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Gilgamesch, der ruhmreiche Held und Liebling der Götter, erfährt einen Schicksalsschlag, der sein bisheriges Denken und Handeln von Grund auf verändert. Er lässt sein Amt als König von Uruk ruhen, vergisst alle Pläne und begibt sich, wie ein Bettler gekleidet, auf Wanderschaft. Verzweifelt bittet er unterwegs Menschen, Geister und Fabelwesen um Rat. Er muss gefährliche Abenteuer überstehen, bis er endlich zur Insel der Unsterblichen gelangt. Dort angekommen, erfährt er von Überlebenden der Sintflut erstaunliche Dinge. Ihm werden Aufgaben gestellt, die kein Mensch zu lösen vermag. Auch Gilgamesch scheitert, bekommt aber von der gnädig gestimmten Ahnfrau eine letzte Chance. Sie erzählt von einem geheimnisvollen Kräutlein, das auf dem Meeresboden wächst und ewiges Leben schenkt. Sofort macht er sich auf, um nach der richtigen Stelle zu suchen. Er findet sie auch, aber was ihm dann widerfährt, zerschlägt alle Hoffnung und stürzt ihn noch tiefer in einen Abgrund der Gefühle. Vom Menschen zum Halbgott geworden, fällt er zurück ins einfache Leben. Aber das gestaltet sich völlig anders als alles, was er bisher kannte. Auf seiner magischen Reise zum Licht hat er sehr viel erfahren und gelernt. Er versucht, das gesammelte Wissen auf bestmögliche Weise umzusetzen. Wird es ihm gelingen? Gilgamesch: Reise zum Licht, ist Band 2 des Gilgamesch - Epos von Harald Braem Band 1: Der Löwe von Uruk
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Inhaltsverzeichnis
Drittes Buch
Viertes Buch
Danksagung
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Erstausgabe Gesamtwerk
© R. Piper GmbH & Co. KG, München 1988
Überarbeitete Neuauflage in 2 Bänden
© Harald Braem und Elvea Verlag 2020
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf, auch teilweise,
nur mit Genehmigung des Verlages
weitergegeben werden.
Autor: Harald Braem
Covergestaltung/Grafik: ELVEA
Layout: Uwe Köhl
Projektleitung
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Harald Braem
Gilgamesch
Band 2
Reise zum Licht
Roman
Der Autor
Harald Braem, geboren 1944 in Berlin, war Professor für Kommunikation und Design an der Fachhochschule Wiesbaden und lebt heute in Nierstein am Rhein und auf der Kanareninsel La Palma. Jüngste Veröffentlichung: ›Die abenteuerlichen Reisen des Juan G.‹ im Elvea Verlag 2020.
Weitere Informationen: www.haraldbraem.de
Der alles schaute bis zum Erdenrande, Jed’ Ding erkannte und vor allem wusste, Verschleiertes enthüllte gleichermaßen, Der reich an aller Weisheit und Erfahrung, Geheimes sah, Verborgenes entdeckte, Verkündete, was vor der Flut geschah, Der ferne Wege ging bis zur Erschöpfung, All seine Müh’ auf einen Stein gemeißelt – Er baute des umwallten Uruk Mauer Rings um Eanna, den geweihten Tempel. Vorspruch zur assyrischen Version des Gilgamesch-Epos, in einer Übersetzung von Hartmut Schmökel
Weißt du nicht, dass die Bäume der Reichtum eines Landes sind?
Alter babylonischer Sinnspruch
Je mehr der Glanz der Dinge blendet, desto blinder wird das innere Auge des Menschen.
Ausspruch Enkidus nach einer freien Übersetzung der 3. Tafel des Gilgamesch-Epos
Das Land, das weite, zerbrach wie ein Topf. Einen Tag lang wehte der Südsturm, eilte dreinzublasen, die Berge ins Wasser zu tauchen, wie ein Kampf zu überkommen die Menschheit. Nicht sieht einer den anderen, nicht sind die Menschen erkennbar im Himmel.
Vor dieser Sintflut erschraken die Götter …
Aus der 11. Tafel des Gilgamesch-Epos, aus dem Akkadischen übersetzt von Albert Schott
Ein Rückblick auf das, was bisher geschah:
Gilgamesch aus Uruk, einer Siedlung am Euphrat im alten Sumer, ist ein junger Mann rätselhafter Herkunft. Ist er ein Mensch oder ein Halbgott? Darüber streiten sich die Leute in Uruk. Er besitzt eine starke Ausstrahlung, die jeden beeindruckt, er tut Dinge, die niemand sonst wagt. Träume weisen seinen Weg, und es scheint in den Büchern des Schicksals vorgeschrieben zu sein, dass er vom Volk als Held verehrt und schließlich sogar zu König gemacht wird.
Sein ehrgeiziger Plan ist, Uruk zu einer richtigen Stadt mit Mauern, Türmen und Hafen zu machen, zu einem bedeutenden Marktplatz. Zielstrebig und durch die magische Kraft seiner Zaubertrommel gestärkt, beginnt er die Vision umzusetzen. Dazu gehört auch, die beiden widerstreitenden Parteien der Anu-Priester und der Dienerinnen des Ischtar-Kultes, die Venus verehren, harmonisch zu verbinden. Obwohl er insgeheim ein Mädchen namens Tehiptilla liebt, ist er aus politischen Gründen bereit, mit der Hohepriesterin Iluna die Heilige Hochzeit zu vollziehen.
Aber in Gilgameschs Seele herrscht kein Frieden. Unruhige Traumbilder suchen ihn heim. Er sehnt sich nach einem Freund, nach einem ebenbürtigen Partner. In dem Barbaren Enkidu findet er endlich die erhoffte Ergänzung. Mit ihm bricht er zu waghalsigen Abenteuern auf. Sie unternehmen eine Expedition zum Hermon-Gebirge im Libanon, um dort das wertvolle Zedernholz zu schlagen. Der furchtbare Dämon Chumbawa will das verhindern und kämpft mit den naturgewalten eines Vulkans gegen sie an. Doch auch hier zeigt sich, dass Gilgameschs Weg vom Schicksal vorgezeichnet ist. Gnädig gestimmte Götter helfen, das Ungeheuer zu bezwingen, und lasssen Gilgamesch als strahlenden Sieger nach Uruk heimkehren. Nur der getreue Enkidu muss dafür ein großes Opfer bringen …
Der Himmelsstürmer
Nach all den Strapazen der Reise war es eine Wohltat, sich voll und ganz dem Genuss hinzugeben: Gilgamesch warf die verschlissene Kleidung ab, badete ausgiebig und kleidete sich neu ein. Einen Purpurmantel mit goldverziertem Gürtel legte er um und setzte sich die Königsmütze auf. Solchermaßen verwandelt und mit den Insignien der Macht versehen, hielt er Hofstaat im neuen, geschmückten Palast. Die Gesandten befreundeter Städte lud er ein, hohe Beamte, Kaufleute, Dichter, Sänger und Schauspieler und natürlich die Vertretungen beider Tempel.
Die Tafel war festlich gedeckt und bot Speisen und Getränke vom Besten. Anagi und Kluschu, die zur Zeit besten Ringkämpfer der Stadt, traten zu einem Wettkampf auf, und betörend schöne Tänzerinnen aus dem Tempel der Ischtar schlugen mit ihrem Liebreiz und ihren anmutigen Bewegungen die Sinne der Gäste in Bann. Es gab nur glückliche, zufriedene Gesichter ringsum, und auch Gilgamesch lächelte, obwohl ihm innerlich gar nicht danach zumute war. Er hatte zuvor eine längere Unterredung mit Erenda gehabt, und der Inhalt dieses Gesprächs, das unter vier Augen stattgefunden hatte, bereitete ihm Sorgen.
Den Stand der Bauarbeiten betraf das nicht – hier waren Fortschritte erzielt worden, die sich sehen lassen konnten. Die Mauer war vollendet und umschloss die ganze Stadt. Auch die Tore und gut die Hälfte aller Bastionen waren fertiggestellt, so dass viele der Handwerker und Hilfskräfte nun für andere Arbeiten eingesetzt werden konnten. Da gab es neue Straßen zu pflastern, die Getreidespeicher sollten noch einmal vergrößert werden, und feste Häuser entstanden rings um den Markt, der nun eine eigene Mauer mit Toren besaß. Eine Stadt wollte Gilgamesch schaffen, wie sie in der Geschichte der Völker beispiellos sein würde. Viele Handwerker aus dem Umland waren nach Uruk gezogen, hatten sich Häuser gebaut und bildeten nun ein eigenes Viertel zu Füßen des Eanna. Mehrere neue, große Herbergen galt es zu bauen, damit die fremden Kaufleute mit ihren Karawanen dort übernachten und längere Zeit wohnen konnten. Nein, Uruk entwickelte sich glänzend, da gab es keinen Anlass zur Klage. Was ihm aber Erenda über die Aktivitäten Ilunas erzählt hatte, stimmte ihn eher bedenklich. Sie konnte es nicht lassen, sich in die Politik einzumischen und hatte während seiner Abwesenheit mehrere Empfänge für ausländische Fürsten gegeben, die angeblich Rat bei ihr suchten, wie man den Ischtarkult auch in ihren Ländern einführen und ausweiten konnte. Es hieß, auch im Norden und jenseits des Tigris würde es nun Tempel wie in Uruk geben, die von Hohepriesterinnen geleitet wurden und allesamt Iluna unterstanden.
Anus Verehrung hingegen wuchs nicht im gleichen Maße, wie Erenda betrübt feststellte. In Nippur betete man Enlil an, in Ur galt der Gottesdienst vorrangig Marduk, und wieder woanders waren lokale Gottheiten höher als Anu angesehen. Eschnunna befürchtete bereits, dass auf die Dauer ein Ungleichgewicht entstehen könne, das Uruk und dem Reich Sumer schaden könnte.
So pessimistisch schätzte Gilgamesch indes die Entwicklung nicht ein. Aber dass Iluna Einfluss auf die Politik der benachbarten Fürsten ausübte, war kaum noch zu übersehen. Der Ehrgeiz dieser Frau schien im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen zu kennen. Mit Diplomatie, Taktik und weiblichem Charme hatte sie es verstanden, beinahe unmerklich ein Imperium aufzubauen, das sich mittlerweile über ganz Sumer erstreckte und weit in die benachbarten Gebiete hineinreichte. Man munkelte, dass ihre Schatzkammern besser gefüllt seien als die des Königs. Was hatte Iluna vor: Wollte sie die alte, längst vergessene Priesterinnenherrschaft wieder errichten, ganz allmählich das weltliche Königtum abschaffen zugunsten einer Regierung, die ausschließlich von der Venus bestimmt war?
Erenda wirkte äußerst betrübt, als er über ihre jüngsten Erfolge berichtete: »Selbst die wilden Stämme der Lullumu im westlichen Irangebirge erwägen, den Ischtarkult zu übernehmen, obgleich sie sonst nur schlecht über Uruk denken. Eine Delegation ihrer Häuptlinge ist von Iluna empfangen und eine Woche lang im Tempel beherbergt worden. Tag und Nacht drangen Musik und Gesang aus ihren Gemächern, und als sie abzogen, gaben sie sich uns gegenüber wortkarg und wirkten wie Verschworene. Ich weiß nicht, was sie mit ihnen vereinbart hat, denn Iluna weiht uns nicht in ihre Politik ein. Sie benimmt sich wie eine heimliche Königin, die nur auf ihre Stunde wartet, um auch nach außen hin die Macht zu übernehmen. Sie sagte uns danach nur, dass die Lullumu weiterhin keine Abgaben an Uruk leisten wollen und auch am Handel mit uns wenig interessiert sind. Dagegen wollen sie einen Tempel in den Bergen bauen, der von einer der Priesterinnen Ilunas eingerichtet und geleitet werden soll.«
»Du bist, lieber Erenda, verzeih mir meine Direktheit, neidisch auf ihren Erfolg«, sagte Gilgamesch. »Wenn du ehrlich bist, so würdest du zugestehen, dass du auch für Eschnunna dort gern einen Tempel hättest und größeren Einfluss.«
»Das ist es nicht«, entgegnete Erenda, »ich bin zwar nach wie vor dem Anu verpflichtet und werde jetzt, da du wieder da bist und den Thron besser zu führen verstehst als ich, zurück in den Tempel gehen, wie Eschnunna es will. Aber glaube mir, ich habe in deiner Abwesenheit genug von Staatsgeschäften gelernt, um einschätzen zu können, dass uns aus Ilunas Machenschaften Nachteile erwachsen. Keine Abgaben wollen die Lullumu zahlen, nicht einmal Handel auf Uruks Markt betreiben – das kann nicht vorteilhaft für uns sein … Und ihre Gesichter haben mir nicht gefallen, als sie von Ilunas Mädchen begleitet durch die Straßen zogen und neugierige Blicke auf die Maueranlagen warfen. Nichts Gutes lag in diesen Blicken, sie gaben sich finster, fast wie Feinde … und dennoch verkehrt Iluna mit ihnen und zieht sie in ihr Vertrauen.«
Erendas Beschreibung der Ereignisse stimmte Gilgamesch nachdenklich. Trotzdem war er bereit, das Beste im Tun der Hohepriesterin zu sehen.
»Iluna ist die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden – es ist klar, dass sie bei allem, was sie tut, mehr an ihren Tempel denkt als an die Stadt. Wer wollte ihr das übelnehmen?«
»Dann denke an Tammuz und wie sie ihm mitgespielt hat«, gab Erenda zu bedenken.
»Erst liebte sie den bunten Vogel, holte ihn in ihren Tempel, gab ihm reichlich von allem, dass er sich bald selber wie eine Gottheit fühlte, und als er ihr ganz hörig war und seine Lieder nur noch ihr widmete, hat sie seine Flügel gebrochen, dass er vom Gram gebeugt in die Einöde zog und nur noch Gesänge dichtet, die die Herzen der Menschen schwer werden lassen.«
Gilgamesch wusste genau, worauf Erenda da anspielte. Er hatte die Geschichte von Tammuz und seinem schmachvollen Niedergang mitbekommen und sich im stillen ebenso wie viele Bürger von Uruk darüber empört. Tammuz war ein junger, hoffnungsfroher Dichter und Sänger gewesen, dessen Lieder die Leute sehr gern gehört hatten. Kein Fest hatte es gegeben, auf dem er nicht auftat und immer wieder seine Verse vortragen musste. Ja, sie wurden sogar abgeschrieben, auf Tontafeln übertragen und nachgesungen, selbst wenn er nicht dabei war. Ein Volkssänger war Tammuz, einer, der außerhalb der normalen Ordnung stand und dem man seine manchmal übertriebene Art und seine überschäumende Sprache verzieh. Als göttlicher Sänger der Ernte, des farbenfroh herbstlichen Laubes bezeichnete er sich, und niemand nahm ihm diese Überheblichkeit übel. Und dann war ihm seine Liebe zu Iluna zum Verhängnis geworden. Besser: Sie hatte angefangen, sich über ihn lustig zu machen, ihn als balzende Mandelkrähe bezeichnet, die den Blick für die Realität verloren habe. Er hatte dennoch nicht von ihr lassen können und schließlich hatte sie ihn mit Hohn und Spott aus dem Tempel geworfen, dass er in seiner Schande und Verzweiflung Uruk verlassen und in die Einöde geflohen war, wo seine Lieder traurig und immer trauriger wurden, bis nichts mehr von der Anmut seiner Verse übriggeblieben war.
Einen Gott des dahinwelkenden Pflanzenreichs nannten sie Tammuz nun, eine klagende, schwarze Krähe, die nur noch »kappi, kappi« rufen konnte, was soviel bedeutete wie »meine Flügel, meine Flügel!«
»Ja«, sagte Gilgamesch, »das stimmt, die Sache mit Tammuz wirft kein gutes Licht auf sie. Aber ist die Angelegenheit nicht längst vergessen, spricht man noch immer darüber?«
»Mehr denn je«, antwortete Erenda. »Je länger es her ist, desto verklärter sehen die Leute ihn. Tammuz ist zum Inbegriff aller Trauer geworden. Vergessen sind seine fröhlichen Lieder, die so leicht und heiter stimmten, statt dessen erinnert sein Name nur noch an Tränen und Qual. Auch mir wird bang zumute, wenn ich an Tammuz denke.«
»Irgendwann wird auch diese Wunde vernarbt sein, und die Leute werden sich einen anderen Dichter erwählen, der ihnen in Versen aus der Seele spricht. Ist nicht Sinnunni auch beliebt? Ich habe gehört, dass seine Hymnen große Zustimmung finden.«
»Gewiss, Sinnunni ist ein großer Dichter, wenn er auch eine ganz andere Sprache als Tammuz pflegt. Man kann sie schlecht miteinander vergleichen. Aber kannst du dich noch an Ischullanu erinnern? Ihm ist noch Schlimmeres mit Iluna widerfahren.«
Gilgamesch dachte an Ischullanu, und auch sein Schicksal stimmte ihn düster. Er war ein bedeutender Gärtner gewesen, der beste Palmgärtner des Königs. Auch ihn hatte Iluna betört und verzaubert. Jeden Tag brachte er Körbe mit frischen Datteln in den Tempel und deckte die Tafeln mit den schönsten Früchten und Blumen. Sie hatte ihn wohl geneckt, ihm Versprechungen gemacht, die sie nicht zu halten bereit war. Fast zum Wahnsinn hatte sie den Armen getrieben, der nur noch Augen für sie hatte und sich in ihrem Dienst aufrieb. Schließlich, als er sie auf den Knien bat, ihn zu erhören, hatte sie ihn beschimpft und geschlagen und schließlich in einen Frosch verwandelt, der in den Sümpfen wohnen musste. So hieß es jedenfalls, und es gab etliche, die bereit waren, dies zu beschwören und behaupteten, sie hätten ihn am morastigen Ufer des Euphrat sitzen und mit glasigen Augen quaken gesehen, dass es die Störche erbarme.
Dergleichen Geschichten gab es noch mehr, und sie alle – ob wahr oder erlogen – deuteten darauf hin, dass Iluna ein böses Spiel mit ihren Liebhabern trieb und ein Herz aus Stein haben musste. Keine guten Eigenschaften für eine Göttin, die vorgab, sich dem Gestirn der Venus verschrieben zu haben. Es konnte sein, dass alles, was im Zusammenhang mit Tammuz und Ischullanu erzählt wurde, furchtbar übertrieben war. Dennoch musste ein Kern von Wahrheit an der Sache sein. Auch Gilgamesch hatte sie schließlich kennengelernt und am eigenen Leib erfahren, wie vorsichtig man mit ihr umgehen musste. Er dachte an das, was in der Nacht der Heiligen Hochzeit geschehen war, an das, worüber er niemals reden wollte, und Zorn und Scham stieg ihm ins Gesicht. Hatte sie nicht auch mit ihm ihr Spiel getrieben? Warum musste sie beispielsweise die kleine Tehiptilla in die Wildnis zu Enkidu senden, wo es im Tempel so viele andere geeignete Mädchen gab? Das Orakel war schließlich sie. Sie konnte es auslegen, wie sie es wollte. Hatte sie das mit Tehiptilla absichtlich getan? Aber es gab noch mehr, was Erenda loswerden wollte: »Sie hat dich, Gilgamesch, betreffend gewisse Andeutungen gemacht, die mich hellhörig werden ließen. Vorsichtig solltest du sein, erhabener König, achtgeben solltest du auf ihr Ränkespiel. Ich rede nicht von dem, was Dumuzi geschah … Niemand weiß, ob wirklich Gift im Becher war, wie es die weise Ninsum öffentlich behauptet hat … Nein, mit dir scheint sie anderes vorzuhaben, etwas, das möglicherweise schlimmer noch ist. Sei wachsam, König, und habe stets ein Auge auf das, was sie tut.«
»Ich habe mit Dämonen gerungen, bin zum feuerspeienden Berg gezogen und hab den Chumbawa erschlagen«, sagte Gilgamesch leichthin, »wie sollte ich da vor einer Frau Angst haben?«
»Es ist keine gewöhnliche Frau«, sagte Erenda hartnäckig, »sie ist eine Göttin, die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden. Sie ist stark, klug und berechnend und zudem eine Zauberin …«
»Sollte sie es wirklich darauf anlegen, wie du behauptest, so wird sie in mir einen ebenbürtigen Gegner finden«, antwortete Gilgamesch.
»Ich danke dir dafür, dass du dir Gedanken machst und mir Ratschläge gibst. Aber sei getrost: Es droht keine Gefahr. Sie ist mir nicht überlegen.«
Aber er nahm sich vor, wachsam auf alles zu achten, was sie in der nächsten Zeit tat. Das Gastmahl bot eine gute Gelegenheit dazu, ihre Vorhaben zu erkunden. Nicht ganz ohne Vorbedacht saß er daher neben ihr an der Tafel.
Er wandte sich lächelnd an sie: »Man hat mir erzählt, dass du großen Einfluss auf die Stämme der Lullumu gewonnen hast. Wie ist es möglich, dass eine friedliche Taube wilde Bergziegen und störrische Steinböcke zu zähmen vermag?«
Iluna lächelte strahlend zurück. »Oh, es ist nicht immer die stürmische Wucht einer einzigen Woge, die Dämme zum Einsturz bringt. Viel eher höhlen stetige Tropfen den Stein und lassen ihn brechen, ohne dass sich der einzelne Tropfen anstrengen muss.«
Sie hob sich in ihrem Schmuck von den übrigen Mädchen ab. Fast durchscheinend war ihr Kleid und verdeckte doch raffiniert ihre Blöße. Alabasterfarben schimmerte ihre Haut an manchen Stellen des Gewandes hervor. Im offenen Haar trug sie einen Kranz frischer Frühlingsblumen. Es war schwer zu entscheiden, ob sie es waren oder ihre Haut, die den Duft eines blühenden Gartens verströmten.
»Ein Tempel soll dir zu Ehren in den Bergen errichtet werden …«
»Ja, Unigi wurde vom Orakel bestimmt, ihn zu leiten. Sie wird mit zwölf meiner Mädchen in die Berge des Iran ziehen.«
»Um den Lullumu Lust und Freude zu verschaffen?«
»Nein, um Ischtar Ehre zu machen und den siebenstrahligen Venusstern in die Seelen der Barbaren strahlen zu lassen, damit er sie zu Menschenwesen macht, derer sich die Götter nicht länger zu schämen brauchen.«
»Du hältst nicht viel von Barbaren?«, fragte Gilgamesch und dachte dabei an Enkidu, der zwar auch ein Barbar war, aber von dessen einfachem Wesen er viel gelernt hatte.
»Ganz im Gegenteil«, antwortete Iluna zu seiner Überraschung, »ich halte sehr viel von ihnen. Sie haben noch alles vor sich und können den ganzen Himmel gewinnen, während wir im Besitz des Wissens sind und beständig aufpassen müssen, um nicht durch Leichtsinn alles zu verlieren.«
»Doppeldeutig sind deine Worte. Glaubst du, dass Uruk etwas verlieren kann, jetzt, wo wir doch gerade erst am Anfang einer großartigen Entwicklung stehen?«
»Gerade dann. Am Anfang ist jeder Sprößling zart, der emporwächst, und ein einziger heftiger Windstoß kann ihm Schaden zufügen. Ist einmal ein kräftiger Stamm gewachsen, so bietet der Baum größeren Widerstand.«
Gilgamesch schmunzelte über ihren bildhaften Vergleich. Er musste aber auch zugleich an sein Abenteuer im Zedernwald denken. Kein Mensch in Uruk, nicht einmal Iluna, würde sich vorstellen können, wie es dort wirklich war. Hatte nicht auch die große sprechende Zeder einen festen Stamm gehabt, zudem den mächtigsten des ganzen Waldes, und hatte nicht auch sie weichen müssen und fallen unter seinen Hieben?
»Ich sehe, du machst dir Gedanken über Uruk. Seltsam, seit ich hier bin, spreche ich nur noch mit Leuten, die sich Sorgen über die Zukunft der Stadt machen. Gibt es so viel Anlass dafür?«
Iluna sah ihn an, und der Glanz ihrer Augen umtanzte ihn wie ein Irrlicht. Ihr Blick schien in ihn einzudringen, aber auf sanfte, unerhört behutsame Weise.
»Es gab einen Tag, da habe ich mir viel weniger Sorgen um Uruk gemacht«, sagte sie, »das war am Morgen nach der Heiligen Hochzeit.«
»Und warum?«, fragte Gilgamesch schwach. Ihr Blick – oder war es mehr ihre Stimme? – machte ihn trunken.
»Warum?«, lachte sie und schien plötzlich ein Paradiesvogel zu sein, dessen Zwitschern viel von seiner überirdischen Herkunft verriet.
»Warum? Weil es ein guter, ein hoffnungsverheißender Anfang war. Aber eben nur ein Anfang …«
Gilgamesch begann zu schwitzen. Sie lenkte das Gespräch auf einen Punkt, der ihm gar nicht behagte.
»Ja, die Götter waren zufrieden, die Menschen auch«, antwortete er ausweichend, »die Saat auf den Feldern ist prächtig gediehen. Voll mit Korn sind die Kammern unter dem Eanna …«
»Gilgamesch, du umschleichst mit deinen Worten wie eine hungrige Katze den heißen Brei«, sagte Iluna und legte ihre Hand auf die seine, »weißt du nicht, wovon wir beide eher sprechen sollten, als die Zeit mit Politik und Höflichkeiten zu vertun?«
Er wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich unter das Heer der Tänzerinnen gemischt, aber ein unsichtbarer Bann hielt ihn fest.
»So, wovon meinst du, sollten wir reden?«
»Davon, dass die Heilige Hochzeit nur eine symbolische war«, sagte Iluna, »und davon, dass wir eine richtige feiern könnten.«
Plötzlich war sie so dicht bei ihm, dass er das schmiegsame Fleisch unter ihrem Gewand spürte.
»Du solltest mein Gatte sein, Gilgamesch, mein Mann, und ich dein Weib. Ich will dir einen Wagen bespannen lassen, der aus Gold und Lapislazuli besteht, mit goldenen Hörnern aus Mondgestein. Vier dahinstürmende Maulesel sollen ihn ziehen, und er soll so schnell wie Schamachs Sonnenwagen sein. Unser Haus soll nach Zedernholz duften, und Türpfosten und Thronsessel sollen sich vor dir neigen. Könige werden vor dir das Haupt beugen, Gilgamesch, Fürsten und Edle des Weltenkreises im Staube knien. Alles Glück soll dir beschieden sein, am meisten aber von dem, was ein Mann sich auf dem Lager wünscht, in dem sein Weib auf ihn wartet. Komm, Gilgamesch, erst einen Schritt hast du getan, der dich den Göttern näherbrachte. Tu nun auch den nächsten und nimm eine Göttin zur Frau.«
Gilgamesch wusste keine Antwort. Wäre er ein leichtsinniger, törichter junger Mann gewesen, so wäre ihm die Antwort leichtgefallen, und er hätte keine Sekunde mit dem Ja gezögert. Aber er hatte vieles erlebt, was normalen Sterblichen nicht vergönnt ist, auch Dinge, die die Götter und ihr Wirken in einem anderen Licht erscheinen ließen. Er fühlte, dass er sich für immer ausliefern würde, wenn er zustimmte. Er würde sich selbst und seinen Träumen untreu werden, und das durfte nicht geschehen. Zudem war Iluna keine Frau, die sich einem König zum Weibe gab. Nein, sie würde selber regieren wollen und mehr fordern, als er zu geben imstande war. Er dachte an Tammuz, Ischullanu, Dumuzi und all die anderen …
»Ich verstehe dein Zögern«, sagte Iluna und verblüffte ihn mit ihrer Offenheit, »du hältst mich für herzlos, für ein männermordendes Ungeheuer, und ich habe wirklich selbst einiges dazu beigetragen, mir diesen Ruf einzuhandeln. Aber glaube mir – das meiste von dem, was sich die Leute erzählen, ist maßlos übertrieben und die Ausgeburt ihrer überschäumenden Phantasie. Du aber bist anders, du bist klüger und blickst weiter als die normalen Menschen. Und du weißt, dass ich genauso bin. Du und ich, wir beide gehören zusammen, wir sind vom gleichen Holz geschnitzt. Wenn wir beide uns zusammentun, können wir die ganze Welt verändern. Unsere Vereinigung ist ein Gebot der Vernunft. Aber nicht davon will ich reden, denn Vernunft ist eine Sache, Gefühle aber sind eine andere. Wenn du in meine Seele blicken könntest, Gilgamesch, könntest du sehen, dass ich innerlich brenne vor leidenschaftlichem Verlangen nach dir. Noch nie ist mir solches widerfahren, dass ich nur noch einen einzigen Wunsch in mir verspüre: Nimm mich zur Frau, Gilgamesch, mein Geliebter.«
»Ich … werde es mir überlegen, gib mir Bedenkzeit …«, sagte Gilgamesch.
Die Worte kamen ihm schwer über die Lippen, und schwer nur konnte er den Blick von ihr lösen. Nie zuvor, nicht einmal am Tag der Einsegnung im Tempel, hatte er so stark ihre Macht gespürt.
»Überleg es dir, Gilgamesch«, sagte sie mit einer Stimme, die nach Zimbeln und Harfe klang, »morgen erwarte ich dich im Tempel. Aber halte dich nicht im Vorraum auf, komm gleich in meine Gemächer, um mir deine Entscheidung mitzuteilen.«
Das Klingen der Saiteninstrumente nach einer langen Stille schreckte ihn auf. Er fühlte sich vom Sitz hochgezogen und von vielen Händen in das wirbelnde Spiel der Tänzerinnen gerissen. Schwankend bewegte er sich zwischen tausend duftenden Blüten und war wie ein Stück Holz, das in den Wellen des Euphrat treibt, ein wilder Sproß, den die Hand einer Göttin berührt hatte, um ihn aufzurichten und zu veredeln. Er tanzte mit den anderen, tanzte und wusste nicht einmal, für wen er das tat. Und manches Mal, wenn er aufblickte, trafen seine Augen die der Göttin, und ihr Blick ruhte voller Wohlwollen auf ihm.
Gilgamesch quälte sich schwer mit seinen Gedanken. Gewiss, Ischtars Werbung hatte ihm geschmeichelt, aber sie hatte ihm zugleich auch Sorge bereitet. Ein solcher Entschluss musste wohlüberlegt sein, von so weitreichender Bedeutung war er und würde alles in seinem Leben verändern. Und er konnte sich mit niemandem darüber beraten und keinem seine geheimen Ängste anvertrauen. Wirklich keinem? Doch, da gab es Enkidu, der ihm nicht nur ein treuer Freund, sondern auch ein stets zuverlässiger Berater war. Enkidu besaß die Gabe des inneren Auges, wie sonst wohl nur noch Ninsum, die weise Mutter. Er war nicht verblendet vom äußeren Schein, er reagierte oft naiv und unbefangen, wie es nur jemand kann, der den meisten Teil seines Lebens bisher außerhalb der Stadt und der Gesellschaft zugebracht hat. Er ging völlig anders an die Dinge heran und blickte ihnen dennoch auf den Grund. Mehr als einmal hatte Gilgamesch staunend festgestellt, wie treffsicher seine Voraussagen waren. In dieser Situation würde es gut sein, seinen Rat einzuholen.
»Enkidu, mein Bruder«, sprach er, »schwere Gedanken macht sich mein Kopf und mein Herz ist mir bang, denn ein Ruf hat meine Seele erreicht und dort Saiten berührt und zum Klingen gebracht, die unverständlich und neu für mich sind.«
»Was ist es, was dich bedrückt? Sage es mir, damit ich dir helfen kann«, sagte Enkidu.
»Iluna wirbt um mich, sie umschmeichelt mich wie eine Katze, die Milch und Zärtlichkeiten erwartet … und doch habe ich Angst davor, ihr zu geben, was sie verlangt. Sie buhlt um mich als Frau und will mein Weib werden. Ihr Gatte soll ich werden und neben ihr auf dem Thron sitzen und die Herrschaft mit ihr teilen.«
»Ist es nur das, was dir Sorgen macht?«, fragte Enkidu, »dass du einen Teil deiner Macht abgeben sollst und nicht mehr frei wie bisher Entscheidungen fällen kannst?«
»Nein, das ist es nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es das sein kann, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es das nicht ist, was mich ängstigt.«
»Was ängstigt dich dann? Befürchtest du, du könntest mir fremd und unsere Freundschaft weniger wichtig werden?«
»Nein«, rief Gilgamesch, »auch das ist es nicht. Was auch geschieht, nichts vermag uns beide zu trennen. Viel eher ist es der Gedanke an Iluna selbst, der mich befangen macht und trübe Stimmung in mir aufkommen lässt.«
»Dann liebst du sie nicht«, stellte Enkidu einfach und nüchtern fest.
»Was weißt du von Liebe? Du redest darüber, als wüsstest du genau, was das ist, und hast das Gefühl wahrscheinlich noch gar nicht erlebt.«
»Doch«, sagte Enkidu, »ich liebe dich und wohl auch mich selbst. Ich liebe den Geruch blühenden Halfagrases und den scharfen Moschus des Viehs auf der Weide, ich liebe die Steppe mit ihren unzähligen Rätseln und den freien Blick, den man über weite Ebenen hin hat. Ich liebe es, am Morgen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zu sehen und nachts den Schein des Mondes und die leuchtenden Sterne. Ich liebe den Geschmack frischen Wassers aus einer sauberen Quelle und den Hauch des Windes auf meinem Körper. Ich liebe das Nichtstun, ausgestreckt in der Wärme oder unter schattigen Palmen zu liegen und den Liedern der Vögel zu lauschen. Ein wenig liebe ich auch diese Stadt und das angenehme Leben darin. Am meisten aber liebe ich es, von Menschen umgeben zu sein, die fröhlich ihr Handwerk tun und lachen dabei, wo andere fluchen.«
»Du zählst alles Dinge auf, die auch mir gut gefallen«, sagte Gilgamesch, »aber hat das wirklich etwas mit Liebe zu tun? Was bedeutet Liebe für dich?«
»Etwas nah sein und sich seiner Nähe erfreuen … Spürst du das, wenn du mit Iluna zusammen bist?«
»Nein«, antwortete Gilgamesch wahrheitsgetreu und dachte nach, »nein, eigentlich nicht. Eher das Gegenteil: Ich bin froh, wenn ich wieder von ihr gehe. Und doch … ihre Schönheit reizt mich, ihre Gebärden, ihre weiche, wohlklingende Stimme verzaubert mich, vor allem ihre Augen ziehen mich an. Ein seltsames Wechselspiel ist es, was mir in ihrer Nähe widerfährt: Ein Teil möchte ihr nah sein, der andere schreckt vor ihr zurück und will fliehen.«
»Du hast gesagt, was dir an ihr gefällt. Wovor aber weichst du zurück?«
»Vor dem Wissen, oder besser: der Ahnung, dass sie zwei Gesichter besitzt. Eines, das sie aufsetzt wie eine Maske, um zu gefallen und zu erobern, und eines, das ich noch nie sah, das ich mir aber schrecklich vorstelle – ihr wahres Gesicht, und das wird kalt sein wie ihre Seele.«
»Dann ist sie es, die uneins ist mit sich selbst. Du reagierst nur darauf, und das ist ganz normal. Wenn ich vorhin über den Geschmack des Wassers und den Geruch in den Feldern sprach, so habe ich es genauso gemeint: Ein Wasser, das schal schmeckt und das man nur zur äußersten Not trinkt, um den ärgsten Durst zu stillen, kann ich ebensowenig lieben wie Tiere, die widernatürlich nach Weihrauch riechen und gesalbt sind, um als Opfer in den Tempel gebracht zu werden. Entweder etwas ist so, wie es ist, richtig, dann gefällt es mir, oder es ist verfälscht und nicht richtig. Eine solche Sache kann man nicht lieben.«
»Du sprichst wie ein Weiser«, lachte Gilgamesch, »obwohl es einfache Bilder sind, die du als Beispiel heranziehst, kann ich verstehen, was du meinst und sie auf mich übertragen. Du behauptest also, dass ich Iluna nicht liebe und darum besser die Finger von ihr ließe? Auch nicht als Spiel, um auszuprobieren, was geschieht?«
»Es gibt Spiele«, antwortete Enkidu ernst, »die machen Spaß und man spielt sie gern und immer wieder. Und dann gibt es welche, die bringen nur Unglück und Verlust. Dumm ist jemand zu nennen, der das nicht weiß und stets aufs neue die gleichen Fehler macht, ohne daraus zu lernen.«
»Und Iluna wäre ein solcher Fehler! Du schätzt sie nicht besonders hoch ein?«
»Nein«, sagte Enkidu und schüttelte heftig den Kopf, »wenn du mich so fragst, so gebe ich dir eine deutliche Antwort: Sie erinnert mich an eine Schlange, die ihre Opfer mit Blicken bannt, sie langsam umschlingt und schließlich erstickt.«
Das waren deutliche Worte. Wenn Gilgamesch nicht insgeheim das gleiche gespürt hätte, er hätte heftig protestiert. Aber er schwieg und dachte über die Worte des Freundes nach.
Am Abend hüllte er sich in sein bestes Gewand und ging hinüber in ihren Tempel. Die Hohepriesterin erwartete ihn bereits. Auch sie hatte sich schön gemacht und ihren Schmuck angelegt. Sie ruhte auf einer Liege und blickte ihn erwartungsvoll an, als er ihr Gemach betrat.
»Nun«, sagte sie, »hast du es dir überlegt, Held von Uruk, bist du gekommen, um uns beiden die Pforten des Paradieses zu öffnen?«
»Ich fürchte, das wird nicht gehen«, antwortete Gilgamesch und blickte der wunderbaren Ischtar direkt ins Gesicht.
»Und warum?«
»Aus verschiedenen Gründen. Der eine davon ist: Was sollte ich dir geben, wenn ich dich zur Frau nähme? Kostbares, wohlriechendes Öl für deinen Leib, Gewänder, wie sie den Weibern gefallen? Brot und Nahrungsmittel wie für gewöhnliche Sterbliche? Ich habe keine Speise, die einer Göttin würdig wäre, ich habe keine göttliche, ich habe nur königliche Speise!«
»Das würde mir reichen. Ich verlange nicht so viel, wie du glaubst.«
»Selbst wenn«, fuhr Gilgamesch unbeirrt fort, »was wärest du imstande, mir als Gegenleistung zu bieten? Was würde aus mir, wenn ich dich zur Frau nähme? Ein König, der untergeordneter Diener der Göttin sein muss, ein Spielball deiner Launen und Wünsche? Nein, Iluna, ich sage dir frei heraus, was ich von dir halte, und es ist mir gleichgültig, ob du mir deswegen zürnst: Herrisch und ungerecht bist du, maßlos in deinem Geltungsanspruch. Du verwechselst Liebe mit Besitzgier, Hingabe mit Berechnung. Wie soll man dir da vertrauen können?«
Iluna hatte sich bei seinen verletzenden Worten aufgerichtet, ihr spöttisches Lächeln war verschwunden, wütend funkelten nun ihre Augen.
»Mach ruhig weiter und verschweige mir nichts von dem, was aus deiner Seele quillt«, sagte sie mit betont ruhiger Stimme.
Es war ihr anzusehen, dass sie sich nur mühsam beherrschte.
»Oh, es gibt noch viele andere Beispiele, die auf dich passen würden«, sagte Gilgamesch, und ein Dämon ritt ihn, weiterzureden. »Welchem deiner Buhlen hast du Liebe und Treue gehalten, welchem sein Vertrauen gelohnt? Ich will sie dir aufzählen, deine Liebhaber, die du ins Unglück gestürzt hast, ob du hören willst oder nicht: Wo ist die Mandelkrähe Tammuz geblieben, die dir liebestrunkene Lieder sang? Wo Ischullanu, der einst ein begnadeter Gärtner war und nun im Sumpf bei den Fröschen sein Leben fristet? Dem kraftvollen Löwen, den du begehrtest, hobst du Gruben aus, um ihn zu fangen und in ein sanftes Spielzeug zu verwandeln. Dem kampferprobten Ohesi hast du Peitsche, Stachel und hartes Zaumzeug zu spüren gegeben, dass er nun rennt wie ein abgerichtetes Zugtier, Schlammwasser säuft und es für köstlichen Wein aus deinem Tempel hält. Seine Mutter Silili weint sich die Augen um ihn aus. Und Amagu, den Sprecher der Hirten, der dir ständig Brotkuchen buk, täglich ein Zicklein als Opfer schlachtete und seine Pflichten darüber vernachlässigte – was hast du mit ihm angestellt? Du hast ihn geschlagen und zu einem einsamen Wolf werden lassen, den die Hütejungen aus ihrer Runde verjagen, und seine eigenen Hunde beißen ihn nun und achten ihn nicht. Und du behauptest, dies alles wäre Liebe gewesen … Liebst du erst mich, so brächte mir diese Liebe wohl gleiches wie denen ein!«
»Hinaus!«, schrie Iluna wütend.
Seine frechen Beleidigungen hatten sie bis ins Mark getroffen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich Gilgamesch ihr gegenüber einer so maßlosen Sprache bedienen würde. Für einen Augenblick verlor sie ihre lächelnde Maske und zeigte ihr wahres Gesicht. Dieser kurze Moment der Erkenntnis aber reichte Gilgamesch, um zu sehen, dass er richtig gehandelt hatte.
Er erhob sich und deutete mit dem Kopf eine knappe Verbeugung an.
»Ist dir dies Antwort genug auf dein Begehren?«, fragte er. »Ich denke, wir sind vom gleichen Holz geschnitzt, da müsstest du doch so offene Worte, wie ich sie dir sprach, verstehen können.«
»Raus!«, schrie Iluna und schleuderte ein Kästchen, das in Reichweite ihrer Hände stand und ihr als Wurfgeschoss gerade recht kam, in Gilgameschs Richtung.
»Verschwinde, du hergelaufener Bastard! Nie wieder sollst du meinen Tempel betreten. Ich verfluche dich, Gilgamesch, dümmster und schäbigster aller Könige, die je in Uruk regierten! Geh aus meinen Augen und kehre nie mehr zurück. Mein Fluch soll dir nacheilen und deine Freude vergiften, dass du das Lachen für immer verlierst.«
»Besser, du vergiftest mir bloß meine Freude als einen Becher mit Wein«, sagte Gilgamesch und ging ohne sich umzudrehen.
Er ging und lachte noch draußen, denn hinter sich hörte er weitere Gegenstände an den Wänden des Gemachs zerschellen. Die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden, dachte er bei sich. Das soll nun eine Göttin sein, eine, die wie ein gekränktes Marktweib reagiert, bei der man fauliges Obst bemängelt hat.
Er reckte den Kopf und atmete tief durch, als er auf dem großen Platz vor der Zikkurat stand. Herrlich frisch schmeckte die Luft, frühlingshaft und nach Würze, und Vögel stiegen jubilierend darin empor. Der Himmel war schön, aber eben nur ein Himmel. Ein einfacher Himmel, der mit allerlei Greifbarem bevölkert war. Götter schienen wenig Platz darin zu haben. Er wusste, dass er sich mit seinen deutlichen Worten ihre Feindschaft und ihren Hass zugezogen hatte, aber es tat ihm nicht leid darum. Mochte sie toben und wehklagen, ihm Verwünschungen hinterherschicken – es würde ihn wenig berühren. Sie hatte ihr Spiel mit ihm versucht und verloren, und niemand konnte ihn zwingen, sie zur Gemahlin zu nehmen.
Gilgamesch dachte auch an die Worte der sieben Weisen, wie sie damals über ihr Holzbrett gebeugt gesessen und die runden schwarzen und weißen fünfpunktigen Steine gezogen hatten. Auch damals schon war deutlich geworden, dass sie die heilige Ordnung verlassen wollte, gleichgültig welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Damals hatte sie noch nicht mit ihm gerechnet, damals war er ein Junge ohne Bedeutung gewesen und sie, die sich bereits dem Ziel ihrer Bestrebungen nahe fühlte, hatte die Macht an sich gerissen mit der fadenscheinigen Begründung, Dumuzi, der dahinsiechende Tyrann, hätte dies als seinen Willen erklärt. Nur unter dem Druck der Volksmeinung hatte sie auf den Thron verzichtet und wohl fest daran geglaubt, dass die Übergabe nur von kurzer Dauer sein würde. Nun, da er, Gilgamesch, wichtig für Uruk geworden war, ein König, der Pflicht und Verantwortung spürte, war ihr zweiter Versuch, die Macht zu gewinnen, an seinem stolzen Selbstbewusstsein gescheitert. Würde sie endgültig aufgeben und sich endlich auf das besinnen, was ihre eigentliche Aufgabe war, wie es die Ordnung der Fünfheit vorsah für sie? Oder bereits Rachepläne schmieden, um ihm zu schaden?
Leichtfüßig lief Gilgamesch quer über den Platz, dem Tor seines Palastes zu. Er fühlte sich regelrecht befreit, als sei eine Last, die schwer auf seinen Schultern gelegen hatte, von ihm gewichen. Er würde sich nicht von ihren Drohungen beeinflussen lassen, nicht im geringsten. Sie besaß keinerlei Macht über ihn. Er war frei.
Iluna war außer sich vor Empörung. So brutal hatte ihr noch niemand die Meinung gesagt. Dieser Gilgamesch, dieser elende Bastard, was nahm er sich ihr gegenüber heraus, wie konnte er es wagen, so anmaßend zu ihr zu reden? Er musste bestraft werden, schlimmer, als es je einem widerfahren war, der lebte auf Erden. Weinend vor Zorn, am ganzen Leib zitternd, stieg sie aufs Dach ihres Tempels, um mit Marduk, ihrem himmlischen Vater, zu sprechen. Mit bebenden Händen schichtete sie ein Opferfeuer und streute, als es endlich brannte, zerbröselte Pflanzenstengel darüber. Hoch stieg die dünne Rauchsäule empor und trieb, dem Lauf der Zikkurat folgend, spiralig zum Himmel. Iluna stand auf dem Dach und streckte die Arme aus, sie hob den Kopf, und das gelöste Haar fiel ihr in den Nacken.
»Höre, Marduk, himmlischer Vater«, sprach sie, »was Iluna, deiner Tochter, der jüngsten Verkörperung Ischtars auf Erden, widerfahren ist: Dieser stolze Gilgamesch, der noch nicht lange König von Uruk ist und von einfachem Geblüt, hat mich frech verhöhnt, als ich ihn bat, mich zum Weibe zu nehmen. Wie kommt er nur dazu, welcher Dämon gab ihm dieses Denken ein? Dabei hätte ich ihm so viel geben können, alles, was sich ein Mann nur wünschen kann. Aber er hat es abgelehnt und mich schroff zurückgewiesen, als ob ich eine einfache Tempeldirne sei. Harte Worte hat er gegen mich gebraucht und Beschimpfungen ausgestoßen, die unerträglich waren. Nie zuvor hat jemand solches zu tun gewagt, nie zuvor ward Ischtar auf solche Weise gekränkt.«
Marduk, der himmlische Vater, der sich selten in die Dinge unten auf der Erde einmischt, aber stets genau zuhört, wenn jemand innerlich aufgewühlt ist, antwortete: »Wie ich es sehe, trägst du selber Schuld daran, dass es so gekommen ist. Du hast den König von Uruk so gereizt, dass er dir einen Spiegel vorhielt, in dem du deine schlimmen Taten und deinen bösen Wandel erblicktest. Niemand erträgt seinen Anblick in einem solchen Spiegel gern. Nicht Gilgamesch solltest zu zürnen, sondern den Stunden, an denen du handeltest, wie es einer Göttin der Liebe nicht ansteht.«
Dass Marduk so zu ihr sprach, machte sie nur noch wütender.
»Selbst wenn es so ist«, rief sie, »was hat er mich zu beschimpfen und schlecht über mich zu reden. Ein Menschlein urteilt über eine Göttin! Und außerdem: Hätte sich mit ihm nicht auch alles zum Guten wenden können, wäre es nicht ein neuer Anfang gewesen?«
Marduk zog seine Stirn in Falten.
»Du weißt selbst, dass du dir da etwas vormachst«, antwortete er, »man kann seine Kleidung wechseln und seinen Gatten wohl auch und selbst die Stadt, in der man lebt – aber kann man auch den Brunnen wechseln, aus dem man trinkt und der einen gespeist hat von Kindesbeinen an? Nein, Iluna, das ist es nicht, was du mir sagen wolltest, und wenn du so redest, dann glaube ich dir nicht. Deine Klagen habe ich gehört und Antwort darauf gegeben. Was willst du also sonst noch von mir?«
»Marduk, mein himmlischer Vater«, schrie Iluna, von Hass und Verzweiflung getrieben, »du versprachst mir einst, an dem Tag, an dem ich dich von Herzen darum anflehen würde, einen wirklich großen Wunsch zu erfüllen. Nun ist es soweit: Schaff mir den Himmelsstier, den fürchterlichen, wütenden Bullen, dass er in Uruk einfalle und Gilgamesch töte in seinem Palast!«
»Das werde ich nicht tun«, antwortete Marduk, »gar zu schlimm ist dein Wunsch, und elend wird mir, wenn ich so etwas aus deinem Munde höre. Bist du von Sinnen, ein solches Verlangen an mich zu richten?«
»Nein«, sagte Iluna, »ich bin nicht von Sinnen, mein Verstand ist ganz klar, und ich weiß, was ich da rede. Und so wiederhole ich meine Bitte: Gib mir den Himmelsstier, pflücke ihn mir aus dem Sternbild des Taurus herab, hauche ihm Leben ein und sende ihn zur Erde herab, damit er in Uruk wüte und Verderben über den schändlichen Gilgamesch bringe, der mich so verletzt und beleidigt hat.«
»Das werde ich nicht tun«, sprach Marduk ein zweites Mal, »ich könnte es schon, und fürchterlich würde sein Erscheinen sein, aber es liegt mir fern, das zu tun.«
Da begann Iluna zu drohen: »Schaffst du mir den Himmelsstier nicht, so werde ich die Pforten zur Unterwelt einschlagen, die Riegel zerbrechen und die Tore weit öffnen, auf dass alle Toten auferstehen und emporkommen zur Oberwelt, um die Lebenden zu fressen. Mit Lilith werde ich mich verbinden, die meine Ahnherrin ist und die Seelen der Verstorbenen sammelt. Sie kann den Toten neues Leben einflößen und wir hetzen sie auf alles, was sich bewegt. Mehr Tote als Lebende wird es dann auf der Erde geben.«
Marduk grauste es bei dieser Drohung seiner Tochter, zu furchtbar war das Bild, das sie malte. Und da er im Grunde seines Herzens ein gütiger Gott war, der seine Kinder, auch die Menschenkinder, liebte, fing er langsam an, nachzugeben. Aber er brachte weitere Einwände vor: »Wenn du den Himmelsstier von mir verlangst, wird das entsetzliche Folgen haben. Sieben Hungerjahre wird es für Uruk geben, denn der Stier frisst alles, unglaublich viel frisst er weg. Ich würde Korn für die Menchen sammeln müssen, damit sie genug zu essen haben, und ich würde Gras wachsen lassen müssen für das Vieh.«
»Nein, das wird nicht nötig sein«, gab Iluna zur Antwort, »ich habe genug Korn für die Menschen gesammelt, Vater. Die Kammern unter dem heiligen Berg quellen über davon. Auch Gras, um das Vieh weiden zu lassen, habe ich wachsen lassen in ausreichender Menge. Selbst wenn es sieben magere Jahre mit leerem Stroh gäbe, hätten wir genug reifes Korn und saftiges Gras, dass alle satt davon würden. Du siehst, es ist für alles gesorgt, sorge du nun dafür, dass dein Versprechen jetzt eingelöst wird, da ich es brauche.«
Schließlich gab Marduk auf Ischtars Drängen hin nach. Mehr um endlich wieder seine Ruhe zu haben, denn aus wirklicher Überzeugung, tat er, was sie von ihm verlangte. Mit kräftiger Hand griff er den Stier aus dem Sternbild des Taurus, pflückte ihn vom Himmel, hauchte ihm Leben ein und setzte ihn auf die Erde. War es nun seine Nachlässigkeit, die daraus erwuchs, dass seine Gedanken längst in ganz anderer Richtung schweiften, oder war es sein gutes Herz, das es ihm schwer machte, Ilunas Willen gänzlich zu erfüllen – wie auch immer, er setzte den wütenden Stier in der Steppe ab, noch weiter von Uruk entfernt als die Stelle, wo der Jäger einst auf Enkidu gestoßen war. Dort tobte er umher, stampfte mit den Hufen den Boden auf und jagte brüllend und mit gesenktem Kopf jedes Tier in die Flucht, das sich ihm unvorsichtigerweise näherte, aber noch kamen keine Menschen dabei zu Schaden. Die Wanderwege der Sandläufer verliefen weiter nördlich und westlich, und so bekamen ihre Hirten das schreckliche Tier nicht zu Gesicht.
»Danke«, sagte Iluna, die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden, »ich danke dir, himmlischer Vater, dass du mich erhört und meine Bitte erfüllt hast.«
Marduk hörte sie nicht mehr. Er schlief schon wieder und träumte im Schlaf noch einmal von der Erschaffung der Welt, von der Trennung des Trockenen und des Nassen, von Feuer, Luft und Gesteinen, von Pflanzen, Tieren und Menschen, die er mit Mach in so verwirrend artenreicher Zahl hervorgebracht hatte. Dies war seine Hauptbeschäftigung, und er ließ sich nur ungern darin unterbrechen.
Iluna merkte sehr bald, dass Marduk zwar den Himmelsstier erschaffen, ihn aber so weit von Uruk entfernt abgesetzt hatte, dass er keine Gefahr für Gilgamesch darstellte. Unruhig sann sie darüber nach, wie sie das Ungeheuer zur Stadt locken konnte und brütete über einem Plan. Weil ihr mit bloßem Nachdenken allein keine brauchbare Lösung einfiel, nahm sie wieder einmal ihr geliebtes Orakel zu Hilfe. Sie warf die Elfenbeinwürfel mit sicherer Hand und begann, die Ergebnisse in Punkte und Striche umzusetzen. Das Bild, das sich ergab, war ›das Heer‹, das sich aus den oberen Punktlinien, die das Empfangende, also die Erde symbolisierten, und unten einem heilen zwischen zwei gebrochenen Strichen, dem Abgründigen, dem Wasser, zusammensetzte. Damit war das Grundwasser gemeint, das sich in der Erde ansammelt.
Ähnlich verhielt es sich ja auch mit dem Heer: Seine Kraft sammelte sich innerhalb der Menge des Volkes. Im Frieden war das Heer unsichtbar, aber es stand jederzeit als Quelle der Macht zur Verfügung. Das Wesen des Heeres war so einzuschätzen: Während es im Inneren stets etwas Gefährliches war, mussten nach außen hin Gehorsam und Ordnung herrschen. Ohne eine feste Disziplin war das Heer lediglich ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Erst straffe Ordnung machte es zu dem, was es sein konnte – ein gefährliches Werkzeug im Krieg. Krieg aber brachte Schaden und Verheerung mit sich. Darum durfte seine Gewalt nicht leichtsinnig entfesselt werden, sondern musste eingesetzt werden wie eine schnell wirkende, giftige Medizin, die nicht Selbstzweck, sondern lediglich ein letzter Ausweg war. Sie beugte sich vor und blies über die Würfel, so dass sie sich bewegten, und sie achtete genau auf jede Veränderung dabei. Da, der dritte Würfel war auf eine andere Seite gefallen. Iluna war plötzlich hellwach und aufgeregt. Diese Äußerung des Orakels wusste sie sicher zu deuten. Sie lautete: Wild ist im Feld, es ist gut, es zu fangen.
Sie lehnte sich zurück und ließ den Orakelspruch tief in sich eindringen und sich als Bild entfalten. Was bedeutete er? Das Wild hatte seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort, also Wald, Gebirge und Steppe, verlassen und war verwüstend in die Felder eingedrungen. Das war der prächtige Himmelsstier. Sie sah ihn dort stehen, sehr weit entfernt noch und schwach zu erkennen, aber gewaltig war seine Größe und riesig seine Wut. Mit den Hufen stampfte er ungeduldig, senkte schnaubend den Kopf, stieß die Hörner in den Boden und zerfurchte die Erde. Staub, Erdbrocken und Steine warf er in die Luft und ließ sie als Regen auf seinen mächtigen Rücken fallen. Dieser Stier freute sich auf den Kampf, er brüllte nach Krieg, er wartete darauf, endlich einen Gegner zu finden, den es zu töten lohnte. Aber weit und breit war keiner auszumachen. Gab es nicht doch Leute, die in seinem Umkreis lebten, Leute, die ihn aufstacheln und nach Uruk treiben konnten? Iluna schloss die Augen und versuchte, aus ihrem Inneren heraus zu sehen. Spiralen und blaue Wirbel tanzten vor ihren Augen, und sie brauchte lange, bis sie erkannte, dass es wohl schnell dahintreibendes Wasser war. Was aber die Unruhe ausmachte, war die Tatsache, dass die Wasser dicht beieinander flossen. Zwei Ströme waren es, Euphrat und Tigris, die sich bis auf wenige Wegstunden nahekamen. Nebel wallte dazwischen, und als sie sich allmählich legten und lichteten, schälte sich eine Stadt aus dem Dunst, die weder Uruk noch Ur, weder Eridu noch Nippur war.
Kisch war ihr Name, verhieß das Orakel, und auch mit diesem Bild wusste Iluna etwas anzufangen. Sie sah einen Fürsten, der von Sumer abgefallen war und keine Abgaben mehr zahlte, einen faltenreichen, hageren Mann, den die Last seiner Sorgen erdrückte. Sie sah ihn grimmig in seiner Stadt sitzen, die von Sandläufern, Nomaden und allerlei Barbaren bedrängt wurde, halb schon überschwemmt war von Fremden und trotz der reichen Ernte noch Hunger litt, denn mehr und mehr wurden angelockt, immer neue, hungrige Mäuler, und alle wollten zu essen. Von Kisch hatte sie schon gehört und von Akka, dem Fürsten, dem Sohn des Enmebaraggesi, und auch davon, dass er wenig von der Bewässerung des Landes verstand. Einmal war ein Händler von dort bei ihr im Tempel gewesen, der schlechte Waren mit sich führte und nur ein winziges Geschenk für die Göttin bringen konnte. Der hatte von Kisch und seinen Problemen erzählt, bis es Iluna zu langweilig geworden war, seinem Gejammer zuzuhören, und sie ihn weggejagt hatte. Vielleicht war aber gerade dies ein Zeichen gewesen, das sie nun zu lesen imstande war.
Noch einmal warf sie das Orakel, und diesmal sagte es: Gut wird es sein, Heere marschieren zu lassen. Da hatte sie verstanden. Die Heere waren die hungrigen Menschen aus jenem Land, und Akka von Kisch würde ihr Anführer sein. Sie würden aufbrechen und bei ihrem Zug nach Süden auf den Himmelsstier stoßen und ihn bis nach Uruk jagen. Dort würde dann das Schicksal über den Rest entscheiden.
Als sie bei diesem Gedanken angekommen war, schauderte ihr doch. Es war ungeheuerlich, was sie da dachte – den Feind anzulocken und vor die Tore der Stadt zu führen, und mit ihm das grässliche Untier, das Marduk vom Himmel geholt hatte. Aber es gab keinen anderen Weg, um Gilgamesch zu bestrafen. Es musste sein, sie durfte, sie konnte nicht zögern, auf diese Weise ihre Rache zu vollziehen. Sie lachte grimmig und erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Nachdenklich strich sie sich über die Stirn. Und wenn Uruks große Mauer nun doch standhalten würde? Auch dazu musste ihr etwas einfallen, wenn es an der Zeit war. Zuvor aber galt es, Kontakt mit dem Fürsten von Kisch aufzunehmen.
Sie rief nach Sasa, die nach Tehiptillas Verschwinden und dem Tag, an dem Unigi aufgebrochen war, Hohepriesterin des neuen Tempels im lrangebirge bei den Lullumu zu werden, ihre engste Vertraute war. Sasa kam, und Iluna schloss sie in ihre Arme.
»Willst du einen wichtigen Auftrag für mich übernehmen?«, fragte die jüngste Verkörperung Ischtars auf Erden.
»Du weißt, dass ich nichts lieber als deine treue Dienerin bin«, antwortete Sasa.
Da gab ihr Iluna eine Botschaft, die in eine Tontafel geritzt war, hüllte sie doppelt in Tücher und weihte Sasa in ihre Geheimnisse ein. Aber wohlbedacht gab sie nicht alles von dem preis, was auf der Tontafel geschrieben stand. Die wichtigsten Stellen verschwieg sie, denn es war nicht gut, dass ihre kleine Gefährtin zu viel von ihrem geschickten Ränkespiel erfuhr. Dennoch erbleichte die Botin.
»Soll ich tun, was Tehiptilla tat, als sie den Barbaren betören ging?«, fragte sie besorgt, »es macht mir Angst, daran zu denken.«
»Nein«, lachte Iluna, »deine Aufgabe ist mit ihrer damals nicht zu vergleichen. Akka von Kisch ist ein kultivierter Mann, kein wilder Unhold. Und du sollst nicht Lockvogel für ihn sein, sondern meine Botschafterin, die alle erdenklichen Ehren in Kisch genießen wird. Wichtig ist mir indes, dass der Fürst bald meine Tafel erhält, und niemand sonst sie zu Gesicht bekommt. Will sie dennoch jemand sehen, und sei es mit List oder Gewalt, so zerstöre sie lieber, als dass jemand ihren Inhalt erfährt. Zerschlage sie, breche sie in tausend Scherben, mach damit, was du willst, aber lass niemanden außer Akka einen Blick darauf werfen. Schwörst du mir das?«
»Ich schwöre es bei den sieben Strahlen der Venus«, sagte Sasa.
»Dann ist es gut. Eile dich, Freundin, dass du bald nach Kisch gelangst, nimm ein schnelles Maultier und verkleide dich als hässliche, alte Frau, tu so, als seist du krank, so dass dir jeder aus dem Weg geht und dich in Ruhe lässt, bis du den Auftrag durchgeführt hast.«
Sie gab ihrer. Verschworenen noch ein paar weitere gute Ratschläge mit auf den Weg und verabschiedete sie herzlich. Am selben Tag noch brach Sasa nach Norden auf.
Ein hässliches altes, in Lumpen gehülltes Weib ritt auf einem Maultier zum Marktplatz von Kisch und mischte sich unter die Menschen. Sie fiel nicht sonderlich auf unter den Leuten, die ärmlich gekleidet waren und gierige Blicke auf die warfen, die genug Geld besaßen, vom mageren Angebot der Händler etwas zu kaufen. Niemand nahm sonderlich Notiz von ihr. Man hielt sie wohl für eine von denen, die täglich ankamen, hungrige Nomaden aus der Steppe, Sandläufer mit ihren Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut oft in einem einzigen Sack auf dem Rücken ihres Esels mit sich führten. Die Stadt, die eigentlich mehr eine Ansammlung eilig zusammengeflochtener Schilfhütten war, rings um das steinerne Haus, das Fürst Akka stolz seinen Palast nannte, platzte aus allen Nähten, und ständig kamen mehr Menschen dazu. Schwerbewaffnete Wachen hatte der Fürst um die Kornkammer stellen lassen und einen Wehrgraben gezogen, der das Volk vom Korn und seinem Regierungssitz trennte. Sie hatten alle Hände voll zu tun und mussten mitunter ihre Knüppel einsetzen, um besonders zudringliche Bettler abzuschütteln, die immer wieder versuchten, über die Brücke vorzudringen.