Sieben Jahre - Peter Stamm - E-Book
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Sieben Jahre E-Book

Peter Stamm

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Beschreibung

Sonja ist schön und intelligent und lebt mit Alex. Eine vorbildliche Ehe, er müsste glücklich sein. Aber wann ist die Liebe schon einfach? Und wie funktioniert das Glück? Iwona wäre neben Sonja fast unsichtbar, sie ist spröde und grau. Aber Alex fühlt sich lebendig bei ihr – und weiß nicht, warum. Sie liebt ihn. Er trifft sie immer wieder, und als sie von ihm schwanger wird und das Kind kriegt, das Sonja sich wünscht, setzt er alles aufs Spiel. Peter Stamm erzählt so lakonisch und leidenschaftlich wie kein anderer von widerstreitenden Gefühlen und der Sehnsucht nach dem Leben. ›Sieben Jahre‹ ist ein großer Roman über die Zumutung des Glücks, geliebt zu werden.

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Seitenzahl: 339

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Peter Stamm

Sieben Jahre

Roman

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Inhalt

Lichter und Schatten enthüllen [...]Sonja stand in der [...]Schon seit Stunden saß [...]Das ist keine schöne [...]Als ich zu den [...]Antje stand erst auf, [...]Auch die Rückfahrt von [...]Hätten wir in jener [...]Der Brief kam zum [...]Antje schaute mich schweigend [...]Nach Sophies Geburt vergingen [...]Sophie wachte früh auf [...]Es war nicht ganz [...]Und sie lebten glücklich [...]

Lichter und Schatten enthüllen die Formen.Le Corbusier

Sonja stand in der Mitte des hellerleuchteten Raumes, im Zentrum wie immer. Sie hielt den Kopf etwas gesenkt und die Arme nah am Körper, ihr Mund lächelte, aber ihre Augen waren zusammengekniffen, als blende sie das Licht oder als habe sie Schmerzen. Sie wirkte abwesend, ausgestellt wie die Bilder an den Wänden, die niemand beachtete und die doch der Anlass des Zusammenkommens waren.

Ich rauchte einen Zigarillo und beobachtete durch das große Schaufenster der Galerie, wie ein gutaussehender Mann auf Sonja zuging und sie ansprach. Es war, als erwache sie. Sie lächelte, stieß mit ihm an. Er bewegte den Mund, in ihrem Gesicht war ein fast kindliches Erstaunen zu sehen, dann lächelte sie wieder, aber selbst von hier aus sah ich, dass sie dem Mann nicht zuhörte, dass sie an etwas anderes dachte.

Sophie war neben mir stehen geblieben. Auch sie schien nachzudenken. Dann sagte sie, Mama ist die schönste Frau der Welt. Ja, sagte ich und streichelte mit der Hand über ihren Kopf. Das ist sie, deine Mutter ist die schönste Frau der Welt.

Es hatte seit dem Morgen geschneit, aber der Schnee schmolz, sobald er den Boden berührte. Mir ist kalt, sagte Sophie und schlüpfte durch die Tür, die eben jemand geöffnet hatte, in die Galerie. Ein großer, kahlköpfiger Mann war herausgekommen, eine Zigarette im Mund. Er blieb unangenehm nah vor mir stehen, als kennten wir uns, und zündete sich die Zigarette an. Krasse Bilder, sagte er. Als ich nicht antwortete, wandte er sich ab und ging ein paar Schritte von mir weg. Er wirkte plötzlich unsicher und etwas verloren.

Ich schaute noch immer durch das Schaufenster. Sophie war zu Sonja gelaufen, deren Gesicht sich aufhellte. Der gutaussehende Mann, der immer noch neben ihr stand, schaute etwas betreten, fast beleidigt auf das Kind. Sonja beugte sich zu Sophie hinunter, die beiden redeten kurz miteinander, und Sophie zeigte nach draußen. Sonja schirmte mit der Hand die Augen ab und schaute mit gerunzelter Stirn und einem irritierten Lächeln in meine Richtung. Ich war ziemlich sicher, dass sie mich nicht sehen konnte in der Dunkelheit. Sie sagte etwas zu Sophie und schob sie mit der Hand in Richtung Tür. Für einen Moment verspürte ich den Impuls zu fliehen, mich mit den Menschen treiben zu lassen, die von der Arbeit kamen und nur für einen Moment ins Licht traten, das aus der Galerie strömte. Die Passanten warfen einen kurzen Blick auf die eleganten, schön angezogenen Menschen und gingen dann eilig weiter und tauchten unter in der Masse, unterwegs nach Hause.

Ich hatte Antje seit fast zwanzig Jahren nicht gesehen, trotzdem erkannte ich sie sofort. Sie musste ungefähr sechzig sein, aber ihr Gesicht wirkte noch immer jugendlich. Na, sagte sie und küsste mich auf die Wangen. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, trat ein junger Mann mit einem lächerlichen Bärtchen neben sie, flüsterte ihr etwas ins Ohr und zog sie am Arm von mir weg. Ich sah, wie er sie zu einem Herrn in schwarzem Anzug führte, dessen Gesicht ich vom Sehen kannte oder aus der Zeitung. Sophie hatte sich den Mann geschnappt, der sich vorhin an Sonja herangemacht hatte, und flirtete mit ihm, was ihn sichtlich in Verlegenheit brachte. Sonja hörte lachend zu, aber ich hatte wieder das Gefühl, sie sei in Gedanken anderswo. Ich ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Taille. Ich genoss den neidischen Blick des anderen Mannes. Er fragte Sophie, wie alt sie sei. Was schätzen Sie, sagte sie. Er tat, als denke er nach. Zwölf? Sie ist zehn, sagte Sonja, und Sophie sagte, du bist gemein. Du gleichst deiner Mutter, sagte der Mann. Sophie bedankte sich und machte einen Knicks. Sie ist die schönste Frau der Welt. Sie schien sehr genau zu begreifen, was vor sich ging.

Macht es dir etwas aus, wenn ich mit Sophie vorausfahre?, fragte Sonja. Antje wird wohl bis zum Schluss bleiben müssen. Ich bot ihr an, Sophie nach Hause zu bringen, damit sie bleiben könne, aber sie schüttelte den Kopf und sagte, sie sei furchtbar müde. Sie und Antje hätten ja das ganze Wochenende zusammen.

Sophie hatte ihren Verehrer gebeten, ihr ein Glas Orangensaft zu holen. Er fragte, ob sonst noch jemand etwas zu trinken wolle. Hörst du auf, andere Leute herumzukommandieren?, sagte ich. Von wem sie das nur hat, sagte Sonja. Sie biss sich auf die Lippen und schaute kurz auf den Boden und dann in meine Augen, aber ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Wir sind weg, sagte sie und küsste mich kurz auf den Mund. Macht keinen Lärm, wenn ihr nach Hause kommt.

 

Die Galerie fing an sich zu leeren, aber es dauerte lange, bis die letzten Gäste gegangen waren. Am Schluss war außer Antje und mir nur noch ein älterer Herr da, den sie mir nicht vorstellte. Die beiden standen nebeneinander vor einem der Bilder und redeten so leise, dass ich mich instinktiv von ihnen entfernte. Ich blätterte durch die Preisliste und schaute immer wieder zu dem Paar hinüber. Schließlich umarmte Antje den Mann, küsste ihn auf die Stirn und brachte ihn zur Tür. Dann kam sie zu mir. Das war Georg, sagte sie, ich war mal verrückt nach ihm. Sie lachte. Schwer zu verstehen, nicht wahr? Das war vor hundert Jahren. Sie ging zur Theke und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück. Sie hielt mir eines hin, aber ich schüttelte den Kopf. Ich trinke nicht mehr. Sie lächelte skeptisch, leerte ihr Glas in einem Zug und sagte, dann bin ich bereit.

Der Galerist hatte Antje den Schlüssel dagelassen. Sie drückte endlos auf den Lichtschaltern herum, bis endlich alle Lampen gelöscht waren. Draußen hängte sie sich bei mir ein und fragte, ob es weit sei bis zum Wagen. Es schneite noch immer ein wenig. Was für ein Wetter, sagte sie. Das nächste Mal treffen wir uns wieder in Marseille. Sie fragte mich, ob mir die Bilder gefielen. Du bist zivilisierter geworden, sagte ich. Subtiler, hoffe ich, sagte Antje. Ich verstehe nichts von Kunst, sagte ich, aber im Gegensatz zu früher kann ich mir jetzt vorstellen, eines deiner Bilder zu Hause aufzuhängen. Antje sagte, sie sei sich nicht sicher, ob das ein Kompliment sei.

Ich fragte sie, ob sie Sonjas Eltern nicht zur Vernissage eingeladen habe? Ich hätte gedacht, sie kämen. Antje gab keine Antwort. Wenn du sie besuchen willst, leihe ich dir gern den Wagen, sagte ich, nach Starnberg ist es ja nur ein Katzensprung. Antje schwieg immer noch. Erst als wir beim Auto angekommen waren, sagte sie, sie habe ja kaum Zeit und sie sei zu müde, um in der Gegend herumzufahren. Die Vorbereitung der Ausstellung sei ein furchtbarer Stress gewesen. Ich fragte sie, ob irgendetwas nicht stimme. Antje zögerte. Nein, sagte sie, oder doch. Sie sind alt geworden und engherzig. Das waren sie doch schon immer, sagte ich. Antje schüttelte den Kopf. Natürlich seien Sonjas Eltern immer konservativ gewesen, sagte sie, aber ihr Vater habe früher ein echtes Interesse für Kunst gehabt. Sie habe sich oft mit ihm darüber unterhalten. In den letzten Jahren habe er sich dann immer mehr verschlossen, vielleicht sei es eine Frage des Alters. Er könne nichts Neues mehr gelten lassen und er sei bitter geworden. Er muss ja nicht in allem meiner Meinung sein, sagte sie, aber er sollte sich wenigstens anhören, was ich zu sagen habe. Das letzte Mal als wir uns sahen, hatten wir einen Riesenstreit über Gursky. Seither habe ich keine Lust mehr, ihn zu sehen.

Ich fragte mich, ob Antje noch andere Gründe hatte, Sonjas Vater zu meiden. Ich hatte oft den Verdacht gehabt, dass sie irgendwann eine Affäre mit ihm gehabt hatte. Als ich Sonja einmal danach fragte, hatte sie empört reagiert und gesagt, ihre Eltern führten eine harmonische Ehe. Wie wir, hatte ich gedacht und nichts weiter gesagt.

Obwohl nicht mehr viel Verkehr war, brauchten wir lange, um aus der Stadt herauszukommen. Antje schwieg. Ich schaute zu ihr hinüber und sah, dass sie die Augen geschlossen hatte. Ich dachte schon, sie wäre eingeschlafen, als sie sagte, sie habe sich manchmal gefragt, ob sie mir damals einen Gefallen getan habe. Wie meinst du das? Womit? Sonja war unsicher, sagte Antje. Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Antje, Sonja sei sich nicht sicher gewesen, ob wir zueinander passten. Ob ich gut genug für sie bin? Du hattest Potenzial, sagte Antje, ich glaube, das war das Wort, das sie damals benutzt hat. Der andere ... Rüdiger, sagte ich. Ja, Rüdiger, der war lustig, aber viel zu lasch. Und dann war da noch einer. Sie dachte nach. Der nachher die Musikerin geheiratet hat. Ferdi?, fragte ich. Kann sein, sagte Antje.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sonja sich jemals für Ferdi interessiert hatte. Das dauerte nicht lange, sagte Antje. Sie hat etwas mit ihm gehabt? Wir standen an einer Ampel, und ich schaute Antje an. Sie lächelte entschuldigend. Ich glaube nicht, dass sie mit ihm geschlafen hat, wenn du das meinst. Hat sie dir das nie erzählt?

Sonja hatte nie viel erzählt. Es war mir oft gewesen, als habe sie vor unserer Beziehung kein Leben geführt oder als habe dieses frühere Leben keine Spuren hinterlassen außer in den Fotoalben in ihrem Bücherregal, die sie nie hervornahm. Wenn ich die Bilder anschaute, war es mir, als stammten sie aus einer weit zurückliegenden Zeit, aus einem anderen Leben. Manchmal fragte ich Sonja nach ihrer Zeit mit Rüdiger, dann gab sie einsilbige Antworten. Sie frage mich ja auch nicht, was ich getrieben habe, bevor wir zusammen gewesen seien. Es macht mir nichts aus, sagte ich. Jetzt gehörst du ja mir. Aber Sonja schwieg beharrlich. Ich fragte mich manchmal, ob sie einfach nichts zu erzählen hatte.

Antjes Lächeln hatte sich verändert, jetzt wirkte es spöttisch. Ihr Männer wollt immer die Eroberer sein, sagte sie. Versuch es von der positiven Seite zu sehen. Sie hat die Optionen geprüft und sich für dich entschieden.

Der Wagen hinter mir hupte, und ich fuhr so ruckartig los, dass die Reifen quietschten. Und was hast du für eine Rolle gespielt in dem Ganzen?, fragte ich. Kannst du dich an die erste Nacht erinnern, die ihr bei mir verbracht habt?, sagte Antje. Sonja ist früh schlafen gegangen, und wir haben zusammen meine Bilder angeschaut. Da hatte ich größte Lust, dich zu verführen. Du hast mir gefallen, ein hübscher kleiner Student. Stattdessen habe ich dich an der Nase herumgeführt und dir erzählt, Sonja sei verliebt in dich. Und ihr habe ich am nächsten Tag gut zugeredet. Warum hast du das gemacht? Antje zuckte mit den Schultern. Nimmst du es mir übel? Die Frage klang ganz ernsthaft. Aus Spaß, sagte sie dann, ich habe dich verteidigt. Da war irgendeine Sache mit einer anderen Frau, einer Ausländerin, glaube ich. Das müsstest du doch am besten wissen. Iwona, sagte ich und seufzte, das ist eine lange Geschichte.

Schon seit Stunden saß ich mit Ferdi und Rüdiger in einem Biergarten in der Nähe des Englischen Gartens. Es war ein heißer Julinachmittag, und das Licht war blendend weiß. Zehn Tage zuvor hatten wir unsere Diplomarbeiten abgegeben, in einer Woche mussten wir die Projekte vorstellen. Bis dahin blieb uns nicht viel mehr zu tun, als die Zeit zu vertreiben und uns gegenseitig Mut zu machen. Wir hatten alle drei das allgemeine Thema gewählt, ein Museum der Moderne auf einem Areal am Rand des Hofgartens, und jetzt skizzierten wir unsere Lösungen und schoben unsere Zeichenblöcke hin und her. Wir diskutierten laut und genossen es, wenn die anderen Gäste sich nach uns umdrehten. Rüdiger sagte, mein Entwurf erinnere ihn an Aldo Rossi. Ich war beleidigt und sagte, er habe keine Ahnung. Es gibt schlimmere Vorbilder als die alten Meister, meinte Ferdi, aber Alex will mit jedem Entwurf die Architektur neu erfinden. Dann erklär mir, was das mit Rossi zu tun hat, sagte ich und zeichnete eine Ansicht meines Baus und schob sie über den Tisch. Aber Rüdiger war schon anderswo. Er sprach über den Dekonstruktivismus, sagte, der Architekt sei der Psychotherapeut der reinen Form und ähnlichen Unsinn.

Zwei Mädchen hatten sich an unseren Tisch gesetzt. Sie trugen leichte Sommerkleider und waren auf uninteressante Weise hübsch. Nach einer Weile verwickelten wir sie in ein Gespräch. Eine der beiden arbeitete in einer Werbeagentur, die andere studierte Kunstgeschichte oder Ethnologie oder etwas in der Art. Es war ein verspieltes Gespräch, das nur aus einzelnen Sätzen bestand, aus Scherzen und Erwiderungen, die nirgendwohin führten. Als die Mädchen bezahlten, schlug Ferdi vor, wir sollten alle zusammen in den Englischen Garten gehen. Sie zögerten kurz und besprachen sich leise, dann sagte die Werberin, sie hätten noch etwas vor, aber wir könnten uns später treffen beim Monopteros. Im Gehen steckten sie die Köpfe zusammen, und nach ein paar Metern drehten sie sich noch einmal nach uns um und winkten uns lachend zu.

Die Blonde gehört mir, sagte Ferdi. Die Braune ist viel hübscher, sagte Rüdiger. Aber die Blonde hat den schöneren Busen, sagte Ferdi. Du dekonstruierst schon wieder, sagte Rüdiger. Zwei Frauen für uns drei, das geht nicht auf. Ferdi schaute mich an. Du musst dir selbst eine beschaffen. Warum ich?, protestierte ich. Ferdi grinste. Du bist der Hübscheste von uns. Die da drüben beobachtet uns schon die ganze Zeit.

Ich wandte mich um und sah ein paar Tische weiter im Schatten einer der großen Linden eine lesende Frau. Sie musste ungefähr in unserem Alter sein, aber sie war vollkommen reizlos. Ihr Gesicht war verquollen, ihr Haar aufgelöst und weder kurz noch lang. Vermutlich hatte sie sich vor langer Zeit eine Dauerwelle machen lassen, aber die Frisur hatte ihre Form verloren, und die Haare hingen ihr ins Gesicht. Ihre Kleidung wirkte ältlich und billig. Sie trug einen braunen Rock aus Manchesterstoff, eine gemusterte Bluse in stumpfen Farben und um den Hals ein Foulard. Ihre Nase war gerötet, und vor ihr auf dem Tisch lagen ein paar zerknüllte Papiertaschentücher. Während ich die Frau noch betrachtete, schaute sie von ihrem Buch auf und unsere Blicke trafen sich. Ihr Gesicht verzog sich zu einem gequälten Lächeln, und in einer Art Reflex lächelte ich auch. Sie schlug die Augen nieder, aber selbst ihre Schüchternheit wirkte unangemessen und auf unsympathische Art kokett.

Die Herzen der Frauen fliegen ihm zu, sagte Ferdi. Die kriegt er nicht, sagte Rüdiger. Wollen wir wetten? Noch bevor ich antworten konnte, sprach er weiter. Ich wette, die kriegst du nicht rum. In seinen Augen war jetzt ein trauriger Ausdruck. Ich sagte, die nähme ich nicht mal geschenkt. Das wollen wir doch mal sehen, sagte Ferdi und stand auf. Die Frau schaute wieder zu uns herüber. Als sie merkte, dass Ferdi auf sie zukam, nahm ihr Gesicht einen zugleich ängstlichen und erwartungsvollen Ausdruck an. Ist der verrückt, stöhnte ich und wandte mich ab. Die Angelegenheit war mir jetzt schon peinlich. Ich schaute mich nach der Kellnerin um. Du wirst doch jetzt nicht kneifen, sagte Rüdiger, zeig, dass du ein Mann bist. Das bringt doch nichts, sagte ich und streckte die Beine aus. Meine gute Laune war verschwunden, ich fühlte mich nutzlos und schäbig und ärgerte mich über mich selbst. Es war mir, als träten die Stimmen und das Gelächter in den Hintergrund und als höre ich durch den gedämpften Lärm hindurch ganz deutlich das Geräusch von Schritten im Kies, die sich uns näherten.

Das ist Iwona aus Polen, sagte Ferdi. Und das sind Rüdiger und Alexander. Er stand hinter mir, ich musste fast senkrecht zu ihm hochschauen. Setz dich, sagte Ferdi. Die Frau stellte ihr Glas auf den Tisch und legte die Papiertaschentücher und das Buch daneben, ein Liebesroman mit buntem Umschlag, auf dem vor stürmischem Himmel ein Mann und eine Frau auf einem Pferd zu sehen waren. Sie setzte sich zwischen mich und Rüdiger. Sie saß da, die Hände im Schoß und mit sehr geradem Rücken. Unruhig schaute sie zwischen uns hin und her. Ihre Haltung war verkrampft, dabei hatte ihre ganze Erscheinung etwas Lasches, Kraftloses. Sie sah aus wie jemand, der jede Hoffnung aufgegeben hat, irgendwem zu gefallen, und sei es sich selbst.

Schönes Wetter, sagte Rüdiger und lachte ungläubig und etwas verlegen. Ja, sagte Iwona. Aber heiß, sagte Ferdi. Iwona nickte. Ich fragte, ob sie erkältet sei. Sie habe Heuschnupfen, sagte sie. Sie sei allergisch auf alle möglichen Pollen. Auf alle möglichen Polen?, fragte Ferdi, und Rüdiger lachte dämlich. Auf Staub von Gräsern, sagte Iwona, ohne das Gesicht zu verziehen. So ging das weiter. Ferdi und Rüdiger stellten ihr dumme Fragen, und sie antwortete, als merke sie nicht, wie die beiden sich über sie lustig machten. Sie schien sich im Gegenteil über das Interesse zu freuen und lächelte nach jeder ihrer einsilbigen Antworten. Sie komme aus Posen, sagte sie. Ich habe gemeint aus Polen, sagte Rüdiger. Posen ist eine Stadt in Polen, erwiderte Iwona geduldig. Ihr Deutsch war fast akzentfrei, aber sie sprach vorsichtig und langsam, als sei sie ihrer Sache nicht sicher. Sie sagte, sie arbeite in einer Buchhandlung. Sie wolle ihr Deutsch verbessern und mit dem Geld, das sie verdiene, unterstütze sie ihre Eltern. Ihr Vater sei Invalide, was ihre Mutter verdiene, reiche vorn und hinten nicht.

Iwona war mir vom ersten Moment an unangenehm. Sie tat mir leid, gleichzeitig ärgerte mich ihre lammfromme, geduldige Art. Statt Ferdi und Rüdiger zu bremsen, war ich nahe daran, ihr grausames Spiel mitzuspielen. Iwona schien das geborene Opfer zu sein. Als Ferdi sagte, wir hätten uns mit zwei Frauen im Englischen Garten verabredet, ob Iwona nicht Lust habe mitzukommen, wollte ich protestieren, aber was hätte ich sagen können? Iwona zögerte. Um vier beim Monopteros, sagte Ferdi und wandte sich uns zu. Wollen wir gehen?

 

Wir waren pünktlich beim Treffpunkt. Die beiden Mädchen kamen kurz nach uns, nur von Iwona war nichts zu sehen. Die kommt nicht, sagte ich, Gott sei Dank. Wer kommt nicht?, fragte eines der Mädchen. Die Freundin von Alex, sagte Ferdi und zu mir gewandt, warte du auf sie, du weißt ja, wo wir sind.

Rüdiger sagte, er leiste mir Gesellschaft. Wir setzten uns auf das Podest des kleinen Tempels, und er bot mir eine Zigarette an. Die Hässlichsten sind am schwersten rumzukriegen, sagte er. Weil sie keinen bekommen, glauben sie, sie seien etwas Besonderes. Ich schüttelte den Kopf. Unsinn. Iwona erinnere ihn an ein Mädchen, mit dem er am Anfang seiner Gymnasialzeit gegangen sei, sagte Rüdiger. Im Nachhinein könne er sich selbst nicht erklären weshalb. Eigentlich sei er da schon in Sonja verliebt gewesen, aber sie habe ihn überfordert mit ihrer Schönheit und allem. Vermutlich habe ich mich aus Angst vor ihr für die andere entschieden, sagte Rüdiger, oder ich wollte Sonja provozieren. Brigitte sah nicht gut aus, und sie war furchtbar anstrengend und meistens schlecht gelaunt. Mehr als küssen und ein bisschen fummeln durfte ich nicht. Aber von ihr trennen konnte ich mich irgendwie doch nicht. Sie hat mich manipuliert, ich habe nie ganz herausgekriegt, wie sie das geschafft hat. Er erzählte weiter, aber ich hörte nicht mehr zu. Meine Laune war nicht besser geworden. Das Bier hatte mich müde gemacht, ich schwitzte und fühlte mich unwohl. Ich fragte mich, weshalb ich auf Iwona wartete, wenn mir ihre Gesellschaft so unangenehm war. Vielleicht aus einem Rest von Anstand, vielleicht aus Neugier, vielleicht auch nur, weil es zum Gehen einen Entschluss erfordert hätte und meine schlechte Laune mich lähmte.

Iwona kam zwanzig Minuten zu spät. Sie trug dieselben Kleider wie am Mittag und zusätzlich ein beiges Strickjäckchen, obwohl es immer noch heiß war. Sie entschuldigte sich nicht und nannte auch keinen Grund für ihre Verspätung. Also los, sagte Rüdiger und stand auf.

Wir trafen die anderen an einer Stelle in der Nähe des Sees, wo wir oft waren. Die Mädchen begrüßten Iwona, aber sie beachteten sie kaum. Wir hatten Decken mitgebracht und Ferdi ein paar Flaschen Bier, das lauwarm war. Träge lagen wir da und reichten die Flaschen herum und redeten über alles Mögliche. Iwona trank nichts und beteiligte sich kaum am Gespräch. Sie putzte sich nur dann und wann die Nase und lächelte einfältig, wenn einer von uns eine besonders dumme Bemerkung machte. Ein paar Mal wollte sie etwas sagen, aber dann fiel ihr jemand ins Wort, und sie schwieg sofort wieder. Ich merkte, dass sie mich beobachtete. Jedes Mal, wenn ich zu ihr hinschaute, schaute sie weg, als hätte ich sie ertappt. Wieder hatte ich Lust, sie zu kränken, zu verletzen. Ihre Hässlichkeit und ihre Ärmlichkeit reizten mich, ihr Verlangen, zu uns zu gehören, entblößte uns und machte uns lächerlich. Ich überlegte mir, wie wir sie abschütteln könnten. Wollen wir baden gehen?, fragte ich schließlich. Wir packten unsere Sachen und gingen los. Iwona hatte nichts gesagt, aber sie trottete hinter uns her zum Eisbach. Der größte Teil der Liegewiese lag schon im Schatten, und die wenigen Leute, die noch da waren, drängten sich auf den letzten sonnigen Flecken. Ich hatte gedacht, die nackten Leute würden Iwona abschrecken, aber sie zeigte keinerlei Reaktion und setzte sich stumm auf eine der Decken, als stehe der Platz ihr zu. Ferdi sagte, er ginge Bier kaufen, und verschwand.

Die Mädchen trugen Bikinis unter den Kleidern, Rüdiger und ich zogen uns aus und rannten nackt hinunter zum Wasser und sprangen hinein. Als wir kurz darauf zurückkamen, lagen die Mädchen nebeneinander auf der Decke und redeten leise. Die Blondine hatte ihr Bikinioberteil ausgezogen, als wir uns näherten, drehte sie sich auf den Bauch. Iwona saß im Schatten, sie hatte nicht einmal ihre Strickjacke abgelegt. Sie schaute mich an mit ihrem erstaunten Blick, und meine Nacktheit war mir peinlich, und ich zog Unterhose und Hose an. Dann spielte ich mit Rüdiger Frisbee. Die Mädchen schienen sich nicht für uns zu interessieren, vermutlich sprachen sie darüber, wie sie den Abend verbringen würden, und ich war sicher, wir spielten in ihren Plänen keine Rolle. Tatsächlich sagten sie, als Ferdi endlich zurückkam, sie müssten los. Ferdi versuchte halbherzig sie zurückzuhalten, aber ich glaube, im Grunde waren wir alle froh, dass sie gingen. Nur Iwona machte keinerlei Anstalten aufzubrechen.

Inzwischen lag die ganze Wiese im Schatten. Die letzten Badenden hatten sich angezogen und waren gegangen und ließen sich jetzt wohl durch die Biergärten und Kneipen der Stadt treiben. Ich wurde von einer Mischung aus Melancholie und Erwartung erfasst, es war, als sei die Gegenwart auf einen kurzen Augenblick zusammengeschrumpft und habe sich getrennt vom Vergangenen und vom Zukünftigen, das weit entfernt schien und unerreichbar. Rüdiger und Ferdi fingen wieder an, über Architektur zu diskutieren, aber es war nicht wie vorher. Iwona saß da, etwas abseits, die Arme um ihre bleichen Beine geschlungen. Sie sagte nichts, trotzdem störte sie uns. Ferdi, der mit dem Rücken zu ihr saß, machte mit den Händen Würgebewegungen und beugte sich zu mir und flüsterte, ich glaube, wir müssen sie ins Wasser schmeißen, anders werden wir die nie mehr los. Rüdiger hatte Ferdis Worte gehört und sagte halblaut, du hast sie eingeladen, das ist deine Sache. Sie gehört Alex, sagte Ferdi. Ich weiß nicht, ob Iwona uns hörte, jedenfalls reagierte sie nicht. Sie hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schaute in die Bäume. Es hat keinen Sinn, sagte Rüdiger und stand auf.

Wir räumten unsere Sachen zusammen. Iwona stand umständlich auf und schaute zu, wie wir die Decken aufrollten. Als wir gingen, folgte sie uns, ohne dass wir sie dazu eingeladen hätten. Sie ging immer ein paar Meter hinter uns. Auf drei rennen wir los, sagte Ferdi und zählte bis drei und spurtete los, aber nach ein paar Schritten blieb er stehen und wartete, bis wir ihn eingeholt hatten.

Wir gingen in den Biergarten, in dem wir schon am Mittag gewesen waren. Wir mussten uns zu anderen Leuten an den Tisch setzen. Iwona saß neben mir. Wieder sagte sie kein Wort, und sie schien auch nicht zuzuhören, worüber wir sprachen. Später tauchten ein paar Freunde von uns auf, und wir mussten zusammenrücken. Iwona wurde gegen mich gepresst, und ich spürte die Wärme und die Weichheit ihres Oberschenkels und ihres Hinterns.

Irgendwann, mir war schwindlig vom Alkohol und vom Lärm, legte ich eine Hand auf Iwonas Oberschenkel und streichelte ihn ohne Absicht und ohne Ziel. Die Berührung galt nicht ihr, es war, wie wenn ein Tier sich neben ein anderes legt auf der Suche nach Wärme. Als ich wenig später aufstand und mich mit einer Handbewegung verabschiedete, stand auch sie auf und folgte mir wie ein Hund seinem Herrn. Beim Ausgang des Biergartens sagte sie, sie gehe schnell zur Toilette. Ich überlegte, ob ich einfach verschwinden sollte, aber inzwischen erregte mich der Gedanke, mit ihr zusammen zu sein. Es war nicht das übliche Hin und Her, das Spiel wie sonst, wenn ich eine Frau zu erobern versuchte. Ich hatte das Gefühl, Iwona liefere sich mir aus, ich hätte alle Macht über sie und könne mit ihr machen, was ich wolle. Dabei war sie mir völlig gleichgültig. Ich hatte nichts zu verlieren und nichts zu befürchten.

Es dauerte lange, bis Iwona von der Toilette zurückkam. Ich fragte, ob ich sie nach Hause begleiten solle. Sie sagte, es sei nicht weit. Der Weg führte durch einen kleinen Park. Die Luft war kühler hier und roch nach feuchter Erde und nach Hundekot. An der dunkelsten Stelle packte ich Iwona und küsste sie. Sie ließ sich meine Küsse gefallen und wehrte sich auch nicht, als ich nach ihren Brüsten und ihrem Hintern tastete. Als ich versuchte, ihren Gürtel zu lösen, drehte sie sich weg und nahm mich an der Hand.

Sie hatte ein Zimmer in einem Studentenwohnheim für Frauen. Sie ging vor mir die Treppe hoch. Ich war ein wenig nüchterner als vorher, und langsam wurde mir bewusst, was für eine Dummheit ich beging, aber ich war zu erregt, und es schien mir unmöglich, jetzt noch umzukehren. Iwona schloss die Tür ihres Zimmers auf und machte Licht. Kaum hatte sie die Tür hinter uns zugemacht, umarmte ich sie wieder und zog sie zu dem schmalen Bett. Ich versuchte sie auszuziehen, aber sie ließ es nicht zu. Sie wand und wehrte sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit. Ich küsste sie und berührte sie am ganzen Körper und schob meine Hand in den Bund ihres Rocks, aber ihr Gürtel war so eng geschnallt, dass ich kaum die Finger bewegen konnte. Flach lag meine Hand auf Iwonas Bauch, und ich spürte ihr dichtes Schamhaar. Iwona gab ein Geräusch von sich, eine Art Winseln, ich wusste nicht ob vor Lust oder aus Angst oder beides. Ich war seit langem nicht so erregt gewesen, vielleicht, weil es mir vollkommen einerlei war, was Iwona von mir dachte. Ich versuchte mit der anderen Hand ihren Gürtel zu lösen. Wieder wehrte sie mich ab. Ich sagte irgendwelchen Blödsinn. Sie murmelte, nein, und, nicht. Ihre Stimme klang dunkel und weich.

 

Als ich erwachte, war ich benommen und wusste kaum, wo ich war. Draußen dämmerte es, der Raum lag im Zwielicht. Mein Kopf tat weh, und ich musste dringend auf die Toilette. Mein Oberkörper war nackt, Iwona trug alle ihre Kleider, nur die obersten Knöpfe ihrer Bluse waren geöffnet.

Während ich ins Waschbecken urinierte, öffnete ich das Spiegelschränkchen, das vollgestopft war mit Shampoomustern und Medikamenten, deren Namen ich nicht kannte und von denen ich nicht wusste, wozu sie gut waren. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Iwona wach war und mich beobachtete. Ich sagte, ich gehe jetzt. Da stand sie auf und trat zu mir und flüsterte mir ins Ohr, ich liebe dich. Es klang nicht wie eine Liebeserklärung, eher wie eine Feststellung, an der nicht zu rütteln ist. Ich wandte mich ab und suchte nach meinem Hemd und meinem Unterhemd. Iwona schaute mir beim Anziehen zu, als sei es ihr Recht, in ihren Augen glaubte ich etwas wie Stolz zu sehen. Ich ging ohne ein weiteres Wort.

Vor dem Wohnheim versuchte ich mich zu orientieren. Ich erinnerte mich nicht mehr, aus welcher Richtung wir gestern Nacht gekommen waren. Die Vögel in den Bäumen sangen unglaublich laut, einen Moment lang hatte ich den absurden Gedanken, sie würden gleich über mich herfallen. Ich fragte mich, was ich hier machte und wie es so weit hatte kommen können. Die ganze Angelegenheit war mir peinlich, und ich hoffte nur, dass mich niemand mit Iwona hatte weggehen sehen. Zugleich war ich in seltsamer Hochstimmung. Alles, was ich bisher mit Frauen erlebt hatte, erschien mir wie ein Spiel im Vergleich mit der vergangenen Nacht. Mit Iwona hatte ich mich erwachsen gefühlt, verantwortlich und dabei ganz frei.

 

Ich wohnte in einem der kleinen Bungalows im Olympiadorf. Das Häuschen war winzig, aber alle meine Freunde, die in WGs oder in Studentenwohnheimen lebten, beneideten mich darum. Hunderte von Bungalows lagen an schmalen Gassen aufgereiht mitten zwischen einem Gebirge von Hochhäusern und bildeten wirklich eine Art Dorf. Sie waren für die Olympiade als Unterkünfte für Sportler gebaut worden. Seit dem Ende der Spiele wurde die Anlage von Studenten bewohnt. Ich bezahlte dreihundert Mark für ein Häuschen mit vierundzwanzig Quadratmetern Wohnfläche. Im unteren Stock gab es einen begehbaren Schrank, eine kleine Küche und die legendäre Duscheinheit Nizza, ein Fertigbad aus Kunststoffelementen, in dem man sich fühlte wie in einem Raumschiff. Im oberen Stock war das Arbeits- und Schlafzimmer. Eine Wand des Arbeitszimmers war komplett verglast, und davor war eine kleine Terrasse. Um Platz zu sparen, war über der Treppe ein Hochbett eingebaut. Im Dorf kursierten Geschichten von Abstürzen während wilder Liebesnächte, aber vermutlich waren das nur Studentenphantasien.

Die Bungalows waren schnell gebaut worden und nicht in bestem Zustand. Die Fenster waren nicht dicht, trotzdem musste man dauernd lüften, weil sich sonst Schimmel bildete im Wandschrank. Das Studentenwerk hatte uns Farbe zur Verfügung gestellt, um die Fassaden zu bemalen. Manche hatten richtige Kunstwerke geschaffen, andere schmierten politische Parolen an die Wände. Einige der Bilder sahen aus wie Kinderzeichnungen.

Es gab im Dorf oft Feste und spontane Grillpartys. Besonders im Sommer war es laut, und es war schwierig, sich auf das Lernen zu konzentrieren. Aus den benachbarten Bungalows hörte man jedes Geräusch. Neben mir wohnte ein Germanistikstudent. Ich kannte kaum seinen Namen, aber ich wusste alles über sein Liebesleben und bekam jeden Streit und jede Versöhnung mit seiner Freundin mit. Sonja, die mit mir studierte, besuchte mich hin und wieder. Sie interessierte sich für die Architektur des Olympiadorfs, und später kam sie, um mit mir zu lernen. Einmal, an einem heißen Sommernachmittag, als wir zusammen Architekturgeschichte büffelten, war aus dem Nachbarhaus Geschrei zu hören. Ich wollte schon rübergehen, um mich zu beschweren, da wurde es still. Etwas später hörten wir die Lustschreie einer Frau. Sonja begriff erst gar nicht und meinte, jemand werde bedroht, wir müssten nachschauen, was los sei. Ich glaube nicht, dass sie Hilfe brauchen, sagte ich lachend. Erst da schien Sonja zu verstehen, was los war. Ich sagte, ich hätte doch besser Germanistik studieren sollen, da müsse man nicht so viel arbeiten und habe Zeit für anderes. Sonja errötete und sagte, sie gehe zur Toilette. Als sie zurückkam, hatte der Lärm noch immer nicht aufgehört, und nach einigen Minuten meinte sie, sie müsse los, sie habe noch eine Verabredung. Von da an trafen wir uns zum Lernen in der Bibliothek.

Es war noch nicht sieben, als ich nach Hause kam. Im Studentendorf war es still, und die Gassen waren menschenleer. Ich stellte die Kaffeemaschine an und duschte, dann machte ich mich auf, ohne ein Ziel zu haben. Ich war euphorisch und musste mich bewegen. Ich ging Richtung Innenstadt und dachte an die Zukunft. Alles schien möglich zu sein, nichts würde mich aufhalten können. Ich würde eine Stelle finden in einem großen Architekturbüro, später würde ich mein eigenes Büro gründen und große Bauten verwirklichen auf der ganzen Welt. Ich ging durch die Stadt und schaute in die Schaufenster der Autohändler und sah mich schon hinter dem Steuer eines der luxuriösen Wagen sitzen und von Baustelle zu Baustelle fahren.

Ich ging in die Bibliothek und las in der Zeitung einen längeren Artikel über die Flüchtlingswelle aus der DDR, und irgendwie passte auch das zu meinem Gefühl von Freiheit und Aufbruch. Alles schien möglich zu sein, auch wenn der Kommentator noch zur Vorsicht mahnte und nicht an einen Zusammenbruch der DDR glaubte. Mittags aß ich ein Sandwich, dann zog ich weiter, ging durch die Stadt, trank Kaffee, kaufte mir eine Hose und ein paar weiße T-Shirts. Als ich gegen Abend ins Studentendorf zurückkam, war ich müde und zufrieden, wie nach einem langen Arbeitstag.

Ich war früh schlafen gegangen, trotzdem erwachte ich erst gegen Mittag. Das Telefon weckte mich. Es war Sonja. Sie fragte, was ich machte. Nichts, sagte ich, ich erhole mich von den Strapazen der Diplomarbeit. Wir verabredeten uns zum Mittagessen in der Nähe der Bibliothek.

Meine Beziehung zu Sonja war ziemlich kompliziert. Sie war mir schon am ersten Tag des Studiums aufgefallen, aber kennengelernt hatte ich sie erst durch Rüdiger. Wir verstanden uns gut und fingen irgendwann an, zusammen zu lernen. Sie hatte mehr Talent als ich und war viel fleißiger. Dabei war sie großzügig und hätte nie wie Ferdi und ich die Arbeit anderer schlechtgemacht. Sie war nicht unkritisch, aber sie blieb immer fair und verpackte ihre Kritik so, dass man das Gefühl hatte, sie mache einem ein Kompliment. Bei den Professoren war sie ebenso beliebt wie bei den Studenten. Sie hatte die Fähigkeit, Menschen zu bewundern, und wurde vielleicht deshalb selbst bewundert. Sie und Rüdiger schienen perfekt zusammenzupassen. Sie wirkten wie ein Ehepaar, wenn sie Partys veranstalteten und uns in die Häuser ihrer Eltern einluden, als gehörten sie ihnen schon. Bei einer dieser Partys hatte ich Alice kennengelernt, mit der ich einige Monate zusammen war. Sonja und ich hatten uns dann ungefähr zur selben Zeit, mitten im Prüfungsstress, von unseren Partnern getrennt, und vielleicht kamen wir uns auch dadurch näher. Meine Trennung von Alice war hässlich gewesen, und Sonja, die mit Alice befreundet war, hatte sich von ihr nächtelang anhören müssen, was für ein Schwein ich sei und was ich ihr angetan hätte. Erstaunlicherweise schien sie das nicht gegen mich aufzubringen. Im Gegenteil, in dieser Zeit freundeten wir uns richtig an. Am Anfang dachte ich, Sonja wollte mich und Alice wieder zusammenbringen, bis sie sagte, Alice dürfe nichts von unseren Treffen wissen, es würde ihre Freundschaft zerstören. Dass Rüdiger davon wisse, sei kein Problem, sie hätten sich in gegenseitigem Einvernehmen und ohne böse Worte getrennt. Wenn man die beiden zusammen sah, hätte man glauben können, sie seien immer noch ein Paar. Ich fragte Sonja, was der Grund ihrer Trennung gewesen sei. Ach, sagte sie und machte eine vage Handbewegung.

Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, mich in Sonja zu verlieben, aber so naheliegend es gewesen wäre, so unangebracht schien es. Vielleicht kannten wir uns schon zu gut, war unsere Freundschaft schon zu gefestigt. Einmal machte ich eine Anspielung. Das wäre doch ideal, sagte ich, wenn Alice mit Rüdiger ginge und wir zwei miteinander. Stell dir das vor!, sagte Sonja lachend. Sie hatte recht. Ich konnte sie mir nicht als meine Freundin vorstellen, nicht im Bett, noch nicht einmal nackt. Sie war sehr schön, aber sie hatte etwas Unnahbares. Ein wenig kam sie mir vor wie jene Puppen, deren Kleider festgenäht und ein Teil ihres Körpers sind. Obwohl, sagte Sonja, Rüdiger und Alice wären ein schönes Paar. Wir beide doch auch. Es würde Alice umbringen, sagte Sonja. Außerdem habe ich im Moment ohnehin keine Zeit für eine Beziehung. Erst müsse sie sich um eine Stelle kümmern. Sie wolle ins Ausland gehen und da wäre eine feste Bindung nur hinderlich. Ich möchte mal erleben, dass du dich richtig verliebst, sagte ich, so, dass es weh tut. Sie lachte. Ich sei gerade der Richtige, das zu sagen.

 

Ich war vor Sonja in der Kneipe und sah durch das Fenster, wie sie über die Straße auf mich zukam. Sie trug eine weiße Hose und ein ärmelloses weißes T-Shirt und war braun gebrannt. Als sie ins Lokal trat, drehten sich alle nach ihr um. Sie kam an meinen Tisch und küsste mich auf die Wangen. Während sie sich setzte, schaute sie sich kurz um, als suche sie jemanden. Der Kellner war da, bevor ich ihm ein Zeichen geben konnte.

Sonja erzählte von einem Wettbewerb, an dem sie teilnehmen wollte, ein Kinderhort für einen großen Industriebetrieb. Sie setzte ihre Brille auf, mit der sie mir noch besser gefiel, und zeigte mir ihre Skizzen. Ich machte ein paar Vorschläge, die sie alle verwarf. Ich sei auch schon besser gewesen. Ich sagte, ich hätte schlecht geschlafen. Sie schaute mich mit gespieltem Bedauern an und sprach weiter von ihrem Projekt, von Integration und Geborgenheit und von der Persönlichkeit der Kinder, ihrer Einzigartigkeit und ihrem Potenzial. Mein Kunde ist das Kind, sagte sie, schob sich die Brille ins Haar und lächelte.

Sonja war das absolute Gegenteil von Iwona. Sie war schön und gescheit und redete viel, sie hatte Charme und eine natürliche Sicherheit. Ihre Anwesenheit schüchterte mich immer etwas ein, und ich hatte das Gefühl, besser sein zu müssen, als ich war. Mit Iwona war die Zeit unendlich langsam vergangen, voller Momente peinlicher Stille. Sie hatte einsilbig auf meine Fragen geantwortet, und ich musste mich dauernd bemühen, das Gespräch am Laufen zu halten. Sonja hingegen war die perfekte Gesellschafterin. Sie kam aus einer wohlhabenden Familie, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie etwas Niveauloses tat oder sagte. Bestimmt würde sie eine steile Karriere machen. Sie würde sich im sozialen Wohnungsbau engagieren und in irgendwelchen Gremien sitzen und daneben noch zwei oder drei Kinder großziehen, die immer sauber sein würden und ebenso gepflegt und wohlerzogen wie sie. Aber Sonja würde nie zu einem Mann sagen, sie liebe ihn, nie so, wie Iwona es zu mir gesagt hatte, als gebe es keine andere Möglichkeit. Iwonas Liebeserklärung war mir peinlich gewesen, ebenso die Vorstellung, mit ihr zusammen gesehen zu werden, dennoch hatte der Gedanke an ihre Liebe etwas Erhebendes. Es war, als sei Iwona der einzige Mensch, der mich ernst nahm, dem ich wirklich etwas bedeutete. Sie war die einzige Frau, die in mir mehr sah als den netten Jungen oder den vielversprechenden Architekten. Seit ich aufgestanden war, hatte ich dauernd an sie denken müssen, und insgeheim wusste ich längst, dass ich sie wiedersehen musste, und sei es nur, um mich von ihr zu befreien. Sie hatte erzählt, sie arbeite als Aushilfe in einer christlichen Buchhandlung. Es konnte nicht allzu schwer sein, sie zu finden.

Sonja erzählte von einem Sternmarsch, an dem sie teilgenommen hatte, für die Opfer des Tian’anmen-Massakers. In der Nacht, die ich mit Iwona verbracht hatte, war sie mit ein paar Gleichgesinnten vom Goetheplatz zum Marienplatz marschiert und hatte mit Kerzen das chinesische Zeichen für Trauer auf den Platz geschrieben. Nach buddhistischem Glauben suchen sich die Seelen der Verstorbenen nach neunundvierzig Tagen einen neuen Körper, sagte sie. Es war sehr bewegend, ich habe sogar weinen müssen. Sie schien selbst ganz erstaunt zu sein über ihren Gefühlsausbruch. Ich hoffe nur, dass deine Seele sich keinen neuen Körper sucht, sagte ich, das wäre zu schade. Sonja schaute mich an, als hätte ich die chinesischen Studenten höchstpersönlich erschossen. Ich muss los, sagte ich. Sie fragte, ob ich zu Rüdigers Abschlussparty komme. Ich sagte, ich wisse es noch nicht.

 

Im Telefonbuch fand ich drei christliche Buchhandlungen. Ich fuhr zur ersten, aber dort hieß es, man erteile keine Auskünfte über Angestellte. Ich schaute mich um. Als ich Iwona nicht sah, ging ich zur nächsten. Der Buchhändler hier war weniger misstrauisch. Er sagte, bei ihm arbeite keine Polin und in der Claudius Buchhandlung, dem dritten Geschäft auf meiner Liste, bestimmt auch nicht, die sei nämlich evangelisch. Er dachte kurz nach. Zur Pfarrkirche St. Joseph in Schwabing gehöre ein kleiner Laden, in dem auch Bücher verkauft würden. Vielleicht arbeitete meine Freundin dort. Sie ist nicht meine Freundin, sagte ich.

Ich musste einmal um die Kirche herumgehen, bis ich den Laden fand. Er war in einem Nebengebäude untergebracht, in einer schattigen Nische. Ein paar Stufen führten hinauf zum Eingang, neben dem in einem kleinen Schaufenster einige Kerzen standen und ein paar vergilbte Traktätchen lagen. »Christ und Fernsehen«, »Ich hebe meine Augen zu Dir«, »Der ewige Bund« und Ähnliches.