Tod im Barranco - Harald Braem - E-Book

Tod im Barranco E-Book

Harald Braem

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Beschreibung

Eine Reihe mysteriöser Verbrechen sorgt auf den Kanareninseln La Gomera, Teneriffa und Gran Canaria für Aufregung. Wer steckt dahinter? Die Polizei steht vor einem Rätsel. Ein getöteter Drogenkurier im Barranco. Ein homosexuelles Urlauberpaar. Ein Schriftsteller mit seiner Freundin auf der Suche nach der richtigen Location auf Gomera. Ein kauziger alter Mann mit Fernglas. Und der Wahnsinn geht erst richtig los... Der neue Kanaren-Thriller des Bestsellerautors Harald Braem.

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Harald Braem

Tod im Barranco

Kanaren-Thriller

DAS BUCH: Eine Reihe mysteriöser Verbrechen sorgt auf den Kanareninseln La Gomera, Teneriffa und Gran Canaria für Aufregung. Wer steckt dahinter? Die Polizei steht vor einem Rätsel. Ein getöteter Drogenkurier im Barranco. Ein homosexuelles Urlauberpaar. Ein Schriftsteller mit seiner Freundin auf der Suche nach der richtigen Location auf Gomera. Ein kauziger alter Mann mit Fernglas. Und der Wahnsinn geht erst richtig los...

DER AUTOR: Harald Braem (Berlin, 1944), emerit. Professor für Design und Kommunikation in Wiesbaden, war bis 2013 Direktor des Kult-Ur-Instituts für interdisziplinäre Kulturforschung. Er ist Autor zahlreicher Bücher und langjähriger Kanarenkenner und verfasste Romane, Erzählungen, Sach- und Kinderbücher sowie Filmbeiträge. Im Zech Verlag sind außerdem von Braem erschienen: Tanausú, König der Guanchen, Auf den Spuren der Ureinwohner, Der Vulkanteufel und Der Kojote im Vulkan. Weitere Informationen: www.haraldbraem.de

Impressum

Textgrundlage dieses E-Books Tod im Barranco ist die mit dem gleichnamigen Titel im Zech Verlag (Teneriffa 2012) erschienene Taschenbuchauflage, erstmals veröffentlicht im E-Pub-Format im November 2014.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, auch einzelner Teile, ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, öffentlichen Vortrag, Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen, z.B. über das Internet.

Alle Rechte vorbehalten. © 2014 ZECH VERLAG

Verena Zech, 38390 Santa Úrsula (Teneriffa, Kanarische Inseln, Spanien)

Tel./Fax: (34) 922-302596 · E-Mail: [email protected]

Text: Harald Braem

Covergestaltung: Karin Tauer unter Verwendung eines Bildes von Sylvia C. Hess

Konvertierung: Zech Verlag

E-Book ISBN 978-84-941501-9-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-84-938151-5-8

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Webseite:

www.editorial-zech.es/de/

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
TOD IM BARRANCO
1. Roque de Agando, La Gomera
2. Barranquillo del Rincón, La Gomera
3. Barranco de Pastrana, La Gomera
4. Playa de Santiago, La Gomera
5. An Bord der Barlovento
6. Polizeipräsidium Santa Cruz de Tenerife
7. Hafen von San Sebastián de La Gomera
8. Valle Gran Rey, La Gomera
9. Benchijigua, La Gomera
10. Barranco de Pastrana, La Gomera
11. Polizeistation Playa de Santiago, La Gomera
12. Playa del Inglés, La Gomera
13. Barranco de Pastrana, La Gomera
14. Fortaleza de Chipude, La Gomera
15. Pastrana, La Gomera
16. Ruinen von Azadoe, La Gomera
17. Polizeistation Playa de Santiago, La Gomera
18. Geisterdorf Azadoe, La Gomera
19. Barranco de Erque, La Gomera
20. Paseo de la Reforma, Mexico City
21. Barranco de Erque, La Gomera
22. Punta del Diablo, Nicaragua
23. Geisterdorf Azadoe, La Gomera
24. Feriensiedlung Tecina, La Gomera
25. Moskito-Küste, Nicaragua
26. Barranco de Erque, La Gomera
27. Ferienanlage Tecina, La Gomera
28. In der Hexenschlucht, La Gomera
29. El Médano, Teneriffa
30. Polizeistation Playa de Santiago, La Gomera
31. Barranco de Erque, La Gomera
32. Frankfurt Airport, Rhein-Main
33. Polizeipräsidium, Frankfurt am Main
34. Aeropuerto Los Rodeos, Teneriffa
35. Puerto de La Luz, Gran Canaria
36. Eichberg-Klinik für forensische Psychiatrie, Rheingau
37. Esperanza

1 Roque de Agando, La Gomera

Der graue Renault Express quält sich im ersten Gang schaukelnd über die staubige Sandpiste. Die Straße im Barranco de Pastrana ist in einem erbärmlichen Zustand. Überall Löcher, Steine, Geröll, tiefe Rinnen. Schon bei Tag eine Zumutung. Jetzt, in der Nacht, ein riskantes Abenteuer. Ständig Steigungsstrecken und Kurven, überhängende Felsen. Im tanzenden Licht der Scheinwerfer tauchen kurz bizarre Kakteen auf, die wie Gespenster mit ihren Stachelarmen winken, einzelne Palmen und überwucherte Lavahänge. Plötzlich ein Haus. Die Fensterläden geschlossen. Eine verloren wirkende Straßenlaterne. Ein parkender Landrover. Kisten und Säcke. Zwei streunende Katzen. Danach wieder Dunkelheit. Fahler Mondschein. Die Häuser von Pastrana kleben irgendwo unsichtbar an den Bergen. Es gibt in dieser Nacht keine Zeugen.

Der Mann am Steuer wirkt entschlossen. Bis jetzt hat er kein einziges Wort gesprochen. Zwischen seinen Lippen klebt eine Zigarette. Er raucht kalt. Er will sie erst später anzünden, wenn alles erledigt ist. Jetzt ist er viel zu angespannt. Er fährt hochkonzentriert, in Armen und Schultern verkrampft, den Blick starr auf die Piste gerichtet.

Seine Klamotten stinken. Der ganze Wagen stinkt, obwohl sie mit offenem Fenster fahren. Wenn alles vorbei ist, werde ich mir eine frische Hose besorgen, ein T-Shirt und Schuhe. Und vorher im Meer baden. Den ganzen Dreck abwaschen. Wieder einen klaren Kopf bekommen...

Der andere starrt ebenfalls in die Nacht. Er hockt verkrampft im Sitz, stützt sich mit beiden Armen am Armaturenbrett ab, um heftige Stöße abzufedern. Ab und zu flucht er leise und spuckt seitlich aus dem Mundwinkel. Er weiß, dass seinem Partner diese Angewohnheit missfällt, aber das ist ihm im Moment scheißegal.

Er verflucht den Tag, die Nacht und sich selbst. Er fühlt sich im falschen Film. In einer Endlosschleife. Er meint immer wieder dieselben Bilder zu sehen, dieselben Kakteen, dieselben Felsen, dieselben Kurven. Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr zeigt, dass die Zeit langsam kriecht. Die Minutenziffern kleben im Display.

»Dauert’s noch lange?« fragt er, ohne den Kopf zu drehen. Er bekommt keine Antwort. Hat auch keine erwartet. Sein Partner redet nicht gern. Dafür ist er bekannt. Aber an der Fahrweise merkt er, dass sie dem Ziel endlich näher kommen. Der Motor stottert bereits, so langsam rollt der Wagen jetzt, beinahe suchend. Die Piste endet abrupt in einem Palmenhain, von dem aus nur noch ein schmaler, steiler Maultierpfad zwischen zerklüfteten Felsen in die Berge führt. Benchijigua.

Der Fahrer lässt den Renault in die einzig dafür geeignete Stelle rollen, wendet, steht wieder in Fahrtrichtung. Er schaltet den Motor ab. Plötzlich ist es unglaublich still. So still, dass das jäh einsetzende Zirpen der Grillen überlaut die Nerven fetzt.

Er sagt: »Es ist so weit. Setz die Lampe auf.«

Der Mann zieht sich ein Band mit schwenkbarem LED-Strahler über die Stirn und reicht dem anderen ein baugleiches Teil. Er grinst mit verzerrtem Gesicht, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu lassen.

»Alles okay?«

»Todo bien.«

»Dann lass uns starten. Vamos.«

Sie machen sich an die Arbeit, müssen endlich ihre Fracht loswerden. Und es liegt noch ein ganzes Stück Fußmarsch vor ihnen. Sie zerren den Sack aus dem Kofferraum. Heben das Opfer auf ihre Schultern. Es ist schwer. Beide keuchen hintereinander her, als sie links einer schmalen, kaum erkennbaren Trittspur folgen, die das unruhige Licht der Stirnlampen berührt. Sie führt mit leichtem Gefälle in den Barranquillo del Rincón, einem Seitenarm des großen Barrancos. Verdammtes Gestrüpp, mannshohes, trockenes Schilfgras, Kakteen, Tabaibas, Stachelgewächse. Zum Glück keine Agaven. Immer weiter. Rascheln, als ob Tiere unterwegs wären. Aber es ist nur der Wind. Die beiden Männer ächzen unter ihrer Last.

Es dauert eine Ewigkeit, bis sie den richtigen Platz erreichen, eine Geröllhalde aus Lavabrocken, mit Abfall bedeckt. Davor eine rostige Badewanne, die vor langer Zeit einmal als Viehtränke diente.

Jetzt, da gerade eine Wolke am Mond vorbeigeistert, scheint sich für einen kurzen Moment der Schatten des Agando über sie zu legen. Vielleicht nur Einbildung. Aber plötzlich weht ein kühler Windstoß. Er zerteilt die weiße Wolke in bizarre Schemen, Geisterwesen, die rasch ihre Gestalt wechseln, während sie in höheren Zonen bereits zu Strähnenschleiern zerfransen. Eine Million Sterne tanzen und blinken irre Signale.

Jetzt die Fracht abladen, direkt in die Badewanne. Der Opferplatz. Danach ist es still. Nur keuchender Atem. Ein Nachtvogel schreit. Es sind Stimmen im Wind.

Der Mann mit der Zigarette im Mund wischt die Geister energisch mit einer Handbewegung fort. Er lässt sein Feuerzeug schnappen, zieht gierig den Tabakrauch in seine Lungen.

Der andere steht abwartend dabei. Ringt noch nach Luft. Dann sagt er: »Lass uns die Sache zu Ende bringen. Ich will weg hier.«

Sein Partner nickt. »Ich auch, glaub mir: ich auch!«

Sie arbeiten nun rasch. Alles muss schnell und hochkonzentriert vonstatten gehen. Sie wissen genau, was zu tun ist. Als das Feuer zischend aufflammt, bedeutet das für sie Erlösung. Plötzlich wird alles hell. Fast zu hell. Sie weichen aus dem Lichtkreis, hasten die Trittspur zurück. Die Flammen in ihrem Rücken prasseln, als sie das Opfer annehmen. Die Hitze scheint nach ihnen zu greifen. Aber auch das ist nur Einbildung. In Wirklichkeit laufen sie, als sei eine große Last von ihnen gefallen, leichtfüßig und frei. Ja, jetzt sind sie endlich frei!

Sie erreichen den Palmenhain, den Kastenwagen, reißen die Türen auf, lassen sich auf die Sitze fallen. Der Motor springt sofort an. Nun die gesamte Strecke zurück. Niemand begegnet ihnen. Niemand außer ihnen ist in einer solchen Nacht unterwegs.

Der Mann am Steuer steckt sich noch eine Zigarette an. Der Fahrtwind streicht durch die offenen Seitenfenster und weht Asche und Glutfunken ins Wageninnere. Sein Partner flucht schon wieder und spuckt aus dem Mundwinkel. Solche Flüche müssen sein, besonders danach. Er hasst seinen Job. Aber es gibt keinen anderen für ihn außer diesem. Wenn ich hier fertig bin, wenn uns dieser Idiot ohne Unfall durch den Barranco bringt, auf die asphaltierte Straße und aufs Schiff, dann mach ich erstmal Urlaub, denkt er. Ich nehme mir ein Zimmer an der Küste, esse mich satt, reiße eine Chica auf, oder besser noch zwei. Und dann: bungabunga und tranquilo. Er sieht sich Zigarre rauchend am Strand sitzen. Beste Puros aus Havanna. Wie diese großen Männer im Film, die es geschafft haben und sich seelenruhig der Pflege ihrer Fußnägel widmen können. Aus dem CD-Player schallt laute Musik. Alle Songs von Shakira, damit die Chicas mit ihren üppigen Formen mitwippen können und ihre Möpse tanzen lassen. Und den besten Rum aller Zeiten, während das Leben ihn streichelt. Er weiß, dass es keine Garantie auf die Erfüllung solcher speziellen Träume gibt...

2 Barranquillo del Rincón, La Gomera

Leichter Nieselregen nässt die Haut. José Ferrera stört das nicht. Er empfindet die Nebelwolke, die vom Roque de Agando her durch den Barranco quillt, sogar als angenehm frisch. Er ist gern bei so einem Wetter unterwegs. Und Chico, der Hund, genießt den frühen Ausflug ebenso. Wochenlang ist es schwülheiß gewesen, drückend und lähmend. Und dann die plötzliche Urgewalt des Regens, ein kurzer Schauer gegen Ende der Nacht, aber außerordentlich ergiebig. Das Wasser steht in Pfützen, hat an manchen Stellen den Weg weggespült und Geröll aus den Bergen gelöst.

José atmet tief die frische Luft ein. Chico ist wie immer vorausgelaufen und markiert an einer Biegung des Fußpfades die Böschung. Zaghaft tastet sich erstes Sonnenlicht über die schrundigen Felskanten von Benchijigua. Rechts neben dem dunstigen Gipfel des Agando erscheint für kurze Zeit ein schwacher Regenbogen.

Eigentlich ist es ein schöner Morgen. Aber irgendetwas stimmt diesmal nicht. José Ferrera ist stehengeblieben und blinzelt mit zusammengekniffenen Augen in Richtung der Berge. Der Agando beginnt sich langsam aus dem Dunst zu schälen. Seine Kontur gleicht einem übergroßen Zahn. Oder einem Phallus. Und wenn man länger hinsieht, nimmt er die Form eines riesigen Kopfes an. Die Ureinwohner hielten ihn für eine versteinerte Gottheit, die seit ewigen Zeiten über die Insel wacht. Über das Zentrum Gomeras. Heute scheint der Schädel lauernd zu grinsen. Er strahlt etwas wissend Bösartiges aus.

José Ferrera schüttelt unwillkürlich den Kopf und wendet den Blick ab. Er kann nicht sagen, was es ist, aber etwas hat sich verändert. Ein Gefühl bloß, aber deutlich anders als sonst. Auch Chico ist stehengeblieben und hebt witternd die Nase in den Wind.

Er ist ein Bastard, erbärmlich dürr und ungepflegt wie sein Besitzer. Aber für José Ferrera ist er ein Seismograph. Der Hund sieht und hört erheblich besser als er, dessen Sinne allmählich altersschwach werden. Ganz zu schweigen von Chicos feiner Nase. Er riecht es, wenn eine Hündin heiß wird, noch über Kilometer hinweg.

Ihre Blicke streifen sich kurz. Mit einer flüchtigen Handbewegung deutet José Ferrera die Richtung an, in der er weitergehen will. Der Hund versteht die Geste sofort und läuft los.

Als sie den Rand des Palmenhains erreichen, sträubt sich Chicos Nackenfell. Er verharrt an der Stelle, wo der Trampelpfad zum Barranquillo abzweigt, und beginnt leise zu knurren. Eigentlich gehört dieser Abschnitt nicht zu ihrem normalen Weg. José Ferrera mag den verkommenen Barranquillo mit seinem Gestrüpp nicht. Außerdem führt er in eine Sackgasse mit wenig erfreulichem Ausblick. Aber der Hund bleibt stur stehen und wittert in Richtung des wogenden Schilfs.

»Qué pasa? Was ist denn?« brummt der Mann ungehalten und will weitergehen. Doch Chico ist anderer Meinung. Ein verdammt sturer Köter. Also biegen sie vom Weg ab und folgen der Trittspur. Der Hund läuft voraus. Er wirkt aufgeregt. Und dann merkt auch José Ferrera, warum. Es liegt an der Luft. Ein unangenehmer Brandgeruch, der stärker wird, als sie das Schilfdickicht passieren. Kalter Rauch steigt in die Nase, süßlich und schwer. Der Hund ist plötzlich aus dem Blickfeld verschwunden. Der Mann hastet ihm nach, merkt nicht, dass Stacheln sein Hemd aufreißen. Er ruft seinen Hund, pfeift nach ihm. Vergeblich. Das Tier ist wie vom Erdboden verschwunden.

Als er ihn endlich eingeholt hat, hält er keuchend inne. Sie haben den Talschluss der kleinen Schlucht erreicht. An der Geröllhalde steht eine alte verrostete Viehtränke. Der Hund bellt wie besessen. In zwei Metern Abstand zu der rostigen Badewanne steht er wie angewurzelt da und kläfft so wütend, dass sein ganzer Körper vor Erregung zuckt.

»Komm weg da!« brüllt José Ferrera heiser.

Widerstrebend wagt er sich ein paar Schritte vor, um das Tier wegzuzerren. Dabei fällt sein Blick in das Innere der Wanne. Eine Wolke aus Fliegen steht über einer verkohlten Masse. Unförmig zusammengeschmolzen, aber dennoch erschreckend deutlich. Ein Schädel. Ein seltsam verkrümmter Arm. So grotesk die schwarze Masse auch aussieht – José Ferrera erkennt sofort, dass es sich um die Reste eines verbrannten Menschen handelt. Er kann nicht glauben, was er da sieht. So etwas darf es nicht geben. Das ist grausam, abartig, ekelerregend. Es stülpt ihm den Magen um. José Ferrera taumelt zur Seite und kotzt ins Dickicht. Er erbricht sein karges Frühstück, alles, was er gegessen hat und mehr. Saure Flüssigkeit und Galle.

Nun steht er keuchend da und ringt nach Luft. Er presst die Fäuste gegen den Magen. Alles in seinem Kopf ist wirr. Er wagt nicht, noch einmal zur Geröllhalde zu blicken und schon gar nicht zu der alten Tränke. Bloß weg von diesem Ort, weg aus dem Dunstkreis des erkalteten Feuers und des unerträglichen Gestanks von verbranntem Fleisch.

Er rennt los, ohne sich weiter um Chico zu kümmern, läuft den Weg zurück, so schnell es seine alten Beine erlauben. Und auch der Hund kann sich nun endlich von diesem Ort des Schreckens lösen. Er folgt seinem Herrn jaulend, mit eingezogenem Schwanz.

Als sie den Palmenhain am Barranco erreichen, die Piste, halten beide nicht inne, laufen weiter. Sie müssen Pastrana erreichen. Die Häuser. Irgendeinen Platz, an dem die vertraute Realität zuhause ist.

3 Barranco de Pastrana, La Gomera

Als der schwarze Toyota des Polizeichefs von San Sebastián endlich eintrifft, ist die Piste in der Nähe des Palmenhains bereits hoffnungslos von Fahrzeugen verstopft. Guardia Civil, Policía Local, der Wagen des Arztes von Santiago und sogar die Ambulanz, alle sind bereits da. Es wird schwierig sein, hier später wieder zu wenden.

Felipe, der Fahrer und trotz seiner Geschwätzigkeit unentbehrlicher Assistent des Chefs, findet gerade noch eine schmale Ausbuchtung, wo er in gefährlich schräger Position einparken kann. Während der gesamten Fahrt hat er sich über den Zustand der Piste beschwert und dabei drastische Worte gefunden:

»Für alles ist Geld da, nur nicht für eine anständige Straße. Kein Wunder, dass die Leute hier allmählich verkommen. Ich möchte mal wissen, wo die ganzen EU-Gelder bleiben. Wahrscheinlich wird alles in sinnlose Projekte verpulvert: hier eine neue Strandpromenade, die kaum einer benutzt, dort Golfplätze, die unsereins sowieso nie betritt, und das neue, viel zu große Kulturzentrum sieht nach knapp einem Jahr bereits wieder wie eine Baustelle aus. Eine Schande ist das!«

Bernardo Gómez, den alle nur El Capitán nennen, hat nichts darauf geantwortet. Er sieht die Sache im Prinzip ähnlich, enthält sich aber jeden Kommentars. Er weiß, wie schwierig es ist, gewisse Veränderungen, die ihm durchaus sinnvoll erscheinen, in einer Bananenrepublik durchzusetzen. Außerdem ist er mit seinen Gedanken ganz woanders. Als der Anruf heute Morgen kam und ihn aus dem seligen Schlummer und der warmen Nähe seiner Frau Ana riss, wusste er sofort, dass dieser Tag ihm nichts als Stress und unangenehme Aufregung bescheren würde.

Umständlich quält er sich jetzt aus dem Toyota, was sich bei seiner Leibesfülle nicht ganz einfach gestaltet. Dabei ist er nicht einmal dick im üblichen Sinne, eher ein schwerer, kompakter Brocken, muskelbepackt mit stabilen Knochen. Nur sein Bauch hat mit den Jahren wegen des guten Essens reichlich an Umfang zugenommen.

Früher war er Luchador, der beste Ringer seiner Gemeinde, und hat viele spektakuläre Siege für seine Mannschaft errungen. Die Urkunden zieren noch immer in seinem Amtszimmer eine komplette Wand. Das ist der Beginn seiner kometenhaften Karriere im Polizeidienst gewesen, und die guten Kontakte, die er mit Inbrunst pflegte, trugen das Ihre dazu bei. Im Gegensatz zu seinem massigen Körper, der nur langsame, bedächtige Bewegungen zulässt, funktioniert sein Verstand erstaunlich schnell. Situationen sofort zu erfassen und aus dem Stehgreif messerscharfe Analysen zu erstellen, gilt als seine Spezialität. Dies ist es, was ihm letztendlich seine Position eingebracht hat und seinen guten Ruf. Selbst seinen Spitznamen »El Capitán« sprechen die Leute mit einer besonderen Betonung aus, in der Bewunderung liegt.

Felipe ist vorausgeeilt, um die Kollegen zu begrüßen, die am Palmenhain in einer Gruppe zusammenstehen und warten. Allerdings trifft er dort nicht auf fröhliche Gesichter. Die Stimmung ist spürbar gedrückt. Die Männer stehen wortkarg herum, einige rauchen. Ein paar von ihnen sind bereits am Tatort gewesen – wenn es denn der Tatort ist, es sieht nicht danach aus – und haben die Sauerei dort gesehen. Manuel Ramos aus Playa de Santiago ist noch immer grau im Gesicht, ihm ist übel. Auch seinem Kollegen Alfonso Torres geht es nicht besser. Sie sind als erste an der Badewanne gewesen und haben Fotos gemacht.

»Eine verdammte Schweinerei, Mierda«, sagt Alfonso und spuckt auf den Boden. »Und das ausgerechnet hier, in so einer netten Gegend.«

»Das passt einfach nicht zu La Gomera«, stimmt ihm Manuel Ramos zu.

Inzwischen ist El Capitán zu der Gruppe gestoßen. Anstelle einer Begrüßung brummt er nur ein allgemeines »Hola« und hebt flüchtig die Hand. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckt seine Augen und verrät nicht, wohin sein Blick fällt.

»Wer hat die Leiche gefunden?« fragt er und dreht den Kopf in die Runde.

»Ein gewisser José Ferrera«, meldet sich Manuel Ramos zu Wort. »Er lebt allein in einem Pajar am oberen Rand von Pastrana.« Er deutet vage mit dem Zeigefinger in Richtung Berge.

»Hat er uns informiert?«

»Nicht direkt.«

»Nicht direkt? Was meinst du damit?«

»Naja, eigentlich hat uns eine gewisse Ines angerufen«, mischt sich Alfonso Torres eilfertig ein. »Sie besitzt ein Handy und José ist sofort zu ihr gelaufen. Er selber hat keins. Überhaupt ist er ein wenig sonderbar...«

Die Stimme des Polizeichefs hat einen grollenden Unterton angenommen. Man muss jetzt vorsichtig sein mit dem, was man sagt. »Was heißt sonderbar? Ein bisschen präziser, bitte. Ist er loco?«

»Nein, nicht verrückt. Ein Sonderling, könnte man sagen. Keine Frau, keine Kinder. Er haust zusammen mit seinem Hund und einer Schar Katzen.«

»In einem Pajar, einer Scheune?«

»Ja. José stammt aus Pastrana, hat den Schuppen von seinen Eltern geerbt. Kein Strom, kein Licht, kein Telefon. Holt sein Trinkwasser aus der Zisterne. Die Scheune liegt weit ab von den anderen Häusern. Ich möchte jedenfalls nicht so leben.«

El Capitán kratzt sich am Kopf und denkt einen Moment lang nach. Sein Haus oberhalb von San Sebastián kommt ihm in den Sinn. Ein großes, stattliches Haus mit vielen Zimmern, Veranda, riesiger Dachterrasse und überdimensioniertem Swimmingpool. Dazu eine bildschöne Frau, drei Kinder, zwei niedliche Schoßhunde.

»Der eine mag’s so, der andere so. So ist das Leben, es spielt keine Rolle«, sagt er nach einer Pause. »Ist er glaubwürdig?«

»Ja«, antwortet Manuel Ramos, und Alfonso Torres nickt bestätigend, »würde ich sagen. Der Mann war völlig mit den Nerven fertig, als er anrief. Ich meine, zuerst haben wir ja mit dieser Ines gesprochen. Die hat ihn dann ans Handy gelassen, damit er alles genau erzählen kann. Was er gesagt hat und auch wie – das klang recht überzeugend.«

»Wann war das genau?«

»Vor etwa drei Stunden«, übernimmt Alfonso Torres den weiteren Bericht. »Wir sind dann sofort hingefahren und haben vor Ort seine Aussage zu Protokoll genommen. Es ist alles mit dem Voice Recorder aufgezeichnet.«

Er erinnert sich an bestimmte Sätze des Mannes: Und dann habe ich gekotzt. Mann, hab ich gekotzt. Aber nicht lange. Musste ja meinen Hund von der Badewanne wegkriegen. Der hat sich wie rasend benommen. Das Fell gesträubt, obwohl er kaum welches hat. Hab ich noch nie bei ihm gesehen. Sah plötzlich aus wie ein tollwütiger Teufel. Also habe ich ihm einen Tritt gegeben. Und dann sind wir so schnell wie möglich rauf zur Piste. Wo ich dann Ines getroffen habe. Die mit dem Handy... Vorher in der Nacht? Nein, da habe ich geschlafen, nichts gehört oder gesehen. Kein Auto. Der Regen hat gerauscht und der Wind blies kräftig...

Drei Stunden, denkt Bernardo Gómez. Mein Gott, was kann in drei Stunden alles passieren...

»Und wo ist er jetzt?«

»Wahrscheinlich oben in seinem Pajar. Der Mann hat es hier unten nicht länger ausgehalten. Er war fix und fertig und wollte so schnell wie möglich weg. Natürlich haben wir ihn für morgen nach Santiago bestellt, damit er seine Aussage unterschreiben kann.«

Der Polizeichef ist noch nicht zufrieden mit dem, was er gehört hat. Man muss diesen Leuten aus Santiago alles aus der Nase ziehen. »Und vorher hat er euch zum Tatort geführt?«

Alfonso Torres schüttelt den Kopf und blickt weg. »Nein, das wollte er nicht. Er wollte sich das alles nicht nochmal zumuten. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Er hat uns den Weg und die Stelle nur beschrieben.«

Das ist Ansichtssache, denkt Bernardo Gómez. Aber er sagt dazu nichts. Seiner Aufmerksamkeit ist nicht entgangen, dass die beiden Polizeibeamten sichtlich elend aussehen. Auch für sie muss es ein Schock gewesen sein, auf eine derart verstümmelte Leiche zu stoßen.

»Wir haben das Gebiet inzwischen abgesperrt und voll unter Kontrolle«, meldet sich ein geschniegelter Typ von der Guardia Civil zu Wort, der die ganze Zeit über mit seinem nagelneuen iPhone herumgespielt hat. Dummer Lackaffe. Wer kommt hier schon vorbei, wofür wurde abgesperrt? Reicht es nicht, dass die Wagen die Piste blockieren? Der Kerl scheint ein Wichtigtuer zu sein...

Ganz anders der Arzt. Dr. Morales hat bisher schweigend abseits gestanden. Er macht einen seriösen und kompetenten Eindruck, um die sechzig, penibel gekleidet, trägt sein schütteres graues Haar glatt nach hinten gekämmt. Wenn er nicht Arzt wäre, könnte man ihn für einen Notar oder Rechtsanwalt halten. Als er nun angesprochen wird, hebt er mit einer entschuldigenden Geste beide Arme hoch und zieht ein trauriges Gesicht. Dabei kann der Mann nun wirklich nichts dafür, dass ihnen an diesem schönen sonnigen Tag eine so hässlich zugerichtete Leiche präsentiert wird. Seine Stimme klingt heiser. Er muss sich erst räuspern, bevor er deutlich sprechen kann. Gómez versteht sofort. Wahrscheinlich hat auch der Arzt so etwas in seinem Leben noch nicht gesehen.

»Ich kann mich momentan noch nicht festlegen und bitte dafür um Verständnis, aber wahrscheinlich handelt es sich um eine männliche Leiche.«

Der Polizeichef starrt ihn an und beginnt langsam das wahre Ausmaß des Vorfalles zu begreifen. »Ist es so schlimm?«

Dr. Morales nickt. »Sehr schlimm. Ich habe in meiner ganzen Praxis bisher noch nie etwas Vergleichbares untersuchen müssen. Es ist wohl ein Brandbeschleuniger eingesetzt worden. Von der Leiche wäre im Normalfall kaum noch etwas übrig geblieben, wenn nicht der starke Regen eingesetzt hätte.«

Gómez denkt über diese Äußerung nach und kratzt sich wieder am Kopf. Eine dumme Angewohnheit, das weiß er, aber sie hilft ihm beim Kombinieren. »Dann muss der Körper also, wenn ich Sie recht verstehe, kurz vor dem Regenguss abgeladen und angezündet worden sein. Also zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens?«

»So ungefähr. Aber zum genauen Zeitpunkt des Todes kann ich, wie schon erwähnt, im Moment nichts sagen. Er kann schon wesentlich früher eingetreten sein. Genaueres kann nur die Obduktion in einem speziellen Labor ergeben. Ich habe bereits mit der medizinischen Fakultät der Universität La Laguna telefoniert. Die können sowas, die haben dort Fachpersonal für Brandopfer und die entsprechende technische Ausrüstung. Hier sind wir damit völlig überfordert.«

»Ich verstehe«, brummt Gómez und reibt sich das Kinn, »ich verstehe. Das bedeutet, wir müssen die Leiche oder das, was von ihr noch übrig ist, nach Teneriffa schaffen lassen. Ein verdammt lausiger Fall. Wir müssen sowieso mit allen wichtigen Dienststellen auf Teneriffa Kontakt aufnehmen, mit dem Morddezernat, der Guardia Civil, dem Innenministerium. Übernimmst du das, Felipe?«

»Wird sofort erledigt, bin schon dabei.«

Der Assistent hat das Handy gezückt und beginnt Nummern einzugeben, bricht mittendrin aber den Vorgang ab, klappt das Handy zu und wendet sich wieder an seinen Chef: »Sollten wir uns nicht vorher noch die Leiche ansehen? Ich meine persönlich, Capitán?«

Natürlich müssen sie das. Es ist ihre Pflicht. Sie können das Unvermeidbare nicht länger hinausschieben. Wie gern hätte sich Bernardo Gómez diesen Gang erspart. Aber das geht nicht. Ihm graut bereits jetzt davor. Ein Scheißjob ist das! Einmal dabei und im System, bleibt einem tatsächlich nichts mehr erspart. Er kann sich, soweit er zurückdenkt, an keinen ähnlichen Fall erinnern. Das alles passt nicht zu der ansonsten so friedlichen Insel Gomera.

»Vale, dann lasst uns gehen«, sagt er und blickt auffordernd in die Runde. »Wer kommt freiwillig mit?«

Niemand rührt sich. Alfonso Torres und Manuel Ramos blicken dezent beiseite. Die beiden scheiden aus, haben für heute bereits genug erlebt. Der gelackte Kerl aus Santiago? Der tut so, als würde er telefonieren. Dr. Morales hat sein Bestes getan. Und die anderen braucht er nicht dabei. Bleibt nur sein Assistent.

»Vámonos, Felipe. Bringen wir’s hinter uns.«

Felipe zieht ein gequältes Gesicht. Aber er will sich keineswegs vor den Kollegen blamieren und als Schwächling dastehen. Wenn er einmal Nachfolger auf dem Sessel des Capitán werden will (alle Heiligen mögen helfen, dass es eines Tages soweit kommt), muss er Entschlossenheit und Courage beweisen.

»Klar, Chef. Bringen wir es hinter uns.«

Während die anderen zu diskutieren beginnen, machen sich Bernardo Gómez und Felipe auf den Weg ins Schilfdickicht. Es ist feuchtheiß. Fliegen schwirren vor ihren Gesichtern, setzen sich auf die Haut.

Es ist ein langer, einsamer Marsch, den die beiden schweigend zurücklegen. Sie gehen nebeneinander, erreichen gleichzeitig den Ort, der jetzt, im grellen Licht der Sonne, gar nicht so schlimm aussieht. Ein kleiner verwahrloster Barranco mit üppiger Vegetation. Wenn da nur die Badewanne nicht wäre, über der eine surrende Wolke aus grün schimmernden Fliegen steht, und das, was sich in ihrem Inneren zu einer schwarzen, ekelhaften Masse zusammenklumpt.