Shaman: Der Herr des Feuers - Harald Braem - E-Book

Shaman: Der Herr des Feuers E-Book

Harald Braem

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Beschreibung

Träume weisen seinen Weg Harald Braem schildert den Weg des einfachen Rentiernomaden Bokan zu seiner Bestimmung als Schamane eines großen Stammes in einem packenden Abenteuerroman. Bokan zieht aus den Weiten der sibirischen Taiga bis tief in den Süden, ins innerste China, wo die Horden des großen Khans der Mongolen wüten. Aber faszinierender noch als die Erlebnisse Bokans in der äußeren Welt sind seine Begegnungen auf dem spirituellen Weg, der ihn zu seiner Einweihung als Schamane führt.

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Seitenzahl: 478

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Shaman: Der Herr des Feuers

Harald Braem

Impressum

Harald Braem hat sich als Autor dieses Werkes, nach den Rechten des ›Copyright, Design and Patents Act 1988‹, identifiziert.

Erste deutsche Ausgabe 1994 bei Piper Verlag, München.

Zweite Ausgabe erschien 2018 bei Lume Books

© 2022 Harald Braem

Satz & Layout: Uwe KöhlCoverdesign von: Elvea Verlag (www.elveaverlag.de)

Covergrafik von Liang ZhangLaura Louise Churchill

Verlagslabel: Elvea Verlag

(www.elveaverlag.de)

ISBN Softcover: 978-3-347-67308-3

ISBN Hardcover: 978-3-347-67309-0

ISBN E-Book: 978-3-347-67312-0

Druck und Distribution im Auftrag des Designers:tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Designer verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Designers, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Projektleitung

www.bookunit.de

Der Autor

Harald Braem, *1944, Berlin, Designprofessor, Buch- und Filmautor (u. a. Terra X).

Forschungsreisen durch Europa, Asien, Afrika. Lebt auf der Kanareninsel La Palma und in Heidesheim am Rhein.

Weitere Informationen: www.haraldbraem.de

Instagram: harald.braem.autor

1

Taiga

Die Dunkelheit gebiert das Böse und das Böse besitzt viele Gesichter und Namen …

Am unheimlichen Ort, nahe dem Fluss, der bitteres Wasser führt, trafen drei dunkle Wesen zusammen: Frost, Neid und Shagram, der vielköpfige Töter. Gemäß ihrer Natur berieten sie sich zum Schaden der Welt.

»Weit weg von hier, in einem Lager der Rentiermenschen, reift ein Junge heran, der vom Schicksal bestimmt ist, einmal ein weißer Schamane zu werden«, sprach Neid. »Die Sterne in seiner Geburtsstunde standen günstig für ihn und lassen vermuten, dass ihm alles gelingen wird. Noch ahnt er selbst nichts davon und weniger noch die Menschen, die ihn umgeben. Aber er wird unweigerlich zur Gefahr, wenn ihm erst die Kraft des Wissens zufließt. Auch wartet ein anderer weißer Schamane auf ihn, ein wahrlich mächtiger Meister, ihm dieses Wissen zu geben. Gelingt es uns nicht, seinen Lebensweg rechtzeitig zu durchkreuzen, so erwächst uns ein gefährlicher Gegner.«

»Ich teile deine Sorge, denn auch ich habe die Zeichen bemerkt, der Wind trug mir die Botschaft zu«, sprach Frost, »schon jetzt soll es so sein, dass er die Gedanken und Gefühle der Tiere besser als jeder andere versteht. Sie helfen ihm, als ob er einer der ihren wäre.«

»Bokan lautet sein Name«, ergänzte Neid.

Shagram, der vielköpfige Töter, schwieg lange und sann den Worten nach. Voll Unrast fuhren die eisernen Krallen seiner Finger durch die Luft, schlitzten die Wolken, denn ihn dürstete nach frischem Blut.

»Dann sollten wir ihn vernichten«, sprach er endlich. »Doch nicht mit einem Schlag, sondern Zug um Zug. Zunächst zerstören wir seine Freude am Leben, dann den Körper und zuletzt seinen Geist, noch bevor er gelernt hat, ihn richtig zu nutzen.«

»So soll es sein«, stimmte Neid zu. »Ich werde unmerklich in seine Gedanken und Träume eindringen, in seine Seele kriechen, auf dass er allmählich so wird wie ich.«

»Und ich werde meinen kalten Atem aussenden und alles in seiner Umgebung zu Eis erstarren lassen, bis er winselt und schließlich der Lebensfunke in ihm erlischt«, sagte Frost.

»Und du, was wirst du tun, um seinen Weg zu stören?«, fragte Neid den vielköpfigen Töter. »Ich werde den Schrei des Adlers ausstoßen, dass es schmerzlich in seinen Ohren schrillt«, sprach Shagram. »Viele Helfer der dunklen Macht werde ich aussenden, die Waffen klirren lassen und die Erde mit dem Blut erschlagener Leiber tränken. Lange ist Frieden auf Erden gewesen, viel zu lange schon für meinen Geschmack …«

Schmatzend den kalten Nachtnebel kostend, lehnte er sich in Erwartung des Kommenden wohlig zurück. Eine Eule flog auf mit angstvollem Schrei und die Rentierherden rückten dichter zusammen. Jedes Lebewesen der Taiga spürte das nahende Böse.

*

Es gibt Zeiten, da sind die Dinge im Gleichgewicht und solche, wo dein Fuß zögert, wo du nicht weißt, ob es nach rechts oder nach links weitergeht, wo ein einziger falscher Schritt eine Lawine auslösen kann …

Die Leute im Lager erkannten schon von weitem, dass etwas nicht stimmte: zwei vermummte Gestalten kamen langsam, mit schweren Schritten vom Waldrand auf das Zeltdorf zu. Aber was sie da auf dem Schlitten hinter sich herzogen, war keine Jagdbeute, sondern irgendetwas anderes, etwas, das ungefähr die Größe eines Menschen besaß und dennoch wie ein erlegtes Tier auf die Holzstangen geschnallt lag. Und plötzlich stockte den Leuten im Lager der Atem. Uniak und Reijo erkannten sie, Uniak an seiner außergewöhnlichen Größe und Reijo am leicht hinkenden Gang, der von einer Verletzung an der Hüfte stammte, die er sich bereits als Kind zugezogen hatte. Seit jenem Unfall vor langer, langer Zeit ging Reijo mit steifem Becken und setzte das rechte Bein leicht drehend auf eine Weise vor, an der man ihn schon von weitem von anderen Männern unterscheiden konnte. Und Uniak? Wer sonst außer Uniak ragte so weit auf, Uniak der Riese, der Kieferngleiche, dessen Rauchloch im Zelt dem Himmel näher war als alle übrigen. Uniak und Reijo … nur diese beiden Jäger sahen die Leute herankommen, nicht aber Bokan. Wo war Bokan?

Es war still, als die beiden Männer das Dorf erreichten, nicht einmal die Hunde sprangen ihnen wie sonst üblich entgegen. Die Hunde hatten sich aus ihren Schneelöchern erhoben, zwei, drei von ihnen reckten die Kehlen zum Geheul, brachten aber lediglich ein kurzes, helles Belfern hervor, das schnell verebbte, weil die Mehrzahl des Rudels schwieg, einige klemmten sogar den Schwanz ein und zogen sich leise jaulend zurück. Zwischen den Jurten standen die Menschen reglos, alle Köpfe den Ankommenden zugewandt. Ihre Gesichter verrieten nichts von der Spannung, die in ihnen war, ihr Atem ging nicht schneller als sonst und dennoch spürte jeder in diesem Moment die Veränderung: eine unbestimmbare Last, schwer und bedrohlich wie eine dichte Wolke, legte sich über das Lager, gnadenlos kalt auf die Außenhäute der Zelte, auf die Rücken der Rens, auf die Stirnen der Menschen.

Orchon, der Dorfälteste, hob die Hand, als Uniak und Reijo heran waren, doch es hätte dieser Geste nicht bedurft, um die beiden zum Stillstand zu bringen. Uniak, der zuletzt die Stangen des Zugschlittens auf seinen Schultern getragen hatte, ließ die Last vorsichtig von sich abgleiten, beugte sich über seine verschnürte Fracht und schlug einen Zipfel der Decke zurück. Nun konnte jeder, der nahe genug stand, in Bokans Gesicht blicken – eine weiße Scheibe, wachsfarben wie der Mond, mit weit aufgerissenen, starren Augen, das fahle Bild eines Leichnams.

Der Alte beugte sich vor und betrachtete das Gesicht. Es war das Gesicht eines jungen Mannes, fast noch eines Kindes, mit glatter Haut über den Wangenknochen und faltenlos in den Augenwinkeln. Das nach hinten gekämmte, glatte schwarze Haar hatte sich gelöst und fiel in die Stirn, der Mund stand offen, die Lippen schienen irgendetwas sagen zu wollen und blieben doch reglos. Es sah aus, als hocke hinter ihnen ein Schrei, den die weißen Zahnreihen krampfhaft festhielten und der dort inzwischen eingefroren war. Das Schrecklichste an diesem Gesicht aber war der Ausdruck der Augen. Weiß quollen die Augäpfel vor und auf den geweiteten Pupillen lag ein übernatürlicher Glanz. Der Alte schrak unwillkürlich zurück.

»Ist er … tot?«

Uniak schüttelte den Kopf. Er räusperte sich und seine Stimme kam, da er lange nicht mehr gesprochen hatte, von sehr weit her.

»Nein, nicht tot, nicht wirklich … er schläft nur, er schläft mit offenen Augen …«

»Er ist blind«, ergänzte Reijo. Er begann auf der Stelle zu treten und sich den Schnee von der Felljacke zu klopfen. »Er ist blind, obgleich seine Augen offen sind. Seine Seele ist starr geworden und sein Geist ist noch sehr weit fort.«

»Was ist geschehen?«, fragte Orchon, der Älteste. Selbst er, der so viele Winter erlebt hatte und länger als alle anderen mit den Rentieren gezogen war, spürte plötzlich eine merkwürdige und denkbar unangenehme Beklemmung auf der Brust. Dennoch musste er hier vor dem Stamm fragen, ihm oblag es, die Wahrheit herauszufinden, so war es schon immer gewesen, ein ungeschriebenes Gesetz. Unwillkürlich presste er seine Lippen zusammen. Er war ja nur ein einfacher Mann in einer Welt, die man nicht immer, aber doch oft mit klarem Verstand durchschauen konnte. Aber diesmal, so fühlte er instinktiv, ging es nicht mehr mit rechten Dingen zu, erwartete er, eine Antwort zu bekommen, die mehr Fragen aufwerfen als Lösungen anbieten würde. Etwas Eigenartiges war geschehen, eine Drohung lag über dem Dorf. Die anderen im Lager spürten es auch, noch immer stand jeder wie angewurzelt auf seinem Platz, wagte sich nicht zu bewegen. Konnte es nicht sein, dass gerade dies wichtig war, dass eine einzige unbedachte Bewegung die Macht besaß, den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen und durcheinanderzubringen?

»Er ist gestürzt«, sagte Uniak, »sehr tief, aus der Krone einer großen Kiefer ist er herabgefallen.«

»Er ist geflogen«, sagte Reijo. »Ich habe es genau gesehen: Zunächst ist er wie ein Eichkater den Stamm hinaufgeklettert und dann gesprungen. Aber er fiel nicht, er flog, sehr weit ist er durch die Luft geflogen.«

»Er ist gestürzt«, wiederholte Uniak stur, ohne den Blick seiner ernsten, dunklen Augen vom Gesicht des Dorfältesten zu lösen. Er stand da, dieser Riese und wirkte hilflos mit seiner Wahrheit, er hatte ja nur diese eine, seine Wirklichkeit zu verkünden. »Er ist aus der Krone der großen Kiefer gefallen, sehr tief ist er gefallen, aber erstaunlicherweise lebt er noch. Jeder andere wäre jetzt tot.«

»Nein«, sagte Reijo, noch immer seine Felljacke abklopfend, obgleich dort kein bisschen Schnee mehr lag und das leichte, durchsichtige Treiben, das den Vormittagshimmel so fasrig zuckend gemacht hatte, inzwischen aufgehört hatte. »Nein, ich kann es beschwören bei allem, was ihr wollt, ich habe ganz deutlich gesehen, wie er durch die Luft geflogen ist wie ein Vogel. Fragt mich nicht, wie so etwas möglich ist und warum es geschah und doch ist es passiert: Bokan flog weit über uns, ja er drehte sogar mit seinem Körper und den ausgestreckten Armen einen Halbkreis und als er herabkam, stürzte er nicht, sondern landete ganz sanft im Schnee. So ist es auch zu erklären, dass er sich nichts gebrochen hat. Nur für seine Seele und seinen Geist ist das Ganze zu viel gewesen. Darum ist sein Körper so steif, sind seine Augen blind wie bei einem Toten …«

»Warum habt ihr Bokan überhaupt mit auf die Jagd genommen?«, mischte sich ein Mann ein, über dessen wettergegerbtes Ledergesicht eine uralte Narbe lief. Er hatte die ganze Zeit über neben dem Ältesten gestanden und war nun, um seine Worte zu unterstreichen, einen Schritt vorgetreten. »Habe ich nicht oft genug davon abgeraten, ihn mit auf die Jagd zu nehmen? Was bringt er euch außer Schwierigkeiten, was hat er jemals für uns erbeutet? Er taugt nichts für die Arbeit am Ren und auch nicht zur Jagd. Er hat immer diesen Ausdruck in seinen Augen, seht doch, auch jetzt noch, wo er so daliegt und sich nicht rühren kann. Er bringt uns nur Unglück.«

»Du tust ihm unrecht, weil du ihn nicht leiden kannst«, antwortete Uniak ruhig, ohne dem anderen sein Gesicht zuzudrehen. Es gab da eine Geschichte, die lange zurücklag und an die wollte er nicht rühren, deshalb sprach er den Narbigen stets nur von der Seite an.

Und was Bokan betraf … Uniak schwirrte der Kopf, er musste sich zusammennehmen, um das, was er dachte, auch in den richtigen Worten aussprechen zu können: »Wir haben ihn mitgenommen, wir nehmen ihn oft mit, weil er schneller als alle anderen die Nähe von Wild spürt. Er sieht die Tiere nicht, er riecht und hört sie auch nicht wie ein Schlittenhund, es ist anders bei ihm, schwer zu sagen wie … er scheint sie einfach zu spüren, wenn sie da sind. Vielleicht träumt er von ihnen …«

»Es ist gut jetzt«, sagte Orchon, der Dorfälteste, »wir haben genug gesprochen, jetzt muss gehandelt werden. Bringt Bokan ins Zelt, Matzkala, die Heilfrau, soll ihn untersuchen und sich um ihn kümmern. Ihr seht erschöpft und hungrig aus, ihr müsst essen und nachher am Feuer werden wir über alles reden, um zu klären, wie es nun wirklich war … Was habt ihr an Beute mitgebracht?«

»Nicht viel«, gab Reijo verlegen zur Antwort, »ein Auerhuhn und zwei Zobel. Das Glück war nicht gerade auf unserer Seite. Schon gar nicht mehr seit dem Sturm und nachdem das mit Bokan passiert ist.«

Sein Versagen als Jäger war Reijo peinlich, besonders, das Eingeständnis vor dem ganzen Stamm machen zu müssen. Aber gab es dafür nicht auch einen guten Grund? Hatte die Sache mit Bokan nicht alles nachhaltig aus dem Gleichgewicht gebracht? Konnte eigentlich nach diesem Vorfall noch irgendetwas so sein wie früher?

*

In der Jurte des Ältesten hockten Uniak und Reijo nebeneinander. Dicht drängten sich die übrigen Männer um die Feuerstelle in der Mitte des Zeltes, denn jeder wollte möglichst viel von der Geschichte mitbekommen. Die beiden Jäger saßen zunächst stumm da und tranken dankbar den Tee mit ranziger Butter. Auch die vom Ältesten gereichten Fleischstücke nahmen sie an, bissen hinein und schnitten das angebissene Stück mit dem Messer dicht am Mund ab. Das gab Kraft und ließ den Saft des Fleisches nicht verlorengehen. Bläulicher Rauch stand in der Jurte, er zog kaum noch durchs Rauchloch oben zwischen den Stangen ab, da sich der Wind gelegt hatte. Der Sturm der letzten Tage war heftig gewesen und kalt, ohne Vorwarnung war er aus Nordosten gekommen, aus den unendlichen Weiten der Taiga.

Sie hatten die Schlitten auf die Jurtenbahnen legen müssen, um die Bespannung zu beschweren und zu verhindern, dass der Sturm die Außenhäute zerriss. Jeder im Zelt freute sich, dass er vorübergezogen war, ohne sich für Tage oder gar Wochen am Lagerplatz festzubeißen. Nun aber, da die Sache mit Bokan passiert war, schwiegen alle und warteten beklommen auf den Bericht der Jäger. Bevor nicht der letzte Bissen in ihren Mündern verschwunden war, der letzte Schluck Tee, bevor nicht der Älteste das Gespräch eröffnet hätte, würde niemand eine Frage wagen oder sonst ein Wort. Zeit war etwas von den Dingen des Lebens, von denen sie am meisten besaßen. Auch wenn es dem einen oder anderen im Kreise bereits vor Neugier in den Beinen zuckte, ließ er sich dennoch nichts anmerken und versuchte, möglichst ausdruckslos dazusitzen und abzuwarten, bis der Älteste das Wort an die Jäger richten würde.

Die Jurte Orchons war größer und geräumiger als die übrigen Zelte, denn sie diente, außer dass sie der Wohn- und Schlafplatz einer vielköpfigen Familie war, zugleich auch noch als Versammlungsort für den Stamm. In ihr traf man sich, um alle Dinge von Wichtigkeit zu besprechen. Deshalb bot sie rund um die Feuerstelle viele Sitzplätze, die mit Fellen abgepolstert waren, auch am Rücken, um selbst ein langes Sitzen bequem zu machen. Die Feuerstelle war mit Steinen gefasst und so groß, dass auf ihr Fleisch für viele Personen gleichzeitig garen konnte. Nicht nur der Älteste, alle anwesenden Männer waren stolz auf diese Jurte, deren Errichtung stets viel Arbeit und Mühe bereitete. Die Zelte der anderen ließen sich leicht und schnell auf- und abbauen. So war es seit Urzeiten üblich bei einem Volk, das, den großen Rentierherden folgend, auf Wanderschaft war. Ein Zelt musste einfach aufzustellen und zu transportieren sein, wenn die Tiere weiterzogen und die Menschen mit ihnen aufbrechen mussten. Für die Jurte des Ältesten, die Versammlungsjurte, galt dies aber nicht, mit ihr gab man sich stets besondere Mühe, sie war das Zentrum, das Herzstück des Stammes. Und wenn ein Winterlager länger an ein und demselben Platz blieb, wie es in diesem Winter der Fall war, so verwandelte sich die Ältestenjurte allmählich in ein wahres Schmuckstück, durch die Kunst der Frauen und das Glück der Jäger, unterwegs eigenartig geformte Wurzelhölzer zu finden oder Geweihstangen, die zu schön waren, um zu Gebrauchsgegenständen weiterverarbeitet zu werden. Natürlich war die Jurte verräuchert, die Tierhaut der Innenverkleidung schwarz, ölig und speckig vom Fett. Aber zeugte nicht gerade dies von Wohlstand und Glück, dem Glück, lange und ungestört an einem Platz, der es gut mit einem meinte, mit den Rentieren und den Menschen, bleiben zu dürfen?

Uniak ließ sich viel Zeit mit dem Kauen. In seinem Kopf suchte er noch einmal seine Erinnerung ab, um dort alles möglichst genau zu betrachten und dann wahrheitsgetreu schildern zu können. Viel war ja eigentlich gar nicht geschehen … oder doch? Ihm kamen die Dinge so einfach und klar vor, so deutlich und einprägsam und dann plötzlich wieder doch nicht, dann verwischte alles, wurde schemenhaft verschwommen, geriet durcheinander, das Gestern und Heute und das, was bereits viele Monde und Jahre zurücklag … Hatte er nicht vor kurzem noch mit Bokan gespielt, Pfeile und einen Bogen geschnitzt, waren sie nicht zusammen losgezogen, um Moorhühner zu jagen, eine Falle für den scheuen Jerf, den Vielfraß, auszuheben, der immer wieder nachts ins Lager kam, um Rentiere zu töten? Und wie war es in jenem strengen Winter gewesen, als sie der große Hunger überfiel und viele vom Stamm der schleichenden Krankheit zum Opfer fielen, auch Bokans Eltern und die kleine Schwester? Einen nach dem anderen holte der Tod in jene andere Welt, von der Matzkala, die Heilfrau, manchmal mit flüsternder Stimme sprach, weil sie Angst vor den Geistern dort spürte.

Dies alles war lange her, aber auch die Ereignisse der vergangenen Tage und Nächte schienen mit jedem Atemzug in weite Ferne zu rücken, obgleich sie Uniak so stark berührt hatten, dass er glaubte, keinen einzigen Augenblick davon jemals in seinem Leben vergessen zu können. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf umher, vergeblich suchte Uniak nach einer Ordnung und der richtigen Reihenfolge. Wie war nun tatsächlich alles geschehen?

In Wirklichkeit läuft die Zeit ebenso wenig weg wie das Wasser. Beides bewegt sich nur scheinbar, ist immer da und bildet ein Muster. Wenn du dich morgens über den Bach beugst, um daraus zu schöpfen, wird es die gleiche Handlung wie gestern sein.

Die Stimme des Ältesten riss ihn aus seinem Grübeln heraus. »Berichte uns alles, was du gesehen und erlebt hast, Uniak. Lass dir Zeit dabei und erzähle es so, wie du dich erinnern kannst.«

Stockend zuerst, ein Wort mühsam an das andere fügend, dann schneller und schließlich in eine für ihn ungewohnte Lebhaftigkeit geratend, begann Uniak zu erzählen: »Ja, also, das war so … wir … sind losgegangen … Bokan, Reijo und ich … vor drei Nächten zogen wir los, wie ihr wisst … Wir folgten einer Elchfährte, verloren sie aber bald, denn es wurde dunkel am Himmel … Ein Schneesturm kam, er war heftig und deckte die Spuren zu. Den ganzen Tag hielt der Sturm an und auch über Nacht …

Wir fanden einen Felsen und verbargen uns dort. Als es wieder hell wurde, lag der Schnee so hoch, dass wir uns freischaufeln mussten … Wir beschlossen, weiterzuziehen, obgleich wir trotz der Schneeschuhe bei jedem Schritt einsanken …«

»Ihr seid trotz des Sturmes weitergelaufen?«

»Ja, es fiel nun kein Schnee mehr. Dafür war es zu kalt.« »Was tat Bokan?«

»Bokan sagte, es müsse Wild unterwegs sein, er spüre deutlich die Nähe von Tieren. Und Reijo sagte: Wenn das stimmt, dann sollten wir gehen, vielleicht stoßen wir bald auf Spuren im Neuschnee. Also brachen wir auf …

Ja, wir gingen also, wir liefen fast den halben Tag lang, ohne eine einzige Fährte zu entdecken. Bokan wurde unruhig, weil er doch dauernd die Nähe eines größeren Tieres spürte. Aber die Schneedecke war glatt, völlig unberührt … Später trafen wir auf das Auerhuhn und kurz danach auf die beiden Zobel …«

»Wer schoss sie – Bokan?«

»Nein, Reijo das Auerhuhn und ich die Zobel.«

»Aber Bokan hatte doch wohl ein größeres Tier gemeint?«

»Das ist richtig. Er war unzufrieden und überredete uns, weiterzugehen.«

»Ihr wolltet also umkehren?«

»Wir waren müde vom Gehen im Sturm …«

Orchon, der Dorfälteste, strich sich mit dem Handrücken durch den dünnen weißen Bart.

Schließlich nickte er.

»Erzähl weiter, Uniak.«

»Wir erreichten ein freies Gelände. Der Sturm hatte viele Bäume entwurzelt. Dort blieben wir, um zu rasten. Reijo sagte: Ich kenne diese Stelle nicht, aber sie eignet sich gut zum Beobachten. Wir können uns hier verstecken und den Tieren auflauern, wenn sie über die Lichtung kommen

… Die entwurzelten Bäume hatten nämlich den Boden aufgerissen. Das Erdreich war locker. Es gab Nahrung für den Elch und andere Tiere … Bokan war einverstanden. Er meinte, er spüre zwar im Augenblick nichts mehr, aber Reijo habe recht mit dem, was er über die Bäume und die Lichtung gesagt habe. Also rasteten wir … Der Sturm hatte nachgelassen, die Sonne kam sogar durch die Wolken. Ich muss eingeschlafen sein …

Ja, ich schlief wohl wirklich. Ich wachte dadurch auf, dass ich Reijo etwas rufen hörte. Ja, so war es: Ich lag seitlich, mit der Schulter an einen Baumstamm gelehnt und Reijo stand neben mir. Er schrie, hielt den rechten Arm ausgestreckt und deutete mit der Hand auf etwas, das ich nicht sogleich erkennen konnte … Und dann noch etwas: Der Sturm war plötzlich wieder da. Von einem Moment auf den anderen sprang er auf und heulte los wie in der Nacht zuvor. Er war so stark, dass es die größten Kiefern schüttelte. Sie ächzten und schrien und die Spitzen beugten sich, hin und her wurden die Äste gerissen …«

»Und Bokan?«

»Bokan?«, wiederholte Uniak die Frage des Ältesten nachdenklich und rieb sich die Stirn. »Bokan … er war nicht mehr da, jedenfalls nicht mehr dort, wo er zuletzt gesessen hatte, neben mir … Ich wunderte mich darüber und auch, dass Reijo so schrie …«

»Was schrie er denn?«

»Was er schrie? Ich weiß es nicht mehr. Irgendetwas, dass Bokan aufgesprungen und losgelaufen sei … dass ihn der Sturm erfasst habe oder so ähnlich. Ich kann mich an seine Worte nicht mehr genau erinnern … Aber dann sah ich selbst, was passiert war, mit eigenen Augen habe ich es gesehen: Bokan rannte über die weite Lichtung und überwand dabei querliegende Baumstämme, mit großen Sätzen sprang er über die entwurzelten Bäume … Und ein Baum, eine riesige Kiefer, stand da in der Mitte der Lichtung, auf die rannte er zu und trotz des Sturmes kam er schnell näher, dann … dann hatte er die Kiefer erreicht und begann, an ihr hochzuklettern. Es war ganz hell wegen der Sonne und ich sah ihn recht gut, jedenfalls meistens, dann verschwand er zwischendurch hinter den Ästen … er tauchte wieder auf, jedes Mal ein Stückchen höher …«

»Wo warst du in diesem Augenblick?«

»Ich … ja, was tat ich inzwischen? Ich war, glaube ich, aufgesprungen und stand nun neben Reijo. Und ich rief auch etwas, aber ich kann mich im Augenblick nicht mehr erinnern, was. Ich wollte wohl Bokan warnen, obgleich das sinnlos war bei dieser Entfernung und dem Brüllen des Sturmes. Ich frage mich, wie er sich überhaupt am Stamm festhalten konnte, der große Baum schaukelte im Sturm wie ein Schilfrohr … Und dann habe ich Bokan eine Weile nicht mehr gesehen, erst als er ganz oben an der obersten Spitze der Kiefer wieder auftauchte … Er hing mit Armen und Beinen, mit dem ganzen Körper klammerte er sich an der Spitze fest, es sah aus, als ritte er auf ihr wie auf einem Rentier …«

»Auf einem Rentier?«, wiederholte Orchon.

»Ja, ich … ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, was dann geschah … Ich glaube, er hing eine Zeitlang so rittlings, er wurde vom Sturm mit der Kiefernspitze herumgeschleudert, aber er hielt sich fest, er fiel nicht runter … Und dann … dann stürzte er ab. Ich sah ihn fallen und ich schrie auf vor Schreck. Ich dachte, einen Sturz aus solcher Höhe kann niemand überleben. Ich schrie, ich sah ihn endlos fallen, er fiel und fiel aus großer Höhe … Und dann sah ich ihn unten im Schnee aufschlagen. Ich lief sofort hin, um nachzusehen, ich stolperte über Stämme und Äste, schließlich kam ich an und sah Bokan auf dem Rücken liegen, mit weit geöffneten Armen. Seine Augen und sein Mund standen offen, es sah zuerst aus, als sei er tot. Doch ich wusste sofort, dass dies nicht der Fall war. Da steckte noch Leben in ihm, er … er war bloß in einen tiefen Schlaf gefallen, ich meine, ich weiß auch nicht, wie das möglich ist, dass man von so einem Sturz keine Verletzungen davonträgt, ihm war ja nichts anzusehen, überhaupt nichts. Er lag mit offenen Augen da und schien zu schlafen. Er sah genauso aus wie vorhin, als wir ihn brachten, sein Aussehen hat sich während des ganzen Rückweges nicht einmal verändert …«

Uniak schwieg. Viel hatte er gesprochen, weitaus mehr, als sonst bei ihm üblich war und dennoch überlegte er, ob dies auch wirklich alles war. Hatte er tatsächlich alles genau berichtet, alle Bilder, die er mit sich zum Lager zurückgetragen hatte, auch benannt und geschildert? Er dachte nach. Niemand in der Runde unterbrach sein Schweigen.

»Hast du eine Ahnung, warum er auf die Kiefer geklettert ist?«, ließ sich die Stimme des Ältesten schließlich vernehmen.

Uniak schüttelte den Kopf. Nein, er wusste es nicht, er hatte Bokans Handlungsweise nicht verstanden und eigentlich überhaupt nichts von dem, was dort auf der Lichtung im Sturm geschehen war. Nur ein unbestimmbares Gefühl regte sich in ihm, der Verdacht, dass auf der Lichtung und besonders auf der Spitze der Kiefer noch irgendetwas anderes passiert war, an das er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte … War das eigentlich die Sonne gewesen, die einen Moment lang durch die Wolken brach oder ein Lichtschein? Waren es Strahlen oder mehr ein Blendlicht, zu grell für die Augen, um die seltsamen Figuren und Gestalten, die sich am Himmel bewegten, deutlich erkennbar werden zu lassen?

Er schüttelte erneut den Kopf, wie um die Ungewissheit in sich zu verscheuchen. »Ja«, sagte Umak. »Das ist alles, was ich gesehen habe. So ist es gewesen.«

*

»Nein«, widersprach Reijo heftig, als die Aufgabe des Erzählens an ihn fiel. »Ich habe die Sache ganz anders erlebt! Es fing so an, wie Uniak sagte, es stimmt, alles hat sich so zugetragen, wie er berichtete. Bis wir an jene Lichtung gelangten … Wir wollten dort kurz lagern und uns ausstrecken. Uniak ist am entwurzelten Baum eingeschlafen, Bokan spähte und auch ich habe das Gelände vor uns beobachtet. Es war sehr ruhig und vorübergehend fast windstill. Nichts bewegte sich. Später muss auch ich für kurze Zeit eingenickt sein … Dann wachte ich auf und hörte Bokan etwas zu mir sagen. Ich weiß seine Worte nicht mehr genau, aber er sprach etwas von einem weißen Rentier. Er deutete auf die Lichtung und sagte: Siehst du nicht auch das weiße Rentier dort, es bewegt sich so seltsam, es scheint acht Beine zu haben …«

»Sagte er wirklich, es besitzt acht Beine?«

»Ja, so ähnlich. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört, aber dann wiederholte er diesen Satz.«

»Und hast auch du dieses Rentier gesehen?«

»Ich? Nein. Da war nichts auf der Lichtung, absolut nichts.

Ich blickte genau hin, konnte aber nicht das Geringste erkennen.«

»Und Bokan?«

»Bokan sprang plötzlich auf und rannte los. Im gleichen Moment setzte der Sturm wieder ein. Ich sah ihn quer über die Lichtung rennen und mit großen Sprüngen die umherliegenden Bäume überwinden. Dann erreichte er die große Kiefer, den einzigen Baum, den der Sturm nicht entwurzelt hatte. Bokan fing sofort an, am Stamm emporzuklettern. Er bewegte sich so geschmeidig wie ein Eichkater und kam erstaunlich schnell voran … Inzwischen war auch Uniak aufgewacht und ich rief ihm zu, was passiert war. Ich konnte aber den Blick nicht von Bokan lassen, denn was er da tat, war leichtsinnig und völlig verrückt. Er war genau in den Sturm hineingelaufen und kletterte nun trotz des Unwetters auf die Kiefer. Kein vernünftiger Mensch tut so etwas, welchen Sinn sollte eine solche Handlung auch haben? Dann war er mit einem Mal oben in der äußersten Spitze des Baumes. Ja, ja, es sah kurze Zeit so aus, als würde er auf der Kiefernspitze reiten. Und dann, ich kann es beschwören, sprang er los. Er sprang einfach in die Luft. Und ich sage euch, denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen: er fiel nicht, im Gegenteil – er stieg in der Luft regelrecht auf und flog wie ein Vogel. Er hatte beide Arme ausgebreitet und bewegte sie wie ein Adler, er senkte sie auf und nieder und stieß sich so voran, er schwebte, er flog nah am Himmel. Ich weiß, das klingt unglaublich und doch verhielt es sich so: Bokan flog ein ganzes Stück durch die Luft. Sein Körper beschrieb einen Halbkreis dabei, als wolle er abheben und für immer verschwinden. Dann ließen wohl seine Kräfte nach oder eine Windböe erfasste ihn, jedenfalls senkte sein Flug sich plötzlich zur Erde. Er ist weder gesprungen, noch ist er gefallen, nein, er schwebte zu Boden und landete im Schnee wie ein Vogel. In dieser Haltung fand ich ihn, als ich bei ihm ankam. Er wirkte irgendwie glücklich …«

»Er wirkte irgendwie glücklich … wie meinst du das?«

»Nun, der Ausdruck in seinem Gesicht … es war kein Schmerz darin, kein Erstaunen. Wir haben ihn untersucht, um festzustellen, wie schlimm seine Verletzungen waren – kein einziger Knochen schien ihm gebrochen zu sein.«

»Und wie erklärst du dir das?«

»Überhaupt nicht, ich habe keine Erklärung für das, was passiert ist.«

»Hm … Du hast uns eine völlig andere Geschichte erzählt als Uniak. Aber nur eine von beiden kann stimmen. Bist du der Ansicht, dass seine nicht wahr ist?«

»Nein, ich sage nicht, dass er lügt«, antwortete Reijo. »Aber was soll ich tun – ich kann doch bloß über das reden, was ich tatsächlich gesehen habe.«

»Nun«, brummte Orchon, »es geschehen immer wieder Dinge, für die es zunächst keine rechte Erklärung gibt und doch stellt sich manches später als einfach und durchschaubar heraus. Vielleicht kann uns Matzkala, die Heilfrau, dabei helfen, den Sachverhalt zu begreifen.«

Insgeheim aber dachte er: Wie ist es nur möglich, dass zwei ansonsten so zuverlässige Männer ein und dieselbe Sache so unterschiedlich erleben können? Einer von den beiden muss sich doch irren … vielleicht stimmen auch beide Berichte nicht …

Einige der Männer im Kreis bedachten die Worte des Ältesten mit zustimmendem Nicken, etliche vermochten ihre Zweifel indes nicht zu verbergen.

»Aber eines dürfte doch gewiss sein«, fuhr Orchon fort. »Kein Mensch überlebt einen solchen Sturz oder Flug, wie er geschildert wurde, ohne Schaden … Und einen Schaden hat sich Bokan wohl zugefügt, er ist noch immer ohne Bewusstsein.«

»Blind, obgleich seine Augen offen sind«, murmelte Reijo.

Er schläft nur, dachte Uniak. Er träumt. Vielleicht träumen wir alle mit offenen Augen …

*

Wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät, kommt es ins Wanken. Wenn etwas wankt, geht allmählich die Ordnung verloren. Ein anderer Name für Unordnung heißt Krankheit.

Matzkala, die Heilfrau, besaß keine eigene Jurte, sondern wohnte bei Uniaks Familie im Zelt. Links vom Eingang war mit Fellen und Tüchern ein kleiner Bezirk für sie abgesteckt, in dem sie schlief und ihre Medizin und Gerätschaften aufbewahrte. Den größeren Rest des Zeltes teilten sich Uniak und seine Frau, sein Bruder, dessen Frau und ihre drei kleinen Kinder sowie die Eltern der beiden Jäger nebst einem uralten Onkel, insgesamt also zehn Personen. Bokan, der seit dem Hungerwinter und dem Tod seiner Verwandten bei Reijos Sippe schlief, zog nun als zwölfter in Uniaks Jurte ein. Matzkala bestand darauf, dass er hierher getragen und direkt neben ihr eigenes Lager gebettet wurde. Bereits der erste Blick in Bokans auf so seltsame Weise entstelltes Gesicht hatte sie davon überzeugt, dass es besser für die Behandlung sein würde, ihn Tag und Nacht in ihrer unmittelbaren Reichweite zu haben. Es war nichts Ungewöhnliches, dass gelegentlich Kranke bei Matzkala lagen. Wurden sie gesund, kehrten sie wieder an ihre ursprünglichen Schlafplätze zurück. Auch Bokans kleine Schwester hatte eine Zeitlang bei Matzkala gelegen, aber sie war nicht zu ihrem Lager zurückgekehrt. Wie Vater und Mutter, die der plötzliche Tod in einer einzigen Nacht im Schlaf dahinraffte, war sie in die Wildnis getragen worden und weil der Boden viel zu hart gefroren war, um ein Loch zu graben, hatte man ihren Körper verbrannt und die Asche im Wind verstreut. Alle, die in jenem Hungerwinter starben, wurden auf Matzkalas Geheiß hin verbrannt. Die Hungergeister, die die schleichende Krankheit schickten, sollten so Nahrung erhalten, hatte Matzkala gesagt und gegen das, was die Heilfrau bestimmte, kam selbst Orchon, der Dorfälteste, nicht an.

Der Platz hinter den Fellen und Tüchern links vom Eingang, Matzkalas Zelt im Zelt, war eng, aber warm. Sie hatte den gestampften Erdboden mit Reisig, Moosen und Flechten bedeckt, darüber lagen mehrere Schichten Felle, in die man sich einwickeln konnte. Zunächst hatte die Heilfrau verlangt, dass Bokan vor der Jurte entkleidet und, als er nackt dalag, sein ganzer Körper mit Schnee eingerieben wurde. Sie selbst kniete neben ihm und massierte seine Brust um die Herzgegend herum. Während dieser Prozedur, ließ sie von Uniaks Frau und Schwägerin einen Topf Wasser über der Feuerstelle erhitzen. Die Kinder mussten Matzkalas Geschirr hervorkramen und nach ihren Angaben zwei kleine Kessel vorbereiten, einen für Tee, in den anderen wurden verschiedene Kräuter geworfen. In Matzkalas Reich hingen überall getrocknete Kräuter, den ganzen Sommer und Herbst über hatte sie unterwegs gesammelt. Doch nur sie kannte sich mit ihnen aus, wusste um die unterschiedliche Wirkweise der einzelnen Pflanzen, wie viel von ihnen und wofür sie jeweils genommen werden konnten.

Als das Wasser heiß war, goss Matzkala zunächst die beiden kleinen Kessel voll und ließ Tee und Kräuter eine Weile darin ziehen. Dann schleppten die Frauen auf ihr Geheiß hin den Topf nach draußen und übergossen Bokans Körper mit dem noch immer brühwarmen Wasser. Seine Haut lief sofort rot an, sonst zeigte sich keinerlei Wirkung. Nackt lag Bokan im Schnee, starr und steif wie ein Toter, mit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund und jenem grinsenden Ausdruck im Gesicht, der die Umstehenden, besonders aber die Kinder und die beiden Frauen, erschreckte.

Noch einmal massierte Matzkala Bokans Körper, klopfte ihn mit den Fäusten ab und rieb mehrmals mit beiden Daumen gleichzeitig über seine Schläfen, als wolle sie auf diese Weise die Lähmung, die ihn erfasst hatte, einfach wegstreichen. Dann hieß sie den Verletzten ins Zelt auf das vorbereitete Bett aus geschälter Birkenrinde tragen und ihn dort in Felle einpacken.

Die Menschen schliefen stets nackt unter den Fellen, selbst bei größter Kälte im Winter. Unter den Schichten aus Tierhaut entwickelt sich bald eine angenehme natürliche Wärme, besonders, wenn man zuvor etwas Heißes getrunken hat. Bokan aber, so hatte sich Matzkala vorgenommen, sollte schwitzen, stärker noch als an den heißesten Tagen des Sommers, seine Starre, die bestimmt etwas mit der Kälte des Schneesturmes zu tun hatte, sollte auftauen, sein nur noch schwach glimmender Funke Leben endlich wieder zum Brennen kommen.

Darum flößte sie ihm den heißen Tee ein und freute sich, dass er schluckte. Aus dem gleichen Grund hatte sie ihn mit Schnee eingerieben, massiert und mit heißem Wasser gewaschen, darum lag er nun wie ein Säugling in mehrere Lagen von Fellen eingepackt: die Wärme, das Feuer, das er zum Leben brauchte, sollte in die erstarrte Hülle zurückkehren. Sie hatte beobachtet, wie sieche Rentiere bestimmte Kräuter kauten und daraufhin wieder genasen. Sie hatte auf das Verhalten anderer Tiere geachtet und es in Verhältnis zum Menschen gebracht. Sie brauchte ja nichts anderes zu tun, als bedächtig herumzuwandern oder bloß dazusitzen und zu beobachten, was um sie herum vorging. Matzkala war alt, sehr alt bereits, sie konnte es nicht mit letzter Gewissheit sagen, aber ungefähr erinnerte sie sich daran, Orchon, den Dorfältesten, bereits als kleines Kind gesehen zu haben. Sie musste also noch um einiges älter sein als er. Ja, so war das, und so war sie: Eine alte, eine uralte Frau, die kaum mehr nutzte und eigentlich viel zu lange schon auf dieser Welt war. So viele Menschen hatte sie überlebt, so viele …

Als die anderen ihr Zelt im Zelt verlassen und bereits zu ihren alltäglichen Aufgaben zurückgekehrt waren, kniete sie noch immer neben Bokans Lager und wachte über seinem kaum hörbaren Atem. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und mussten weggewischt werden, um anderen, nachfolgenden Platz zu machen. Die Farbe seines Gesichtes wirkte nicht mehr so bleich wie zuvor, ein leichtes Rot war sogar in seine Wangen zurückgekehrt. Bokan schwitzte, der Funke hatte zu glimmen begonnen, aber noch lange nicht so, wie Matzkala es sich wünschte. Er muss brennen, dachte sie und konzentrierte sich mit aller Kraft auf diese Vorstellung: er muss brennen!

Dies war vorerst alles, was sie für ihn tun konnte. Äußerlich war keine Verletzung festzustellen gewesen, nicht einmal eine Prellung oder ein Bluterguss. Dabei sollte er doch aus großer Höhe auf den Boden gestürzt sein … so hatten zumindest die Männer erzählt. Eigenartig, dass davon nicht das geringste Anzeichen zu erkennen war … Wie auch immer – sie konnte bei der Behandlung nur so Vorgehen, wie ihre Eingebung es ihr befahl. Und da fühlte sie eine abgrundtiefe, entsetzliche Kälte, eine gefrorene Leere, die sie erschauern ließ. Und die Notwendigkeit, mit Hitze dagegen vorzugehen. Er muss brennen, dachte sie, er muss brennen …

Wenn nur diese unheimliche Erstarrung seiner Lider nicht gewesen wäre, wenn sich nur seine Augen schließen ließen … Sie fühlte, dass ihn gerade dieser Zustand anstrengte und es ihm wesentliche Erleichterung bringen würde, wenn er die Augen schließen könnte. Schlaf würde ihm helfen. Aber es ging nicht, seine Lider blieben steif, seine Augen starr offen. Matzkala seufzte tief auf. So sehr sie auch im Erfahrungsschatz ihres langen Lebens herumkramte, ihr fiel kein vergleichbares Ereignis ein, keine Krankheit, kein Unfall mit solchen Zeichen. Wieder einmal spürte sie, wie begrenzt ihre Macht doch eigentlich war, wie gering ihr Wissen und wie grenzenlos und unbekannt die Vielfalt des Lebens. Sie kämpfte gegen dieses aufkommende Bewusstsein an, denn sie wusste genau: Würde es übermächtig in ihr, gab es für Bokan keine Rettung mehr, musste er sterben.

Ohne recht zu begreifen, was sie da tat, faltete sie ein Tuch zu einem schmalen Streifen zusammen, tränkte es in dem inzwischen abgekühlten restlichen Wasser und legte den Stoff über seine Augen. Komm zurück, zurück in diese warme, behagliche Jurte, in diesen warmen, atmenden Körper, lockte sie Bokans Seele, von der sie ahnte, dass sie weit geflogen und noch immer unterwegs in unbekannten Bezirken sein musste. Komm zurück …

*

Manchmal beleuchtet die Sonne die Dinge zu grell, dann achte ich nur noch auf die Schatten. Wenn ich dann meine Augen leicht zum Schielen verdrehe, ahne ich, dass irgendwo dazwischen die Wirklichkeit liegen muss.

Mit angehaltenem Atem spähen! Eine geraume Weile lag Bokan schon so, sog lautlos die Luft ein, hielt sie so lange wie möglich in seinen Lungen, entließ sie ebenso geräuschlos und hielt dabei seinen Körper unter Kontrolle. Nichts sollte sein Spähen stören. Er kauerte neben Uniak und Reijo am Baumstamm und starrte ziellos auf die Lichtung. Vielleicht tauchte es bald auf, es musste einfach kommen, seit Stunden spürte er bereits seine Gegenwart …

Was es nur war, dieses Etwas, das ihm seit heute Morgen unsichtbare Signale schickte? Er wusste es nicht. Irgendein Tier, ein größeres Tier … eine Elchkuh, eine Bärenmutter mit Jungen? Es musste ein weibliches Tier sein, sagte ihm sein Instinkt, ein großes, mächtiges weibliches Tier … aber was?

Uniak und Reijo hatte er nichts von diesen Ahnungen gesagt. Ihnen ging es allein um Jagdbeute. Ein Auerhuhn und zwei Zobel … Gut für drei Jäger, aber nicht gut für einen ganzen Stamm! Und der Stamm brauchte Fleisch. Die Rentiere sollten nicht angerührt werden, hatte der Älteste entschieden.

Die Herde war seit dem Hungerwinter kleiner geworden und brauchte Schonung. Also mussten die Jäger Beute machen. Ein Elch wäre genau richtig, warum bloß hatten sie gestern seine Spur im Schnee verloren? Der Stamm wartete auf Nahrung, einen weiteren Hungerwinter würden viele nicht überstehen. Wie lange würde der Winter dieses Mal dauern, wie kalt würde er werden, wie hart und entbehrungsreich?

Bokan spähte. Nichts rührte sich auf der Lichtung. Der Wind stand fast still und jetzt brachen sogar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Zwei grauschwarze Nebelkrähen flatterten über einer Baumwurzel, ließen sich dort nieder und stolzierten den Stamm entlang, der rotbraun und schrundig aus der geschlossenen Schneedecke ragte. Der Schnee glitzerte bläulich, dort, wo das Sonnenlicht auftraf, tanzten winzige Irrlichter. Uniak schlief fest und auch Reijo saß mit geschlossenen Augen. Gleichmäßig hob und senkte sich seine Brust. Wieder sog Bokan die kalte Luft ein, ließ sie langsam durch seine Nase strömen und bis in den Kopf hochsteigen. Im Unterschied zu seinen Begleitern fühlte er sich hellwach und ausgeruht. Weit schien sein Blick zu reichen und noch um etliches weiter jenes tastende Fühlen in ihm, das lauschend auf der Lauer lag.

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke und brachte seinen Puls kurzfristig zum Stillstand: Vielleicht war dieses mächtige weibliche Tier, dessen Nähe er schon die ganze Zeit über spürte, gar nicht als Jagdbeute, sondern ausschließlich für ihn allein bestimmt? Aber wenn nicht als Beute – wozu dann? Bokan schloss einen Moment lang die Augen und horchte in sich hinein. Wollte ihm das Tier etwas sagen? Er hörte dicht neben sich ein schnaubendes, schmatzendes Geräusch, schrak auf, sprang auf die Beine, blickte sich suchend um … nichts.

Plötzlich glaubte er, die geheimnisvolle Botschaft klar zu verstehen … sie kam von der Mutter aller Tiere, der großen Tier-Mutter und sie sagte: Konzentriere dich auf die Lichtung. Siehst du den einzelnen großen Baum dort, die mächtige Kiefer, die als einzige von allen dem Sturm getrotzt hat und noch immer ihre Äste reckt? Kein Schnee liegt darauf, der Sturm hat ihn abgeweht … Dies ist der Weltenbaum, das Ziel deiner Sehnsucht …

Während Bokan die Stimme vernahm, knackte es zu seiner Linken im Unterholz und als er den Kopf in die Richtung des Geräusches drehte, trat dort ein weißes Rentier hervor. Das Tier sah ihn mit leuchtenden Augen an und er versank augenblicklich in den schwarzen Tiefen dieses Blickes. Das Tier hob witternd den Kopf und scharrte mit einem Vorderhuf im Schnee. Dann lief es los, direkt auf die riesige Kiefer zu und im Vorbeilaufen wurde Bokan gewahr, dass es acht Beine hatte.

Jetzt hielt ihn nichts mehr. Mit einem lauten Schrei, in dem sich seine Freude und seine Verwunderung mischten, löste sich seine Erstarrung. Es ging alles so schnell: Er sah, dass Reijo hochschreckte und instinktiv den Bogen hochriss, während seine rechte Hand zu den Pfeilen im Köcher fuhr.

»Nicht schießen, siehst du nicht, dass dieses weiße Ren acht Beine besitzt? Es ist die Mutter der Tiere!«, rief Bokan und fiel dem Freund in den Arm. Er sah Reijos Gesicht und merkte schlagartig, dass er nichts von alldem verstand. Dann rannte er los. Mit hastigen Schritten jagte er dem weißen Rentier nach, mit großen Sprüngen und Sätzen. Er musste es einholen und war tatsächlich plötzlich bei ihm, ohne recht zu begreifen, wieso. Auf den Rücken des Tieres schwang sich Bokan und das weiße Rentier sprang auf und flog der gewaltigen Kiefer entgegen … Aus dem Lauf heraus stieg es auf in die Luft und lief den Stamm des Weltenbaumes hinauf bis zur allerhöchsten Spitze. Dort aber hielt es nicht inne, sondern sprang direkt in den Himmel hinein. Ein Regenbogen tat sich vor ihnen als Brücke auf, die diente dem rasenden weißen Ren als Pfad. Jetzt jagte Bokan auf dem Rücken des Tieres durch die Wolken dahin.

»Hoh!«, rief Bokan und Worte, deren Sinn er nicht recht verstand, flössen ihm wie von selbst von den Lippen:

»Ren zum Reiten, Ross zum Fahren,

Sei mein Sturmwind, bestes, kühnes Reittier.

Zum erhabenen Ort hoch

soll geleiten dich beschwörend

deine kühne Mutterseele!

Sei mein feines Ohr, mein scharfes Auge,

meine Ahnung und mein Mut,

großes Reittier, weißes Ren,

sperr den bösen Geister-Weg,

werd nicht schwankend,

werd nicht schwach!

Jag, verfolg sie, reib sie auf,

sei das beste Reittier auf dem Opferweg!«

Diese Worte kamen ihm gänzlich ohne sein Zutun, als hätten sie lange in seiner Kehle wie Eisklumpen gehockt, die nun die Frühlingssonne zum Auftauen brachte und als Schmelzwasser hervorquellen ließ. Aber was bedeuteten sie, wo war er, was geschah eigentlich mit ihm?

Es gab keine Möglichkeit, darüber nachzudenken, zu schnell ging die rasende Fahrt. Bokan hielt sich an der zottigen Halsmähne des weißen Rens fest, er lag auf den Körper des Tieres gepresst, seine Geweihstangen durchpflügten die Luft. Seine …? Ja, seine, denn er war mit einem Mal selbst das Ren. Und er hatte längst den Regenbogen verlassen und flog nun über eine grüne blühende Sommerlandschaft, die im Schein eines übernatürlich gleißenden Lichts unter ihm lag. Dies waren längst nicht mehr die endlosen Wälder der Taiga, sondern sanft geschwungene Hügel und Hänge mit niedrigem Bewuchs und kahlen Felsrücken, die wie schlafende Untiere aus dem Grün der Wiesenhänge herausbrachen.

Bokan glitt langsamer, um die Schönheit der Landschaft zu genießen. Nie zuvor hatte er solche Täler und Hügel gesehen, fremd waren ihm die Blumen und Schmetterlinge, der Duft der Blüten und Wildkräuter, der Gesang der Vögel im Buschwerk. Dies war nicht mehr seine bekannte, vertraute Welt, sondern eine andere, eine, die die Sinne betörte und ihnen mancherlei Streiche spielte … zum Beispiel dort unten auf der Spitze des grauen Felsrückens, stand dort nicht winzig klein ein winkender Mensch? Bokan stellte die Arme in der Luft quer, um die Geschwindigkeit seines Fluges noch weiter zu drosseln. Er war nun kein Rentier mehr, sondern ein weißer Adler und er schwebte, immer engere Kreise ziehend, langsam tiefer und tiefer zu Boden. Dann sah er sie: Kaira, seine kleine Schwester, die er eigenhändig aus Matzkalas Jurte getragen hatte …

»Kaira!«, rief er, »kleine Schwester, was tust du hier?«

Sie hob grüßend die Hand, sah ihn aus dunklen unschuldigen Augen an und dieser Blick fuhr Bokan wie ein Messerstich ins Herz. Er stand bei ihr und wollte sie an sich ziehen wie früher, doch sie wich ängstlich vor ihm zurück und machte Zeichen, er solle ihr folgen. Warum sprach sie nicht, Kaira, seine kleine geliebte Schwester, machte sein Anblick sie stumm? War ihr das Sprechen verboten worden in dieser ansonsten so wunderbaren Welt?

Wieder winkte Kaira, da folgte er ihr. Er lief hinter ihr her bis zum Rand des Felsrückens. Als sie die Kante erreichten, deutete sie hinab und machte Anstalten zu springen.

»Nein!«, schrie Bokan. Er versuchte sie festzuhalten, aber ihr kleiner, schmaler Körper entglitt seinen Händen, sie stürzte an ihm vorbei in den Abgrund. Bokan zögerte keinen Moment lang. Er sprang ihr nach, doch diesmal gestaltete sich sein Flug alles andere als schön und angenehm. Er war nun kein Rentier mehr und auch kein stolzer Adler, sondern ein schwarzer Klumpen Erde, feucht und schwer vom Regen, nass wie Torf, vollgesogen mit Angst und mit jener Art Schrei, der anfangs schmerzhaft schrill ist und schließlich lautlos wird, stürzte er eine endlose dunkle Tiefe hinab.

Die Dunkelheit wollte nicht enden und auch nicht der Fall, er befand sich lange in diesem Zustand, bis er plötzlich spürte, dass sein Körper nicht mehr fiel und auch nicht schwebte, sondern irgendwo angekommen sein musste. Aber wo war er? So sehr er seine Augen auch anstrengte, ringsum war kaum etwas zu erkennen. Lag er in einer schwarzen, lichtlosen Hölle? Nach und nach schälten sich Konturen aus der Finsternis heraus und er sah, dass er sich in einem uralten, schattigen Bergwald befand, in dem die Stämme der Bäume so hoch waren, dass sie den Himmel berührten und die Laubkronen so dicht, dass nie ein Sonnenstrahl durch ihr Dach fiel. In diesem dunklen, kalten Bergwald waren die Hungergeister zu Hause und mancherlei Geister und Dämonen von schlimmer Gestalt. Eine Gruppe von ihnen hatte ihn ausgemacht und griff ihn an, sosehr er sich auch im Laubboden zu verstecken und ihrem gierigen Zugriff zu entziehen versuchte. Sie umringten ihn tanzend und sangen hämische Lieder, gehässig waren ihre Worte und gemein ihre Absicht. Bokan hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, doch ihr Gesang und ihr Geschrei drangen dennoch zu ihm durch. Er wollte auf ihre Lieder nicht hören und verstand schließlich doch ihren Sinn: »Gib uns die Skelette deiner Verwandten!«, schrien sie, »wir wollen uns daraus Kleider machen. Wo hast du das Gerippe deiner Mutter gelassen, wo das deines Vaters? Warum hast du uns deine kleine Schwester vorenthalten? Ihr habt sie ins Feuer geworfen und ihre Knochen sind zu Asche verbrannt … wie sollen wir jetzt unsere Kleider nähen? Besorge uns andere Körper, Knochen von deinen Freunden, gib uns dein eigenes Gerippe, dann lassen wir dich in Ruhe und du kannst ziehen!«

»Nein, nein!«, schrie Bokan. Mit Händen und Füßen um sich schlagend und tretend, kämpfte er gegen die Geister an. Doch nie erwischte er einen von ihnen und ihr Gesang hörte nicht auf. Da bäumte sich Bokan auf wie ein Rentier zum Sprung, breitete seine Arme aus wie ein Adler und warf sich mit letzter und äußerster Kraft in die Luft. Er hörte den Sturmwind heulen und sah statt der Schwärze plötzlich das Gegenteil – eine Wand aus blendend weißem Schnee. Auf die raste er zu und schlug schließlich auf. Von der Wucht des Aufpralls wurde sein Bewusstsein zurückgeschleudert und versank in Welten, die noch ferner als der kalte Bergwald, die blühenden Hänge und Hügel und der Flug des weißen Rentiers über den Regenbogen waren …

*

Warmes Halbdunkel und ein schmaler Streifen Licht – der rötliche Widerschein von zuckendem Feuer … Rauch ist in der Luft, der harzige Geruch glimmender Kiefernwurzeln. Und wenn man genau hinhört und sich darauf konzentriert, ist auch ein Knacken und Prasseln auszumachen … jetzt sogar, weit entfernt, Windgeräusche, etwas flattert, Schnee stiebt auf und rieselt gegen eine gespannte Tierhaut. Es klingt wie leises Trommeln … Und heulen nicht irgendwo da draußen die Schlittenhunde?

Ganz nah aber, erschreckend nah plötzlich – das Atmen von Menschen. Wo sind sie, liegen sie am Feuer und vor allem: wer sind sie? Ein vergeblicher Versuch, das Gesichtsfeld zu ändern … Unmöglich, schwer wie Felsgestein ist der Kopf und unterhalb des Mundes überhaupt kein Gefühl. Also bleibt der schmale Lichtstreifen genau dort, wo er ist, Stunde um Stunde, von einer Ewigkeit zur anderen …

Etwas schält sich aus dem Blickschleier heraus: verschwommene Konturen, weiße Haut, gerundete Körperformen, eine Schulter, eine Achselhöhle, eine weibliche Brust. Und Haar, langes, schwarzes Haar fließt über die nackte Haut, verdeckt sie, umspült die Schulter wie einen runden Kiesel im Wasser. Der Widerschein des Feuers tanzt über die Haut, färbt sie rot, lässt sie glühen und leuchten …

Wieso schlägt die Trommel plötzlich so laut, dumpf bis in den Kopf hinein? Ein versteinerter Kopf, der nutzlos daliegt, schwer wie ein Berg und abgetrennt vom übrigen Körper. Nur aus diesem schmalen Streifen Licht besteht die Welt … Haut, bleib da, Brust, lass dich sehen, Haar, öffne den Vorhang …

Ich liege in der Höhle meines Schädels und blicke hinaus in die Welt. Aber wer bin ich, tief drinnen?

Lauter die Trommel und stärker der Atem, der nun bereits den Wind übertönt. Hände fassen in den Lichtstreifen hinein, packen die Schulter, streicheln die Brust, zwischen dem schwarzen Haar öffnet sich blutrot ein Mund. Und ein Schatten fällt über das Bild, die Erde bebt, ein Berg bäumt sich auf, stülpt sich über den Körper der Frau, ihre weiße Haut verschwindet unter dunklem Fell …

Noch immer die Trommel und alle Sinne bis zum äußersten angespannt, unmöglich, die Augen zu schließen, obgleich im Lichtstreifen nicht mehr viel zu erkennen ist außer Nuancen von Dunkelheit, ein wogendes, zottiges Fell … der Herr der Rentiere besteigt eine Frau, er facht ihren Atem zum Wind an, lässt sie auf eine Weise stöhnen, die irgendwo zwischen Schmerz und Wollust liegt. Und die Hungergeister – sie schweigen vor Ehrfurcht. Vor der Kraft des Herrn der Rentiere und der gewaltigen Lust dieser Frau weichen alle Dämonen zurück, lösen sich auf im Rauch, fliehen vor der Wärme des Herdfeuers und dem Schweiß unter den Felldecken. Geister sind kalt, sie vertragen die Hitze des Lebens nicht …

Dieses Bild erscheint im Lichtstreifen, bleibt für eine zuckende Ewigkeit in der Erinnerung hängen, dann kommt wieder die Dunkelheit …

*

Reijo war so tief in seine Arbeit versunken, dass er aufschrak, als plötzlich jemand neben ihm stand und die Hand auf seine Schulter legte. Es war Orchon, der Dorfälteste. Reijo lächelte den alten Mann an und hob sein Werk hoch, damit es der Alte betrachten konnte. Es war eine fast fertiggestellte Axt. Der Schaft bestand aus einem gebogenen Stück Rentiergeweih, die Klinge aus einem flachen Stein, an dem Reijo lange mit Sand, Schnee und einem anderen Stein geschliffen hatte. Nun war sie geschärft und konnte mit Lederschnur an den Schaft gebunden und später mit Birkenharz verklebt werden. Reijo hatte sich mit dem Schaft besondere Mühe gegeben. Zunächst hatte er lange ein geeignetes Geweihstück ausgesucht, das gut in der Hand lag. Dann hatte er mit dem Feuersteinmesser ein Muster in den Schaft graviert, ein Wellenband mit Andeutung einer Spirale. Dies war Reijos Zeichen, jeder sollte sofort erkennen, dass diese Axt Reijo, dem Jäger, gehörte.

Der Alte nickte beifällig. »Eine gute Arbeit«, lobte er. »Wenn du damit zuschlägst, werden die Bäume fallen, als habe der Blitz sie getroffen.«

»Ich hoffe es«, antwortete Reijo. »ln ein paar Tagen wird die Axt so weit sein, dass ich sie ausprobieren kann.«

Orchon blickte zum Himmel, sein Blick schweifte von den Wolken über das Zeltdorf und von dort zum Waldrand. Der Platz auf der geschützten Ebene inmitten der Taiga war als Winterlager gut gewählt. Die Rens fanden genug Nahrung, wenn sie im Wald die Schneedecke aufwühlten, um die Flechten und Moose freizubekommen. Abends kehrten sie aus Angst vor den Wölfen freiwillig zum Lager zurück und scharten sich um die Jurten. Es war gut, an einem solchen Platz bleiben zu können und nicht ständig weiterziehen zu müssen …

Orchon hob erneut witternd den Kopf. Die Luft schmeckte anders heute. Es lag bereits eine leichte Ahnung von Frühling darin. Dieser Winter war lang, aber nicht übermäßig hart gewesen, der Stamm, die Herde hatten ihn gut überstanden.

»Wie geht es Bokan?«, fragte der Alte.

»Sein Zustand ist unverändert«, antwortete Reijo, »er liegt noch immer bei Matzkala in Uniaks Jurte. Als ich gestern nach ihm sah, erkannte er mich nicht. Er scheint niemanden zu erkennen, obgleich seine Augen nicht mehr so starr sind und sich hin- und herbewegen wie bei einem Gesunden.«

»Was ihm bloß fehlt?«, brummte Orchon. »Ob er jemals wieder herumlaufen wird wie früher?«

»Matzkala sagt, er befände sich auf der Schwelle zwischen der Welt hier und dem Jenseits …

Sie versucht alles, um ihn zu uns zurückzuholen, aber die Wirkung ihrer Medizin ist begrenzt. Die Geister halten an Bokan fest, dagegen kämpft sie an … Die Leute reden schon über sie …«

»Was reden sie?«

»Nun, sie machen sich darüber lustig, dass sie jede Nacht neben ihm auf dem Lager liegt …

Manche sagen, Matzkala habe nun endlich einen Geliebten bekommen …«

»Die Leute reden viel, wenn die Abende lang sind«, antwortete Orchon. »Und über Matzkala wurde schon immer geredet, schon als ich Kind war, sprachen die Leute über sie. Das meiste, was gesagt wird, ist dummes, wirres Zeug.«

Reijo nickte. »Du hast bestimmt recht. Aber es ist ja nicht nur die Tatsache, dass Matzkala sein Lager teilt … es schlafen auch noch andere Frauen im Zelt, hübsche, junge Frauen …«

Orchon bedachte den Jäger mit einem kritischen Seitenblick und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

»Es schlafen immer viele Menschen in einer Jurte. Ist das bei dir und deiner Sippe nicht so? Hat nicht Bokan in eurer Jurte geschlafen, bevor die Sache passierte?«

»Ja, das stimmt … Und doch ist es jetzt etwas anderes. Uniak sagte, er habe es mit Ruska, seiner Frau, getrieben und als er einmal zwischendurch aufsah, habe er direkt in Bokans Augen geblickt … Verstehst du: Niemand sieht zu, wenn es ein Paar miteinander treibt, aber Bokan soll dagelegen und durch einen Schlitz im Vorhang von Matzkalas Lager alles genau beobachtet haben. Mit offenen Augen hat er dagelegen und zugesehen …«

»Bokan ist krank. Seine Augen sind seit dem Unfall meistens offen …«

»Du hast recht, obwohl er sie in letzter Zeit auch schließt und dann wohl zu schlafen scheint … Aber Uniak sagt, er habe sich richtig erschrocken, so unheimlich sei es gewesen. Und Uniak war schließlich immer schon Bokans Freund. Wenn selbst er sich fürchtet …«

»Ich glaube, du übertreibst«, sagte Orchon, »ihr übertreibt alle, der Winter dauert schon lange, die Dunkelheit regt eure Phantasie an … Ich halte es für unmöglich, dass Uniak sich fürchtet. Uniak ist jung und mutig, er hat mit dem Bären gekämpft vor zwei Wintern, ihn mit der Stoßlanze getötet und ohne Wunden überlebt. Ein solcher Mann fürchtet sich nicht so schnell, schon gar nicht vor einem Kranken, der sich nicht rühren kann …«

»Aber …«

Der Älteste hob die Hand. »Schweig still«, sagte er. Seine Stimme klang leicht verärgert. »Rede mir nicht von etwas, das andere denken und fühlen. Sprich nur von dem, was du selbst erlebt hast … Du hast ihn doch besucht und auf seinem Lager liegen sehen … Fürchtest du dich auch vor Bokan?«

»Nein …«, antwortete Reijo zögernd. Aber so ganz war er sich nicht sicher dabei. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn Bokan statt bei Matzkala noch immer in seiner Jurte schliefe und er nachts in seine starren Augen blicken müsste. Ob er es dann noch immer ungestört mit Inna treiben könnte … ? Warum – und diese Tatsache fiel ihm erst jetzt auf – hatte Bokan sich eigentlich noch keine Frau genommen? Es gab doch ein, zwei Mädchen im Stamm, die dafür in Frage kamen … Und nun befand er sich in diesem Zustand und teilte sein Lager mit einer Greisin …

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Wie weit schon der seltsame Unfall zurücklag und wie rasch man sich an die Folgen gewöhnen konnte …

»Heute Nacht wird es Schnee geben«, sagte Orchon und deutete auf die Wolken.