Die kleine Bücherei der Herzen - Jana Schikorra - E-Book
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Die kleine Bücherei der Herzen E-Book

Jana Schikorra

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Beschreibung

Als Katherine Madigan ein bezauberndes Haus in der irischen Kleinstadt Howth erbt, ahnt sie noch nicht, dass damit auch eine kleine Bücherei verbunden ist: die Rainbow-Hearts-Library. Kate reist nach Irland, um sich ihr Erbe anzusehen und trifft auf überaus herzliche Dorfbewohner. Schnell wird ihr klar, dass der kleine Laden allseits beliebt war und dass sich das Dorf nichts sehnlicher wünscht, als dass Kate ihn wiedereröffnet.
Den Grund dafür findet Kate schon bald zwischen den Seiten der Bücher: Briefe. Was immer sie beschäftigt, aufwühlt oder glücklich macht, die Besucher können sich alles von der Seele schreiben und diese Gedanken anschließend in ihren Lieblingsbüchern verstecken. Ein Konzept, das großen Zuspruch in Howth gefunden hat.
Während Kate noch mit sich hadert, ob sie die gemütliche kleine Bücherei wirklich fortführen will, trifft sie auf Cadan Flanagan. Der charmante Fotograf bahnt sich schnell einen Weg in ihr Herz, und schon bald hat sie mehr als nur einen guten Grund, in Irland zu bleiben ...

Der erste Band der neuen Reihe um die liebenswerte Bücherei der Herzen!

Das sagen unsere Leserinnen und Leser:

»Ich wünsche allen eine schöne Zeit in der Rainbow-Hearts-Library! ♥« (Izyle, Lesejury)

»Ich habe jede einzelne Zeile genossen, eine weitere Lieblingsautorin gefunden und freue mich sehr auf den nächsten Band!« Leahsurine, Lesejury

»Die Geschichte hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Für mich eine wunderschöne, berührende Geschichte. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!« dorakelis, Lovelybooks

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Als Katherine Madigan ein bezauberndes Haus in der irischen Kleinstadt Howth erbt, ahnt sie noch nicht, dass damit auch eine kleine Bücherei verbunden ist: die Rainbow-Hearts-Library. Kate reist nach Irland, um sich ihr Erbe anzusehen und trifft auf überaus herzliche Dorfbewohner. Schnell wird ihr klar, dass der kleine Laden allseits beliebt war und dass sich das Dorf nichts sehnlicher wünscht, als dass Kate ihn wiedereröffnet.

Den Grund dafür findet Kate schon bald zwischen den Seiten der Bücher: Briefe. Was immer sie beschäftigt, aufwühlt oder glücklich macht, die Besucher können sich alles von der Seele schreiben und diese Gedanken anschließend in ihren Lieblingsbüchern verstecken. Ein Konzept, das großen Zuspruch in Howth gefunden hat.

Während Kate noch mit sich hadert, ob sie die gemütliche kleine Bücherei wirklich fortführen will, trifft sie auf Cadan Flanagan. Der charmante Fotograf bahnt sich schnell einen Weg in ihr Herz, und schon bald hat sie mehr als nur einen guten Grund, in Irland zu bleiben …

JANA SCHIKORRA

 

So welk das Leben.So ewig das Wort.

Für alle, die lieben,geliebt haben und lieben werden.

Kapitel 1

Es gab Tage, deren Erwachen sich wie ein Versprechen anfühlte. Tage, an denen die Wolken sich rosa färbten und die feinen Zahnrädchen der Zeit ein paar Herzschläge lang nicht ineinandergriffen.

Dem Morgen des 13. Juli schien ein ebensolcher Zauber innezuwohnen. Das jedenfalls dachte Katherine Madigan, als sie ihren Kopf an jenem Samstag aus dem Schlafzimmerfenster streckte und die klare Sommerluft einatmete.

Noch war nichts von der Schwüle zu spüren, die sich im Laufe der kommenden Stunden schwer und heiß über die Stadt legen würde.

»Guten Morgen, München«, murmelte Katherine und gähnte herzhaft. Aus ihrem Fenster im Bezirk Obersendling sah sie, dass trotz der frühen Uhrzeit schon viele Menschen unterwegs waren. Die einen führten ihre Hunde aus, die anderen transportierten Tüten mit den Logos der örtlichen Bäckereien von A nach B. Ein Ende der für knapp eine Woche angekündigten Hitzewelle war nicht in Sicht, weswegen Katherine mutmaßte, dass die Münchener die Gunst der kühlen Morgenstunden für Erledigungen nutzten.

Seufzend löste sie ihren Blick von dem Geschehen auf der Straße, schlurfte ins Bad und dann zu ihrem Kleiderschrank, um in ein knielanges Kleid zu schlüpfen.

Sie würde es den Frühaufstehern gleichtun und sich ein Stück Apfelkuchen aus ihrem Lieblingscafé holen, solange die Sonnenstrahlen ihr noch nicht den Schweiß auf die Stirn trieben. Anschließend konnte sie es sich dann in aller Ruhe mit einem guten Buch auf dem Sofa bequem machen, später noch den Haushalt erledigen und den Abend schließlich wie verabredet mit ihrer besten Freundin Luca verbringen.

Es kam nicht häufig vor, dass Katherine ein gemütliches Beisammensein dem Nachtleben der Stadt vorzog. Vor allem nicht, wenn sie eigentlich auf einer Party eines angesagten Designers eingeladen war, zu der ihre gesamte Clique feierwütiger Singlefrauen gemeinsam gehen wollten.

Bei dem Gedanken daran streifte Katherine der Hauch eines schlechten Gewissens. Sie hatte Mathilda, Tatjana und Isabella unter dem Vorwand abgesagt, Zeit für sich zu brauchen, um die stressige Arbeitswoche zu verarbeiten. Letzteres mochte stimmen, ging ihr der Job in der Redaktion doch jüngst wirklich an die Substanz. Trotzdem war ihre Absage bei Weitem nicht nur dem Job geschuldet.

So sehr Katherine ihr facettenreiches Leben in der Metropole auch liebte, hatte sie doch manchmal das Gefühl, als würde es ihr an etwas Wesentlichem fehlen … An etwas, das weder laute Musik noch kalt gestellter Champagner oder beruflicher Erfolg ihr geben konnten.

In letzter Zeit hatte dieses Gefühl sie immer öfter heimgesucht. Wenn der Abend hereinbrach, beschwor der samtig-blaue Himmel über München eine Sehnsucht in ihrem Herzen herauf, die Katherine gern so weit wie möglich von sich schob.

Heute aber wollte sie diese Sehnsucht ausnahmsweise einmal nicht zum Schweigen bringen, sondern sie mit Luca teilen.

Die innere Ruhe, die ihre beste Freundin ausstrahlte, war Balsam für Katherines Seele und genau das, was ihr rastloser Geist im Augenblick gebrauchen konnte – am liebsten zusammen mit Lucas Datteldip und dem selbst gebackenen Jalapeño-Brot.

Sie erweckte ihr Smartphone mit dem Antippen des Displays zum Leben, wählte Lucas Nummer und schaltete den Lautsprecher ein. In einer geübten Bewegung warf Katherine das Handy aufs Bett, setzte sich im Schneidersitz vor ihren Ganzkörperspiegel und widmete sich dem Entwirren ihrer vom Trockenrubbeln mit dem Handtuch teilweise verknoteten Haare.

Nach dem sechsten Freizeichen ertönte endlich ein verschlafenes »Hi« vom anderen Ende der Leitung.

Katherine schmunzelte. Obwohl sie in ihrer Freundschaft diejenige war, die sich die Nächte um die Ohren schlug, war es Luca, die manchmal bis zum Mittag im Bett lag.

»Hi, Lu. Sorry, dass ich dich geweckt habe. Was hältst du von einer kleinen Planänderung? Brot und Datteldip statt Pizza? Ich kümmere mich dafür um den Wein und einen Film mit überdurchschnittlich guten Bewertungen. Du weißt schon, um das Netflix-Debakel von neulich wiedergutzumachen.«

Luca grummelte etwas Unverständliches. Ein Rascheln, vermutlich vom Zurückschlagen ihrer Bettdecke, verschluckte jedes weitere Geräusch.

»Wie bitte?«, fragte Katherine amüsiert.

»O Gott, Kate, es ist wirklich viel zu früh«, stöhnte Luca. »Musste mich kurz aus dem Schlafzimmer schleichen. Adrian schläft noch. Wir sind erst nach Mitternacht aus Innsbruck losgefahren. Seine Eltern wollten uns gar nicht mehr gehen lassen.«

Luca führte mit ihren sechsundzwanzig Jahren ein Leben, das Katherines Freundinnen gern mit den Attributen ›stinklangweilig‹ und ›ätzend‹ versahen. Katherine hingegen hatte sich schon oft bei dem Gedanken ertappt, dass sie Lucas vermeintlich langweiliges Dasein ziemlich beneidenswert fand. Ihre Freundin aus Kindertagen war seit fünf Jahren glücklich mit ihrem Freund liiert und würde im kommenden Sommer heiraten.

»Ach ja, richtig, der Geburtstag von Adrians Vater. Habt ihr denn wenigstens schön gefeiert?«

»Alle anderen haben gefeiert, ja«, gähnte Luca. Im Hintergrund war nun das Gurgeln ihrer Kaffeemaschine zu hören. »Ich bin gefahren und habe dabei zugesehen, wie die Gäste mit jedem Gläschen lustiger wurden. Ein riesiger Spaß, sage ich dir.«

Katherine schmunzelte. »Na, das passt doch. Dann bist du eben heute mit Spaß haben dran.«

»Sicher. Aber erst mal muss ich mein Koffein-Defizit ausgleichen.«

»Viel Erfolg dabei. Also? Dip und Brot?«

»Ja, ja. Ich hab mir sowieso schon gedacht, dass du deine Pizza-Pläne wieder über Bord wirfst.«

Katherine grinste. »Du kennst mich einfach zu gut.«

»Ich weiß. Ich bin die Beste. Bis nachher, Kate.«

»Bis nachher, Lu.«

Eine halbe Stunde später balancierte Katherine ihren erstandenen Apfelkuchen, einen Kaffeebecher und den überraschend üppigen Inhalt ihres Briefkastens durch das Treppenhaus.

Sie war kaum durch die Wohnungstür getreten, als ein Brief zwischen einem Stapel Magazine herausrutschte und zu Boden segelte. Entnervt bückte Katherine sich nach dem grauen Kuvert, verschüttete dabei etwas von ihrem Kaffee auf ihrem cremefarbenen Teppich und wollte gerade lautstark darüber schimpfen, als ihr der Absender des Briefes ins Auge sprang: Nachlassgericht Dublin.

Schlagartig war ihre Kehle wie ausgedörrt, die Nerven in ihrem Kopf vibrierten unheilvoll.

Nachlassgericht. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mechanisch ging Katherine zur Anrichte am Ende des Flurs hinüber, um Kaffee, Kuchen und Post abzulegen, und kehrte dann mit angehaltenem Atem zu dem Umschlag zurück.

Es gab nur eine Person in ihrem Familien- und Bekanntenkreis, von der sie wusste, dass sie in Irland lebte. Eine Person, die ihr einmal die Welt bedeutet und mit der sie seit vielen, vielen Jahren kein Wort mehr gewechselt hatte.

Katherine hob den Brief auf. Am liebsten hätte sie ihn einfach ungeöffnet in der Schublade ihres Sekretärs versenkt und vergessen.

Stattdessen brach sie das Siegel des Kuverts mit ihren Fingernägeln auf, befreite das Schreiben von seinem Umschlag und faltete es auseinander.

Widerwillig senkte sie ihren Blick auf die Zeilen und begann zu lesen:

Dublin, den 19.07.2019

Nachlassgericht

15/24 Phoenix Street North

Smithfield, Dublin 7

D07 X028

Tel.: +3531747054

Sehr geehrte Miss Madigan,

ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tante, Miss Fiona Madigan, am 07. Juni 2019 verstorben ist. Des Weiteren möchte ich Sie darüber informieren, dass Miss Fiona Madigan Sie in ihrem Testament bedacht und Ihnen ihr Haus, (Smithrd. 32, Howth, Dublin, Irland) vermacht hat. Ich bitte Sie, unter der angegebenen Telefonnummer zum nächstmöglichen Zeitpunkt Kontakt mit mir aufzunehmen, um die Übertragung des Vermögensgegenstandes abwickeln zu können.

Mit freundlichen Grüßen

Ainsley Walsh

Schwindel wirbelte durch Katherines Schläfen und zwang sie, Halt an der Wand zu suchen. Fassungslos starrte sie das Papier an, dessen Worte zuerst nicht zu ihr durchdringen wollten.

Sie wirkten leer, vollkommen inhaltslos. Nichts als Hülsen, von denen keine Gefahr ausging.

Dann, ganz unvermittelt, gewannen sie an Bedeutung und trafen Katherine wie ein Faustschlag: Fiona war tot.

Bilder einer Vergangenheit, vor denen sie ihre Augen und ihr Herz so lange verschlossen hatte, wagten sich scheu an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Unschlüssig, was sie als Nächstes tun sollte, stand Katherine eine Weile einfach nur regungslos da.

Die Situation kam ihr vollkommen absurd vor. Fionas Tod, das Haus in Irland … Warum sollte ihre Tante gerade sie zur Erbin ernannt haben? Nach allem, was damals passiert war?

Katherine stieß einen leisen Laut der Verzweiflung aus.

Das Schicksal hatte ihr eine so schallende Ohrfeige verpasst, dass sein Handabdruck sich noch eine ganze Weile auf ihrer Wange abzeichnen würde.

Kapitel 2

»Darf ich dir nachschenken?« Lucas beruhigend tiefe Stimme drang wie von Watte gedämpft an Katherines Ohr. Anstelle einer Antwort schob sie ihr Saftglas über den Tisch und beobachtete, wie ihre Freundin es zur Hälfte mit gelbroter Flüssigkeit füllte.

»Danke«, murmelte Katherine und bemühte sich um ein Lächeln. Ihr Herz flatterte unstet, als ihr Blick auf den neben Luca ausgebreiteten Brief fiel. Bisher hatte ihre Freundin keine Reaktion auf die überraschenden Neuigkeiten gezeigt. Katherine nahm einen großen Schluck von ihrem Getränk, räusperte sich und sah Luca auffordernd an.

Nachdem der erste Schock verflogen war, hatte sie die Freundin sofort angerufen und gebeten, Baguette und Dip zu vergessen und stattdessen so schnell wie möglich vorbeizukommen. Kaum war Luca eine Stunde später durch die Tür getreten, hatte Katherine ihr auch schon das Schreiben des Nachlassgerichts in die Hand gedrückt.

Luca, besonnen wie immer, war mit dem Brief ins Wohnzimmer gegangen und hatte ihn sich in aller Ruhe durchgelesen. Danach hatte sie zwei Gläser aus der Küche geholt und einen Tetrapak KiBa aus den Untiefen ihrer Handtasche hervorgezaubert, dessen fruchtiger Geschmack sich nun auf Katherines Zunge ausbreitete. Als junge Mädchen hatten sie das Getränk geliebt und oft so getan, als würden sie einander mit karibischen Cocktails zuprosten. Vor allem dann, wenn eine von ihnen Kummer gehabt hatte. Dass Luca sich daran erinnert hatte, rührte Katherine.

»Und? Was sagst du?«, fragte sie nervös. Für gewöhnlich störte sie sich nicht daran, dass Luca hin und wieder in Gedanken versank und jedes ihrer Worte im Geiste sorgfältig analysierte, bevor es ihr über die Lippen kam. Heute jedoch war es mit ihrer Geduld nicht weit her.

»Es tut mir leid um deine Tante«, sagte Luca endlich. »Sehr sogar.«

Katherine nickte langsam. Tränen trübten ihr Sichtfeld und ließen das Wohnzimmer vor ihren Augen verschwimmen. Sie wollte nicht weinen, hatte es die ganze Zeit nicht getan. Trotzig wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wangen.

»Mir auch. Trotz allem, was passiert ist. Oder – nein – gerade deswegen. Ich habe mich nie um eine Aussprache bemüht, aber immer im Hinterkopf gehabt, dass die Möglichkeit da wäre. Nun ist sie es nicht mehr … und das fühlt sich komisch an.«

Dreizehn Jahre. Dreizehn Jahre war es her, dass Katherine ihre Tante zuletzt gesehen und mit ihr gesprochen hatte. So oft hatte sie seither mit dem Gedanken gespielt, das vor ihrer Mutter geleistete Versprechen zu brechen und den Kontakt wieder aufzunehmen. Und doch hatte sie es nie getan.

»Oh, Süße, das glaube ich dir. Ich würde mich genauso fühlen.« Luca schenkte ihr einen verständnisvollen Blick.

Katherine schluckte den bitteren Geschmack der Tränen herunter, blinzelte ein paarmal und versuchte sich an einem Lächeln.

Eines der vielen Dinge, die sie an ihrer besten Freundin schätzte, war die Tatsache, dass diese auf Floskeln wie »Mach dir keinen Vorwurf«, »Es ist nicht deine Schuld« oder »Kopf hoch, das wird schon wieder« verzichtete. Sie hörte einfach zu und versetzte sich in die Lage desjenigen, dem es schlecht ging – etwas, das längst nicht jeder beherrschte.

Katherine atmete tief durch und trank erneut von ihrem KiBa.

»Was hältst du von dieser Sache mit dem Erbe? Ich meine, das ist doch total verrückt, oder nicht?«

»Ist es das denn?«, fragte Luca zurück. »Du hast ihr mal sehr viel bedeutet, Kate. Und nach allem, was du erzählt hast, hatte sie keine Kinder. Wen sollte sie sonst beerben?«

»Meine Mum vielleicht«, murmelte Katherine, obwohl sie es besser wusste. Mary – so der Vorname ihrer Mutter, bei dem Katherine sie als Teenager oft genannt hatte, wenn sie wütend gewesen war – war diejenige gewesen, die mit ihrer Schwester gebrochen und ihrer damals dreizehnjährigen Tochter ein Kontaktverbot auferlegt hatte, das Tante und Nichte von da an wirksam voneinander ferngehalten hatte. Sicher war Fiona bewusst gewesen, dass Mary lieber mittel- und obdachlos gewesen wäre, als unter dem Dach ihrer Schwester zu wohnen.

Luca hob die Brauen. »Ich sehe schon, du weißt selbst, dass das Blödsinn ist.«

»Mh. Kann schon sein.«

»Weißt du«, sagte Luca und sah Katherine aus ihren blauen Augen beschwörend an, »es gibt da doch diesen Spruch, mit dem du mich immer so gern genervt hast: Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Die Tür zu Fiona hat sich vielleicht geschlossen. Aber dafür hat sie dir mit ihrem Haus eine geöffnet, die aus München wegführt. Was, wenn sie sich genau das für dich gewünscht hat?«

Katherine schnaubte. »Und wenn ich überhaupt nicht aus München wegwill?«, sagte sie angriffslustig und ärgerte sich sofort über ihren bissigen Tonfall. Luca hatte einen wunden Punkt getroffen. Die Sehnsucht nach diesem einen Gefühl, das ihr die Großstadt nicht geben konnte, meldete sich mit einem leisen Ziehen in Katherines Brust.

Luca wandte den Blick von ihr ab und starrte verlegen in ihr Glas. Ein Hauch rosa zierte ihre Wangen. »Na ja … Wenn ich ehrlich bin, habe ich dich nie so wirklich in all dem hier gesehen.«

»In einer Wohnung, die größer ist als zwanzig Quadratmeter, meinst du?« Verdammt. Sie war schon wieder patzig geworden. »Entschuldige, Lu. Ich bin ein bisschen angespannt.«

»Schon gut. Das verstehe ich. Und ich möchte dich mit dem, was ich sage, auch auf keinen Fall verletzen. Es ist nur so, dass ich schon immer den Eindruck hatte, dass dir hier etwas fehlt. Nichts Materielles – du hast so viel erreicht, Katie. Einen wahnsinnig guten Abschluss, einen tollen Job, dieses wunderbare Apartment. Aber manchmal glaube ich, du läufst vor etwas davon. Du flüchtest dich in dieses irre Partyleben und verschließt dein Herz vor dem, was du wirklich willst. Was ich damit sagen möchte: Vielleicht hat Fiona dir ihr Haus vererbt, weil sie die Katherine, zu der du in den letzten Jahren geworden bist, nie kennengelernt hat. Vielleicht hat sie das Kind in Erinnerung behalten, das du einmal gewesen bist. Das Kind mit den Träumen von Freiheit und einem Leben am Meer, von dem du mir einmal erzählt hast.«

Die Katherine, zu der du in den letzten Jahren geworden bist. Sie wusste, dass Luca diese Worte ohne jede Wertung aussprach, und doch fühlte Katherine sich von ihnen getroffen.

Es fiel ihr schwer, sich einzugestehen, dass sie früher einmal tatsächlich eine andere Vorstellung von ihrer Zukunft gehabt hatte. Den ärmlichen Verhältnissen zum Trotz, in denen sie aufgewachsen war, hatte Katherine nie von luxuriösen Apartments und teuren Kleidungsstücken zu träumen gewagt. Viel lieber war sie mit Fiona in Spinnereien über Abenteuer jenseits des pulsierenden Herzens der Stadt versunken.

Erst nachdem Fiona fortgegangen und der Kontakt wenig später durch Marys Verbot zum Erliegen gekommen war, hatte sie sich in etwas anderes geflüchtet.

»Ich würde gern wissen, woran sie gestorben ist«, sagte Katherine unvermittelt – teils, weil die Frage danach sie schon seit Erhalt des Briefes beschäftigte, teils, weil sie um jeden Preis das Thema wechseln wollte. Sie sprach nur ungern über jenen Teil der Vergangenheit, an dessen Oberfläche Luca gerührt hatte. »Ob es eine Krankheit war oder ein Unfall. Immerhin war sie mit fünfzig Jahren noch ziemlich jung, findest du nicht?«

»Vielleicht kann das Nachlassgericht dir Auskunft darüber geben. Wirst du am Montag dort anrufen?«

»Das werde ich wohl müssen. Gott.« Katherine vergrub das Gesicht in den Händen. »Vor allem muss ich mit Mum sprechen. Ich hätte mich gleich bei ihr melden sollen, nachdem ich den Brief gelesen habe, aber irgendwie …« Sie ließ den Satz unvollendet, zweifelte jedoch nicht daran, dass Luca sie auch so verstand. Ihre Freundin kannte Mary Madigan, Katherines Mutter, gut. Dass die gebürtige Irin in ihrer Art alles andere als unkompliziert war, war kein Geheimnis. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie mit ihrer Schwester gebrochen hatte, um ihre eigene kleine Familie zu retten.

Erneut wurde Katherine von einer Woge der Erinnerung überrollt. Sie sah Fiona und Mary, diese vollkommen ungleichen Frauen, Arm in Arm durch den Luitpoldpark schlendern. Wie Tag und Nacht hatten sie ausgesehen – Mary mit ihren dunklen Haaren und dem ernsten Gesicht, Fiona mit den blonden Locken und ihrem strahlenden Lächeln.

So verschieden wie ihr Äußeres waren auch ihre Charaktere gewesen. Während Mary Katherine mit strenger Hand erzogen hatte, war Fiona immer wild, frech und unbeschwert gewesen. Wann immer sie im Hause Madigan eingehütet hatte, wurde laut gelacht und ein solches Chaos gestiftet, dass Mary schimpfte, ihre Schwester würde wohl niemals erwachsen werden.

Je älter Katherine geworden war, desto klarer hatte sie die Ursache für die so unterschiedlichen Sichtweisen der Schwestern in der Art gesehen, wie sie aufgewachsen waren: Katherines Großeltern waren mit der damals zehnjährigen Mary aus der irischen Provinz Cloyne nach München gekommen, um ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.

Kurze Zeit später war Fiona geboren worden. Während es Mary schwergefallen war, sich an die neue Sprache und die ebenso neue Umgebung zu gewöhnen, hatte ihre Schwester es deutlich leichter gehabt. Fiona, auf dem Papier und im Herzen eine Münchnerin, machte einen guten Schulabschluss und trat ein Lehramtsstudium an. Katherines Mutter hingegen heiratete und arbeitete nach Katherines Geburt als Reinigungskraft, um neben ihrem Mann, der als Handwerker tätig und dessen Gehalt nicht sonderlich üppig war, auch etwas zur Miete beisteuern zu können.

»Was meinst du, wie Mary mit Fionas Tod umgeht?«, fragte Luca behutsam.

»Ich weiß es nicht. Auch wenn es hart klingt, ich weiß nicht, ob es für Mum etwas ändern wird.«

»Mh-hm. Und was ist mit dir? Ändert er für dich etwas? Abgesehen davon, dass es für dich ein Schock ist natürlich?«

Katherine horchte in sich hinein, doch ihre Gefühle blieben ihr eine Antwort schuldig.

»Auch das weiß ich nicht«, sagte sie aufrichtig.

Tatsächlich war Fiona, die nie eigene Kinder gehabt hatte, für Katherine eine lange Zeit über wie eine beste Freundin gewesen. Gemeinsam waren sie Eis essen gegangen, hatten Spaziergänge unternommen und sich mit selbst gebackener Pizza Filme und Serien angesehen. Kurz nach Katherines dreizehntem Geburtstag hatte Fiona, die als Lehrerin keine Geldsorgen leiden musste, ihren Traum wahrgemacht und ein kleines Haus im irischen Küstendorf Howth erworben – einer Ortschaft, die sie im Rahmen eines Dublin-Aufenthaltes zufällig kennen- und lieben gelernt hatte.

Auch nach ihrem Umzug war der Kontakt zwischen ihr und Katherine nicht eingeschlafen. Anstelle der wöchentlichen Treffen traten ausschweifende Telefonate.

Fiona hatte ihre Nichte einige Monate später eingeladen, die Winterferien bei sich zu verbringen, und Katherine hatte dem Dezember voller Freude entgegengefiebert. Doch aus dem geplanten Urlaub war nie etwas geworden.

Als Katherine von ihrem letzten Schultag vor den Ferien nach Hause gekommen war, hatte sie ihre Mutter weinend in der Küche vorgefunden.

Die sonst immer so beherrschte Mary Madigan hatte mit ihren tränenverschmierten Wangen und den bebenden Lippen für Katherine vollkommen fremd ausgesehen. Wortlos hatte sie sich von ihrer Tochter in den Arm nehmen lassen und erst Stunden später erzählt, dass Katherines Vater Gunnar die Familie verlassen hatte.

Im selben Atemzug hatte sie Katherine von den wiederholten Besuchen Gunnars in Howth berichtet. Davon, dass er schon lange ein Auge auf Fiona geworfen und sie Mary insgeheim immer vorgezogen habe. Aus dem parallel dazu stetig schlechter werdenden Verhältnis zu ihrer Schwester, das sich vor allem in langen Streitgesprächen am Telefon und irgendwann gänzlich ausbleibenden Anrufen äußerte, erwuchs Marys Überzeugung, dass Gunnar und Fiona eine Affäre begonnen hatten.

Und obwohl weder Fiona noch Katherines Vater diese Version der Ereignisse je bestätigten, sprachen die Fakten dafür, dass Mary mit ihren Vermutungen recht hatte.

Fiona verhielt sich seltsam. Mit den Anschuldigungen konfrontiert, schwieg sie und äußerte sich erst Tage später. Zunächst wies sie alle Anschuldigungen vehement zurück, dann brach sie alle Brücken nach München ab und hielt sich an Marys Forderung, sie und ihre Familie in Ruhe zu lassen. Im selben Zug verlangte sie von Katherine, ihre Tante nicht mehr anzurufen.

Gunnar, der nach dem dramatischen Bruch zuerst noch in unregelmäßigen Abständen vorbeikam, um Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, stellte seine stets im Streit mit Mary endenden Besuche irgendwann vollständig ein.

Der Kontakt verlor sich, beschränkte sich auf wenige Telefonate und Geburtstagskarten. Als Katherine kurz vor dem Erlangen ihres Abiturs stand, erlitt Gunnar dann einen tödlichen Autounfall.

Mary war seit dem Bruch mit Fiona und der damit einhergehenden Trennung ohnehin schon verändert gewesen – in sich gekehrt und still –, doch der Unfall schaffte es schließlich, ihr auch das letzte bisschen Kraft, das sie sich bewahrt hatte, zu nehmen. Sie war seither auf eine Weise erschöpft, gegen die weder Schlaf noch sonstige Entspannungsquellen etwas ausrichten konnten.

Auch für Katherine war mit dem doppelten Verlust eine Welt zusammengebrochen, hatte sie doch nicht nur ihren Vater, sondern mit Fiona auch eine weitere wichtige Bezugsperson verloren. Doch der Schmerz ihrer Mutter war so präsent gewesen, dass er kaum Raum für ihre eigenen Gefühle gelassen hatte.

»Hey, schon gut, Süße.« Luca beugte sich vor und tätschelte Katherines Hand. »Das ist alles ein bisschen viel auf einmal, ich weiß. Aber es wird sich alles fügen, glaub mir.«

Katherine hatte nicht bemerkt, dass sie weinte.

Schon wieder. Irritiert wischte sie sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Augenwinkel, doch sofort quoll eine andere nach.

»Hoppla. Das kommt dabei heraus, wenn man zu tief in der Vergangenheit stochert, was?«

Luca lächelte traurig. »Ja. Manchmal.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Geh zu ihr, Kate«, sagte Luca schließlich.

»Zu wem?«

»Zu deiner Mutter. Je länger du es hinauszögerst, desto schwieriger wird es sein, mit ihr über alles zu sprechen.«

»Dann wollen wir uns jetzt also keinen Film ansehen?«, fragte Katherine matt. Am liebsten würde sie sich allem, was durch Fionas Tod nun auf sie zukam, entziehen.

»Ich würde sagen, das belassen wir bei heute Abend. Es kann wirklich nicht schaden, vorher zu klären, was du klären kannst. Du wirst sowieso nicht drum herumkommen, mit deiner Mutter über das Erbe zu sprechen.«

Geräuschvoll ließ Katherine die Luft aus ihren Wangen entweichen. »Weißt du, was ich an dir so gar nicht mag, Lu?«, fragte sie und lachte schluchzend.

»Na? Was denn?«

»Dass du verdammt noch mal immer recht hast.«

Kapitel 3

Mit wehenden Haaren eilte Katherine die Limburgstraße entlang. Die Nervosität ließ sie schon bald in einen Laufschritt verfallen, der ihr angesichts der inzwischen heißen Temperaturen unbarmherzig den Schweiß auf die Stirn trieb.

Sie nahm einen tiefen Atemzug, doch die stickige Luft, die in ihre Lungen strömte, verschaffte ihr keine Erleichterung.

Im Gehen nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche, die Luca ihr geistesgegenwärtig in die Hand gedrückt hatte, bevor Katherine aus dem Haus gegangen war.

Das Angebot ihrer Freundin hingegen, sie zu ihrer Mutter zu begleiten und vor der Haustür zu warten, hatte Katherine dankend abgelehnt. Oftmals war es ihr Stolz, der ihr dabei im Weg stand, eine helfende Hand zu ergreifen. Heute jedoch wollte sie Luca ganz einfach davor bewahren, Zeugin einer Unterhaltung zu werden, die ganz sicher alles andere als fröhlich verlief und mit Pech sogar in einem Streit enden würde.

Also hatte die Freundin schließlich vorgeschlagen, in der Stadt noch ein paar Besorgungen zu machen und wiederzukommen, sobald Katherine das unvermeidliche Gespräch hinter sich gebracht hatte – ein Gespräch, vor dem sie sich fürchtete wie ein kleines Mädchen vor der Dunkelheit.

Angestrengt versuchte sie sich mit dem Gedanken an einen gemeinsamen Abend mit Luca von ihren negativen Gefühlen frei zu machen, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Sie war sich des Gewichts des Briefes in ihrer Tasche deutlich bewusst, dessen Inhalt ihre Mutter ganz bestimmt verletzen würde.

Komm schon, sprach sie sich selbst Mut zu, was kann dich denn nach diesem Morgen noch großartig aus der Bahn werfen?

Mit zitternden Beinen kam Katherine vor einem Wohnblock zum Stehen, hinter dessen schmutziger Fassade sie achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Eine halbe Ewigkeit schwebte ihr Finger über dem Namen »Madigan«, ehe er sich widerwillig darauf hinabsenkte.

Ihre jüngsten Besuche bei ihrer Mutter konnte Katherine an einer Hand abzählen. Seitdem sie damals ausgezogen war, um zu studieren, hatte sie die Limburgstraße mit großer Sorgfalt gemieden und ihre Mutter stattdessen an den Wochenenden hin und wieder zu sich eingeladen.

Es war nicht etwa so, dass Katherine grundsätzlich eine schlechte Kindheit gehabt hätte. Dass sie an der Grenze zur Armut gelebt hatten, hatten ihre Eltern sie nie spüren lassen. Niemand hatte hungern oder im Winter frieren müssen, für eine gute Schulbildung war ebenfalls gesorgt worden.

Doch irgendwie war die Wohnung nach der Trennung und dem Fernbleiben Fionas zu einem Ort geworden, dem es an Wärme fehlte. Ein Ort, an dem ihre Mutter oft geweint hatte und Katherine irgendwann den Eindruck gewonnen hatte, als seien ihre Rollen plötzlich vertauscht.

Sie war es gewesen, die Mary in den Arm genommen und getröstet oder für sie gekocht hatte. Und obwohl Katherine sicher war, dass ihre Mutter gern dasselbe für sie getan hätte, war es doch selten passiert. Stattdessen war sie immer müder geworden, immer … kleiner. Irgendwann hatte Katherine die Wohnung nur noch mit Marys ausgezehrtem Gesicht und ihren tiefen Ringen unter den Augen verbinden können.

Langsam näher kommende Schritte im Hausflur unterbrachen ihren Gedankenfluss. Katherine sorgte sich zunehmend um die Gesundheit ihrer Mutter. Sie war nicht mehr gut zu Fuß, verließ die Wohnung nur noch für Arztbesuche. Schuld war ein kaputtes Kniegelenk, das erst zu spät erkannt und dann nicht richtig behandelt worden war. Katherine hatte mehrfach angeboten, für ihre Mutter einkaufen zu gehen, doch Mary nahm lieber die Unterstützung ihrer Nachbarn in Anspruch, um ihrer hart arbeitenden Tochter nicht zur Last zu fallen.

»Hallo?« Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.

»Ich bin es, Mum. Katherine.«

Mary öffnete die Tür nun ganz und musterte ihre Tochter aus müden Augen.

Sie sieht schlecht aus, stellte Katherine fest, unheimlich erschöpft und viel zu dünn. Das letzte Mal hatte sie ihre Mutter ein paar Tage nach der Knie-Operation gesehen, wo sie ihres langen Krankenhausaufenthaltes zum Trotz verhältnismäßig vital gewirkt hatte. Seither hatten sie in regelmäßigen Abständen telefoniert, einander jedoch nicht mehr getroffen. Wann immer sie hatte vorbeikommen und ihrer Mutter zur Hand gehen wollen, hatte diese gesagt, sie wolle erst wieder richtig auf die Beine kommen, damit Katherine sich nicht unnötig sorge. Nun, da sie Marys eingefallenes Gesicht sah, überkam sie jedoch ein schlechtes Gewissen.

Ich hätte darauf bestehen sollen, ihr unter die Arme zu greifen, dachte Katherine bedauernd.

»Komm rein«, sagte ihre Mutter mit ihrem markanten irischen Akzent, den sie trotz ihrer fast fünf Jahrzehnte in Deutschland nie abgelegt hatte – nicht etwa, weil sie nicht in der Lage dazu wäre, sondern weil sie, wie sie Katherine einmal anvertraut hatte, darin eine Hommage an ihre alte Heimat sah.

Über die Jahre und Jahrzehnte war es ihr schlicht zur Gewohnheit geworden.

Katherine trat ein. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, beschleunigte sich ihr Pulsschlag augenblicklich. Sie folgte ihrer Mutter ins klaustrophobisch kleine Wohnzimmer.

»Setz dich«, sagte Mary leise.

Katherine ging zu dem zerschlissenen roten Sofa hinüber, das damals ihr liebster Platz in der ganzen Wohnung gewesen war. Ihr gegenüber hatte ihre Mutter sich hinter einen alten Bibliothekssessel gestellt, den sie vor Jahren auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Die Arme auf die Lehne gestützt, kam sie langsam wieder zu Atem.

Nostalgisch ließ Katherine ihren Blick durch den Raum wandern. Nichts hatte sich verändert. Es schien, als wäre der Zahn der Zeit nie bis in die kleine Zweieinhalbzimmerwohnung vorgedrungen. Jedes Möbelstück stand an seinem gewohnten Platz, das Stillleben eines Obstkorbes über der kleinen Kommode hing immer noch schief. Die Luft roch nach Zigarettenrauch und Mulligatawny-Suppe.

»Willst du dich nicht lieber auch setzen, Mum?«, fragte Katherine behutsam.

»Stehen tut mir gut. Ich sitze viel zu oft. Möchtest du etwas trinken? Einen Tee vielleicht?«

»Nein, danke. Mir ist viel zu warm für Tee.«

Mary nickte. »Ja … ja, heute ist es besonders schlimm.«

Katherine nestelte nervös am Verschluss ihrer Tasche. Sie war nicht hier, um Small Talk über das Wetter zu halten, und doch hätte sie am liebsten genau das weiterhin getan. Stattdessen räusperte sie sich, straffte die Schultern und gab sich einen Ruck. »Wie … geht es dir, Mum?«

»Wie soll es mir gehen? Gut.«

Katherine seufzte resigniert. »Und was ist mit … Ich meine, du hast doch sicher schon gehört, dass …« Sie suchte händeringend nach den richtigen Worten, doch ihr Kopf war wie leer gefegt.

»Du bist hier, um über den Tod deiner Tante zu sprechen«, half Mary ihr auf die Sprünge. Sie sagte es ganz ruhig, fast neutral. Als wäre Katherines Tante nicht auch gleichzeitig ihre einzige Schwester gewesen. Mary humpelte zum Fenstersims hinüber, angelte sich eine Zigarette aus der darauf liegenden Schachtel und zündete sie an.

Der bläuliche, unangenehm riechende Rauch kräuselte sich sogleich zur Decke empor.

Katherine konnte sich ein Hüsteln nicht verkneifen.

»Weißt du es auch erst seit heute Morgen?«, fragte sie unbehaglich.

»Ja.« Mary nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Es kam ein Brief vom Nachlassgericht.«

»Sie hat dir etwas vererbt?«

»Geld. Natürlich.« Katherines Mutter lachte freudlos. »Dabei hätte sie wissen müssen, dass ich keinen Cent davon annehmen werde.«

Da Mary sogar die finanzielle Unterstützung ihres eigenen Kindes ausschlug, wunderte es Katherine nicht, dass sie mit dem Erbe dasselbe zu tun vorhatte. Vor allem, wenn man die Hintergrundgeschichte bedachte. Trotzdem erleichterte es Katherine irgendwie, dass Fiona ihre Schwester in ihrem Testament nicht unerwähnt gelassen hatte.

»Dass sie so jung gestorben ist, ist furchtbar«, sagte sie, ohne auf die Bemerkung ihrer Mutter einzugehen.

Diese zuckte die Achseln, doch Katherine sah unter ihrer Maske der Gleichgültigkeit einen hellen Schmerz aufblitzen. »Ja«, stimmte sie schließlich doch zu. »Ja, das ist es. Aber trotzdem … Ich habe meine Schwester schon vor vielen Jahren verloren, Katherine. Vielleicht kann ich deswegen nicht so empfinden, wie du es gern von mir hättest.« Sie drückte ihre Zigarette aus und stellte sich zurück hinter ihren Sessel. »Es gibt Dinge, die kann man nicht verzeihen«, setzte sie hinzu. »Daran ändert auch der Tod nichts.«

Die Härte dieser Worte versetzte Katherine einen Stich. Ja, überlegte sie, möglicherweise gab es Taten und Vorfälle, die so tiefe Wunden rissen, dass ein vollständiges Heilen unmöglich war. Und ganz bestimmt hatte Fionas Verhältnis zu Gunnar, von dem ihre Mutter so felsenfest überzeugt war, das Potenzial, eine solche Wunde zu verursachen.

Andererseits …

»Wir können uns ihre Sicht der Dinge nie wieder anhören, Mum. Vielleicht hätten wir ihr noch eine Chance geben sollen, sich zu erklären.«

»Ich habe meine Entscheidung damals getroffen, Katherine. Und du deine offenbar auch. Dass du mein Kontaktverbot damals respektiert hast, rechne ich dir hoch an. Aber es gab auch eine Zeit, nachdem du hier ausgezogen bist. Du bist erwachsen, ich habe dir schon lange nichts mehr zu sagen. Wie oft hast du seitdem versucht, Fiona zur Rede zu stellen?«

Das Ziehen in Katherines Brust verstärkte sich. Ihre Mutter hatte recht. So oft hatte sie mit dem Gedanken gespielt, nach Fiona zu suchen – auf Facebook, Instagram oder sonstigen Plattformen, um aktuelle Fotos von ihr zu sehen und einen Eindruck von ihrem Leben zu gewinnen –, und doch war sie nie über das Eintippen eines F in der Suchleiste hinausgekommen. Auch einen Brief hatte sie ihrer Tante nie geschrieben.

Da waren so viele Gefühle gewesen, die einer Kontaktaufnahme im Wege gestanden hatten: Angst, Scham, Wut …

Alle zu intensiv, um sie einfach überwinden zu können.

Katherine nickte langsam. Ihre Hände zitterten plötzlich so sehr, dass sie sie zwischen den Knien einklemmte. Es war, als hörte sie sich selbst von weit, weit her sprechen. Mit einer ganz und gar fremden Stimme.

»Ich habe auch etwas geerbt.«

Mary gab einen grunzenden Laut von sich. »Das war zu erwarten. Und?«

»Ihr Haus. Fiona hat mir ihr Haus vermacht.«

Katherines Mutter wurde bleich wie der Tod. Ihre Hände, die Lehne des Sessels verkrampft umklammernd, gruben sich tief in den Stoff.

»Ihr Haus«, wiederholte sie heiser. »Das Haus, in dem sie sich mit deinem Vater getroffen hat.«

Katherine blieb ihr eine Antwort schuldig.

»Und jetzt möchte sie dich entwurzeln«, fuhr Mary fort. »Dich an sie binden. Sie kennt dich nicht. Sie weiß nicht, dass du München niemals verlassen würdest.«

Die Bestimmtheit, mit der ihre Mutter diese Worte aussprach, weckte Katherines Widerwillen. Sie hatte Mary gegenüber nie etwas von der Sehnsucht erwähnt, die sie immer wieder heimsuchte und ihr Herz weit forttrieb. Wie also sollte sie beurteilen können, ob Katherine bleiben wollte oder nicht?

»Mum, niemand entwurzelt mich. Mal ganz davon abgesehen, dass Irland doch auch ein Stück Zuhause für mich ist.«

Ihre Mutter schüttelte nur den Kopf.

»Ich werde nach Howth fliegen und mir das Haus ansehen«, sagte Katherine zu ihrer eigenen Überraschung. Bis eben hatte sie selbst noch nicht gewusst, wie sie sich entscheiden würde. Nun aber schien ihr Bauchgefühl eine klare Richtung vorzugeben.

»Du könntest mit mir kommen«, ergänzte sie schnell, obwohl sie ahnte, dass es hoffnungslos war. Mary würde niemals auch nur einen Fuß an den Ort setzen wollen, an dem sie ihren Mann an ihre Schwester verloren hatte. Und sie hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit geglaubt, dass Katherine angesichts des Verlustes ihres Vaters dieselbe Entschlossenheit an den Tag legte.

»Mum?«, fragte sie leise, als ihre Mutter nicht antwortete.

»Bitte geh jetzt«, flüstere Mary.

»Hör zu, es ist nicht –«

»Bitte, Katherine. Ich möchte allein sein.«

Ihre Mutter sah aus, als würde sie jeden Moment auseinanderfallen. Es kam Katherine beinahe barbarisch vor, jemanden in einem solchen Zustand allein zu lassen, aber sie wusste, dass Mary sich aus jeder noch so wohlmeinenden Umarmung winden würde.

Stumm griff sie nach ihrer Handtasche und ging hinaus. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ließ sie die Limburgstraße 44 hinter sich.

Kapitel 4

Der Rest des Wochenendes zog sich zäh dahin. Es war, als hätte Katherines Besuch bei ihrer Mutter eine unsichtbare Kraft heraufbeschworen, die Sekunden auf die Größe von Stunden ausdehnte.

Luca half ihr nach Kräften, die wie durch Zauberhand verlangsamte Zeit durchzustehen. Sie blieb bis zum späten Sonntagabend und bestärkte Katherine unaufhörlich in ihrem Entschluss, nach Howth zu fliegen.

»Du hast nichts zu verlieren«, wurde sie nicht müde zu sagen, »im Gegenteil. Und jetzt buchst du dir gefälligst so schnell wie möglich einen Flug, bevor du es dir anders überlegen kannst.«

Lucas offensichtliche Überzeugung, dass die Reise in das Küstendorf Katherine guttun würde, beruhigte die leisen Zweifel in ihrem Inneren und gab ihr die Kraft, alles dafür Nötige in die Wege zu leiten.

Am Montagmorgen wählte sie die in dem Brief aufgeführte Nummer des Nachlasstreuhänders.

Katherine war erstaunt über die Nüchternheit, mit der sie das Telefongespräch führte. Mr. Walsh, dessen Büro in Dublin lag, schlug vor, sich direkt vor Fionas Haus zu treffen.

»Ich habe Ende der Woche ohnehin zwei Termine in Howth«, sagte er, »und so können Sie sich direkt vor Ort einmal umschauen, bevor wir später alles Weitere besprechen. Was meinen Sie? Passt Ihnen Donnerstag?«

Katherine versprach, sich dazu noch in der Mittagspause zurückzumelden. Kaum im Redaktionsbüro angekommen, reichte sie ihren Urlaubsantrag bei ihrem Chef ein. Sie hatte vor, sich neben dem Donnerstag auch den Freitag freizunehmen, um ein verlängertes Wochenende in Howth zu verbringen.

Herr Aumüller zeigte sich wenig begeistert, bewilligte den kurzfristigen Antrag aber dennoch. Katherine ahnte, dass diese Entscheidung kein Akt der Nächstenliebe war, sondern vielmehr dem Hinweis aus der Personalabteilung geschuldet, dass seiner Mitarbeiterin noch fünfundzwanzig Urlaubstage für dieses Jahr zustanden.

Noch im Büro buchte Katherine die Flugtickets und ein Hotelzimmer über ihr Smartphone.

Drei Tage später saß sie mit einem Kopf voller sich überschlagender Gedanken in einem Flugzeug, das Kurs auf Dublin nahm.

Howth lag gerade einmal dreißig Fahrminuten vom Stadtzentrum entfernt. Auf Katherine wirkte das Fischerdorf wie ein Gemälde, das seine Betrachter mit einer leisen, unaufdringlichen Schönheit verzauberte – selbst durch die Windschutzscheibe eines Taxis hindurch.

»Das macht dann 33,10 Euro«, sagte der Fahrer, der neben einem kleinen Bahnhofsgebäude unweit des Hafens gehalten hatte.

Katherine zahlte und ließ sich ihren viel zu voll bepackten Trolley aus dem Kofferraum hieven, ehe sie ein paar zögerliche Schritte in Richtung des Piers tat.

Sie war schon immer empfänglich für die Magie von Orten gewesen; für die Stimmen längst vergessener Sommer, die flüsternd aus Hausfassaden sickerten, und die Geschichten, die die Natur besonders aufmerksamen Zuhörern erzählte. Hier, an diesem paradiesischen Fleckchen Erde, nahm Katherine all das noch um ein Vielfaches intensiver wahr. Howth, obwohl nur einen Katzensprung von Dublin entfernt, kam ihr vor wie eine eigene kleine Welt jenseits des hektischen Alltags.

Eine Weile verharrte sie in ihrer Position, von der aus sie eine Gruppe Fischer beim Mittagessen vor einem mit bunten Blumenkübeln flankierten Pub beobachtete. Dann erinnerte sie sich an ihren anstehenden Termin. Begleitet vom Kreischen der Möwen und den an den Hafenmauern leckenden Wellen schlug Katherine den Weg zu ihrem Hotel ein.

Dankbar sog sie die salzige Luft, die der Wind vom Wasser herantrug, in ihre Lungen. Sie fühlte sich seltsam frei. Der Anblick der Klippen, die sich einige Meter vor ihr über das Meer erhoben und die eindrucksvolle Häuser auf ihren felsigen Schultern trugen, weckte jenes Sehnsuchtsgefühl in ihrer Brust, das sie in München stets melancholisch gestimmt hatte.

Hier jedoch wirkte es geradezu beflügelnd.

Ist das zu fassen, dachte Katherine übermütig, wer hätte gedacht, dass das Leben nur zweieinhalb Flugstunden weit entfernt so märchenhaft schön und bunt ist?

Die bemalten Türen und die Blumenampeln, die begrünten Hügel und das funkelnde Meer – all das bot so viel mehr Farbe, als Katherine es in ihrer Heimatstadt je zu Gesicht bekommen hatte.

Erst, als sie etwa eine Viertelstunde später ihr gebuchtes Hotel erreichte, das über der Promenade auf einer kleinen Anhöhe stand, wich ihre Euphorie einem Zustand von Erschöpfung. Ein Gähnen unterdrückend, betrat sie den atmosphärischen Empfangsbereich des Seashell. Die Rezeption war von einer älteren Dame mit schlohweißen Haaren und bemerkenswert blauen Augen besetzt, die Katherine freundlich zulächelte.

»Herzlich willkommen in unserem Haus«, sagte sie mit einer überraschend rauchigen Stimme, »was kann ich für Sie tun?«

Katherine stellte sich vor und reichte ihre Buchungsunterlagen über den Tresen.

Während die Rezeptionistin mit Namen Mae ihre Daten in den Computer eintippte, sah Katherine immer wieder zu der von einem dicken Tau umrahmten Wanduhr hinter dem Empfangstresen hinüber. Ihr blieb noch eine Stunde bis zu dem Treffen mit Mr. Walsh. Nicht genug Zeit, um der Müdigkeit nachzugeben und sich noch einmal hinzulegen.

Wie um ihre Lebensgeister wieder wachzurütteln, galoppierten plötzlich ganz und gar beunruhigende Gedanken durch ihren Kopf.

Gleich werde ich dort sein, wo mein Vater sich vermutlich sehr häufig aufgehalten hat? Ohne Mum. Ohne mich. Nur er und Fiona?

Sie streifte ihre Bedenken ab wie einen zu warmen Mantel.

Es hatte keinen Sinn, sich schon im Vorfeld mit diesem Kapitel der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Mae räusperte sich. »Also, Miss Madigan, das Restaurant hat den ganzen Tag über geöffnet. Auch außerhalb der regulären Essenszeiten können Sie jederzeit Getränke ordern. Frühstück gibt es von 7 bis 11 Uhr, Mittagessen von 12 bis 16 und Abendessen von 18 bis 21 Uhr.« Die Rezeptionistin wandte Katherine den Rücken zu, zog eine Schublade auf und nahm einen Schlüssel heraus, den sie zusammen mit einem Flyer auf den Tresen legte. »Wir haben Zimmer 14 für Sie reserviert. In dieser Broschüre finden Sie eine Übersicht über empfohlene Aktivitäten, die Sie im Umkreis wahrnehmen können. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich gern an mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Katherine bedankte sich höflich, brachte ihr Gepäck auf das gemütliche, im maritimen Stil eingerichtete Zimmer und unterzog sich im Badezimmer einer Katzenwäsche.

Mit gezücktem Smartphone, das ihr den Weg zu Fionas Haus wies, trat sie wenig später zurück in die goldene Mittagssonne.

»In fünfzig Metern rechts abbiegen«, forderte die blecherne Stimme der Navigations-App. Katherine gehorchte und betrat eine schmale, leicht ansteigende Straße, die zu beiden Seiten von gedrungenen, eng aneinandergereihten Häusern mit geradezu winzigen Fenstern und Türen gesäumt war. Hie und da konnte sie zwischen den Wohnhäusern kleine Geschäfte mit Schaufenstern ausmachen; eine Backstube, eine Boutique, eine Papeterie und zu guter Letzt einen Buchladen mit dem interessanten Namen Rainbow-Hearts-Library. Zu Katherines Bedauern lag das Geschäft jedoch im Dunkeln, und an seiner Tür hing ein angelaufenes Aluminiumschild, auf dem rote Lettern das Wort Geschlossen bildeten.

Das zugehörige Haus mit seinem windschiefen Dach, den braunen Schindeln und der gelbstichigen Fassade besaß trotz seines unspektakulären Aussehens einen verwegenen Charme.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete Katherines Smartphone. Stirnrunzelnd blieb sie vor dem Schaufenster der Bücherei stehen und drehte sich im Kreis.

Hier?!

Sie musste eine falsche Adresse eingegeben haben.

Irritiert fischte sie den Brief des Nachlasstreuhänders aus ihrer Handtasche und verglich die genannte Anschrift des Hauses mit jener, die sie am Hafen in ihr Handy eingetippt hatte. Es war ein und dieselbe.

»Ah, Miss Madigan!« Ein untersetzter Mann mit stattlichem Bauch und freundlichem Gesicht überquerte die Straße und steuerte auf Katherine zu. Er trug einen Anzug, der ihm ganz offensichtlich mindestens zwei Nummern zu klein war, und eine wuchtige Aktentasche, die in seinen Händen wiederum aberwitzig groß wirkte.

»Mr. Walsh?«, fragte Katherine überflüssigerweise.

Wer sonst sollte in Howth ihren Namen kennen?

»Ganz recht, ganz recht. Wissen Sie was? Nennen Sie mich doch Ainsley.« Der Nachlasstreuhänder hatte es inzwischen auf die andere Straßenseite geschafft und schüttelte ihr nun überschwänglich die Hand. Obwohl die Höflichkeitsform im Englischen nicht existierte, übersetzte Katherine die Anreden gedanklich.

»Katherine. Ich freue mich auch sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Allerdings glaube ich, hier muss ein Fehler vorliegen. Ich denke nicht, dass es sich hierbei«, sie machte eine Handbewegung in Richtung der Rainbow-Hearts-Library, »um das Haus meiner Tante handelt. In dem Brief, den ich vom Gericht erhalten habe, war nirgendwo die Rede von einer Bücherei. Und am Telefon haben Sie auch keine erwähnt.«

Ainsley runzelte die Stirn. »Oh, Verzeihung. Ich nahm an, Sie wüssten vom Laden Ihrer Tante. Die Bücherei war das Herzstück dieses Ortes. Fiona hat mit der Rainbow-Hearts-Library nicht nur ihren Lebensunterhalt verdient, sondern auch viele Einwohner Howths sehr glücklich gemacht.«

»Sie haben Fiona gekannt?«

»Ja. Sehr gut sogar, ich war selbst Teil ihrer Kundschaft. Ihr Tod ist ein großer Verlust. Wie sagt man so schön? Krebs ist die Geißel der Menschheit. Eine furchtbare Sache, dass Fiona nicht mehr unter uns weilt.«

Katherine fühlte sich angesichts dieser Fülle an Informationen ein wenig überrumpelt.

Da hast du deine Todesursache. Krebs.

Sie spürte, wie sich trotz der Wärme eine Gänsehaut auf ihren Armen bildete. Hoffentlich hatte Fiona nicht lange leiden müssen.

»Wann war die Beerdigung?«, fragte Katherine unbehaglich. Sie schämte sich dafür, diese Frage einem Fremden zu stellen.

»Seebestattung«, korrigierte der Nachlasstreuhänder, dessen Stimme verriet, wie unangenehm auch ihm die Situation war. »Am 13. Juni.«

Seebestattung. Katherine nickte langsam.

Das passte zu ihrer Tante, die das Meer in seiner unbändigen Wildheit doch so sehr geliebt hatte.

»Okay«, sagte sie matt. Fionas Tod war mal abstrakt, mal klar konturiert und in diesem Moment irgendetwas dazwischen. »Meine Tante hat also hauptberuflich diese … ähm … Bücherei betrieben?«, griff Katherine das Thema wieder auf.

Als Fiona noch in München gelebt hatte, war sie Lehrerin für Mathematik gewesen. Katherine konnte sich nicht entsinnen, dass sie über ihren Beruf hinaus jemals eine besondere Vorliebe für Bücher gehegt hätte. Jedenfalls nicht für solche, in denen keine Gleichungen und Koordinatenkreuze vorkamen. Andererseits, so musste sie sich eingestehen, hatte sie ihre Tante auch nie danach gefragt. Schon gar nicht während der vergangenen dreizehn Jahre.

»Nicht bloß irgendeine«, sagte Ainsley kryptisch, »sondern eben diese hier. Eine ganz besondere Bücherei.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Katherine irritiert.

»Keine Sorge, das wird sich gleich ändern. Gehen wir hinein. Ich zeige es Ihnen.«

Katherine rührte sich nicht vom Fleck. Mit einer Mischung aus Neugier und Hilflosigkeit sah sie den Nachlasstreuhänder samt klimpernden Schlüsselbunds um die Ecke des Hauses verschwinden.

»Kommen Sie schon«, rief er aufmunternd.

Mechanisch folgte Katherine Ainsley zum Eingang des Hauses. Die dunkelgrüne Tür mit dem goldenen Knauf markierte eine Grenze, von der sie plötzlich nicht mehr wusste, ob sie bereit war, sie zu überschreiten.

Katherines Herz machte einen Sprung, als das Schloss klickte und der Nachlasstreuhänder der Tür einen sanften Schwung gab.

»Nach Ihnen, Miss Madigan.«

Kapitel 5

Die Dielen unter ihren Sohlen knarrten, als Katherine über die Schwelle in den schmalen Flur trat. Sofort stieg ihr ein schwerer, aber dennoch angenehmer Geruch nach Holz und Räucherstäbchen in die Nase.

Hinter ihr betätigte Ainsley einen Lichtschalter.

Hier also hätte ich vor dreizehn Jahren mit einem Rucksack voller Gepäck und unbändiger Vorfreude auf die Weihnachtsferien gestanden, wenn alles nach Plan gelaufen wäre, dachte Katherine und war überwältigt von der Wucht, mit der diese Erkenntnis sie mitten ins Herz traf.

Sequenzen glücklicher gemeinsamer Tage in Howth, die es nie gegeben hatte, rauschten an ihrem inneren Auge vorbei.

Auf einmal kam die Situation ihr vollkommen unwirklich vor. Die Realität fühlte sich fragil an, so als wäre sie in Wahrheit nur ein Traum, der sich zu tarnen versuchte.

»Was möchten Sie sich zuerst ansehen?«, fragte der Nachlasstreuhänder sanft.

Katherine zuckte die Achseln. Sie fühlte sich nicht fähig, eine Entscheidung zu treffen. Wie oft war ihr Vater wohl hier gewesen? Hatte er während der Treffen mit Fiona je an seine Frau und seine Tochter gedacht? Wie lange mochte die Beziehung angedauert haben? Hatten sie einander aufrichtig geliebt oder nur eine kurze Affäre miteinander gehabt?

In Katherines Hinterkopf meldete sich ein vertrauter Schmerz, der schon bald ihre Stirn erreichen würde.

Sie musste schleunigst zurück ins Hotel und eine Tablette einnehmen, wenn sie einen Migräneanfall verhindern wollte.

»Sollen wir direkt in die Bücherei gehen?«, schlug der Nachlasstreuhänder vor. Mit erwartungsfroher Miene und einem eingezogenen Bauch manövrierte er sich an Katherine vorbei.

»Ja«, antwortete sie knapp und folgte Ainsley in einigem Abstand, »warum nicht.«

Erst jetzt nahm Katherine Aufbau und Interieur des Hauses genauer in Augenschein. Fiona hatte zweifellos eine Vorliebe für rustikale Deko-Elemente gehabt. Der ohnehin schon schmale Flur, von dem neben der Haustür insgesamt drei weitere Türen abgingen, war von aus Treibholz gefertigten Regalen, Kommoden und undefinierbaren Formationen aus Muscheln, Holz und Tau gesäumt. Ainsley drehte sich im Gehen zu Katherine um und stieß sich geräuschvoll den Zeh am Fuße einer Truhe.

»Verflucht noch eins«, zischte er, »ich hatte schon wieder vergessen, wie eng es hier drinnen ist.«

Katherine murmelte etwas Unverständliches.

Ja, es war ein wenig eng, dachte sie, aber gerade dadurch wahnsinnig gemütlich. Ein maritimes kleines Häuschen, das einen ganz eigenen Charme versprühte. Einen von der Art, wie ihn Katherines Wohnung mit den hohen Decken und den großen Fenstern gar nicht besitzen konnte.

Neben einer Treppe, deren breite Stufen aus massivem grauem Stein gefertigt waren und die in das Obergeschoss des Hauses führten, blieb der Nachlasstreuhänder schließlich stehen.

»Da wären wir«, sagte er feierlich. »Hier hindurch geht es zur Bücherei.«

In der Mitte der Tür, durch die sie im Begriff waren zu gehen, prangte ein regenbogenfarbenes Herz. Das ursprünglich dunkle Holz der Tür war mit einem weißen Lack unordentlich lackiert worden, was ihr ein antiquarisches Aussehen verlieh.

Der Nachlasstreuhänder griff nach einem vergoldeten, filigran wirkenden Schlüssel, den er beinahe ehrfürchtig betrachtete, und öffnete das Schloss mit einem sanften Klickgeräusch.

»Bereit für ein bisschen Zauberei?«, fragte Ainsley zwinkernd und bedeutete Katherine, durch die Tür zu treten.

Mit flatterndem Herzen folgte sie seiner Aufforderung.

Das Erste, was Katherine auf der anderen Seite der Tür wahrnahm, war ein herrlicher Duft nach Nostalgie und bedrucktem Papier. Einen Augenblick lang fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt; plötzlich war sie wieder das kleine neunjährige Mädchen, das seine Nase in Büchern voller abenteuerlicher Geschichten vergrub und verzückt an den Seiten roch, als könnte es die Worte auf diese Weise einatmen.

Dann war der Moment vorbei, und sie befand sich wieder im Hier und Jetzt. Vorsichtig, als bewegte sie sich durch eine Porzellanlandschaft, schritt Katherine weiter in den Raum hinein. Das Licht, das durch das Fenster fiel, hinterließ kunstvolle Muster auf dem Eichenparkett.

Langsam umrundete sie die zur Sonne ausgerichteten Tische, auf denen zeitgenössische Belletristik zum Verkauf dargeboten wurde, und bewunderte die vielen kleinen Details, mit denen ihre Tante die Bücher kunstvoll in Szene gesetzt hatte: Einige der Romane waren in Herzform angeordnet, andere rund um dekorative Elemente wie kleine Treibholzskulpturen, Muscheln und mit Sand gefüllte Flaschen drapiert worden.

»Das ist der Verkaufsbereich«, erklärte Ainsley, der noch immer in der Tür stand. »Daneben stand bis vor Kurzem immer ein Flohmarkttisch. Fiona hat hin und wieder mal Bücherspenden gesammelt und sie für kleines Geld zum Verkauf angeboten. Einmal im Monat gab es alles, was sonst in diesen Flohmarktbereich gefallen ist, umsonst. Zuletzt hatte sie ihn abgebaut – wahrscheinlich, als die Krankheit schon weiter vorangeschritten war und sie die Arbeit reduzieren musste, wo sie konnte. Zusätzliches Geld haben wohl die Veranstaltungen und Kurse abgeworfen, die Fiona hier gegeben hat. Kreatives Schreiben, Handwerkskunst, Feiertagsbasteln … Für die Teilnahme hat jeder gern bezahlt. Die Leute wussten ja, dass jeder Cent auf direktem Wege wieder in den Laden zurückfloss. Aber auch das konnte Fiona am Ende nicht mehr stemmen. Nicht mal mit Unterstützung.«

Katherine ließ Ainsleys Worte auf sich wirken und sah sich weiter um. In einer Nische zwischen zwei ausladenden Topfpflanzen stand, ein wenig versetzt, eine Theke im Landhausstil, auf die jemand Hunderte winziger Buchstaben gezeichnet hatte. Auf dem Tresen selbst befanden sich eine mit Postkarten und Zeitungsartikeln beklebte Ladenkasse sowie ein PC, an den ein Scanner angeschlossen war.

Während dieser vordere Teil des Raumes wie eine moderne Buchhandlung aufgebaut war, glich der hintere, weitaus größere Teil einer alten Bibliothek. Hohe, mit Leitern bestückte Regale, die bis unter die Decke reichten, beherbergten nach dem Alphabet sortierte Werke von Autoren verschiedenster Epochen. In ihrer Mitte befand sich eine Sitzecke, bestehend aus vier tannengrünen, bequem aussehenden Stoffsesseln und einem Kaffeetisch, auf dem ein Stapel Briefpapier, das mit winzigen Regenbögen verziert war, sowie etliche Kugelschreiber und Füllfederhalter lagen.

»Diese Bücher standen nicht zum Verkauf, oder?«, fragte Katherine neugierig.