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NIEDRIGER AKTIONSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! **Welcome to the Mad House** Voller Vorfreude tritt Julina ihr Auslandsjahr als Au-pair an und reist ins englische Dörfchen Pinewick Falls, wo sie sich um die Zwillinge der schwerreichen Familie Carstein kümmern soll. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft in dem abgelegenen Herrenhaus Dreadful Manor wird sie das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt: Aus den Wänden dringen seltsame Geräusche und niemand scheint je das Anwesen zu verlassen. Selbst Cailan, der attraktive Sohn der Carsteins, dessen aristokratische Züge Julina in ihren Bann ziehen, scheint etwas vor ihr zu verbergen. Und dann erfährt sie, was sich einst Schreckliches hinter den Mauern des Anwesens zugetragen hat … Ergründe die Geheimnisse von Dreadful Manor. //Die Urban Fantasy »Hauntingly Beautiful« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
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Jana Schikorra
Hauntingly Beautiful
**Welcome to the Mad House **Voller Vorfreude tritt Julina ihr Auslandsjahr als Au-pair an und reist ins englische Dörfchen Pinewick Falls, wo sie sich um die Zwillinge der schwerreichen Familie Carstein kümmern soll. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft in dem abgelegenen Herrenhaus Dreadful Manor wird sie das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt: Aus den Wänden dringen seltsame Geräusche und niemand scheint je das Anwesen zu verlassen. Selbst Cailan, der attraktive Sohn der Carsteins, dessen aristokratische Züge Julina in ihren Bann ziehen, scheint etwas vor ihr zu verbergen. Und dann erfährt sie, was sich einst Schreckliches hinter den Mauern des Anwesens zugetragen hat …
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Vita
Danksagung
© privat
Jana Schikorra, 1993 in Lübeck geboren, studierte Germanistik und Soziologie an der Universität Hamburg. Sie lebt mit Mann und Hund an der Ostsee, doch am lautesten schlägt ihr Herz für die Berge.
Für alle Nachtschwärmer da draußen.Hört nicht auf nach den Sternen zu greifen.
Über den Wolken ist es friedlich.
Unaufgeregt. Ruhig.
Na gut, ruhig bis auf das gleichmäßige Rauschen der Flugzeugturbinen natürlich. Und das Knistern der Chipstüte zwei Plätze vor mir, die eben ihren Weg vom Service-Wagen in die Hände eines glücklichen Kindes gefunden hat. Und bis auf die Musik, die dumpf und irgendwie blechern aus den Kopfhörern meiner Sitznachbarin dringt.
Aber in mir, da ist es wirklich ruhig. Sobald ich aus dem Fenster, an dem sich winzige Eiskristalle gebildet haben, hinaus in das unendlich weite Blau sehe, bin ich ganz und gar im Reinen mit mir selbst.
Das war schon immer so – seit ich als kleines Mädchen zum ersten Mal in einem Flugzeug sitzen durfte. Obwohl ich damals erst vier war, kann ich mich ganz genau daran erinnern, wie ich vom Schoß meiner Mutter aus über die stetig kleiner werdenden Häuser gestaunt und gemerkt habe, wie ich dadurch alles um mich herum vergesse. Sobald die Triebwerke zum Leben erwachten, waren alle negativen Gedanken wie weggeblasen (wobei diese sich in meiner Kindheit glücklicherweise auf Banalitäten wie nicht gekaufte Süßigkeiten und unterwegs verlorene Teddybären beschränkten).
Heute, vierzehn Jahre später, ist das noch immer so. Und auch wenn es inzwischen komplexere Gedanken sind, die ich unten zurücklasse, habe ich mir doch eine Fähigkeit in ihrer Gänze bewahrt: nämlich das Staunen.
Unter anderem staune ich heute wie damals darüber, dass dieser tonnenschwere Aluminiumvogel durch die Luft gleitet, als wöge er nicht mehr als eine Feder. Ganz besonders aber über die Tatsache, dass ebendieser Vogel mich nicht in den Urlaub, sondern geradewegs in einen neuen Lebensabschnitt transportiert.
Und zwar im absoluten Eiltempo.
Seit meine Mutter mich heute Morgen zum Flughafen gebracht und nach einer tränenreichen Umarmung in mein bisher wohl größtes Abenteuer entlassen hat, rast die Zeit nur so an mir vorbei. Auch jetzt nimmt sie wieder ihre Beine in die Hand, was fast schade ist, weil ich den Ausblick so gern noch ein bisschen genießen möchte.
Aber die Wolken, bis eben weit unter uns schwebend, kommen allmählich näher. Der Sinkflug hat begonnen.
Ich schiebe mir einen Kaugummi in den Mund; eine altbewährte Methode, um den Druck auf den Ohren auszugleichen, der durch den raschen Höhenverlust entsteht.
Schon knackt es in den Lautsprechern (und in meinen Ohren).
»Sehr geehrte Fluggäste, in Kürze erreichen wir Newcastle International Airport. Die Temperatur vor Ort beträgt neun Grad, die Ortszeit ist 12:55 Uhr. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein, schnallen Sie sich an und bleiben Sie sitzen, bis die Anschnallzeichen wieder erloschen sind.«
Meine Ruhe wird von einem leisen Kribbeln in der Magengegend abgelöst. Nicht mehr lange und besagter neuer Lebensabschnitt beginnt ganz offiziell.
Spätestens wenn ich mit Sack und Pack in Mr Carsteins Wagen sitze, gibt es kein Zurück mehr.
Ein Jahr lang werde ich für ihn und seine Frau als Au-pair ihre Zwillinge betreuen, bevor ich wieder nach Deutschland fliege und in München mein Studium beginne. Sozialpädagogik. Ich hätte auch zum aktuellen Wintersemester anfangen können, jedoch finde ich die Vorstellung, von der Schule direkt an die Uni zu gehen, irgendwie ziemlich erdrückend.
Wenn man den Berufstätigen in meinem Umfeld Glauben schenkt, gibt es nur dieses eine kleine Zeitfenster zwischen Abschluss und Ausbildung, in dem man den Mut aufbringt, Gewohntes hinter sich zu lassen und so etwas wie ein Auslandsjahr zu machen.
Eigentlich halte ich solche Weisheiten ja für Quatsch, aber es kann trotzdem nicht schaden, auf Nummer sicher zu gehen und jetzt aus der Komfortzone zu fliehen, bevor ich irgendwann zu sehr gefangen in Alltagsstrukturen und Routinen bin.
Dass mein Stiefvater Steve Engländer ist und ich daher quasi zweisprachig aufgewachsen bin (mein leiblicher Vater hat uns verlassen, als ich zwei war, und seither nichts mehr von sich hören lassen), macht das Ganze für mich zugegebenermaßen auch wesentlich einfacher.
Nicht auszudenken, wie nervös ich wäre, wenn ich mich neben der normalen Aufregung außerdem wegen möglicher Verständigungsprobleme sorgen müsste.
Ich seufze leise, schiebe einen zweiten Kaugummi hinterher und forme eine große nach Himbeeren duftende Blase vor meinem Mund, die mit einem leisen Knacken zerplatzt.
Im selben Moment durchbricht das Flugzeug die Wolkendecke und ich sehe ein dem Herbst entsprechendes nieseliges Newcastle upon Tyne.
Plötzlich bin ich ein bisschen traurig, dass ich das kommende Jahr nicht in einer pulsierenden Metropole wie London, sondern in einem superweit abgelegenen Dorf am nördlichsten Zipfel Englands verbringen werde.
Ob es wirklich richtig war, mich für Pinewick Falls zu entscheiden?
Schnell wische ich den Gedanken beiseite.
Die Carsteins zahlen so viel, dass ich schon jetzt für die Miete einer künftigen Wohnung oder eines WG-Zimmers sparen kann. Tatsächlich ist mein Verdienst ungefähr dreimal so hoch wie der Durchschnitt, was mich natürlich erst mal ziemlich stutzig gemacht hat. Genauso wie die Tatsache, dass sie mich gefunden haben, nicht umgekehrt. Ich hatte damals bereits einige Tage nicht mehr in mein Postfach der Vermittlungsplattform geguckt, bei der ich bis dahin erfolglos angemeldet war, und bin entsprechend aus allen Wolken gefallen, als ich das Angebot entdeckt habe.
Laut Mrs Carstein, mit der ich nur ein paar Stunden später telefoniert habe, ist die Abgeschiedenheit des Dorfes ausschlaggebend für ihre Großzügigkeit gewesen.
Ich halte es allerdings für genauso wahrscheinlich, dass die Familie mit der hohen Vergütung stundenlange Versteck- und Fangspiele entschädigen möchte, während derer man sich in ihrem beinahe lächerlich großen Anwesen mit ziemlicher Sicherheit hoffnungslos verlaufen wird.
Ehrlich, ein größeres Haus als Dreadful Manor, wie Mr und Mrs Carstein es trotz seines nicht ansatzweise furchtsamen Äußeren nennen, habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Schon die Fotos, die sie mir geschickt haben, waren beeindruckend und Google Earth nach zu urteilen, ist der Weg vom Hoftor bis zur Eingangstür ein halber Tagesmarsch.
Gut, dass mein Smartphone meine Schritte zählt. Bestimmt kehre ich in einem Jahr drahtig und sportlich wie nie nach Deutschland zurück.
Ich ziehe meinen Rucksack unter dem Sitz hervor und drücke ihn mir an die Brust. Mein Herz schlägt inzwischen schnell und fest gegen den dicken Stoff, auf dem meine zwei besten Freundinnen mir ein paar Abschiedsgrüße hinterlassen haben.
Hab dich lieb. Bis bald. Pass auf dich auf.
Ein bisschen oldschool irgendwie, wo wir doch jeden Tag über WhatsApp schreiben können. Trotzdem bin ich froh über das zusätzliche nicht-digitale Andenken. Von meiner Mutter und Steve, meinem Stiefvater, habe ich ein wunderschönes silbernes Armband mit drei kleinen Anhängern bekommen; ein Symbol für jeden von uns. Meins ist ein Kleeblatt, weil ich an einem Sonntag geboren wurde und meine Oma mich deswegen immer »Glückskind« genannt hat, Steves ein Anker, weil er das Meer so gernhat, und das von meiner Mutter eine Rosenblüte, weil sie die Blume über alles liebt.
Ich berühre alle drei flüchtig mit den Fingerspitzen und muss lächeln. Obwohl ich niemand bin, der mit Heimweh zu kämpfen hat, finde ich es schön, meine Lieben auf diese Weise bei mir zu haben.
In meinen Ohren knackt es erneut, als das Flugzeug weiter an Höhe verliert. Ich höre, wie das Fahrwerk ausgefahren wird. Die Leute werden wuselig und machen sich in ihren Sitzen bereit zum Aufspringen. Ich grinse in mich hinein, weil ich dieses merkwürdige Fluchtverhalten noch nie verstanden habe, und konzentriere mich lieber auf das trotz leiser Zweifel hibbelig-fröhliche Gefühl in meinem Bauch.
Jetzt wird es also ernst.
Pinewick Falls, ich komme.
Der Pilot legt eine absolute Bilderbuchlandung hin und kassiert dafür vereinzelt sogar den klassischen Applaus.
Ich warte, bis das große Gedränge an den Ausgängen vorüber ist, und schließe mich dann den verbleibenden Fluggästen auf ihrem Weg nach draußen an. Über eine Passagierbrücke geht es ins Innere des verhältnismäßig kleinen Flughafengebäudes. Ich war bereits etliche Male in Heathrow und Birmingham – mit der Familie, der Schulklasse oder meinen Freundinnen –, hier oben, im Norden des Landes, allerdings noch nie.
Das Unbekannte kitzelt mich wie eine Feder.
Habe ich mich jemals freier und unabhängiger gefühlt als in diesem Moment? Vermutlich nicht.
Ich bleibe kurz stehen, um mich an den von der Decke hängenden Schildern zu orientieren, und steuere dann die Gepäckausgabe an.
Glücklicherweise ist mein Koffer einer der ersten, die auf dem Band erscheinen. Ohne großen Zeitverlust breche ich also zum Abholbereich meines Terminals auf, den ich aufgrund der eher übersichtlichen Auswahlmöglichkeiten auch sofort ausfindig machen kann.
Ich atme tief ein.
Es riecht nach Kaffee, Sandwiches und Duty-Free-Shop – eine ganz besondere Duftmischung, die ich schon immer geliebt habe und aus der ich am liebsten ein eigenes Parfüm kreieren würde.
Eilig bahne ich mir einen Weg durch das geschäftige Treiben und komme ziemlich atemlos am vereinbarten Treffpunkt an. Ich scanne die Reihen der Wartenden nach Mr Carsteins grau meliertem, fein gekämmten Haarschopf ab, kann ihn aber nirgendwo entdecken. Stattdessen werde ich auf einen kleinen Mann mit Tweed-Anzug, Schnurrbart und Schiebermütze aufmerksam, der ein mit dem Namen »Julina« beschriftetes Schild in den Händen hält.
Wie Mr Carstein sieht er nicht aus – und wie dessen Frau erst recht nicht. Trotzdem gehe ich auf ihn zu; meinen riesigen Koffer ächzend hinter mir herziehend. Immerhin ist »Julina« nicht gerade der geläufigste Name, den man sich vorstellen kann. Soweit ich weiß, jedenfalls.
»Hallo?«, sage ich unsicher und versuche mich an einem Lächeln. Meine Mundwinkel zittern vor Aufregung und sofort wünsche ich mir die anfängliche Ruhe aus dem Flugzeug zurück.
»Julina Seiler?«, fragt der Mann mit einer basshaltigen Stimme, die überhaupt nicht zu seiner schmächtigen, verstaubten Erscheinung passt. Er mustert mich aufmerksam.
Sehr aufmerksam.
Doch ich bin es gewohnt, dass man mir länger als nötig ins Gesicht sieht. Genauer gesagt in die Augen.
Aufgrund meiner Heterochromie sind die nämlich verschiedenfarbig – das linke braun, das rechte grün.
»Ja«, bestätige ich meine Identität nickend, »die bin ich.«
Ich warte darauf, dass er etwas erwidert, aber das tut er nicht. Stattdessen seufzt er. Als er das Schild sinken lässt, sieht er irgendwie … ich weiß nicht … traurig aus. Bevor ich ihn scherzhaft fragen kann, ob ich wirklich so einen niederschmetternden Eindruck hinterlasse, macht er einen Schritt nach vorn und nimmt mir den Koffergriff aus der Hand. Sein Aufkeuchen verrät, dass er angesichts meiner zierlichen Statur mit weniger Gewicht gerechnet hat – wie sollte er auch ahnen, dass ich mein halbes Bücherregal mitgeschleppt habe? Gott sei Dank sind meine zwei anderen Koffer mit Kleidung vorherige Woche schon ohne mich auf Reisen gegangen und laut den Carsteins wohlbehalten in Dreadful Manor angekommen – andernfalls hätte es wohl zwei weitere schnurrbärtige Herren im Tweed-Anzug gebraucht, um mein Hab und Gut von A nach B zu befördern.
Nachdenklich blicke ich dem Mann hinterher, der nun mit meinem Gepäck in Richtung Ausgang verschwindet. Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass ich ihm besser folgen sollte.
Also blinzle ich meine Starre fort und haste ebenfalls durch die Schiebetüren, die im Sekundentakt surrend auseinandergleiten.
Draußen ist es kalt, selbst für Mitte Oktober.
Obwohl mir eben noch schrecklich warm war, friere ich sofort und ziehe meinen Schal so hoch, dass er mein halbes Gesicht verdeckt. Zusammen mit meinem etwas zu großen Pullover (ich bin große Verfechterin des Schlabberlooks) und der Steppjacke könnte man meinen, ich hätte vor zu einer Polarexpedition aufzubrechen.
»Mr Carstein lässt sich entschuldigen. Er hat einen wichtigen beruflichen Termin«, sagt der kleine Mann, während er meinen Koffer in ein schwarzes Auto wuchtet, das er in einem als »Abholer und Bringer« gekennzeichneten Bereich geparkt hat. Von der Aufmachung erinnert das Fahrzeug mich ein bisschen an die sogenannten »Black Cabs«, die in London als Taxis eingesetzt werden. Es ist diese Art von Wagen, die es einem leicht macht, sich wichtig vorzukommen. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie Mr und Mrs Carstein mit gestresstem Gesichtsausdruck auf der Rückbank sitzen, hektisch einen Coffee to go schlürfen und via Headset bedeutsame Kundengespräche führen. Damit komme ich der Wahrheit bestimmt ziemlich nah, immerhin ist er als angesehener Unternehmer im industriellen Bereich tätig und seine Frau arbeitet nicht minder erfolgreich als Architektin.
In einem unserer Telefonate haben sie mir ganz offen erzählt sich bewusst spät für die Elternschaft entschieden zu haben, um sich erst eine anständige Karriere aufbauen zu können – die beiden sind Mitte fünfzig, sehen allerdings schon ein wenig älter aus, was unter anderem sicher dem großen beruflichen Stress zuzuschreiben ist. Dreadful Manor jedoch ist der beste Beweis dafür, wie lukrativ diese stressigen Jobs sind. Lukrativ, aber dabei eben auch wahnsinnig zeitaufwendig, weshalb sie dringend jemanden benötigen, der ihnen die Kinderbetreuung abnimmt. Und an dieser Stelle komme ich ins Spiel.
»Okay. Kein Problem.« Ich warte darauf, dass der Unbekannte sich mir vorstellt, doch es scheint, als müsse ich ihm auf die Sprünge helfen. »Und Sie sind …?« Mein Gehirn muss sich erst einmal wieder daran gewöhnen, dass im Englischen keine Höflichkeitsform, wie ich sie kenne, existiert. Gedanklich übersetze ich das »You« trotzdem ganz automatisch in ein »Sie«, wie ich es jedem Menschen über achtzehn verpasse, den ich nicht kenne.
Der kleine Mann wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sein Kopf ist knallrot vor Anstrengung – immerhin hat er ja auch gerade ganze von Buchdeckeln eingefasste Welten hochgestemmt.
»Oje, Verzeihung. Wie unhöflich von mir. Ich bin Mr Morris, der Butler. Ich sorge in Dreadful Manor für Ordnung.«
»Ah, alles klar. Schön Sie kennenzulernen.«
Ich finde diese ganze Butler-Sache etwas veraltet, sage aber nichts. Sicher, es ist bestimmt so gut wie unmöglich, ein so großes Anwesen wie das der Carsteins ohne Unterstützung instand zu halten. Leuchtet ein. Dennoch stolpere ich irgendwie über die Berufsbezeichnung – und über die Vorstellung, dass Mr Morris mir am Ende meinen Tee auf mein Zimmer bringt und die Kissen aufschüttelt.
Andererseits scheint es sowohl innerhalb adeliger als auch innerhalb besonders wohlhabender Familien einfach nach wie vor Sitte zu sein, einen Butler zu beschäftigen. Landesweit gibt es einige renommierte Schulen, an denen der Beruf erlernt werden kann.
»Ganz meinerseits«, versichert er, umrundet den Wagen und hält mir die linke Hintertür auf.
Ich bedanke mich und lasse mich in einen alten Ledersitz sinken, dem ein Duft nach schwerem Parfüm und altem Zigarettenrauch entsteigt.
Mr Morris nimmt währenddessen auf dem Fahrersitz Platz und startet den Motor. Mit der einen Hand bedient er das Lenkrad, mit der anderen schaltet er das Radio ein. Suchend dreht er an den Reglern, bis er einen Sender findet, auf dem es nicht rauscht.
Schließlich fädelt sich der Wagen in den Verkehr ein (mein Herz setzt kurz einen Schlag aus, als Mr Morris zielstrebig die linke Spur ansteuert, bis mir wieder einfällt, dass alles andere in Großbritannien auch ziemlich leichtsinnig wäre). Bis auf die verhaltenen Klänge von Streichern und Blasinstrumenten, die nun aus den Lautsprechern dringen, ist es still im Auto. Ich würde gern etwas sagen, bin aber zu erschöpft, um mir etwas Sinnvolles zu überlegen.
Jetzt, da der erste Adrenalinschub langsam abebbt, fühlt sich mein ganzer Körper unheimlich schwer an. Laut Maps beträgt die Fahrtzeit nach Pinewick Falls anderthalb Stunden. Wahrscheinlich kehren meine Lebensgeister erst in den letzten Minuten vor der Ankunft zurück.
»Wie alt sind Sie, Miss Seiler, wenn ich das fragen darf?«, erkundigt sich Mr Morris so unvermittelt, das ich zusammenzucke.
Ein komischer Einstieg für ein Gespräch, finde ich, allerdings immer noch besser als dieses Schweigen, das mir unsichtbare Gewichte an die Augenlider zaubert.
»Achtzehn«, sage ich und überlege kurz, ob er jetzt erwartet, dass ich die Frage zurückgebe.
Im Rückspiegel kann ich jedoch erkennen, dass Mr Morris den Blick starr auf die Straße geheftet und die Lippen aufeinandergepresst hat, als müsse er sich eine Bemerkung verkneifen.
Und dann sieht er plötzlich wieder so traurig aus.
Wieso nur sieht er immer so traurig aus?
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich ihn geradeheraus.
Sofort wird seine Miene freundlicher.
»Ja. Ja, entschuldigen Sie bitte, Miss Seiler. Wie schön, dass Sie so jung schon so viel von der Welt sehen.« Er unterbricht sich mit einem leisen Hüsteln. »Es ist eine Weile her, dass ich Pinewick Falls verlassen habe, wissen Sie? Wenn ich also etwas kauzig auf Sie wirke, dann nur weil ich lange nicht mehr mit jemandem von außerhalb gesprochen habe.«
Ich weiß nicht recht, ob mich das in Anbetracht der nicht gerade kurzen Autofahrt beruhigen soll, aber immerhin scheint das Eis zwischen uns nun gebrochen zu sein.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Mr Morris. Ich finde Sie nicht kauzig.«
Er gibt ein dankbares Grunzen von sich.
»Wie sind die Carsteins so?«, möchte ich wissen und puste mir eine meiner dunklen Locken aus dem Gesicht, die mir in die Stirn fällt, als ich eine Packung Salzcracker aus meinem Rucksack berge. Die meisten sind ziemlich zerbröselt, weil ich mich am Münchener Flughafen versehentlich draufgesetzt habe, aber das tut ihrem Geschmack glücklicherweise keinen Abbruch.
»Möchten Sie einen?«, schicke ich eine weitere Frage hinterher und halte eines der weniger ramponierten Exemplare hoch, sodass Mr Morris es sehen kann.
Der schüttelt jedoch den Kopf. »Oh, danke, ich verzichte lieber. Wenn ich einmal anfange, kann ich nicht aufhören.«
Ich nicke. Das verstehe ich nur zu gut.
»Also … Die Carsteins … Sie sind nett. Großzügig. Wirklich angenehme Menschen. An ihrem Tisch gibt es immer einen Platz für mich. Sie behandeln mich, als würde ich zur Familie gehören. Und ihre Kinder sind absolut reizend.«
Ich nicke, während ich auf meinem demolierten Cracker herumkaue.
Tommy und Gillian haben auf den Fotos und während der Videotelefonate wirklich unheimlich süß ausgesehen. Die beiden sind zweieiige Zwillinge; sieben Jahre alt, blond und mit einem herzerweichenden Milchzahnlächeln gesegnet. Ihren Eltern nach zu urteilen, ist das Verhalten der beiden auch jenseits der Kamera, vor der wir uns kennengelernt haben, engelsgleich – doch wer würde vor einem Au-pair schon behaupten, dass es sich beim eigenen Nachwuchs um wahre Satansbraten handelt?
Vermutlich niemand.
»Ich freue mich auf die zwei. Also, natürlich auf die ganze Familie, aber vor allem auf Tommy und Gillian.«
Es stimmt. Kinder sind großartig; ich liebe ihre erfrischende Direktheit und die Art, wie sie die Welt sehen. Eine Zeit lang habe ich mir beinahe verzweifelt ein kleines Geschwisterchen gewünscht und ich weiß, dass meine Mutter unserer kleinen Familie diesen Wunsch gern erfüllt hätte, nach mir hat es jedoch nie wieder funktioniert. Dabei haben Steve und sie es lange versucht.
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Wirklich toll, dass Ihr Englisch so hervorragend ist. Die zwei werden sich freuen, sie sind nämlich definitiv nicht auf den Mund gefallen. Reden ununterbrochen. Es gab schon Personal aus dem Ausland, dem das anfangs ein bisschen zu viel war. Was ja auch vollkommen verständlich ist. Ich habe als junger Mann mal ein halbes Jahr lang in Frankreich gearbeitet und mich kaum getraut überhaupt etwas zu sagen. Bewundernswert, wie die jungen Leute von heute das alles handeln …«
Mr Morris ist nun, da wir unsere Startschwierigkeiten überwunden haben, offenbar ebenso wenig auf den Mund gefallen wie die Zwillinge.
Während die Umgebung draußen immer ländlicher wird und wir zwischendurch sogar eine selbst im trüben Grau des Nachmittags überwältigend schöne Küstenstraße entlangfahren, erfahre ich, dass er in Whitby geboren wurde, mit zwei Geschwistern aufgewachsen ist, eine Katze namens Jane vor einem gewalttätigen Nachbarn gerettet und aufgezogen hat, er an Sonntagen gern mal ein Glas Brandy trinkt und dass sein Sternzeichen Widder ist.
Oh, und ich darf ihn Jeremy nennen.
»Gleich sind wir da«, verkündet er feierlich, als wir das verwitterte Ortsschild passieren, das uns in Pinewick Falls willkommen heißt. Nur am Rande registriere ich die wilde, urige Schönheit der honigfarbenen Steinhäuser und kleinen Geschäfte, die sich entlang der Straße aneinanderreihen.
Meine Nervosität hat mich inzwischen voll im Griff.
»Sind Sie bereit für Dreadful Manor, Miss Seiler?«
Bin ich das?
Ich nicke zwar, aber eigentlich bin ich mir da noch immer nicht so sicher.
Ich versuche mich auf den Anblick des Hauses vorzubereiten.
Doch als wir den malerischen Ortskern hinter uns lassen, um die Ecke biegen und der Wagen einen schmalen nach und nach ansteigenden Weg hochrollt, stockt mir der Atem.
Weit hinter einem Zaun aus schwarz-goldenen Streben, der ein parkähnliches Areal einrahmt, ragt Dreadful Manor in den grauen Himmel auf. Mit seiner dunklen Backsteinfassade und den etlichen Erker- und Treppentürmchen sieht es aus wie ein Schloss.
Beeindruckend, aber auch einschüchternd.
Kies knirscht unter den Reifen, als wir langsam auf eine breite Auffahrt rollen. Jeremy bremst ein wenig zu abrupt ab und ich stoße mir fast die Stirn an seiner Kopflehne.
Eine Entschuldigung murmelnd steigt er aus, um das in die Streben eingefasste Tor zu öffnen, und kehrt kurz darauf auf den Fahrersitz zurück. Kaum sind wir auf dem Gelände angelangt, wiederholt er die Prozedur, um das eben geöffnete Tor zu schließen und danach weiter in Richtung Anwesen zu fahren.
Angesichts des unverkennbar vorhandenen Vermögens der Carsteins habe ich mit einem elektronischen Sicherheitstor gerechnet, doch es scheint, als mögen sie es wirklich altmodisch.
Während Jeremy das Auto einen von Laternen und kniehohen Hecken flankierten Weg entlanglenkt, verrenke ich mir fast den Hals, weil ich nicht weiß, wohin ich zuerst sehen soll.
Mein Blick huscht von links nach rechts, von hinten nach vorne. Der Garten jenseits der Fensterscheiben ist wunderschön, aber es fehlt ihm an Wildheit. Das kupfergoldene Laub der Bäume wurde ordentlich zusammengekehrt, die zahlreichen Büsche gestutzt und in Form gebracht. Nicht einmal die Skulpturen, die ich zwischen Beeten und Bäumen erkennen kann und bei denen es sich ausnahmslos um Gargoyles in unterschiedlichen Posen handelt, zeigen Spuren von Witterung.
Trotzdem bin ich von der herrschaftlichen Gesamterscheinung des Geländes völlig hingerissen. Hier ein Brunnen, da eine Parkbank, dort ein Seerosenteich …
Wenn Jeremy nicht bei mir wäre, würde ich sofort mein Handy zücken und Fotos für meine Eltern und meine Freundinnen machen, aber das muss warten. Ich möchte nicht unhöflich wirken.
Eine halbe, durchaus angenehme Ewigkeit später halten wir erneut, dieses Mal vor der Tür des Anwesens.
Ich bin aufgeregt wie nie. Als ich aus dem Wagen steige, meinen Rucksack an die Brust gepresst wie einen Schutzschild, spüre ich meine Nervosität ganz deutlich in meinen butterweichen Knien.
»Willkommen in Ihrem neuen Zuhause, Miss Seiler.«
Jeremy wuchtet meinen Koffer hinter sich her, öffnet die massiv wirkende Doppeltür und bedeutet mir vor ihm einzutreten.
Schon finde ich mich in einer Eingangshalle wieder, die mich in ihrem Prunk und ihrer Perfektion eher an ein Filmset als an einen realen Ort erinnert.
Der Boden ist mit dunklem Parkett ausgekleidet, die Wände holzvertäfelt und mit aufwendigen Gemälden behängt. Eine mit rotem Teppich ausgelegte Treppe mit breiten Stufen führt hinauf zu einer Galerie und von der Decke baumelt ein kristallener Lüster.
Einfach alles an Dreadful Manor ist ungeheuer majestätisch – so sehr, dass es mich nicht wundern würde, die Queen aus einem der angrenzenden Räume spazieren zu sehen.
Tatsächlich schwingt in diesem Moment eine Tür zu meiner Linken auf, aber es ist nur Mrs Carstein, die hinaustritt – wobei ich das »Nur« sofort wieder streiche.
Die weißen Locken hat sie zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt, in die goldene Spangen eingearbeitet wurden. Sie trägt roten Lippenstift und ein Kostüm in derselben Farbe. Jeder ihrer Gesichtszüge wirkt unsagbar edel; wie von einem begnadeten Künstler mit goldenem Pinsel gezeichnet. Ihre Erscheinung ist absolut imposant und fügt sich nahtlos in die herrschaftliche Atmosphäre des Hauses ein.
Ich unterdrücke den albernen Impuls, einen Knicks zu machen, und reiche ihr meine merklich zitternde Hand.
Wow, ich bin wirklich aufgeregt.
»Wie schön Sie endlich persönlich zu treffen, Mrs Carstein. Ich freue mich so hier zu sein.«
Ihre Hand ist überraschend kalt, was aber nicht weiter schlimm ist, da mein nervöser Körper genug Hitze für uns beide ausstrahlt. Die Hausherrin verzieht ihre geschwungenen Lippen zu einem Lächeln. »Willkommen, Julina. Ich hoffe, du hattest eine angenehme Anreise.«
Ich nicke und möchte erzählen, dass mein Flug problemlos verlaufen ist und Mr Morris – Jeremy – ein toller Fahrer war, doch Mrs Carstein redet schon weiter.
»Mr Morris wird dein Gepäck auf dein Zimmer bringen. Wenn du möchtest, kannst du ihn begleiten und dich erst einmal ein bisschen frisch machen, bevor ich dir das Haus zeige. Was meinst du?«
Ich nicke und setze für den Fall, dass das nicht ausreichend war, ein schnelles »Ja, das wäre toll« hinterher.
»Schön. Dann hole ich dich in einer halben Stunde ab.«
Mrs Carstein wendet sich zum Gehen und tätschelt Mr Morris im Vorbeigehen die Schulter. Ich bin irgendwie froh über diese Geste, denn vorher hat sie ihn, der doch angeblich wie ein Familienmitglied behandelt wird, vollständig ignoriert.
»Gehen wir, Miss«, sagt er freundlich.
Ich möchte ihm helfen meinen Koffer die Stufen hochzuschleppen, aber das lässt er nicht zu.
Also begnüge ich mich damit, mit meinem Rucksack hinter ihm herzulaufen und den Luxus dieses Anwesens weiterhin ungläubig in mich aufzusaugen. Einfach alles, von der verzierten Decke über die Handläufe bis hin zu den aufwendig bestickten Teppichen, sieht so unbeschreiblich wertvoll aus.
Es wird sicher eine Weile dauern, bis ich mich an diesen Anblick gewöhnt habe.
»Hier entlang«, dirigiert Jeremy mich am Ende der Treppe nach rechts. Der Flur, der nun vor uns liegt, ist so lang, dass ich sein Ende kaum ausmachen kann.
Wir gehen vorbei an teuren Vasen, weiteren Gemälden mit dicken goldenen Rahmen und antik aussehenden Kommoden. Als ich mich schon frage, wie früh ich wohl aufstehen muss, wenn ich die Kinder morgens für den Unterricht fertig machen soll, bleibt Jeremy endlich stehen.
Er holt einen riesigen klimpernden Schlüsselbund aus seinem Jackett und bringt das Schloss wenig später zum Klicken.
»Hereinspaziert, Miss Seiler. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich in Ruhe umsehen können.«
Ich bedanke mich und trete dann mit klopfendem Herzen durch die Tür.
Das Zimmer ist ein wahr gewordener Traum. Es hat einfach alles, was es braucht, um mich glücklich zu machen.
Das Bett ist so groß, dass nicht einmal die unzähligen Kissen es überladen wirken lassen. Darüber hängen durchscheinende Vorhänge, in die hie und da goldglitzernde Sterne gewoben sind.
Es gibt einen Schreibtisch, der zu den insgesamt zwei Erkerfenstern ausgerichtet ist, ein riesiges Bücherregal, einen genauso riesenhaften Kleiderschrank, in den meine vorgeschickten Klamotten längst einsortiert worden sind, einen riesigen Fernseher an der Wand und – Achtung – sogar eine eigene Kaffeemaschine.
Als wäre das nicht schon genug, kann ich durch eine angelehnte Tür schräg gegenüber meines Betts auch noch eine frei stehende Badewanne und eine Regenwalddusche erkennen.
Um sicherzugehen, dass ich nicht träume, gehe ich mit ausgestreckten Händen durch den Raum und fasse alles an, was mir in die Quere kommt. Meine Finger streichen abwechselnd über Holz und Stoff und schließen sich dann um mein Handy, mit dem ich Fotos mache und ein paar schnelle »Bin gut angekommen«-Nachrichten verschicke (auf die meine Mutter sofort mit einer Reihe erleichterter Emojis antwortet).
Danach stelle ich mit Schrecken fest, dass meine halbe Stunde schon fast um ist. Mrs Carstein wird mich jeden Moment abholen. Ich werfe einen Blick in den silbergerahmten Spiegel zwischen Bücherregal und Kleiderschrank und muss mir eingestehen, dass ich alles andere als frisch aussehe. Hastig binde ich mir die offenen Haare im Nacken zusammen und klopfe mir eine Armada Fusseln vom schwarzen Pulli, die das Innenfutter meiner Jacke darauf hinterlassen hat.
Ich bin noch nicht weit gekommen, als es auch schon an der Tür klopft.
»Komme«, rufe ich, drücke die Klinke hinunter – und erstarre.
Zum zweiten Mal an diesem Tag habe ich einen der Carsteins erwartet und sehe stattdessen in ein vollkommen fremdes Gesicht. Allerdings gibt es da einen wesentlichen Unterschied zur Situation am Flughafen, denn das hier ist das bei Weitem schönste, das mir jemals untergekommen ist (sorry, Jeremy).
Der Junge, zu dem es gehört, ist groß, muskulös und so vornehm gekleidet, dass ich mir in meinem Oversize-Outfit beinahe verwahrlost vorkomme. Er trägt eine enge dunkle Hose, Lackschuhe, ein cremefarbenes Hemd und einen schwarzen Mantel mit Stehkragen. Seine Wangenknochen sind nicht von dieser Welt, die Haare dunkel wie die Nacht und die Augen so durchdringend blau, dass ich mich frage, ob er wohl Kontaktlinsen trägt. Dasselbe scheint er sich auch über mich zu fragen, denn natürlich ist ihm meine Heterochromie aufgefallen. Ich sehe es an seinem Blick. Daran, wie er mich mustert, und an der Art, wie seine geschwungenen Brauen kaum merklich in die Höhe wandern.
»Hallo«, sage ich oder habe es zumindest vor, denn heraus kommt nur irgendein peinlicher heiserer Laut.
Großartig.
Der Unbekannte stützt sich am Türrahmen ab und beugt sich ein Stück weit zu mir herunter. Sofort schießt mir die Hitze ins Gesicht. Ich war nicht ansatzweise auf jemanden wie diesen düsteren Romeo mit den aristokratischen Gesichtszügen und dem hübschen zu einem irgendwie unheimlichen Lächeln verzogenen Mund vorbereitet.
»Hallo«, sagt er mit einer Stimme, die so weich, angenehm und interessant ist, dass ich eine Gänsehaut bekomme.
Ich hole tief Luft – möglichst unauffällig – und versuche mich zu beruhigen. Warum bin ich so nervös? Normalerweise schafft es kein Vertreter der männlichen Spezies so schnell mich aus der Ruhe zu bringen. Ich meine, klar, das ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass ich einen Jungen attraktiv finde. Doch in diesem Fall … ist etwas anders.
Ich nehme mir vor diesen Vorfall später ausführlich im Chat mit meinen Freundinnen zu diskutieren. Nicht auszudenken, wie neidisch Finja und Samira sein werden. Insbesondere Samira, die absolut vernarrt in blaue Augen ist. Und in schwarze Haare. Und in Typen, die irgendwie verwegen wirken.
Aber ob sie so einen schon mal gesehen hat?
»Du bist unser Au-pair?«, fragt der Schönling und schockt mich mit dieser Formulierung ein kleines bisschen.
Bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er zur Familie gehört?
Dass wir ein Jahr lang in ein und demselben Haus leben werden?
Mir wird schwindelig.
Ganz ruhig. Vielleicht ist das alles auch bloß ein Missverständnis und dieser unverschämt heiße Kerl nur zu Besuch. Ein Cousin vielleicht oder einfach ein guter Bekannter. Jemand aus dem Ort, der hier etwas zu erledigen hatte und jetzt einen auf dicke Hose machen will, indem er so tut, als würde er hier leben. Ja, ganz bestimmt.
Immerhin hat er überhaupt keine Ähnlichkeit mit Mr und Mrs Carstein.
»Ja«, beantworte ich seine Frage lahm und rufe mir in Erinnerung, dass es langsam Zeit ist, mir das Haus – und vor allem Tommy und Gillian – anzusehen.
Den Grund, warum ich in Pinewick Falls bin.
»Mrs Carstein wollte mich herumführen«, setze ich eilig hinterher. Endlich etwas Vernünftiges aus meinem Mund. Ich bin begeistert.
Leider macht der geheimnisvolle Unbekannte jedoch keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen.
»Keine Sorge. Ich habe Mary angeboten das zu übernehmen.«
Mary. Er nennt sie beim Vornamen? Okay, sie müssen also definitiv in einem engeren Verhältnis zueinander stehen.
Ich finde Mrs Carstein keineswegs unsympathisch, aber sie strahlt eine gewisse Kälte aus, die mich vermuten lässt, dass selbst ihr eigener Ehemann (der übrigens Robert heißt) sie mit »Mrs« oder »Mylady« anspricht.
»Also? Wollen wir?«
Mr Sexy sieht mich ungeduldig an. Erst jetzt begreife ich, was er da eigentlich gesagt hat – er wird mich durchs Haus führen. Gott bewahre.
»Wie wäre es, wenn du mir erst mal verrätst, mit wem ich es überhaupt zu tun habe?«, frage ich nun, da mein Sprachvermögen zurückgekehrt ist.
»Cailan«, sagt mein Gegenüber und klingt dabei irgendwie gelangweilt.
Cailan. Was für ein schöner Name.
»Okay. Hi, Cailan. Und – äh – was genau machst du in Dreadful Manor?«
Er sieht mich an, als würde er an meiner Intelligenz zweifeln.
»Wohnen. Was sonst?« Er stößt sich vom Türrahmen ab und macht ein paar Schritte den Flur hinunter. Die Hände in den Manteltaschen vergraben dreht er sich zu mir um.
»Dann … dann sind die Carsteins deine Eltern?«, frage ich und bete innerlich, dass er verneint. Die beiden haben mir gegenüber nur von zwei Kindern gesprochen, aber das hat vermutlich wenig zu sagen. Immerhin ist Cailan erwachsen und benötigt vermutlich keine Hilfe bei den Hausaufgaben oder dergleichen. Der Gedanke, ausgerechnet ihren Sohn so attraktiv zu finden, behagt mir trotzdem nicht.
»Hmm«, macht er unverbindlich, was mich nur noch mehr verwirrt. Leider bleibt mir keine Gelegenheit, weiter nachzuhaken, denn in diesem Moment kommt Jeremy den Gang entlanggeeilt.
»Ihr Willkommensessen beginnt in einer Stunde, Miss Seiler«, stößt er zwischen zwei abgehackten Atemzügen hervor. Dann wendet er sich an Cailan. »Am besten, Sie beeilen sich mit der Führung ein wenig.«
Willkommensessen? Oje.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sage ich zerknirscht und meine es auch so, aber Jeremy ist schon wieder auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung. Der Ärmste hat wirklich alle Hände voll zu tun.
Mir fällt auf, dass Cailan ihn keines Blickes gewürdigt hat.
Mann, was soll dieses Gehabe denn bloß?
»Miss Seiler«, sagt er nun langsam. Die Art, wie er meinen Nachnamen ausspricht, lässt meine ohnehin schon warmen Wangen noch heißer werden.
Ich bin ziemlich sicher, dass sie außerdem leuchtend rot sind, denn er grinst wissend.
»Ich denke, ich nenne dich lieber Julina. Oder … nein. Jules. Das gefällt mir besser.«
Jules. So hat mich zuletzt mein damaliger bester Freund aus der sechsten Klasse genannt. Für den Rest war und bin ich Julie – und das sehr gern. Julie klingt weicher. Wärmer.
»Und wenn es mir nicht gefällt?«, frage ich Cailan herausfordernd.
Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen; sieht mich unverwandt an.
»Auch dann. Also, Jules. Gehen wir. Nicht dass dein Willkommensessen noch kalt wird.«
Dreadful Manor ist nicht nur riesig, sondern vor allem ein Labyrinth aus Fluren, Türen, Kammern, Nischen und Treppen.
Ich bin absolut überwältigt und außerdem zu einhundert Prozent sicher, dass ich mich in diesen Mauern niemals zurechtfinden werde. Ein Jahr reicht nicht aus, um jeden Winkel dieses monströsen Gebäudes zu erkunden.
Cailan versucht trotzdem mir einen ungefähren Überblick zu verschaffen. Er führt mich zuerst durch den Westflügel, in dem sich mein Zimmer befindet, und stößt hie und da eine Tür auf, um mir die dahinter befindlichen Räume zu zeigen.
Es gibt unter anderem eine Bibliothek mit angrenzendem Lesesaal, ein Musikzimmer, einen Raum voller Karten und Teleskope und einen, in dem alte Möbel unter verstaubten Planen lagern.
»Außerdem wohnen hier Mr Morris, die Gärtner und das Küchenpersonal«, erklärt Cailan auf meine Nachfrage, was sich hinter den restlichen Türen verbirgt. »Allerdings ganz am anderen Ende, du wirst ihnen also kaum begegnen. Sie nutzen überwiegend die alten Dienstbotengänge.«
»Dienstbotengänge«, murmle ich empört, »wieso? Dürfen sie etwa nicht normal über den Flur laufen?«
Cailan rollt mit den absurd schönen Augen. »Natürlich dürfen sie. Aber sie tun’s nicht. Macht der Gewohnheit. Hast du sonst noch was auszusetzen, Jules, oder können wir weitermachen?«
Ich funkle ihn böse an, sage jedoch nichts.
Immerhin ist Jeremy hier nicht allein. Gott sei Dank.
Ich freue mich schon darauf, den Rest des Personals kennenzulernen. Wenn alle hier so nett sind wie er, ist auf jeden Fall für genügend Ausgleich zu Cailans frostig-überheblicher Art gesorgt.
Wir setzen die Tour im östlichen Seitenflügel des Hauses fort, in dem die Carsteins untergebracht sind.
Das ist auch schon alles, was ich wissen muss, denn die Angestellten des Hauses – zu denen ich ja ebenfalls zähle – haben dort laut Cailan nur eingeschränkt, also zu vorgegebenen Zeiten, Zutritt. Ich bin ziemlich sicher, dass er in diesem für mich verbotenen Teil des Hauses schläft, doch das bleibt reine Spekulation. Er äußert sich nicht dazu und weicht meinen Fragen so gekonnt aus, dass man annehmen könnte, er hätte etwas zu verbergen.
Meine Führung endet im Erdgeschoss, das ebenfalls über zwei Flügel verfügt. Der linke beherbergt neben einem herrschaftlichen Bad mit eingelassenem Schwimmbecken außerdem ein Heimkino und einen Hobbyraum, der rechte unter anderem einen Salon und ein Esszimmer – wobei Letzteres seinem Namen nicht ganz gerecht wird, gleicht es doch eher einem Saal. Auch hier gibt es Kronleuchter und mit Teppichen und Bildern behängte Wände. Zwei lange Tafeln, von denen jedoch nur eine gedeckt ist, stehen in der Mitte des überwältigend großen Raumes. Das Ehepaar Carstein sitzt nebeneinander am Kopfende, rechts und links von ihnen die Zwillinge. Vor ihnen türmen sich Platten und Teller mit allen möglichen Köstlichkeiten, deren Duft mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Ich sehe Gemüse, Fleisch, Soßen, Süßspeisen und sogar geschnittenes Obst.
Wow. Was für ein Empfang.
Nervös registriere ich, dass aller Augen auf mich gerichtet sind, und hebe zaghaft lächelnd eine Hand zum Gruß.
Als Cailan hinter mir ein verächtliches Glucksen entfährt, entscheide ich mich dafür, doch lieber jeden Einzelnen mit Händeschütteln zu begrüßen.
»Mr Carstein, wie schön, dass wir uns endlich persönlich sehen.« Sein Outfit (Nadelstreifenanzug, teuer anmutende Krawatte und penibel gefaltetes Einstecktuch in der Brusttasche seines Jacketts) lässt darauf schließen, dass er direkt von seinem Geschäftstermin zum Essen gekommen ist.
Eins steht zweifellos fest: In meinem Pullover, den dunklen Jeans und den Turnschuhen bin ich neben dieser Familie nicht nur vielleicht, sondern definitiv underdressed.
»Julina. Wir freuen uns so sehr, dass du hier bist.« Robert Carstein steht auf, nimmt meine ausgetreckte Hand in seine und tätschelt sie väterlich. Schon wieder diese Kälte! Doch die Körpertemperatur ist nicht das Einzige, was er mit seiner Frau gemein hat, denn seine Erscheinung ist mindestens genauso einschüchternd; ein penibel gestutzter Schnauzbart, grau melierte Schläfen und bernsteinbraune, blitzende Augen. Auf dem Bildschirm meines Laptops haben sie ganz anders gewirkt, viel … wärmer. Weicher. Als hätten sie einen Filter über ihren Gesichtern gehabt, dessen Fehlen sich nun, da wir uns im echten Leben begegnen, deutlich bemerkbar macht.
»Ich freue mich auch. Vor allem natürlich euretwegen«, sage ich zwinkernd und wende mich den Zwillingen zu.
Beide strahlen mich aus ihren rosigen Gesichtern heraus an. Bei ihnen greift der seltsame Filter-Effekt nicht, im Gegenteil: Sie sind im Reallife sogar noch um ein Vielfaches süßer. Und so hübsch!
Den Fotos nach zu urteilen, die meine Mutter an Feiertagen so gern in der Familie herumzeigt, hatte ich in Gillians und Tommys Alter einen Topfschnitt, einen chronisch verschmierten Marmeladenmund und war zudem fleißige Trägerin schlecht sitzender Kleidung mit Dinosauriermotiven.
Die beiden hingegen sehen aus, als wären sie einem Werbesport für top-gestylte Richkids entsprungen.
Oder einem Trailer für einen Elfenfilm.
»Deine Augen passen nicht zusammen«, begrüßt Gillian mich mit glockenheller Stimme. Sie hat lange blonde Zöpfe, im Verhältnis dazu bemerkenswert dunkle Brauen und Wimpern, außerdem eine putzige Stupsnase und einen herzförmigen Mund. Ihr Bruder ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, nur dass seine Haare kurz und lockig sind.
»Gillian!«, zischt ihre Mutter. »Das ist unhöflich.«
»Ach, nein«, winke ich ab, »kein Problem. Du hast recht, sie haben unterschiedliche Farben. Das nennt man ›Heterochromie‹.«
»Ich weiß«, sagt Gillian unbeeindruckt.
Verdutzt runzle ich die Stirn. »Oh, ähm – okay. Wow.«
»Sieht toll aus«, findet Tommy.
Ich bin immer noch verwirrt, bedanke mich aber lächelnd bei ihm.
Hinter mir räuspert sich jemand. Plötzlich bin ich mir Cailans Blicken im Rücken sehr deutlich bewusst und merke, wie mir der Schweiß ausbricht.
Obwohl für sechs Personen gedeckt ist, klammere ich mich an die Hoffnung, dass er nicht zum Essen bleiben wird. Ich brauche dringend eine Pause von ihm und seiner irgendwie einschüchternden Präsenz.
»Können wir anfangen?«, fragt er gedehnt.
Ungläubig drehe ich mich zu ihm um. Wenn Mrs Carstein das Verhalten ihrer Tochter schon daneben fand, was wird sie dann erst zu diesem vorlauten Kerl sagen, der sich gerade stöhnend in seinen Stuhl lümmelt und mir wohl keine Pause von seiner Art zugestehen will?
Innerlich wappne ich mich vorsichtshalber für den Ausbruch eines waschechten Familienstreits, aber als ich mich Mrs Carstein wieder zuwende, presst sie bloß die Lippen aufeinander und tauscht einen missbilligenden Blick mit ihrem Ehemann.
»Setz dich doch, Julina. Wie wäre es hier?« Sie deutet auf den Platz gegenüber von Cailan.
Na toll.
Praktischerweise ist dieser nun dazu übergegangen, mich zu ignorieren. Wortlos häuft er sich gegartes Gemüse auf den Teller, nur um kurz darauf lustlos darin herumzustochern.
Die Zwillinge haben deutlich bessere Manieren als er. Kerzengerade sitzen sie da, kauen mit geschlossenem Mund und zerteilen das Essen auf ihren Tellern mit chirurgischer Präzision. Neben ihnen komme ich mir vor, als würde ich zum ersten Mal Messer und Gabel in den Händen halten.
»Julina, Liebes, bleibst du nach dem Essen noch einen kleinen Augenblick? Wir möchten mit dir den Plan für die kommende Woche durchgehen.«
Es war die ganze Zeit über so still am Tisch, dass ich beim Klang von Mrs Carsteins Stimme beinahe zusammenzucke.
Hastig schlucke ich das Paprika-Kartoffel-Gemisch in meinem Mund herunter, bevor ich antworte. »Ja, natürlich.«
Plötzlich wünsche ich mir, der Sonntag würde sich so lang wie möglich hinziehen, damit ich genug Zeit habe, die Zwillinge vor Beginn der neuen Schulwoche in Ruhe kennenzulernen. Zum Glück haben wir erst einmal einen etwa zweiwöchigen Testlauf vor uns, bevor in England die Herbstferien beginnen und wir erneut viel Zeit miteinander verbringen können.
»So«, sagt Mr Carstein, als alle Teller (bis auf Cailans) leer sind, »Tommy, Gillian, ihr geht an eurem Astronomie-Projekt arbeiten. Wir möchten noch kurz allein mit Julina sprechen.«
Bei dem Wort »allein« wirft er Cailan einen Blick zu, aus dem ich ganz eindeutig die Botschaft »Verzieh dich« herauslesen kann. Allmählich bin ich wirklich verwirrt über die hier herrschenden Familienverhältnisse.
Und ebenfalls darüber, dass die Zwillinge in der Schule ein Astronomie-Projekt bearbeiten. Ich meine … sie sind sieben.
»Ich helfe euch später gern, wenn ihr wollt«, biete ich den beiden an, die gerade folgsam vom Tisch aufstehen und ihre Stühle heranschieben.
»Das musst du nicht«, sagt Mrs Carstein, ehe die zwei reagieren können, »heute hast du frei, damit du dich ein bisschen einleben kannst. Tommy und Gillian werden den Nachmittag über anderweitig betreut.«
»Oh. Wirklich?« Wie so vieles in diesem Haus erstaunt mich auch das. Ich hatte vermutet, dass es sofort losgehen und ich ins kalte Wasser geworfen würde.
»Wirklich«, bekräftigt Mr Carstein.
Die Zwillinge verabschieden sich und verlassen den Saal im Gleichschritt. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie hat dieses Bild, wie sie sich in vollkommener Synchronizität bewegen, etwas Gruseliges an sich.
Kaum ist die Tür hinter ihnen zugefallen, öffnet sich am anderen Ende des Raumes eine andere. Zwei Männer und zwei Frauen, alle in grau gekleidet, tänzeln herein. Ich frage mich gerade, ob die Carsteins für mich zusätzlich zum Willkommensessen auch noch eine kleine Aufführung inszeniert haben, als ich kapiere, dass es sich bei den Vieren um das Küchenpersonal handelt.
Sie nicken mir freundlich zu und beginnen dann ungeheuer flink damit, den Tisch abzuräumen. Sekunden später sind sie fertig und trippeln voll beladen wieder davon. Alles geht so schnell, dass ich mir kaum ihre Gesichter merken kann.
»Wie viel Personal haben Sie hier in Dreadful Manor eigentlich insgesamt?«, frage ich, um irgendetwas zu sagen, obwohl Cailan mir vorhin ja bereits mehr oder weniger Aufschluss darüber gegeben hat. Verstohlen sehe ich ihn an.
Er hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick starr ins Leere gerichtet. Als er mich sprechen hört, hebt er langsam den Kopf.
»So viel, dass es hier zeitweise ganz schön eng wird«, kommentiert er verdrießlich. »Etwas, das wir bald ändern werden. Stimmt’s, Mary, Robert?«
Mein Gott, was in aller Welt ist los mit ihm? Er klingt wahnsinnig angriffslustig. Überhaupt ist die Spannung zwischen ihm und den Carsteins deutlich spürbar. Es ist, als brächte sie die Luft zum Flimmern.
»Vielleicht ist es hier auch nur eng, wenn man nicht weiß, wo sein Platz ist.« Jegliche Freundlichkeit ist aus Mr Carsteins Zügen gewichen. Er verströmt plötzlich eine so stählerne Autorität, dass der bloße Anblick seiner streng aufeinandergepressten Lippen und den Funken sprühenden Augen genügt, um mich dermaßen einzuschüchtern, dass mir die Spucke wegbleibt. Cailan wäre absolut wahnsinnig, wenn er jetzt eine trotzige Bemerkung machen würde. Leider wirkt es auf mich, als hätte er genau das vor.
»Erzähl du mir nicht, wo mein Platz ist.«
»Bis später, Cailan«, wirft Mrs Carstein hastig ein und sieht demonstrativ zur Tür. Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber ich finde, sie sagt diese Worte fast flehend. So als wolle sie etwas verhindern, von dem sie weiß, dass es passieren wird, wenn ihr Sohn, Neffe, Gast oder Was-auch-immer nicht bald verschwindet.
Tatsächlich, ich habe es kaum zu hoffen gewagt, steht Cailan auf und verschwindet ohne ein weiteres Wort.
Erleichtert wie fassungslos blicke ich ihm nach und zucke leicht zusammen, als er die schweren Türen hinter sich geräuschvoll ins Schloss zieht.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragt Mr Carstein leicht verärgert und zieht damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
»Nirgendwo«, hakt seine Frau ein, »die arme Julina ist noch keinen Deut schlauer als vorher. Schrecklich, diese Diskussionen.« Sie schüttelt missbilligend den Kopf. »Also: Die Unterrichtsräume der Zwillinge befinden sich am äußersten Ende des Ostflügels. Es genügt, wenn du die Kinder morgens nach dem Frühstück abholbereit vor ihrer Zimmertür positionierst. Ihre Lehrer holen sie dann ab.«
Obwohl die Carsteins mich schon im Vorfeld darüber informiert haben, dass die Zwillinge zu Hause unterrichtet werden, habe ich noch immer meine Schwierigkeiten damit, dieses Konzept gutzuheißen. Vermutlich finde ich das Ganze nur deshalb so befremdlich, weil Homeschooling in Deutschland verboten ist.