltasche ruhenden zerknitterten Relikt einer längst vergangenen Zeit.
Kate schien ihr nur mit halbem Ohr zuzuhören. »Irgendwie ist das doch auch ziemlich verrückt, oder? Dass Hayden quasi intuitiv hierherkommt, um Doran zu suchen?«
Sophie zuckte die Achseln. »Ist es das? Hayden weiß doch bestimmt von Kilian, dass sein Großvater hier quasi zu Hause ist.«
»Das glaube ich nicht unbedingt.« Kate senkte die Stimme. »Kilian hat laut Doran nämlich so gar kein Interesse an dessen Leben hier in Howth. Und nach allem, was ich über Kilian erfahren habe, kann ich mir gut vorstellen, dass das Verhältnis zu Hayden nicht unbedingt besser aussieht. Aber na ja, ich will nicht mutmaßen.«
»Oh.« Die Betroffenheit, mit der Sophie diesen kurzen Laut aussprach, war nicht gespielt. Ihr war die Problematik unterkühlter Eltern-Kind-Beziehungen durchaus bekannt – mehr, als ihr lieb war. Ein alter Schmerz klopfte an die Innenseite jener Schublade, in die hinein Sophie ihn verbannt hatte.
Glücklicherweise wurde das Geräusch gleich darauf vom Bimmeln der Türglöckchen und fröhlichen Begrüßungsfloskeln übertönt: Eine Leserin kam hereingeschneit, um die Ausleihfrist ihrer Bücher vor Ablauf noch rasch zu verlängern und außerdem eine Kleinigkeit aus der Flohmarktecke zu erstehen, in der Kate gebrauchte und beschädigte Bücher zu geringen Preisen anbot.
»Einen schönen Tag noch, Mrs Denvers«, verabschiedete Kate die Frau mit gewohnter Herzlichkeit. »Und denken Sie dran: Sie können beim nächsten Mal auch einfach kurz anrufen oder eine Mail schreiben, wenn Sie noch mehr Zeit zum Lesen brauchen.«
»Nicht doch!«, winkte die Dame ab und schenkte Kate ein herzerwärmendes Strahlen. »Das würde mir ja einen Besuch hier streitig machen. Und dabei komme ich so gern her.«
Sophie konnte förmlich sehen, wie diese Wertschätzung Katherines Kinn ein Stück weit emporhob. Nicht auf eine überhebliche Art, sondern auf eine, die ein gesundes Maß an Selbstvertrauen und Zufriedenheit verhieß. Sophie gefiel dieser Ausdruck von Stolz an Kate. Und noch mehr, dass nichts mehr an ihr unsicheres, nervöses Auftreten erinnerte, das sie kurz nach der Wiedereröffnung an den Tag gelegt hatte.
»Bis bald, Mrs Denvers«, rief nun auch Sophie der glücklichen Frau nach, die ihr beim Herausgehen noch einmal über die Schulter hinweg zuwinkte.
Sogleich nahm Kate den Faden ihres unterbrochenen Gesprächs wieder auf.
»Mal außen vorgelassen, ob er jetzt zufällig hier war oder nicht: Ich hatte keine Ahnung, dass Dorans Enkel aussieht wie Henry Cavill.« Kate wedelte mit der Hand, als hätte sie sich an etwas Heißem verbrannt.
Sophie versuchte, nicht allzu albern zu grinsen. »Der Schauspieler? Na ja, vielleicht ein bisschen ...«
»Tu du nur unschuldig. Reden wir mal kurz Klartext: Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass wir einen ähnlichen Männergeschmack haben. Und da ich Hayden auf einer unbedenklichen ›Ich bin in einer glücklichen Beziehung und fröne der Monogamie‹-Ebene bemerkenswert attraktiv finde, wird es dir nicht groß anders gehen. Also sei biiiitte einfach ehrlich zu mir, damit ich dich hin und wieder ein bisschen aufziehen kann, ja?«
Sophie war dankbar dafür, dass Kate ihr einst gemeinsames Interesse an Cadan mit Humor nahm. Vor allem in einer Situation wie dieser, in der sie mit der Intensität ihrer Empfindungen ziemlich überfordert war.
»Gut, du hast mich erwischt. Aber bevor wir das näher ergründen, müsste ich mich jetzt wirklich kurz um etwas kümmern.« Sophie befreite ihren in Mitleidenschaft gezogenen Zettel aus der Manteltasche und berichtete Katherine knapp, was es damit auf sich hatte.
»O Gott, entschuldige. Und ich blödle hier herum! Dieser Morgen hat mich ein bisschen durcheinandergebracht.« Sofort tauschte die Freundin ihren neckischen Gesichtsausdruck gegen einen verständnisvollen und stellte damit wieder einmal unter Beweis, dass sie hier, an Fionas Stelle, genau richtig war. Wie schon ihre Tante zu Lebzeiten, besaß auch Kate ein untrügliches Feingefühl. Auch wenn es in Ausnahmefällen wie diesem manchmal einen Moment auf sich warten ließ.
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« Sie berührte Sophie flüchtig an der Schulter und widmete sich dann dem Bestellsystem auf dem Computer, der neben Drucker, Scanner und Kasse auf dem Tresen stand. Dankbar für die Verschnaufpause stahl Sophie sich zwischen die Regale. Und obwohl es vermutlich nur Einbildung war, empfing sie dort sofort eine andächtige, geradezu undurchdringliche Stille.
Als würden die Seiten der Bücher, die sich links und rechts von ihr stapelten, jedes Geräusch der Welt in sich aufnehmen. So mühelos wie Worte und Tinte.
Mit den Fingerspitzen ihrer freien Hand strich sie über die Rücken der Romane, deren Inhalt so unterschiedlich war wie ihr Erscheinungsbild. Mal fühlten sie sich glatt an, mal rau, mal abgegriffen, mal wie unberührt.
Sophie suchte nach keinem bestimmten Autor oder Genre. Sie ließ sich einfach von ihrer Intuition leiten – und blieb am Ende der Fantastik-Abteilung stehen. Dort, wo Kate ein paar besonders beliebte Bücher ausgestellt hatte, die in den vergangenen fünf Jahren erschienen waren. Normalerweise hegte Sophie eine Vorliebe für klassische Werke. Vor allem für solche, in denen Lyrik eine Rolle spielte. Doch heute ließ ihr Bauchgefühl sie die Hand nach Matt Haigs Mitternachtsbibliothek ausstrecken.
Sie hatte bereits von der Geschichte gehört, die weltweit so viele Menschen begeistert hatte. Nun aber, da sie den Klappentext aufmerksam las, kam ihr die Existenz dieses Werkes beinahe wie eine Fügung des Schicksals vor. Eine Möglichkeit, zwischen verschiedenen Lebenswegen zu wählen und herauszufinden, was sich hinter der so gern genutzten »Was wäre wenn«-Phrase verbarg, war genau das, was Sophie sich in diesem Moment wünschte. Allerdings gewiss ohne dabei an der Schwelle zum Tod zu stehen.
Sophie strich über den goldgelben Schriftzug des Titels und versuchte sich vorzustellen, was für eine Person sie jetzt wohl wäre, wenn alles, was auf dem Wunschzettel ihrer Kindheit stand, sich bewahrheitet hätte.
Einen intensiven Moment lang schloss sie die Augen und sah diese Person vor sich; unter einem Weihnachtsbaum, angelehnt an eine vertraute wie geliebte Schulter und zu ihren Füßen ein schwanzwedelnder Hund, der sehnsüchtig die neuesten Kreationen aus ihrem eigenen Café beobachtete.
Dann wurde das Bild wieder von der Gegenwart überlagert.
Sophie blinzelte ein paarmal, bis die Verbindung von Netzhaut und Seele vollständig gekappt war.
Dann schlug sie das Buch an einer beliebigen Stelle auf, legte ihren Zettel hinein und betrachtete ein letztes Mal die hoffnungsvollen Kringel ihrer schiefen Kinderschrift.
»Macht's gut. Zeit für neue Träume.«
Eilig schloss sie Haigs Mitternachtsbibliothek wieder und stellte das Buch zurück an seinen Platz. Sophie fand, dass es sich mit Abschieden ein bisschen so verhielt wie mit abgezogenen Pflastern: je schneller, desto besser.
Also kehrte sie nun ohne viel Aufgebens zu Katherine zurück, deren Aufmerksamkeit noch immer dem Bildschirm ihres Computers galt. Jedenfalls so lange, bis sie bemerkte, dass Sophie sich auf die andere Seite der Theke stellte.
»Erfolgreich gewesen?«
»Jap. Ich glaube, ich fühle mich schon ein paar Kilo leichter. Was praktisch ist, jetzt hab ich nämlich einen guten Grund, nachher noch ein bisschen über den Howth Market zu schlendern und zu schlemmen.«
Kate zog die Stirn noch etwas krauser. »Herzpfunde zählen nicht. Aber auch über andere solltest du dir keine Gedanken machen. Das tust du doch nicht?«
Sophie verdrehte von Neuem die Augen, obwohl die Sorge ihrer Freundin sie irgendwie rührte.
»Nein, natürlich nicht. Du kennst mich doch inzwischen: Wenn ich Hunger habe, esse ich. Das war nur ein Versuch, witzig zu sein. Ich merke schon, das liegt mir nicht besonders.«
Kates Gesichtszüge entspannten sich wieder. »Ist schon okay. Wäre ja auch ziemlich fies, wenn du zusätzlich zu deinem guten Aussehen und deiner Intelligenz auch noch Humor hättest.«
Sophie streckte ihr die Zunge heraus. »Alles klar, Kate. Danke für diesen interessanten Morgen. Ich würde wirklich gern noch bleiben und Dorans Reaktion miterleben, aber Bree erwartet mich in der Boutique. Und du weißt ja, dass sie Unpünktlichkeit nicht ausstehen kann. Schon gar nicht bei ihrer eigenen Nichte.«
Schon war es wieder vorbei mit Kates entspannter Miene: Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. So weit, dass nur noch eine steile Falte sie voneinander trennte. Sophie wand sich innerlich. Sie kannte diesen Blick – und wusste, was darauf folgen würde.
»Wenn du möchtest, dass ich mich noch mal umhöre, wo demnächst vielleicht eine Ladenzeile frei wird ... Du weißt, das Angebot steht.«
»Alles gut, nicht nötig. Aber trotzdem danke.« Sophie lächelte verkrampft.
Schon lange vor Verfassen des Wunschzettels hatte sie ihn gehabt, diesen Traum von einem eigenen kleinen Café. Nach der Schule hatte sie dann eine Ausbildung zur Konditorin absolviert – und nach dem Abschluss in allen erdenklichen Branchen gearbeitet, außer in der von ihr erlernten. Sie war sich ziemlich sicher, dass niemand dieses Verhalten verstehen konnte. Dass alle den Kopf über ihren Lebensweg und die ständig wechselnden Arbeitgeber schüttelten. Oder darüber, dass sie sich damit zufriedengab, in der Boutique ihrer Tante auszuhelfen. Dabei war kaum jemand imstande, hinter Sophies vermeintliche Ambitionslosigkeit zu sehen. Die Angst zu erkennen, die den Kern des Ganzen bildete und der Grund dafür war, dass alles stagnierte. Denn, und darüber machte sie sich keine Illusionen, es gab nur diese eine Chance. Da draußen warteten keine einhundert passenden Immobilien und weitere einhundert Banken, die bereit wären, ihr einen Kredit zu gewähren. Es gab keine Garantie für zufriedene Gäste, kein Auffangnetz in ihrem Rücken. Und wenn er scheiterte, dieser Plan A, würde das kleine Mädchen in Sophies Herzen ihr das nie und nimmer verzeihen. Also fing sie lieber mit Plan B an. Und C. Und allen anderen Buchstaben des Alphabets. Und zu einem der letzteren würde sie nun aufbrechen.
Es tat Sophie fast ein bisschen leid, dass sich die Boutique mit Namen Crohan & Cahill nur im hinteren Drittel des Plan-Alphabets bewegte. Denn es war gewiss nicht so, dass sie den stets nach Flieder und Leichtigkeit duftenden Laden nicht mochte. Nein, sie fühlte sich inmitten der schicken, von Brianna und ihrer besten Freundin Ivy sorgfältig auf Mannequins und gläsernen Tischen arrangierten Kleidungsstücke sogar ziemlich wohl. Obwohl die dargebotene Mode Sophies Geschmack nach ziemlich eigenwillig war, fand sie Anklang bei jeder Klientel. Vielleicht, weil die Preise trotz des exklusiven ersten Eindrucks der Boutique durchaus human waren. Oder weil Sophies Tante und ihre Freundin ihre Kunden – getreu dem alten Sprichwort – wie Könige behandelten.
Sie verwöhnten ihre Besucher mit Snacks und Getränken und verwickelten sie in ausschweifende Gespräche. Vor allem Brianna besaß eine ganz eigene Kunst, Menschen – und Käufer – für sich zu gewinnen. Sie ging voll und ganz in ihrem Beruf auf und war damit schon immer ein Vorbild für Sophie gewesen.
Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass sie einander – ungeachtet gemeinsam verbrachter Arbeitszeit – nicht besonders nahestanden.
»Hi, Tante Bree. Hi, Ivy.« Sophie rauschte durch die gläserne Doppeltür ins Innere des Ladens und brachte einen Schwall kalter Luft mit hinein, der binnen eines Wimpernschlags von drückender Heizungswärme zerstreut wurde.
Sie schälte sich noch im Gehen aus ihrem Anorak, unter dem sie sofort zu schwitzen begann, und zog sich die dicke Pudelmütze vom Kopf.
»Hallo, Sophie«, sagten Ivy und Brianna im Chor. Beide standen hinter dem ebenfalls aus Glas gefertigten Tresen und waren über einen Modekatalog gebeugt.
Sophie fand immer noch verblüffend, wie frappierend die Ähnlichkeit zwischen den beiden besten Freundinnen war.
Beide trugen die Haare zu aufwendigen, mit reichlich Haarspray fixierten Frisuren aufgetürmt, besaßen das gleiche Faible für Schmuck und Make-up und teilten sich sogar die gleiche Mimik und Gestik. Einzig Ivys verschiedenfarbige Augen und ihre schmalere Nase trübten das Bild ansonsten fast vollständiger Übereinstimmung. Nun, und vielleicht die Tatsache, dass Ivy sich die Haare blondierte, während Brianna sie vorzugsweise dunkel tönte.
»Gar nichts los heute?«, fragte Sophie, während sie an der Theke vorbeiging und die Tür zum linken der beiden Hinterzimmer aufmachte, das gleichzeitig als Garderobe und Pausenraum diente und in dessen hinterem Teil außerdem ein kleines Badezimmer untergebracht war. Sie warf ihre Sachen über den ihr nächsten Stuhl und kehrte in den Verkaufsraum zurück.
»Oh, du weißt doch, wie das ist. Die Leute kommen entweder gar nicht oder in Scharen. Und heute früh war schon eine ganze Schar hier. Wir schnaufen also nur einmal durch, bevor die Nächste kommt.«
Brianna sah von ihrem Katalog auf und musterte Sophie eindringlich. »Mach dir einen Zopf, Kind. Oder kämm dir die Haare. Mützen sind der Feind eines jeden Kopfes.«
Sophie schnaubte. »Diese Feindschaft nehme ich gern in Kauf, wenn warme Ohren der Preis sind.« Trotzdem zupfte sie ihr Zopfgummi unter den umgeschlagenen Ärmeln ihres Pullovers hervor und band sie die wallende Mähne zurück.
»Du siehst immer gut aus, Sophie. Lass dir nichts sagen.« Ivy zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Was Brianna an Herzlichkeit fehlte – jedenfalls gegenüber Sophie – machte sie mühelos wieder wett.
»Danke. Gleiches gilt natürlich für dich.«
Ivy legte sich eine Hand aufs Herz und machte einen übertrieben hingerissenen Gesichtsausdruck, der Sophie ein Lachen entlockte.
Sie angelte sich einen Keks aus der Schale und verschluckte sich an den zahlreichen Krümeln, die ihr beim Abbeißen in den Rachen rieselten. »Ich habe gerade vorhin noch darüber nachgedacht, wie sehr ihr eure Kundschaft immer verwöhnt – auch kulinarisch«, krächzte sie, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war. »Aber was in aller Welt ist