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"Ich würde alles tun, um dich zu schützen. Du kannst mich hassen, wenn du willst, aber das ändert nichts daran, dass ich dich liebe."
Mit seiner unwiderstehlich dunklen Anziehungskraft hat Kane Savage Temperance Ransom für sich gewonnen. Er hat ihre geheimsten Wünsche erfüllt und ihr Seiten von sich offenbart, die er normalerweise verborgen hält. Durch ihn wurde sie in einen überwältigenden Strudel aus Leidenschaft und Liebe gezogen - nur um dann Verrat und Verlust zu erleben. Nun muss Temperance sich in einer gefährlichen Welt zurechtfinden, in der es unmöglich ist, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Und der Einzige, der ihr Antworten geben könnte, und dem trotz allem ihr Herz gehört, ist für sie unerreichbar ...
"Meghan March ist eine Meisterin der dunklen Helden. Ihr werdet nicht anders können, als euch in Kane zu verlieben." RENTASTICREADS
Abschlussband der SINFUL-ROYALTY-Reihe
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Seitenzahl: 319
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Danksagungen
Leseprobe
Die Autorin
Die Romane von Meghan March bei LYX
Impressum
MEGHAN MARCH
Sinful Royalty
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver
Mit seiner unwiderstehlich dunklen Anziehungskraft hat Kane Savage Temperance Ransom für sich gewonnen. Obwohl sie mittlerweile weiß, wie gefährlich er ist, kann sie sich ein Leben ohne Kane nicht mehr vorstellen. Er hat ihre geheimsten Wünsche erfüllt und ihr Seiten von sich offenbart, die er normalerweise verborgen hält. Durch Kane wurde sie in einen überwältigenden Strudel aus Leidenschaft und Liebe gezogen – nur um dann Verrat und Verlust zu erleben. Nun muss Temperance sich in einer gefährlichen Welt zurecht finden, in der es fast unmöglich ist, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Alles, was sie zu wissen und zu hoffen glaubte, scheint ein reines Trugbild gewesen zu sein. Und der Einzige, der ihr Antworten geben könnte und dem trotz allem, was geschehen ist, ihr Herz gehört, ist für sie gerade unerreichbar. Doch Temperance wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht wenigstens versuchen würde, für alles, was ihr wichtig ist, zu kämpfen …
Temperance
Ich sitze auf einem Stuhl, Vögel zwitschern in den Bäumen um mich herum, und ich fühle nichts.
Nichts.
Ich sollte etwas fühlen. Es gibt fünf Phasen der Trauer. Ich habe in den Unterlagen, die mir das Bestattungsinstitut aushändigte, etwas darüber gelesen.
Leugnen, Zorn, Auseinandersetzen, Depression und Akzeptanz.
Wo zum Teufel steht auf dieser Liste die Phase »Nichts fühlen«?
Warum kann ich nicht zornig sein? Zorn wäre so viel leichter als diese … Leere.
Ich bin gebrochen.
Von dem Tee in der Porzellantasse, die mir Harriet in die Hände gedrückt hat, steigt auch schon lange kein Dampf mehr auf, aber ich habe noch nicht einmal einen Schluck getrunken.
Meine Vermieterin kommt aus dem Haus zurück. Sie trägt einen gebatikten Seidenkaftan, der in der leichten Brise um sie herumwogt, und hat einen Umschlag in der Hand.
»Temperance, Liebes, hier war ein Mann, der dich sprechen wollte.«
Sofort versteift sich mein ganzer Körper. »Was für ein Mann?«, flüstere ich.
»Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen. Irgendwas, was auf › -stein‹ endet und ziemlich versnobt klingt.«
Mühsam zwinge ich mich dazu, mich zu entspannen. Atme, Temperance. Ein. Aus. Ein. Aus.
Das ist mein Mantra gewesen während des schrecklichen Monats seit der Beerdigung meines Bruders. Und es gab mehr als einen Tag, an dem ich das Gefühl hatte, eiserne Fäuste umklammern meine Lunge und versuchen mich zu ersticken.
Ich wollte, dass sie mich ersticken. Manchmal will ich das immer noch.
Nie zuvor habe ich erlebt, dass Atmen so schmerzhaft sein kann. Aber wenn man aufgeschnitten und ausgeweidet wurde, schmerzt es sogar, einfach zu existieren.
»Ich glaube, er hatte irgendwann keine Lust mehr, an deiner Wohnungstür zu klingeln. Er meinte, er habe schon tagelang versucht, dich zu erreichen.«
Ich ignoriere die Klingel, wenn ich oben bin. Hin und wieder muss jemand da gewesen sein, denn in meinem Kühlschrank finde ich manchmal neue Lebensmittel, die ich auch verzehre, wenn ich daran denke, dass ich etwas essen muss. Aber alles ist so verschwommen, dass ich nicht sagen könnte, wer hergekommen ist oder wann das war. Das ist mir auch egal. Ich will niemanden sehen. Ich wollte nicht mal die Wohnung verlassen, um mit Harriet Tee zu trinken, aber sie drohte mir mit Zwangsräumung, wenn ich nicht wenigstens einmal in diesem Monat in die Sonne gehen würde.
Harriet legt den hellbraunen Umschlag auf den Tisch. »Er wollte ihn mir nicht geben, aber ich habe ihm gesagt, dass er ihn entweder über mich zustellen oder ihn sich in den Hintern schieben kann, weil du die Tür selbst dann nicht öffnen würdest, wenn die apokalyptischen Reiter klingeln würden. Er hat nachgegeben, nachdem ich ihm versichert habe, dass du ihn nicht dafür verklagen würdest, dass er mir erlaubt hat, deine Unterschrift zu fälschen.«
Ich stoße einen krächzenden Laut aus, der ein Lachen sein soll, was die normale Reaktion auf Harriets Bemerkung wäre. Normal. Noch etwas, was ich nie wieder sein werde.
Ich betrachte den Umschlag, auf dem in fetten getippten Großbuchstaben mein Name und meine Adresse stehen. Weil ich noch nicht bereit bin, mich Harriets zweifellos besorgtem Blick zu stellen, schaue ich auf die obere linke Ecke.
Als Absender stehen dort drei ungewöhnlich klingende Nachnamen, die ich nicht kenne.
»Ich habe noch nie von diesen Leuten gehört.«
»Er meinte, dass er für eine Anwaltskanzlei arbeite.« Sie deutet mit einem Finger auf den Umschlag. »Für diese Kanzlei.«
Anwälte.
Großartig.
Ich wende den Blick ab, starre wieder auf den chinesischen Lampion, der am Ast eines Baums hängt, und nehme aus der Ferne den Lärm der Straße wahr.
Ich stelle fest, dass ich die Geräusche hier draußen mag. Die Stille ist der Feind. Stille bedeutet, dass ich meine eigenen Gedanken hören kann, und mit denen kann ich mich noch nicht auseinandersetzen.
Ich kann mich noch überhaupt nicht mit alldem auseinandersetzen.
»Willst du ihn nicht öffnen?« Harriets Stimme klingt ungeduldig.
»Nein.«
»Verdammt noch mal, Kleines, du kannst nicht ewig die ganze Welt ignorieren.«
Ich nicke, als würde ich ihr zustimmen, doch in Wahrheit habe ich vor, die Welt so lange zu ignorieren, wie es mir möglich ist. Für immer, wenn ich es kann.
Sie hat sich weitergedreht, während meine eigene Welt mit einem Schlag zum Stillstand gekommen ist. Sie wird sich weiterdrehen, während ich in meiner Trauer versinke.
»Wenn du es nicht machst, werde ich es tun.« Sie schnappt sich den Umschlag von dem schmiedeeisernen Tisch und reißt ihn auf. »Das ist in dieser Woche nicht mein erster Verstoß gegen das Gesetz«, sagt sie, als sie die Seiten herauszieht.
Harriet murmelt ein paar Minuten lang vor sich hin, aber ich blende das, was sie sagt, absichtlich aus. Mir ist egal, was in dem Brief steht. Mir ist alles egal. Auf diese Weise ist es leichter.
Dann sagt sie etwas, was ich nicht ignorieren kann.
»… das Gebäude und alles, was sich darin befindet, ist nun alleiniges Eigentum von Temperance Ransom.«
Ich reiße den Blick vom Lampion los und starre auf das Papier in Harriets Hand. »Was?«
Sie hält mir das Schreiben hin, doch zuerst verschwimmen die Worte auf der Seite. Als ich mir über die Augen wische, damit ich klar sehen kann, sind meine Finger nass.
Ich weine nicht.
Ich habe die Kunst, mich selbst zu belügen, perfektioniert. Ich denke, so kann man es ausdrücken, wenn man bedenkt, dass ich monatelang in einem Lügengeflecht gefangen war, auch wenn es mir nicht bewusst war.
Ich blinzle und konzentriere mich auf den Text.
Eine Stimme in mir schreit »Nein!«, doch ich bringe sie zum Schweigen. Dieser Brief bestätigt eine weitere Tatsache. Die eine Tatsache, die ich nicht wahrhaben wollte. Weil ich dumm bin.
Kane wird niemals zurückkommen.
Der winzige Rest Kraft, der noch in mir war und mir dabei geholfen hat, einen letzten Funken Hoffnung zu bewahren, dass ich mit allem falschgelegen habe, schwindet. Ich zerknülle das Papier, während ich mich auf dem Stuhl hin und her wiege und Tränen über mein Gesicht strömen.
Temperance
Stundenlang starre ich den Brief an, der geglättet vor mir auf dem Wohnzimmertisch liegt. Die Buchstaben verschwimmen immer wieder, bis ich blinzle.
Kane hat mir das Lagerhaus vermacht.
Wie kann er es wagen?
Seit ich die Augen geöffnet habe, um mich der Realität zu stellen, dass mein Bruder Rafe tot ist, spüre ich nun zum ersten Mal etwas anderes als ein gewaltiges gähnendes Nichts.
Wut.
Sie ist da. Sie brodelt in meinem Innersten und wird langsam zu einem siedend heiß kochenden Etwas.
Wie kann er es wagen?
Ich springe vom Sofa auf und tigere in meinem kleinen Wohnzimmer hin und her. Herumzutigern ist normalerweise nicht so mein Ding – das ist eher typisch für Keira. Aber im Moment spüre ich, wie die aufgestaute Wut in meinen Blutkreislauf fließt wie die Droge bei einem Junkie, der sich einen Schuss gesetzt hat. Ich kann einfach nicht mehr still sitzen.
Kane hat mir das verfluchte Gebäude und all die Autos vermacht. Als würde das irgendwie, auf irgendeine Weise, auf irgendeinem Planeten die Tatsache wiedergutmachen, dass er meinen gottverdammten Bruder ermordet hat.
Ein animalisches Heulen entringt sich meiner Kehle, während mir einmal mehr die Tränen kommen.
»Wie konntest du das tun? Ich hasse dich!«
Verzweifelt sacke ich zu Boden und hämmere auf die Dielen ein. Mir ist egal, was Harriet im unteren Stockwerk von mir denken muss.
Ich prügle auf das abgenutzte Holz ein, bis meine Fäuste schmerzen. Dann lasse ich die Stirn auf den Boden sinken und schluchze.
»Wie konntest du das tun?« Die Worte sind kaum mehr als ein Flüstern, weil ich keine Kraft mehr habe.
Er hat mir alles genommen.
Ein Haufen Ziegelsteine mit einem Haufen Metall darin bedeutet jetzt nichts mehr.
Nichts.
Jemand klopft an meine Tür. »Temperance, hier ist Harriet …«
»Es geht mir gut«, rufe ich mit brüchiger Stimme.
»Du hast Besuch.«
»Nein!« Meine Antwort ist ein aggressives Bellen. Ich will niemanden sehen. Ich kann niemanden sehen.
»Es ist deine Chefin, Liebes.«
Toll. Genau der Mensch, der mich in diesem Zustand sehen soll.
Ich rolle mich zu einem armseligen Häuflein auf dem Boden zusammen. Die Tür öffnet sich, bevor ich die Energie aufbringen kann, mich aufzurappeln.
»Temperance? Oh, Schätzchen, es tut mir so leid.«
Keira kommt mit ihren hochhackigen Schuhen klappernd auf mich zu und lässt sich neben mir auf die Knie sinken. Dann legt sie einen Arm um meine Schultern.
Ich habe sie seit der Beerdigung meines Bruders nicht mehr gesehen – auch wenn ich glaube, dass sie hier war, während ich zwanzig Stunden pro Tag geschlafen habe. Sie sagte mir, dass ich mir so viel Zeit nehmen solle, wie ich brauchte, und dass in der Brennerei alles in Ordnung sein würde.
Ich nahm sie beim Wort und vergaß komplett all die Aufgaben, um die ich mich einst so stolz gekümmert hatte. Stattdessen suhlte ich mich in der Hölle.
»Was kann ich tun?«, flüstert sie, und der mitleidige Ton ihrer Stimme widert mich an. Aber warum sollte sie kein Mitleid mit mir haben? Ich bin eine Idiotin, die sich in den Kerl verliebte, der ihren Bruder ermordete.
Ich bin ein Witz. Eine Katastrophe. Die größte Chaotin, die es je gegeben hat.
Ich schlucke und suche nach etwas, was ich sagen kann.
»Er hat mir ein Gebäude vermacht.« Ich setze mich auf und starre vor mich hin. Ich kann ihr nicht in die Augen schauen.
»Was?«, fragt sie.
»Er hat mir ein gottverdammtes Gebäude vermacht!« Ich greife nach dem Papier, das auf dem Tisch liegt. »Wie konnte er mir das antun? Er hat gelogen, und ich habe ihm geglaubt. Wie konnte ich nur so verflucht dumm sein?«
Meine Tränen müssten versiegt sein, aber sie fließen ohne Unterlass weiter. Ich balle meine schmerzenden Hände wieder zu Fäusten und versuche die Tropfen wegzuwischen.
Keira umarmt mich und drückt mich fest. »Es tut mir so leid. Es tut mir so leid.« Sie wiederholt die Worte immer wieder und wiegt mich hin und her, während ich wie jemand heule, dem man das Herz aus der Brust gerissen hat. Und genau das ist passiert.
Und zu allem Überfluss war es auch noch meine eigene verdammte Schuld.
Ich hätte ebenso gut selbst abdrücken können. Rafe starb meinetwegen. Er kam meinetwegen. Kane hat mich angelogen. Mich benutzt. Mich betrogen.
Die Wunden sind immer noch zu frisch.
»Wie konnte er das nur tun?«
»Ich weiß es nicht, Schätzchen. Ich weiß es wirklich nicht.«
Ich reiße den Kopf so heftig herum, dass ich Keira fast ins Wanken bringe. »Aber Mount wusste es, nicht wahr?«
»Temp– .«
Ich falle ihr unsanft ins Wort. »Wag es ja nicht, mir irgendeine schwachsinnige Geschichte aufzutischen. Er muss es gewusst haben. Er weiß alles.«
Keira schluckt, und ein Ausdruck des Mitleids legt sich auf ihre Züge. »Er hat mir nicht alles erzählt. Das schwöre ich dir bei meinem Leben. Wenn Lachlan es gewusst hat, würde er es mir niemals verraten. Ich weiß nicht mal, wer dir ein Gebäude vermacht hat.«
Ich starre sie schockiert an. Sie weiß nicht, wer Kane ist? Wie ist das überhaupt möglich?
Mount. Mount ist der Grund für all das.
Für jedes noch so kleine bisschen Schmerz, das ich gerade empfinde, kann ich ihn verantwortlich machen, weil er Kane in mein Leben geschickt hat. Aber Keira kann ich deswegen nicht hassen. Sie hat nichts falsch gemacht – außer dass sie den Teufel geheiratet hat.
»Mount muss alles gewusst haben.«
Keira schließt kurz die Augen. »Vermutlich hast du recht. Wahrscheinlich wusste er es. Es gibt nur wenig, was er nicht weiß. Allerdings gibt es eine Menge Dinge, die er nicht mit mir teilt, und dafür gibt es immer einen guten Grund.«
»Ich hasse ihn!« Die Worte klingen wie ein raues Brüllen. »Ich hasse sie verdammt noch mal alle.«
»Ich weiß. Es tut mir leid, Temperance. So leid.«
Innerlich zerrissen senke ich den Blick wieder auf das Papier, das nun auf dem Boden liegt. »Ich will Antworten.«
»Das ist mir klar, aber ich kann dir nichts verraten, was ich nicht weiß.«
»Er hat mir versprochen, dass er es nicht tun würde«, flüstere ich, auch wenn sie keine Ahnung hat, von wem ich rede. »Wie konnte er das tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich greife nach dem Papier und zerknülle es mit beiden Händen. »Ich komme mir so verflucht dumm vor. Ich habe einem Auftragsmörder vertraut. Wer tut so was?«
Keira hockt neben mir und schweigt, entweder weil sie jetzt weiß, von wem ich rede, oder weil sie dem Mann vertraut, der Auftragsmördern befiehlt, den Abzug zu betätigen. Wie dem auch sei, es ändert nichts.
»Ich komme mir einfach so dumm vor. Als hätte ich mir das selbst eingebrockt. Wenn ich doch nur – .«
»Schhh«, unterbricht mich Keira. »Du kannst dich nicht immer wieder mit dem Gedanken quälen, was du anders hättest machen können.«
Ich wende mich Keira zu und schaue ihr in die Augen. »Ich weiß. Ich wünschte nur …« Ich schüttle den Kopf und senke den Blick wieder. Ich kann ihr Mitleid nicht ertragen.
Schließlich räuspere ich mich. »Wann soll ich wieder zur Arbeit kommen? Ich weiß, dass ich mir sehr viel Zeit genommen habe.« Noch während ich die Frage ausspreche, verkrampfe ich mich innerlich bei dem Gedanken daran, zurückzukehren und allen gegenüberzutreten.
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich habe eine Aushilfe eingestellt, und alles läuft wunderbar. Du musst dich nur um dich selbst kümmern.«
»Bist du sicher?« Ein Gefühl der Erleichterung durchströmt mich.
»Ja, absolut. Die Seven Sinners Distillery läuft nicht weg. Brauchst du irgendwas? Kann ich irgendwas tun, um dir zu helfen?«
Ich schweige ein paar Sekunden lang, dann sage ich: »Ich will mit Mount reden.« Ich schaue Keira direkt in die Augen. »Ich muss mit Mount reden.«
Sie zögert einen Moment, bis sie leise erwidert: »Dann werde ich dafür sorgen, dass das passiert.«
Temperance
Niemand, der bei klarem Verstand ist, bettelt um eine Audienz beim Teufel. Aber ich halte mich schon lange nicht mehr für zurechnungsfähig.
Der Türsummer erklingt, und ich gehe zur Gegensprechanlage.
»Ja?«
Das Einzige, was ich höre, ist ein Schnauben. Keine Worte. Aber das Schnauben verrät mir alles, was ich wissen muss.
Mein Chauffeur ist da. Ein Mann, der nicht spricht. V.
Ich werde mich dem Teufel persönlich stellen und Antworten verlangen. Wenn ich doch nur verlangen könnte, dass er mir meinen Bruder zurückbringt. Das ist alles, was ich will.
Das und diesen bleiernen Mantel aus Verrat ablegen, der mir jeden meiner Schritte schwer macht.
Kane hat mich belogen.
Ich habe ihm geglaubt.
Dafür hasse ich mich. Vielleicht sogar noch mehr, als ich ihn hasse.
»Ich bin auf dem Weg nach unten«, sage ich in die Gegensprechanlage, als würde die Gefahr bestehen, dass ich dieses Treffen verpasse.
Ich stecke meine Füße in abgenutzte Arbeitsstiefel. Sie passen zu meiner zerrissenen Jeans und dem alten T-Shirt. Etwas Besseres bekomme ich nicht hin.
Als ich vorhin auf der Suche nach etwas zum Anziehen meinen Kleiderschrank geöffnet habe, musste ich plötzlich daran denken, wie ich diese Klamotten begutachtete, um etwas Passendes für meinen Besuch im Club zu finden.
Für meinen Besuch im Club, um ihn zu treffen.
Ich habe die Türen zugeschlagen und irgendwas vom Boden aufgeklaubt.
Wenigstens fühle ich mich in Jeans und T-Shirt nicht so, dass ich wieder zurück ins Bett krabbeln und der Welt entfliehen will, so wie es bei einem Rock oder Kleid der Fall wäre. Alles lässt mich an ihn und all die Fehler denken, die ich gemacht habe. Alles erinnert mich daran, wie leicht ich auf ihn hereingefallen bin.
Und nun wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Ich verlasse meine Wohnung, schließe die Tür hinter mir ab und steige die Wendeltreppe hinunter.
Harriets Fenster sind offen, und die Klänge einer mir unbekannten Oper hallen in die Abendluft hinaus.
Ich bleibe stehen und sage ihr, dass ich weggehe, aber ich will nicht mehr reden als nötig. Mir ist klar, dass ich mich gegenüber jedem, dem ich auch nur ansatzweise etwas bedeute, ganz furchtbar verhalte. Und diese Liste von Leuten ist ohnehin schon nicht besonders lang, also sollte ich freundlicher und dankbarer sein. Aber ich kann mich gerade einfach nicht dazu aufraffen.
Dafür hasse ich mich ebenfalls.
Ich hole tief Luft und gehe über den gepflasterten Weg zum Tor, wo ich V entdecke. Keiras Fahrer und Leibwächter steht neben einem schwarzen Auto.
Es ist das Auto.
Ich übergebe mich beinahe auf den Weg, als ich den Maybach erblicke, in dem ich mit Kane zum Flughafen gefahren bin. Wir wollten uns mit meinem Bruder treffen, und ich sollte mit ihm das Land verlassen. Doch in Wahrheit war gar keine Reise geplant. Sondern die Hinrichtung meines Bruders.
Mount weiß, dass ich in diesem Auto gefahren bin.
Dieses verdammte Arschloch. Will er mich damit auf die Probe stellen? Will er mich zwingen, das alles noch einmal zu durchleben? Will er, dass ich mir noch einmal ganz genau überlege, ob ich ihn wirklich sehen will, um meine Antworten zu bekommen?
Ich lege die Finger um die schmiedeeisernen Stangen des Tors und starre V an. Er starrt ausdruckslos zurück.
Ich kann das nicht.
Er hebt das Kinn, verschränkt die Arme vor der Brust und wartet.
Ihn hasse ich auch.
Ich schlucke die Galle hinunter, die in meiner Kehle aufsteigt, lasse die Stangen los und greife nach der Klinke.
Ich kann das. Ich habe keine andere Wahl.
Während ich schweigend auf den Bürgersteig trete, dreht sich V um und öffnet die hintere Tür des Wagens für mich.
Sobald ich das Innere erblicke, erstarre ich. Ich schwöre, dass ich Kanes einzigartig würzigen Duft in der Luft riechen kann.
Sei nicht so dramatisch, Temperance. Steig in das verdammte Auto.
Ich tadele mich für meine Schwäche, genauso wie ich mich im Verlauf des vergangenen Monats für alles andere getadelt habe. Wenn ich eine Peitsche gehabt hätte, bestünde meine Haut jetzt nur noch aus Fetzen.
Ich steige ins Auto und schließe kurz die Augen, als er die Türverriegelung betätigt. Auf dem Sitz neben mir liegt eine schwarze Kapuze.
Auf gar keinen Fall.
Als sich die Fahrertür schließt, schnaubt V, und ich sehe in den Rückspiegel. Er nickt, und ich weiß, was er will. Er will, dass ich die Kapuze aufziehe.
Genau wie Kane, der mich dazu gezwungen hat, die Mütze über den Kopf zu ziehen.
»Und wenn ich es nicht tue?«, frage ich.
Er deutet auf das Tor, durch das ich gerade gekommen bin.
»Ich hasse Sie«, teile ich ihm mit. Es ist kindisch und zickig, aber das ist mir egal.
Erinnerungen steigen hoch, als ich nach der schwarzen Kapuze greife und sie mir über den Kopf ziehe.
»Also, wo geht es hin? In die Bat-Höhle?«
Meine naive, scherzhaft gemeinte Frage, die ich vor ein paar Wochen Kane gestellt habe, erwischt mich mit voller Wucht, als es um mich herum dunkel wird.
Nun gehört die verdammte Bat-Höhle mir, und ich würde sie am liebsten bis auf die Grundmauern niederbrennen. Vielleicht werde ich das auch tun.
Wie erwartet dauert die Fahrt zu Mounts Anwesen nicht lange. Ich weiß, dass es sich im French Quarter befindet, aber ich bin noch nie dort gewesen. Es ist nicht gerade ein Ort, an den Leute eingeladen werden.
Als V die hintere Tür öffnet, greife ich nach der Kapuze, und da ich kein Schnauben höre, ziehe ich sie ab.
Er nickt und macht eine ruckartige Bewegung mit dem Kinn, um anzudeuten, dass ich aussteigen soll. Ich folge ihm durch eine Tür, ein paar fensterlose Treppen hoch und durch mehrere Korridore. Das Gebäude erinnert mich an den Club.
Nein. Nein das tut es nicht. Das hier ist völlig anders.
Als er auf einen verborgenen Knopf drückt und sich die Wand vor uns bewegt, weiche ich erschrocken zurück.
Das hier erinnert mich schon eher an eine Bat-Höhle.
Wieder verspüre ich den stechenden Schmerz des Verrats. Ich folge V und finde mich in einer Art Bibliothek wieder. Schwere Bücherregale stehen an den Wänden, und wenige Schritte vor mir ist ein großer Schreibtisch aus Holz.
Mount sitzt hinter dem Schreibtisch und schreibt etwas auf ein Blatt Papier, bevor er es faltet und in einen Umschlag steckt.
Hinter mir ertönt ein leises Zischen. Ich wirble herum und sehe, wie Narbengesicht den Raum durch die sich drehende Tür im Kamin verlässt.
Was zum Teufel geht hier vor?
Nachdem ich mir die übrige Einrichtung des Zimmers angesehen habe – zwei Ledersessel, ein paar Lampen und eine Anrichte mit Karaffen voller alkoholischer Getränke –, schaut Mount endlich auf.
»Ich nehme keine Anfragen für Treffen an, Temperance. Ich tue dir diesen Gefallen nur, weil meine Frau es so will. Pass also auf, was du sagst.«
Unter normalen Umständen würde ich nach einer solchen Drohung von diesem Mann buchstäblich in meinen Stiefeln zittern. Aber jetzt? Ich habe nichts mehr zu verlieren. Absolut nichts.
Plötzlich fällt mir keine der Fragen mehr ein, auf die ich so dringend Antworten haben will – bis auf eine.
»Warum?« Es klingt, als hätte jemand das Wort mit einer rostigen Zange aus meiner Kehle gezerrt.
Er kneift die dunklen Augen zusammen und starrt mich an. »Warum was?«
»Warum hast du es getan? Wolltest du, dass mein Bruder stirbt? Ist das der Grund?«
Mount lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Der Anblick seines maßgeschneiderten, perfekt sitzenden Anzugs erinnert mich viel zu sehr an Kane, und ich muss mich zwingen, den Blick nicht abzuwenden.
»Ich möchte dir mein Beileid zum Verlust deines Bruders aussprechen, Temperance.«
»Deswegen bin ich nicht …«
Er bringt mich mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Hätte ich gewollt, dass Ransom stirbt, wäre er längst gestorben. Was die Frage angeht, warum ich irgendwas getan habe: Ich muss meine Gründe nicht erklären, aber ich bin bereit, dir zu sagen, dass meine Frau sehr unglücklich gewesen wäre, wenn man dich entführt und ermordet hätte. Das konnte ich nur verhindern, indem ich dafür gesorgt habe, dass du in Sicherheit bist.«
Ich kann die Wut, die sich in mir aufgestaut hat, nicht mehr zurückhalten und marschiere auf seinen Schreibtisch zu.
»Aber du musstest doch von dem Plan, Rafe umzubringen, gewusst haben!«
Mount steht auf und stemmt die Fäuste auf die Tischplatte. »Was ich jemals wusste oder jetzt weiß, geht dich verdammt noch mal nichts an.«
Ich beginne hemmungslos zu schluchzen und bringe kein Wort mehr heraus. Meine Knie geben nach. Ich taumle nach hinten und lande auf einem Sessel. Dort wiege ich mich vor und zurück, während mir einmal mehr Tränen in die Augen steigen.
Mir ist egal, dass ich in Mounts Büro weine. Mir ist alles egal, außer den klaffenden Wunden, die mich zerreißen.
»Du wirst gleich ersticken, wenn du so weiterheulst.«
Ich blinzle durch den Tränenschleier und erblicke eine Schachtel Taschentücher auf meinem Schoß. Mount hockt vor mir.
»Wenn du irgendjemandem erzählst, dass ich in meinem Büro Taschentücher habe, werde ich dafür sorgen, dass man nie wieder etwas von dir hört. Das würde meinen Ruf zerstören.«
Er sagt das ganz trocken, und ich weiß, dass er es humorvoll meint, aber mir ist gerade nicht zum Lachen zumute. Ich ziehe ein Taschentuch aus der Schachtel und putze mir die Nase.
»Du tust dir keinen Gefallen, wenn du dich weiter in deiner Trauer suhlst, Temperance. Ich habe dir schon mal gesagt, dass du aus dem gleichen Holz geschnitzt bist wie meine Frau. Das bedeutet, dass du deine letzte Kraftreserve mobilisieren, das Kreuz durchdrücken und aufstehen wirst. Du bist nicht tot. Hör auf, so zu tun, als wärst du es.«
Meine Tränen versiegen. »Tu nicht so, als würdest du mich kennen. Tu nicht so, als hättest du auch nur die geringste Ahnung, wie es sich anfühlt …«
»Was ich weiß oder wie ich mich fühle, spielt keine Rolle. Willst du zu deinem Bruder in den Sarg kriechen? Nur zu. Aber du wirst meine Frau nicht mit runterziehen. Ich werde dafür sorgen, dass ihr keinen Kontakt mehr habt, und zwar lange, bevor das passieren könnte.«
Ich zucke zurück. »Was meinst du damit?«
»Im Moment machst du sie traurig. Ich eliminiere alles, was Keira traurig macht. Verstehst du mich?«
Mein Mund klappt auf. »Drohst du ernsthaft, mich umzubringen, weil sich Keira meinetwegen nicht wohlfühlt? Nachdem ich mit ansehen musste, wie mein Bruder vor meinen Augen gestorben ist?«
Ich erinnere mich an meine Begegnung mit Gregor Standish und daran, wie ich mir Sorgen um ihn machte, weil er etwas Unfreundliches über Keira gesagt hatte … Und dann starb er. Ich hege nicht den geringsten Zweifel daran, dass Mount für seinen Tod verantwortlich ist, weil Standish gegen Keira und die Brennerei gewettert hatte.
Meine Frage bleibt unbeantwortet, aber ich weiß, dass Mounts Antwort ein klares »Ja« sein würde. Für Keira würde er alles tun.
Ich wollte das, auch wenn mir nicht bewusst war, dass ich es wollte. Wieder überkommen mich Trauer und Wut.
»Steh auf. Wisch dir die Tränen weg. Reiß dich zusammen, und regel dein Leben. Und kehr erst wieder in die Seven Sinners Distillery zurück, wenn du reden kannst, ohne zu schreien oder zu weinen. Hast du mich verstanden?«
Mount ist barsch und brutal, und dafür könnte ich ihn hassen. Doch zugleich … zugleich weiß ich, dass jemand mir das sagen musste. Ich strecke die Hand aus, um ihn aufzuhalten, bevor er davongeht.
Er senkt kurz den Blick auf sein Handgelenk, das ich umfasse, und schaut mir dann wieder ins Gesicht.
»Egal, dass mir das jemand sagen musste, ich hasse dich immer noch dafür, dass du in dieser Sache eine Rolle gespielt hast – welche auch immer das gewesen sein mag.«
»Ist angekommen.« Er befreit sich aus meinem Griff. »Du kannst gehen, Temperance.«
Temperance
Meine Tränen versiegen, als hätte das Mount allein mit seiner Willenskraft bewirkt.
Ich bin nicht tot, und ich muss aufhören, so zu tun, als wäre ich es.
Schon zum zweiten Mal in einem Jahr wurde ich auf brutale Weise daran erinnert, dass das Leben kurz ist. Und das habe ich jetzt davon, dass ich beim letzten Mal die Gelegenheit beim Schopf gepackt habe.
Ich suchte nach einem Club, in dem ich mich meinen schmutzigsten Fantasien hingeben konnte, fand aber keinen. Dann stieß ich rein zufällig auf einen und lebte meine Fantasien mit einem Fremden aus. Einem Fremden, der sich letztlich nicht nur als Auftragsmörder entpuppte, sondern als der Auftragsmörder, der meinen Bruder umbringen sollte – und mir versprach, diesen Auftrag nicht auszuführen.
Einem Auftragsmörder sollte man nie vertrauen. Man sollte meinen, dass das jedem einleuchtet, aber offenbar ist das nicht der Fall, wenn man Temperance Ransom heißt.
Ich verdränge all diese Gedanken und starre auf das leere Blatt Papier vor mir.
Es ist an der Zeit herauszufinden, was zum Teufel ich als Nächstes machen soll. In einem Nebel aus Trauer zu leben wird nicht funktionieren. Rafe wäre ziemlich wütend auf mich.
Tja, ich bin auch wütend auf dich, Rafe. Du hättest diesen Auftrag niemals annehmen sollen.
Auch diesen Gedanken verdränge ich.
Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern. Nun kann ich nur noch nach vorn schauen und weitermachen, egal wie sehr ich mich auch zusammenkauern und verkümmern will.
Ich habe die Nase voll vom Verkümmern. Jetzt ist es an der Zeit zu leben.
Ich drehe den Bleistift zwischen meinen Fingern und denke darüber nach, was ich am meisten will – abgesehen davon, meinen Bruder zurückzubekommen. Und die andere Sache, bei der ich mich weigere, sie in Worte zu fassen, weil ich sie auf gar keinen Fall wollen darf.
Mein Kopf ist vollkommen leer.
Wow. Jetzt versage ich schon beim Träumen. Ausgezeichnet.
Ich werfe den Bleistift auf den Tisch, gehe zum Küchenschrank und öffne ihn. Das Fach, in dem ich die alkoholischen Getränke aufbewahre, ist leer.
Harriet.
So wie ich meine alte Nachbarin kenne, hat sie ihn mir nur weggenommen, damit ich meine Wohnung verlassen muss, wenn ich etwas trinken will, und nicht um mich tatsächlich vom Trinken abzuhalten. Sie ist clever.
Ich kehre an den Tisch zurück, um mir das Papier und den Stift zu schnappen, und gehe zur Tür. Wenn sie mir schon meinen Alkohol wegnimmt, kann sie mir jetzt auch dabei helfen herauszufinden, was zum Teufel ich mit meinem Leben anfangen soll.
Dieses Mal hört sie keine Oper, sondern Tupac, als ich die Hintertür öffne.
»Harriet?«
Sie schaut von der Staffelei auf, die mitten im Wohnzimmer steht und an der sie gerade malt. »Man muss ihr nur den Alkohol stehlen, dann kommt sie auch schon. Das sage ich immer.«
Ich nicke in Richtung der Staffelei. »Störe ich?«
»Nein, ich erfinde nur gerade eine neue Schule der Malerei. Ich nenne sie Westküstenmoderne.«
Natürlich tut sie das. Und warum auch nicht? Diese Frau hat in einem Jahr vermutlich mehr erlebt als ich in meinem ganzen Leben.
Sie bemerkt das Papier in meiner Hand. »Ist das eine Einkaufsliste?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein.«
»Eine Liste der Dinge, die du vor deinem Tod noch erleben willst?«
Ihre zweite Vermutung ist auf unheimliche Weise zutreffend.
»So was in der Art.«
»Ausgezeichnet!«, ruft sie mit einem breiten Lächeln. Dann klatscht sie in die Hände, und blaue Farbe spritzt auf ihren pinkfarbenen Kittel, bevor sie den Pinsel in ein Glas stellt und auf mich zukommt.
»Womit fangen wir an? Ich meine, falls du bei irgendeiner Aktivität gern Gesellschaft hättest. Ich habe bereits drei dieser Listen komplett abgehakt und eine Liste mit Männern abgearbeitet, mit denen ich schlafen wollte, und ich bin immer noch nicht tot, also brauche ich als Nächstes die Liste von jemand anders.« Sie schnappt mir das Papier aus der Hand und reißt die Augen auf. »Da steht ja gar nichts! Herrgott, Temperance, kein Wunder, dass du unbedingt meine Hilfe brauchst.«
Harriet nimmt mir den Bleistift aus der Hand und legt das Papier auf die Küchentheke. Sie kritzelt etwas in die oberste Zeile. Dann dreht sie das Blatt herum, damit ich es lesen kann.
Ich rechne damit, dass dort etwas Verrücktes steht wie: ein flotter Dreier mit zwei russischen Prinzen. Doch einmal mehr gelingt es Harriet, mich zu überraschen.
1. Glücklich sein.
Es ist so einfach.
Ich schaue sie an und flüstere: »Glücklich sein.«
»Das ist das Einzige, was wirklich zählt, meine Liebe. Wenn dir das gelingt, ist das Leben wunderbar.« Sie blickt mir in die Augen. »Schätzchen, du bist nicht die Einzige, die geliebt und einen Menschen verloren hat. Ich hatte eine Familie – Brüder und Schwestern. Ich habe sie alle überlebt. Auch meine Ehemänner. Einen nach dem anderen. Auf jeden Fall ist es nie leicht, einen Menschen zu verlieren.« Sie legt ihre Hand, die voller Farbspritzer ist, auf meine. »Aber es ist auch nie ein Grund, das eigene Leben aufzugeben.«
»Wie kommt man darüber hinweg?«
Sie drückt meine Finger. »Gar nicht. Man lebt damit. Der Schmerz wird immer da sein, aber mit der Zeit ist er nicht mehr so schlimm. Eines Tages wird man eine Minute lang nicht an denjenigen denken, den man verloren hat. Irgendwann ist es dann eine Stunde. Und schließlich erlebt man vielleicht einen ganzen Tag, ohne von Trauer überwältigt zu werden. Heilung braucht Zeit.«
Momentan kann ich mir nicht vorstellen, nicht mehr an das denken zu müssen, was passiert ist – weder für eine Minute noch für eine Stunde und schon gar nicht für einen ganzen Tag. Aber Harriet hat mich noch nie angelogen und ist eindeutig klüger als ich.
»Also, was steht als Nächstes auf meiner Liste?«
Sie lässt meine Hand los und dreht sich zum Kühlschrank um. »Das, meine Liebe, kannst nur du beantworten. Überleg dir einen großen Traum.«
Ich brauche mehrere Gläser Champagner, um erneut nach dem Bleistift zu greifen. Doch als ich Harriets Wohnung verlasse, habe ich der Liste ein paar Dinge hinzugefügt.
2. Das Andenken meines Bruders ehren.
3. Mich als Künstlerin etablieren.
4. Auf Harriets Weingut in Italien Wein trinken.
5. Die Welt bereisen.
Es gibt noch eine Sache, die ich gerne aufschreiben würde, aber ich bin noch nicht mutig – oder dumm – genug, es jetzt schon zu tun.
Eine neue Liebe finden.
Temperance
Am nächsten Tag wache ich auf und gehe als Erstes unter die Dusche. Ich habe einen Monat meines Lebens damit verschwendet, um Dinge zu trauern, die ich nicht ändern kann, und es wird Zeit, einen Schritt in Richtung Zukunft zu machen, selbst wenn ich keine Ahnung habe, was sie bereithält. Ich lege Make-up auf, ziehe mir eine Jeans und ein Tanktop an und verlasse die Wohnung vor zehn Uhr.
Ich werde mir einen Kaffee und ein Beignet holen, und dann muss ich den Tahoe mit meiner Skulptur darin aufspüren. Außerdem muss ich meinen Bronco zurückbekommen, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich dafür schon bereit bin. Es ist an der Zeit, mein Leben zurückzuerobern, egal wie sehr es schmerzt, an all diese Dinge zu denken.
Auf dem Weg zum Café läuft mir ein unbehaglicher Schauer über den Rücken, als ich einen Mann mit Basecap, dunkler Sonnenbrille und komplett schwarzer Kleidung sehe, der sich in einen Hauseingang duckt, als ich um die Ecke komme und hinter mich schaue.
Verfolgt mich jemand?
Ich eile nach Hause, schlage scheppernd das Tor hinter mir zu, lehne mich gegen die Ziegelmauer und fische mein Handy aus der Tasche. Kaum hat sich Keira mit einer vorsichtigen Begrüßung gemeldet, lege ich los.
»Ich muss mit Mount reden. Ich muss wissen, ob sie Jagd auf mich machen, denn ich glaube, dass mich jemand verfolgt.«
»Hey! Hey, wovon redest du?« Der Tonfall meiner Chefin klingt panisch. »Wo bist du?«
»Vor meiner Wohnung. Ich denke, dass jemand hinter mir her war, als ich mir gerade einen Kaffee holen wollte. Ich dachte, dass sie mich nun, wo Rafe tot ist, in Ruhe lassen würden.«
»Ich werde ihn sofort anrufen.«
Bevor sie auflegt, sage ich noch schnell: »Kannst du ihn fragen, was mit dem Tahoe und meiner Skulptur passiert ist? Ich hätte beides gern zurück, weil ich die Skulptur an die Noble-Art-Galerie liefern muss.«
Verlange ich damit eine Menge von meiner Chefin? Ja. Kümmert es mich? Nein.
Könnte es sein, dass ich lebensmüde bin, weil ich es wage, Mount Befehle zu erteilen? Eher nicht, aber ich habe auch nichts zu verlieren. Ich werde nicht den Kopf einziehen und mich von ihm oder sonst jemandem einschüchtern lassen, einschließlich der Person, die mich verfolgt hat. Die kann sich ebenfalls verpissen. Ich weigere mich, in Angst zu leben.
In diesem Moment treffe ich die Entscheidung: Ich werde mich nicht mehr vor der Welt verstecken. Ich werde leben, und zwar furchtlos.
»Es ist gut, dass du wieder unter den Lebenden bist, Temperance«, sagt Keira leise, bevor sie auflegt.
Es dauert nicht lange, bis ich eine Textnachricht erhalte.
KEIRA: Der Tahoe ist auf dem Weg zur Brennerei. V wird dich abholen.
TEMPERANCE: Danke.
KEIRA: Deine Antworten werden ebenfalls dort sein.
Also doch. Man muss nur fragen, um zu bekommen, was man will. Ganz einfach.
Mit neu erwachter Entschlossenheit bereite ich mich darauf vor, mich dem zu widmen, was als Nächstes kommt – was auch immer das sein mag.
Eine halbe Stunde später befinde ich mich auf einem Parkplatz, auf dem ich seit über einem Monat nicht gestanden habe, und starre zu dem Gebäude hinauf, das sich nicht mehr wie mein zweites Zuhause anfühlt. Zu meinem Schrecken steht kein Handlanger mit den Schlüsseln neben dem Tahoe. Es ist Mount selbst.
Er verschwendet keine Zeit, sondern kommt sofort zum Punkt. »Da Rafe tot ist, bist du nun kein Zielobjekt mehr. Eigentlich sollte dich niemand verfolgen, aber zur Sicherheit lasse ich dich weiterhin überwachen.«
Ich sehe ihn überrascht an. »Weiterhin?«
Er nickt, erklärt aber nicht, warum er es für nötig hält. Stattdessen spricht er das einzige Thema an, das ihm wirklich wichtig ist. »Zieh Keira nicht noch mal in diese Sache hinein. Wenn du etwas brauchst, ruf mich an. Meine Nummer steht auf der Karte im Handschuhfach.«
Ich nicke. »Okay.«
»Die Schlüssel zu deinem Lagerhaus liegen auch darin.«
»Woher weißt du von dem Lagerhaus?«, frage ich schockiert.
Mount antwortet nicht, sondern wendet sich ab, als ein anderes schwarzes Auto neben ihm stehen bleibt.
»Pass auf dich auf, Temperance.« Er nimmt auf dem Rücksitz Platz, schließt die Tür und ist verschwunden.
Ich sehe dem Auto nach, das den eingezäunten Parkplatz verlässt, und atme langsam aus. Ich würde gerne ins Gebäude gehen, um Keira zu umarmen und ihr zu danken, aber das werde ich nicht tun. Mount will nicht, dass ich in ihrer Nähe bin, und ich bin bereit, das zu respektieren. Also schicke ich ihr stattdessen eine kurze Textnachricht, um mich zu bedanken. Dann öffne ich den Kofferraum des Tahoe. Als ich meine Skulptur darin erblicke, schleicht sich ein echtes Lächeln auf meine Züge.
Ich muss mich um eine längst überfällige Lieferung kümmern.
Valentinas Augen leuchten auf, als sie von der Skulptur zurücktritt und sie betrachtet. »Sie ist fantastisch. Wirklich, Temperance. Fantastisch.«
»Tut mir leid, dass ich sie erst jetzt bringe.«
Sie schenkt mir ein Lächeln. »Das verstehe ich vollkommen. Ich wollte dich nicht drängen. Ich weiß, dass du einiges … Nun ja, ich wollte dich nicht drängen.«
Ihr mitleidvoller Blick erinnert mich wieder an meinen Kummer, aber ich bewahre Haltung. Egal was passiert, ich werde eine Stunde lang nicht weinen.
Ich werde glücklich sein, rufe ich mir ins Gedächtnis. Oder wenigstens so tun.