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Die Toten zu sehen, hat einen Preis. Der 16-jährige Charlie hat ein Geheimnis: Seit ihn eine Krankheit nicht nur seine Beine, sondern fast das Leben gekostet hat, kann er Geister sehen. Eine Tatsache, die er am liebsten ignoriert – bis immer mehr Seelen aus York spurlos verschwinden. Gemeinsam mit dem mysteriösen Seher Sam und seinen Freunden muss sich Charlie auf die Suche machen. Bald ist klar: Ohne Hilfe erwartet die Geister ein grauenvolles Schicksal. Und während Sam und Charlie sich langsam näherkommen, geraten sie selbst in zunehmend große Gefahr … Der spannende Auftakt einer schaurig-romantischen Urban-Fantasy-Dilogie In Sixteen Souls, Band 1 einer Jugendfantasy-Dilogie voller Spannung, Liebe und Romantik, begeistert die erfolgreiche BookTokerin Rosie Talbot mit einem atmosphärischen Setting und nahbaren Figuren. Talbot entführt ihre Leser*innen mühelos in die englische Spukstadt York und verknüpft gekonnt fantastische Elemente wie Geister, Mystery und Grusel mit fesselnden Plottwists, einer einfühlsamen Coming of Age-Geschichte, queerer Romance und bedeutenden Themen wie Diversität, Inklusion und Selbstfindung. Perfekt für Fans von Jugendbüchern wie Cemetery Boys und Heartstopper und alle Fantasyliebhaber*innen ab 14 Jahren. Mit Herzklopfen und Gänsehaut auf jeder Seite!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 449
Inhalt
1 – Die Heimsuchung von Charlie Frith
2 – Freundliche Nachbarschaftsgeister
3 – Der Erhängte Mann
4 – Vermisst
5 – Eine Erschütterung der Macht
6 – Ungebeten
7 – Die Lumpenkinder
8 – Schatten und Snickleways
9 – Der Geruch von Hexerei
10 – Das Seelenkabinett
11 – Glaswände
12 – Der Günstling des Königs
13 – Sam gesucht
14 – Die erhabenen Alten Seelen von York
15 – Eine nicht gerade geringe Gefahr
16 – Dort unten in der Dunkelheit
17 – Mit Zähnen und Klauen
18 – Stiche
19 – Verloren
20 – Die Ruinen
21 – Perfekt pochiert
22 – Um jeden Preis
23 – Den Geist aufgeben
24 – Praktische Phantomatologie
25 – Abwehrzauber und Warnungen
26 – Ein losgelöstes Band
27 – Die Kriegsgeister
28 – Wiederherstellung
29 – Geheimnisse
30 – Verrat und Vergebung
31 – Schattenjagen
32 – Ein Opfer
33 – S & H Systems
34 – Der Erbe und sein Ersatz
35 – Sechzehn Seelen
36 – Der gespiegelte Weg
37 – Die Nachtigall
38 – Einsturz
39 – Ein Zimmer für seinen Geist
Danksagung
Content Note
Für die Lebenden
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Content Note.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.
1
Die Heimsuchung von Charlie Frith
Den größten Ärger bereiten mir die Toten, die erst kürzlich gestorben sind. Ältere Geister sind gar nicht so schlimm. Denen kann man leicht aus dem Weg gehen, weil sie immer Wams und Kniehosen oder Korsett und weite Röcke tragen – wenn ich mit gesenktem Blick und eingesteckten Ohrhörern an ihnen vorbeigehe, ahnen sie nicht mal, dass ich sie sehen kann. Doch die, die gerade erst verschieden sind, unterscheiden sich nicht von den anderen Leuten um mich herum, und das macht sie so gefährlich.
Durch die Altstadt von York streife ich so wenig wie möglich und nie allein. Heute begleitet mich Heather, während ich aufmerksam die enge Gasse The Shambles entlanggehe – ihr Stethoskop hat sich in dem gelben Trageband verheddert, an dem ihr Krankenhausausweis hängt. In den sechs Jahren seit ihrem Tod hat sie sich kein bisschen verändert: derselbe unordentliche Zopf, dasselbe hübsche runde Gesicht und dieselbe hochtaillierte, weit geschnittene graue Hose und zerknitterte Hemdbluse, deren Ärmel bei jedem Wetter hochgekrempelt sind. Sie redet in einer Tour, aber ich höre gar nicht richtig zu, sondern lasse mich von ihrer sanften Stimme berieseln, während ich mein leichtes Humpeln zu verbergen versuche, das mir seit dem Bus zu schaffen macht.
Meine Prothesen haben angefangen zu reiben. Ich hätte zwei Paar Socken anziehen sollen, doch dann sind die Schäfte immer zu eng und mir tut am Ende des Tages alles weh. Daran kann ich jetzt nichts ändern. In der Öffentlichkeit nehme ich meine Unterschenkelprothesen nie ab, vor allem auch, weil die Zwillinge sie mit Mums Glitzernagellack »verschönert« haben und die Abdeckungen jetzt pink und violett funkeln.
Wir bewegen uns über das Kopfsteinpflaster. Die alten Fachwerkgebäude ragen in die Gasse hinein und wetteifern miteinander um Tageslicht. Man hat fast den Eindruck, als würden sich die Häuserreihen auf beiden Seiten ganz vertraut zueinander neigen, damit das Juweliergeschäft dem Butterkaramellladen gegenüber ein Geheimnis zuflüstern kann. Nichts hier ist gerade, weder die Mauern noch die niedrigen Türpfosten, und die Scheiben der kuriosen viktorianischen Schaufenster ebenso wenig. Über manchen hängen Metallschilder in Form von Pasteten oder Waffenschilden, die mit kunstvollen Metallhalterungen an Mauern aus Backstein, Strohlehm und Holz angebracht sind – Mauern, die schon seit Jahrhunderten nicht mehr sauber waren.
Geschichte liegt in der Luft wie ein Gestank, dem ich nicht entkommen kann. Guy Fawkes wurde hier geboren, Dick Turpin, der berüchtigte Wegelagerer, hier aufgeknüpft und die heilige Margaret Clitherow wurde unter ihrer eigenen Haustür zu Tode gequetscht. Daher ist es keine große Überraschung, dass die Geister fast so zahlreich sind wie die Touristen.
Mir wird oft gesagt, dass ich ein Sechzehnjähriger mit einer alten Seele bin, aber damit liegen sie voll daneben. Ich bin keine Alte Seele. Genau genommen tue ich alles, um ihnen aus dem Weg zu gehen.
Ich weiche schnell einem Geist in einem pelzbesetzten Mantel aus, indem ich ein plötzliches Interesse an einer Schaufensterauslage mit Wimpel-Girlanden und Strampelanzügen vortäusche. Dann drehe ich den Oberkörper, als hätte ich jemanden meinen Namen rufen hören, nur damit mich eine Frau mit Halskrause aus dem 16.Jahrhundert nicht anrempelt. Im Gegensatz zu den anderen Lebenden auf der Straße wäre ich für sie ebenso fest und real wie sie für mich.
Das ist der Preis dafür, die Toten zu sehen. Sie können in Mauern verschwinden und durch gewöhnliche Menschen hindurchgehen, aber ich bestehe für sie aus Fleisch und Knochen. Sie können mich berühren. Sie können mir wehtun. Die Toten können sehr anspruchsvoll sein, um nicht zu sagen gefährlich, wenn sie zu aufdringlich werden und ich mich nicht rechtzeitig aus dem Staub machen kann, bevor Blut fließt.
Absolut ätzend!
Ich wäre lieber mit dem Bus hinaus zum Monks-Cross-Einkaufszentrum gefahren, wo die Böden ebener sind und weniger Geister herumspuken, aber Heather will unbedingt in einen bestimmten Laden hier in den Shambles.
»Was hältst du von dekorativen Buchstützen?« Sie bleibt einen halben Schritt hinter mir und tut so, als wäre sie ein verwirrter Geist, der versucht, mit den Lebenden zu kommunizieren. Die Toten suchen Menschen ebenso oft heim wie Orte. Außer herumzuhängen und sich zu beklagen – auch wenn ich der Einzige bin, der sie hören kann –, gibt es für sie ja ohnehin nicht viel zu tun.
Ich beantworte Heathers Frage nicht, weil es ziemlich bescheuert wäre, auf einer Straße voller Geister mit einem zu sprechen. Sie redet noch ein wenig weiter und spult eine lange Liste von Geschenkideen herunter, während ich so tue, als hätte ich keine Ahnung, dass sie da ist – bis sie mitten im Satz abbricht.
Unwillkürlich folge ich ihrem Blick zu einem Jungen, der sich an den Türrahmen eines nahe gelegenen Ladens stützt. Er ist ein Kind der Slums, barfuß, mit erfrorenen Fingern; sein flackernder, skelettartiger Körper ist in stinkende Lumpen gewickelt.
Ich habe keinen sechsten Sinn, da ist kein sanftes Klopfen im Innern meines Schädels oder irgendein schauriges Gefühl, dass etwas Jenseitiges in der Nähe lauert. Solche Empfindungen gibt es nur in Büchern und Filmen. Für mich sieht der Junge so real wie jeder lebende Mensch aus, aber dann marschieren Stiefel und Turnschuhe durch ihn hindurch und ich kann ihn kaum noch sehen.
Eiskalte Angst bricht wie eine Welle über mich herein. Heather versperrt meine Sicht auf das Kind und redet beruhigend auf mich ein, bis mir mein Herzschlag nicht mehr in den Ohren dröhnt.
Es gibt drei Kategorien von Geistern: freie, gebundene und in einer Todesschleife gefangene, wobei letztere am gefährlichsten sind. In der Erinnerung ihres Todes gefangen, wissen sie gar nicht, dass sie längst gestorben sind, und existieren außerhalb von Zeit und Raum in ihrer eigenen Blase. Aber manchmal sickert ihre Wirklichkeit in unsere Welt, und das verheißt nichts Gutes für mich.
Ich wende mich ab. Gewissensbisse schnüren mir die Brust zu.
Aber ich darf mein Gespür für das, was real ist, nicht verlieren.
Prompt bleibe ich mit dem Fuß an der Bürgersteigkante hängen und stolpere. Heather springt nach vorne, packt mich am Arm und verhindert meinen eigentlich unvermeidlichen Sturz in den gepflasterten Rinnstein. Rasch sehe ich mich in der engen Gasse um und hoffe, dass niemand beobachtet hat, wie ich die Schwerkraft überlistet habe. Als sich keine Heerschar von versessenen Toten auf mich stürzt, atme ich erleichtert auf.
»Alles in Ordnung?«, fragt Heather. Ich nicke so unmerklich wie möglich. Sie lässt mich los, presst aber vor Sorge die Lippen fest aufeinander.
Wir müssen vorsichtiger sein.
Als ich mein Gewicht verlagere, erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild in dem verdunkelten Fenster eines Geschenkeladens, der wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist. Obwohl Heather an meiner Seite ist, stehe ich allein da. Die Toten haben kein Spiegelbild. Also schaut nur ein junger Kerl zurück, der aussieht, als könnte er Ärger machen – kantiges Gesicht, breite Nase, stämmiger Körperbau mit Muskeln um schwere Knochen –, wie mein Dad.
Wir machen uns langsam wieder auf den Weg. Ich erkenne den Laden sofort, als ich das Schild mit dem Buch und dem Federkiel über der Tür ausmache. Obwohl mir unbehaglich zumute ist, muss ich grinsen.
Im Geschäft sind die grünen Wände und Vitrinen randvoll mit allem Möglichen – von Tabletop-Spielen über ausgefallene Schreibwaren bis hin zu Sammlernachbildungen des Einen Rings und des Baseballschlägers von Harley Quinn. Obwohl in dem Laden die Hölle los ist, weiß Heather sich in einer Menge zu bewegen, ohne dass die Leute durch sie hindurchtrampeln. Wir schauen uns in aller Ruhe um, während ich gleichzeitig darauf konzentriert bin, mich nicht zu verraten. Es ist sehr einfach zu vergessen, dass außer mir niemand meine Geisterfreundin sehen oder hören kann.
»Charlie, dreh dich nicht um.« Die Stimme ist weiblich, aber sie gehört nicht Heather. Ihr Akzent ist so glasklar, dass er gewollt vornehm, ja fast künstlich klingt. »Jemand hat sich an deine Fersen geheftet.«
Stolz auf meine Selbstbeherrschung wende ich mich ganz langsam zu der blonden Frau Mitte dreißig um, die zwischen den angezogenen Schaufensterpuppen mitten im Laden steht. Von der Perlenkette um ihren Hals bis hin zum Schnitt ihres Damenkostüms und ihrer perfekten Frisur sieht Audrey Nightingale aus, als wäre sie soeben aus einer Fotografie aus den 40er-Jahren getreten. Bildhübsch.
Sie spannt die Lippen an. »Ich sagte, dreh dich nicht um.«
»Was machst du hier, Nightingale?«, fragt Heather und verschränkt die Arme.
»Auf unseren Jungen aufpassen natürlich.« Audrey geht um ein junges Paar herum, das Selfies macht, richtet dann ihren Adlerblick wieder ganz auf mich und greift nach dem dreiköpfigen Spielzeughund in meiner Hand. Ich sehe schnell weg. Wie bei allen Geistern fährt ihre Hand direkt durch feste Gegenstände. Wenn ich das beobachte, läuft es mir jedes Mal eiskalt den Rücken hinunter.
Obwohl Audrey meine Regeln nicht ausstehen kann, hält sie sich für gewöhnlich daran. Daher muss sie heute wohl echt schlecht drauf sein. »Soll ich wieder gehen oder willst du wissen, wer dich verfolgt?« Mein Gesichtsausdruck reicht ihr offenbar als Antwort, denn sie fährt fort: »Draußen, mit dem dunklen Haar und der grünen Jacke.«
Heather tut so, als würde sie eine Auslage von Dekoschwertern betrachten, um einen Blick auf unseren Verfolger zu werfen. »Bist du sicher?«
»Oh, ich bin mir völlig sicher. Er hält sich nur für unauffällig.«
Das grelle Frühlingslicht fällt auf den Rand seines Gesichts durch die Fensterscheibe. Ich wende mich im selben Moment wie er ab. Er ist etwa in meinem Alter, vielleicht ein Jahr jünger, aber so, wie er angezogen ist – Chinohosen und ein Pulli mit Zopfmuster unter einer neuen Wachsjacke –, versucht er wohl, älter zu wirken.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass er mir folgt. Audrey irrt sich selten. Ich schaue noch einmal zurück. Er riskiert einen weiteren Blick auf uns drei und lässt ihn auf Audrey ruhen, bevor er mit großen Schritten im Laden gegenüber verschwindet.
Wenn er Heather und Audrey sehen kann, ist er tot, und seinen Klamotten nach zu schließen erst seit Kurzem. Vielleicht will er, dass ich mit seinen Verwandten in Kontakt trete und ihnen eine Nachricht von ihm überbringe – etwas, das ich nie tun würde. Ich bin kein Botenjunge für die Toten.
Meine Erfahrung sagt mir jedoch, dass ich damit falschliege. Erst einmal scheint er nicht völlig erleichtert darüber, dass ihn jemand sehen kann. Außerdem jagt mir Audreys Miene einen Schauer über den Rücken – an ihrem Hals steht eine Sehne heraus und aus ihren Augen spricht eine angespannte Wachsamkeit.
Sie wirft einen Blick auf die Straße. »Du musst von hier verschwinden.«
Da ist sie wieder, die aufblitzende Angst. Sie bemüht sich, es zu verbergen, aber sie fürchtet sich; dabei lässt sich Audrey sonst nicht so leicht einschüchtern. Folglich ist er vermutlich ein Hungriger – ein Wiedergänger, der glaubt, dass ein Bissen meines besonderen Geisterseher-Fleischs und ein Schluck meines Bluts ihn wieder quicklebendig machen.
Oh Mann. Muss das jetzt sein?
»Er hat uns zusammen gesehen.« Heathers Stimme ist höher als sonst. »Wir sollten uns trennen.«
»Triff mich an der Bushaltestelle, okay?«, murmele ich.
Heather antwortet mit einem verhaltenen Nicken, drückt meine Hand und blickt Audrey noch einmal durchdringend an, bevor sie aus dem Laden schlüpft. In diesem Moment schaut mich ausgerechnet ein als Dothraki verkleideter Verkäufer schräg von der Seite an. Echt jetzt? Ich gehe in Richtung Kasse, schnappe mir noch einen Bogen Geschenkpapier vom nächsten Ständer und bezahle schnell den Spielzeughund.
Wie komme ich hier weg, ohne dass Wachsjacke sich gleich an mich dranhängt?
»Wir gehen hinten raus«, flüstert Audrey und beschreibt mir den Weg zum Lagerraum. »Der Code ist 4531Y.«
»Woher weißt du das?«
»Woher soll ich was wissen?«, fragt der Typ an der Kasse, der glaubt, ich würde mit ihm reden.
»Oh …« Ich spüre, wie mir Hitze in die Wangen steigt. »Nichts.«
Ich stopfe den Spielzeughund in meinen Rucksack. Der Verkäufer rollt für mich den Geschenkpapierbogen zu einem Rohr zusammen. Ich halte es wie ein Schwert, als ich mich in den hinteren Teil des Ladens und zur Tür für Personal aufmache, auf der steht: ZUTRITT FÜR UNKOSTÜMIERTE VERBOTEN.
Meine Hände sind schweißnass, doch ich schaffe es trotzdem, den Code einzutippen und die Tür zu öffnen, ohne mich umzudrehen und mich zu vergewissern, dass mich niemand dabei beobachtet.
Audrey wartet auf der anderen Seite.
»Mach schnell«, sagt sie, »aber nicht zu schnell. Tu so, als würdest du hierhergehören.«
Ich eile an den einfachen Regalen voller Verkaufsartikel vorbei und halte den Atem an, als eine Stimme aus der kleinen angrenzenden Teeküche zu mir herüberdringt. Ich mache mich schon auf eine wütende Auseinandersetzung mit einem Angestellten gefasst, der wissen will, was ich hier zu suchen habe, doch schließlich erreiche ich den Notausgang, ohne irgendjemandem über den Weg zu laufen.
»Die Tür ist alarmgesichert«, warnt mich Audrey vor.
Ich verziehe das Gesicht, lege die Hände auf die Querstange und drücke sie fest nach unten.
Kurz darauf haste ich über den Markt, während mir der Alarm immer noch in den Ohren klingelt. Ich brauche fünfzehn Minuten, um mich durch das Stadtzentrum zu schlängeln, und halte mich dabei im Schatten vom York Minster in nördliche Richtung, weil sich um Clifford’s Tower herum zu viele ruhelose Tote tummeln. Mad Alice ist nicht in ihrer Gasse und so schlüpfe ich durch Lund’s Court auf die Straße Swinegate. Nur knapp vermeide ich einen Zusammenprall mit einem Zylinder tragenden Tourguide und seiner Schar begieriger Geisterjägerinnen und Geisterjäger.
Inzwischen hinkend überquere ich schließlich den Fluss bei den Memorial Gardens und mache mich entlang der alten Stadtmauer auf den Weg zum Bahnhof. Als ich eine Verschnaufpause einlege, ist Audrey weg. Ich bin allein. Niemand folgt mir. Um den Geschmack der Angst in meinem Mund loszuwerden, werfe ich mir einen Kaugummi ein.
Heather wartet schon an der Bushaltestelle, als ich ankomme, und beobachtet, wie ich die Taschen meiner Steppjacke nach meinem Ticket durchsuche. Mein linker Stumpf brennt. Zu Hause werde ich meine Prothesen sofort abnehmen müssen. Um weniger Druck auf sie auszuüben, setze ich mich auf die Metallbank und lehne mich an den Unterstand aus Glas. Heather setzt sich neben mich und da sonst niemand in der Nähe ist, lasse ich mich gegen sie sacken.
In Gedanken kehre ich zu dem Jungen zurück, der immer und immer wieder erfriert. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, aber beim letzten Mal …
Nein. Ich kann auf keinen Fall an letztes Mal denken.
Ich klemme mir die Rolle Geschenkpapier unter den Arm und hole das Spielzeug aus der Tasche, weil ich mir plötzlich unsicher bin, ob ich eine gute Wahl getroffen habe.
Ich drehe es hin und her, damit Heather es begutachten kann. »Wird ihm das gefallen?«
»Er wird’s klasse finden.« In ihrer Stimme liegt eine gewisse Schärfe, etwas Unausgesprochenes, aber mir fehlt die Energie, um nachzuhaken.
Unser Bus kommt in Sicht, er ist nur halb voll und wir können daher zusammen nach Hause fahren. Ich bin erleichtert und fühle mich sofort besser. Wir stehen auf. Der Bus hält an und ich zeige dem dösigen Fahrer beim Einsteigen mein Ticket. Er wirft nur einen flüchtigen Blick darauf, doch als er den Spielzeughund sieht, erhellt sich sein Gesicht.
»Hab meinem Jungen genau so einen zu Weihnachten geschenkt. Wächter der Unterwelt, ne?«
Ich nicke und lächle.
Heather und ich setzen uns ans Fenster recht weit vorne, damit ich mich ausstrecken kann. Als der Bus losfährt, fällt mir eine Gestalt auf, die uns von der alten Stadtmauer gegenüber dem Bahnhof beobachtet. Schon echt frech, wie Wachsjacke im vollen Sonnenschein dasteht, als wollte er, dass ich ihn sehe. Heather hat ihn nicht bemerkt. Gut, sie würde sich nur Sorgen machen.
Plötzlich kommt mir ein eiskalter Gedanke und ich richte mich ruckartig auf.
Er ist mir gar nicht gefolgt. Audrey hätte ihn entdeckt. Das heißt, er hat gewusst, wohin ich unterwegs bin. Er ist als Erster hier angekommen und hat gewartet.
Der Schock, der mich durchfährt, hat nichts mit dem Rumpeln und Heulen des Motors zu tun, als der Bus die Queen Street entlangfährt und auf Blossom abbiegt. Nein, so etwas wie einen sechsten Sinn gibt es nicht, aber meine Knochen fühlen sich schwerer an und mein Schädel pocht, als würde ich mich gegen die Antwort auf eine Frage sperren, von der ich nie wollte, dass sie jemand stellt.
Zum ersten Mal seit Langem fühle ich mich heimgesucht.
2
Freundliche Nachbarschaftsgeister
In unserem Wohnviertel außerhalb der Innenstadt gibt es zwar weniger Geister, aber sie sind dennoch da – sie streifen durch die Gänge des örtlichen Baumarkts, stehen um der alten Zeiten willen vor dem Fisch-und-Chips-Laden Schlange oder gehen am Ende unserer Sackgasse auf und ab und klagen über den Zustand ihrer Edelrosen.
»Sie sind denen schnurzpiepegal, Junge«, ruft MrBroomwood. Der Gürtel seines Morgenmantels schleift über den Boden, als er die Straße in unsere Richtung überquert. Sein Gesicht besteht nur aus zusammengezogenen Augenbrauen und Stirnrunzeln über einem schiefen Mund. »Blattläuse kriegt man ganz leicht mit Seife und Wasser los, aber die rühren keinen Finger, und dann lassen se auch noch tagelang die geleerten Mülltonnen draußen rumstehen. Vierzig Jahre lang hab ich hier gewohnt – die Mieter, die David da reingelassen hat, ham kein’ Deut Respekt. Ein Brief würd helfen, so ’n anonymer …«
»Das geht mich nichts an, MrBroomwood«, protestiere ich wie fast jeden Tag seit seinem Tod letzten Oktober.
»Wen geht’s denn dann was an, hm?« Der alte Mann plustert sich auf und wedelt mit erhobenem Zeigefinger vor meiner Nase herum, als wäre ich ein ungezogenes Hündchen oder jemand von der Stadtverwaltung. »Wenn man was gegen ein Unrecht tun kann, is’ man in der Pflicht.«
Ich stecke die Hände in die Taschen. Es ist Frühling, aber die Luft ist kühl. »Die würden mich für einen totalen Spinner halten.«
»Na und? Wen interessiert’s? Du warst schon immer ’n komischer Junge.«
»Und was bitte schön interessieren mich Ihre Rosen?«
In dem einstöckigen Haus gegenüber zucken die Gardinen. MrsGinty fragt sich wahrscheinlich, warum der Frith-Junge auf dem Gehsteig steht und mal wieder mit sich selbst streitet.
»Er hat Nein gesagt, also lassen Sie ihn in Ruhe.« Heather schnappt sich meinen Arm und wir lassen MrBroomwood stehen.
Ich habe sie nicht immer gesehen. Meine frühe Kindheit war herrlich geisterfrei, bis ich mit neun Jahren krank wurde. Die Meningitis hat schnell und schonungslos zugeschlagen und mir beide Beine unterhalb des Knies genommen. Dann hat sie mich umgebracht. Irgendwie haben es die Ärzte geschafft, mich wiederzubeleben – laut meiner Großmutter »ein Wunder Gottes«.
Seit meiner Rückkehr ins Leben ist die Welt um einiges voller.
Dads Taxi steht nicht in unserer Auffahrt. Im Haus ist das Licht an und ich atme seine tröstliche Wärme ein. Stiefel und Mäntel neben der Tür; Schrammen im Eingang von Rollstuhl-gegen-Staubsauger-Kämpfen; ein Wasserfleck an der Decke von einem Rohrbruch, den Dad versucht hat, selbst zu reparieren; der blaue Teppichboden, der in der Mitte abgewetzt, aber entlang der Sockelleisten immer noch fluffig ist.
Mum ruft, dass sie mein Abendessen im Ofen warm gestellt hat. Der Fernseher läuft und die aufgeregten Stimmen eines inszenierten Streits, der seinen dramatischen Höhepunkt erreicht, dringen zu mir herüber, während der Teekessel pünktlich zur Werbepause pfeift.
Ich antworte laut »Danke!« und gehe auf mein Zimmer.
Dante, der Geist eines Collies, spitzt die Ohren, sobald ich durch die Tür komme. Ich kraule ihn kurz. Bei seinem glücklichen Winseln bin ich fast froh darüber, dass ich Geister berühren kann.
Ein dünner rothaariger Junge sitzt im Schneidersitz auf meinem Bett. Als wir uns kennengelernt haben, waren wir etwa gleich alt. Jetzt werde ich erwachsen und Ollie wird für immer elf bleiben. Unser ganz eigener Peter Pan.
Er zeigt auf die Fotokopien an der Wand. »Wo wart ihr? Ich hab die schon zweimal komplett gelesen.«
»Wirst du gleich sehen, alter Mann«, sagt Heather.
Ich möchte ihm sein Geschenk sofort geben, aber ich muss erst in meinen Rollstuhl wechseln. Es ist das gleiche Gefühl, als würde man drückende Schuhe gegen bequeme Schlappen tauschen. Ich krempele meine Jogginghose hoch, löse den Pin, der Silikonliner und Schaft zusammenhält, und ziehe meine Prothesen eine nach der anderen ab, dann die Liner und die Socken. Ollie zieht scharf die Luft ein und Heather schneidet eine Grimasse. Am oberen Rand der Liner ist die Haut ganz wund gescheuert. Ich habe ziemlich stark geschwitzt und es brennt.
Ich schiebe mich in meinen Rollstuhl – ultraleichter Rahmen, niedrige Rückenlehne und keine Schiebegriffe. Dieses Zimmer hat früher meiner Großmutter gehört und besitzt ein eigenes geräumiges Bad. Ich brauche ein paar Minuten, um die wunden Stellen zu säubern und in Gaze zu wickeln, dann schrubbe ich die Liner und hänge sie zum Trocknen auf.
Als ich zurück ins Zimmer rolle, quatschen Ollie und Heather über den neuesten Comic an der Wand. Ich habe in der Bücherei Hellboy: Die rechte Hand des Schicksals kopiert und ihn wie ein Storyboard an die Wand gepinnt, damit Ollie etwas zu lesen hat, während ich unterwegs bin. Ich vermute jedoch, dass er den Großteil des Tages durch die Vorlesungssäle der Universität gegeistert ist. Weil Ollie nicht lange in die Schule gehen konnte, als er noch am Leben war, holt er das jetzt, da er tot ist, nach.
Mein Zimmer ist überwiegend seinem Geektum gewidmet. Die Regale über dem Schreibtisch sind zu einem Schrein für unsere Lieblings-Avengers geworden: Für Ollie ist es Thor und für mich Spider-Man. Heather will sich nicht festlegen, aber wir sind uns beide ziemlich sicher, dass sie auf Scarlet Witch steht. Jedes bisschen freie Wand nutzen wir für die sich ständig verändernden Collagen aus Graphic Novels, Comics und Büchern, die wir gerade lesen.
Ollie interessiert sich seit Kurzem für die »steinalten Klassiker«, wie er sie nennt: Homer, Euripides und Ovid. Die Damen in der örtlichen Bücherei halten mich schon für einen richtigen Intellektuellen. Mum meint, dass ich bei der Riesenmenge Bücher, die ich jede Woche ausleihe, eigentlich viel bessere Noten schreiben müsste. Als Ollie noch mit mir in den Unterricht gegangen ist und mir die Antworten ins Ohr geflüstert hat, war ich in der Schule richtig gut. Dass meine schulischen Leistungen plötzlich abgefallen und seitdem im Keller sind, führen meine Lehrer auf ein seelisches Trauma zurück und ich lasse sie in dem Glauben. Doch die Wahrheit ist, dass ich ohne Ollie eben nur durchschnittlich bin. Es ist nicht so, als würden mir Geschichten nicht gefallen, aber ich lese langsam, und wenn ich die Seiten für ihn nicht umblättern müsste, hätte ich kein einziges der Bücher, die er mich bittet auszuleihen, fertig gelesen.
Ich hole unser Geschenk aus meinem Rucksack und halte es ihm hin. Auf meine Verpackungskünste bin ich superstolz, vor allem, weil ich es noch im ruckeligen Bus eingepackt habe.
»Herzlichen Glückwunsch zum Todestag, alter Mann.«
Ollie grinst. »Ihr hättet mir doch nichts kaufen müssen.«
»Irgendwas wollten wir auf jeden Fall machen«, erwidert Heather.
Ollie war zu krank, um sich richtig an den Tag seines Todes zu erinnern. Er weiß nur noch, dass es für einen Frühlingsmonat kalt war. Letztes Jahr habe ich einen Blick in das Geburts- und Todesregister geworfen und ihn gefunden: Oliver John Shuttleworth, gestorben am 11.April an Influenza. Da habe ich beschlossen, dass wir diesen Tag jedes Jahr feiern sollten.
Ich würde dasselbe auch für Heather tun, aber sie möchte lieber vergessen, was ihr zugestoßen ist.
Ollie sieht aus, als würde er gleich vor Aufregung platzen. »Na los, mach’s auf.«
Vorsichtig reiße ich das Papier auf seine Anweisungen hin auf – ich fange an einer Ecke an und mache dann entlang der Ränder weiter. Als das Geschenkpapier ab ist und ich den dreiköpfigen Hund hochhalte, grinst Ollie übers ganze Gesicht. »Zerberus! Alter, der ist echt klasse, danke. Wusstest du, dass Hesiod ihm fünfzig Köpfe statt nur drei gegeben hat?«
Auf einmal hat es sich gelohnt, dass ich in die Shambles gegangen bin, mir die Haut wund gerieben habe und sogar, dass mich der Hungrige entdeckt hat.
Dante stupst meine Hand an und erinnert mich daran, dass er nach draußen will, um den Eichhörnchen in der Gegend mal ordentlich die Meinung zu bellen.
»Ich geh mit ihm raus«, sagt Heather.
Ist wahrscheinlich besser so. Ich habe keine gute Ausrede, um heute Abend in der Nachbarschaft herumzustreifen.
Ich muss Heather die Türen öffnen, sonst müssen sie durch die Wand gehen, und das würde gegen eine meiner Regeln verstoßen.
Regel Nummer eins: kein Gleiten durch feste Gegenstände, Wände oder Hecken, wenn ich hinsehe.
Regel Nummer zwei: kein Schweben oder sonstige Verstöße gegen die Gesetze der Schwerkraft.
Regel Nummer drei: kein Verschwinden oder Wiederauftauchen.
Auf dem Weg zur Eingangstür stecke ich den Kopf ins Zimmer der Zwillinge. Poppy, die sich in ihre Königin-Elsa-Bettdecke gemümmelt hat, winkt mir verschlafen zu. Lorna schaut gerade lange genug von ihrem Buch auf, um mir zu sagen, dass ich wie ein Käsefurz stinke. Sie teilt sich ihr Bett mit unserer Cousine Danielle. Die Jungs, Anton und Jamie, liegen auf dem Ausziehbett. Sie begrüßen mich mit Furzgeräuschen und der Altersunterschied von zehn Jahren zwischen mir und allen anderen Kindern in unserer Familie gibt mir das Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
Wenn das Terror-Trio unter der Woche bei uns übernachtet, bedeutet das, dass es Tante Chrissie nach ihrer Chemo nicht gut geht. In unserer Familie beklagen alle gerne, dass wir vom Pech verfolgt werden, und behaupten, wir seien verflucht: meine Meningitis, dann Großmutters plötzlicher Tod und jetzt Chrissies Krankheit. Doch dann lassen sie alle auch noch so behämmerte Sprüche vom Stapel wie »Alles geschieht aus einem Grund« und »Wenn du schon an Krebs erkranken musst, dann am liebsten an dem hier, oder?«. Als gäbe es darauf eine Antwort.
Ich lasse Heather und Dante ganz leise durch die Haustür raus. Als ich wieder reinkomme, beobachtet mich Mum mit diesem bekloppten, rührseligen Blick, mit dem sie alle Menschen bedenkt, die sie liebt.
»Du bist spät zurück.«
Ich lüge Mum nicht gern ins Gesicht, deshalb öffne ich den Ofen und hole mein Abendessen heraus: Shepherd’s Pie mit Erbsen und Karotten. »Ich war in der Bücherei.«
»Schön zu wissen, dass du deine Prüfungen ernst nimmst.« Sie reicht mir Besteck und ich manövriere meinen Rollstuhl an den Tisch. Ich weiß, dass sie meine frischen Bandagen bemerkt hat, als sie sagt: »Geh mit dem Stuhl raus, wenn sie reiben.«
Ich verspreche es ihr, auch wenn ich es definitiv nicht vorhabe. Mein Rollstuhl ist zwar bequem und leicht zu manövrieren und ich kann mich glücklich schätzen, ihn zu haben, aber irgendwann hatte ich einfach die Nase voll davon, dass mich die Leute entweder angestarrt, komplett ignoriert oder die Person, mit der ich gerade unterwegs war, gefragt haben, was denn mit mir nicht stimmen würde. Als wäre ich unfähig, für mich selbst zu sprechen. Meine Prothesen helfen mir, nicht aufzufallen, nur leider reiben sie schon nach kurzer Zeit. Noch fünf Tage bis zu meinem nächsten Arzttermin und einem neuen Paar Schäfte. Das sollte das Problem eigentlich lösen, aber ich mache mir da keine allzu großen Hoffnungen.
Mum lehnt an der Arbeitsfläche und plaudert, während ich esse. Der beige Linoleumboden, die gelben Wände und die Leuchten sind immer noch dieselben wie zu Lebzeiten meiner Großmutter. Bei unserem Einzug habe ich mich gefragt, ob ihr Geist hier auf mich warten würde, doch im Haus hat sich nichts geregt.
Ollie steht in der Tür und lauscht dem Tratsch aus Mums Friseursalon. Ich fange seinen Blick auf und lächle. Mum wird ein wenig blass und sieht kurz hinüber, sagt aber nichts.
Wie absolut dumm von mir! Ich muss vorsichtiger sein. Sie sieht die Risse, egal, wie sehr ich mich bemühe, sie zu verbergen. Und ich muss sie verbergen, vor allem vor ihr. Im Friseursalon spielt sie ihre Rolle gut – Löwenmähne, lackierte Nägel, breites Lächeln und lautes Lachen. Aber mal im Ernst, sie hat drei Kinder zu Hause, eine kranke Schwester und nicht genug Zeit oder Geld, um alles auf die Kette zu kriegen.
Nach dem Abendessen biete ich an, den Müll rauszubringen, und Mum, die mit einem Berg Bügelwäsche inzwischen vor dem Fernseher steht, ruft mir ein Dankeschön zu.
Während ich den Müllsack in die Tonne stecke, lasse ich den Blick auf der Suche nach Wachsjacke durch die Sackgasse schweifen. MrBroomwood hat sich verzogen, wahrscheinlich um die untauglichen Mieter seines Enkels heimzusuchen.
»Er ist nicht hier.«
Ich wirbele meinen Stuhl herum, die Nerven angespannt. Aber es ist nur Audrey, die neben dem Haus herumlungert. »Ich habe die Nachbarschaft überprüft. Er ist dir nicht nach Hause gefolgt.«
»Gut. Wer ist er?«
»Jemand, um den du einen großen Bogen machen solltest.«
»Also ein Hungriger?«
Audrey zögert. »Ich werde ihn dir vom Hals halten, sei einfach nur vorsichtig.«
Ihre Furcht ist immer noch da, tief in ihr vergraben, aber sie entgeht mir nicht, denn Audrey hat mir viel zu gut beigebracht, Gesichter zu lesen.
»Du hast Angst vor ihm.«
Ihr Blick wird frostig. »Sorg dafür, dass Ollie heute Nacht bei dir bleibt.«
»Was verschweigst du mir?«
»Du bist noch nicht so weit.«
»Doch«, gebe ich instinktiv zurück, nicht weil ich es tatsächlich glaube.
»Du siehst, aber du willst nicht sehen.«
Meine Wangen kribbeln vor Wut. »Äh, natürlich nicht! Weil es mein Leben abgefuckt hat.«
Sie antwortet darauf mit einem traurigen Lächeln. Es ist so was von herablassend, als würde sie mich in irgendwelche großartigen Geistergeheimnisse einweihen, wenn ich besser mit der ganzen Situation umgehen könnte. Würde sie es endlich tun, würde ich mich vielleicht nicht mehr so sehr vor den Toten fürchten. Oder ich hätte dann noch mehr Angst. Ich weiß es nicht.
Ich wünschte, ich könnte das Kind in den Shambles aus der Todesschleife befreien, in der es gefangen ist. Nur wäre dann höchstwahrscheinlich das Ende vom Lied, dass ich einfach hineingezogen werde und ganz allein auf einer verschneiten Straße erfriere. Ich will ihm ja helfen, wirklich, aber ich kann nicht.
Es wäre besser, wenn ich überhaupt keine Geister sehen könnte.
Dante stürmt an mir vorbei, verschwindet durch die Hecke und kommt mit heraushängender Zunge wieder herausgetrottet. Ich drehe mich um. Heather steht da und kaut auf ihrer Unterlippe.
»Alles klar?«, frage ich, nur um irgendetwas zu sagen. Mein Gefühlsausbruch von eben ist mir bereits peinlich. Als ich mich wieder Audrey zuwende, ist die Einfahrt leer.
Sie bricht immer Regel Nummer drei.
»Lass sie einfach machen, Charlie und geh jetzt lieber schlafen.« Heather schenkt mir noch ein kleines entschuldigendes Lächeln, ehe sie davongeht. Ich rufe ihr noch »Gute Nacht« hinterher und wünschte, sie würde bleiben. Mit ihr in der Nähe würde ich mich besser fühlen, aber sie hat ihre festen Gewohnheiten.
Wieder im Haus richte ich die Hängematte für Ollie ein und stopfe sie mit Kissen aus, damit ich mir selbst leichter vormachen kann, dass er wirklich drin liegt und nicht mitten in der Luft schwebt. Als ich unter meine Decke schlüpfe, macht es sich Dante neben mir bequem. Wäre er nur ein besserer Wachhund. Doch dass er sich auf den Rücken dreht und sich von einem fremden Geist den Bauch kraulen lässt, ist ebenso wahrscheinlich, wie dass er mich mit seinem Bellen weckt. Wir liegen da und ich tue so, als würde ich schlafen. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu Wachsjacke.
Er hat nicht verzweifelt gewirkt, sondern entschlossen.
Das jagt mir noch mehr Angst ein.
Ich räuspere mich und stütze mich auf einen Ellbogen. »Ollie, hast du irgendwelche neuen Gesichter rumhängen sehen? Mir ist heute nämlich jemand in der Stadt gefolgt. Ist wahrscheinlich nichts, aber …« Ich lasse meine Worte wie einen Fischköder in der Luft baumeln.
Ollie beißt an. »Ich halte Wache, falls jemand auftaucht. Wie sieht dieser Geist denn aus?«
Ich beschreibe Wachsjackes lockiges Haar, wie er sich hält und dass er die ganze Zeit die Hände in den Taschen hatte. Ollies Neugier vermischt sich mit meinem wachsenden Grauen und alles fühlt sich einfach so widersprüchlich an.
»Weck mich, wenn irgendein Toter auftaucht, okay? Nicht nur er.« Ich versuche, gelassen zu klingen, und Ollie ist so nett und tut mit einem Lachen so, als würde er meine Angst nicht heraushören.
3
Der Erhängte Mann
Am Montag bin ich total hibbelig. Unterricht, Prüfungsvorbereitung, ein Moment führt zum nächsten, Sekunden werden zu Stunden und ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass ich auf etwas warte. Es ist genau so, wie wenn ein muskelbepackter älterer Junge schwört, dass er einen in die Finger kriegt. Entweder er setzt seine Drohung in die Tat um oder er kehrt wieder zu seiner Lieblingsbeschäftigung zurück – Dosenbier kippen und Bushaltestellen zu Kleinholz verarbeiten – und vergisst, dass man überhaupt existiert. So oder so, es ist ein Versprechen, das einem nicht mehr aus dem Kopf geht.
Meine Schule besteht aus einer Ansammlung von niedrigen, zusammengeschusterten grauen Backsteingebäuden, die lieblos neben einen Parkplatz, Sportplätze und eine große Turnhalle geknallt worden ist. Ich kenne nicht alle an der Schule, aber alle scheinen mich zu kennen. Wenn man den Ruf einmal weghat, mit Luft zu streiten, ist man irgendwann bekannt wie ein bunter Hund.
»He, Olympix!«, brüllt Mitch vom anderen Ende des Flurs herüber. Er ist ein schlaksiger Typ mit breiten Schultern, heller Haut, einem hübschen Mund und blondem Haar, das vorne zu einer Welle frisiert ist. Einen Arm hat er um seine Freundin Leonie gelegt. Sie haben eine Schar Groupies angezogen, größtenteils ehemalige Freunde von mir. Bei Mitchs Ruf wirbeln Köpfe in meine Richtung.
Ich verkneife mir ein Stöhnen. Es ist wirklich bescheuert zu glauben, dass man mit einem oder zwei fehlenden Beinen nur Laufprothesen anlegen müsste und schon könnte man wie der paralympische Sportler Jonnie Peacock durch die Gegend sprinten. Aber offenbar erwarten die Leute von mir, dass ich eine Sportlegende werde. Nur damit sie vielleicht eines Tages sagen können: »Ja, ich war mit Charlie Frith auf der Schule. Der war schon damals ein komischer Kauz, hat immer vor sich hin gebrabbelt und bei einer Klassenfahrt ist er völlig durchgedreht und hat sich die Arme aufgeschlitzt.«
Ich könnte Mitch einfach ignorieren. Normalerweise mache ich das auch, selbst wenn er so tut, als würde er mich immer noch mögen. Er hat mich sogar schon eingeladen, mit ihm und seiner Clique die Mittagspause zu verbringen, doch er hat damals alles gesehen, genau wie Leonie. Ich erinnere mich an die Angst in ihren Gesichtern und wie sie über mich getuschelt haben.
Und dann ist da noch der Kuss.
Vielleicht hat er ihn vergessen oder ihn mir verziehen.
Oder er wartet nur auf den richtigen Moment, um mich bloßzustellen. Mein sozialer Status wird das nicht überleben. Daher tue ich so, als würde ich ihn nicht hören, und hole stattdessen mein Handy heraus. Er joggt den Gang entlang auf mich zu und lächelt mich entspannt an. Ich beneide die Art, wie er sich hält, als wüsste er, dass ihn alle lieben. Was auch tatsächlich der Fall ist. Das haben sie schon immer, selbst in der Grundschule.
»He … Charlie.« Er sagt meinen Namen leise. »Irgendein Neuer hat heute Morgen nach dir gefragt.«
Irgendein Neuer – wer würde so kurz vor Ende des Schuljahrs noch die Schule wechseln? Und wer würde mich kennen? Ich bin eine Zeit lang zu einer Selbsthilfegruppe für junge Amputierte gegangen und war ein paar Jahre bei den Pfadfindern. Ich versuche, mich an die Namen der anderen Jungs zu erinnern, aber mir fällt keiner ein.
Dann frage ich mich, warum Mitch sich überhaupt die Mühe macht und mir davon erzählt, als wären wir befreundet, wenn wir es nicht sind. Nicht mehr. Vielleicht verpasse ich hier irgendetwas.
»Hi, Charlie.« Leonie ist mit dem Rest des Rudels den Flur zu uns hinuntergeschlendert. Ihre federnden Locken sind hoch auf ihrem Kopf aufgetürmt und ein ganzes Bataillon von Haarklammern ziert ihre Seiten – es wird keine Woche dauern, bis praktisch alle Mädchen diese Frisur nachmachen.
Mitch legt ihr besitzergreifend einen Arm um die Schulter, um sich selbst zu versichern, dass er gut genug für sie ist – was nicht der Fall ist, da bin ich mir ziemlich sicher. Alle Mädels an der Schule wollen Leonies beste Freundin sein und alle Jungs – außer mir – wollen mit ihr knutschen. Ich kapier’s schon, sie ist echt bildhübsch: runde Wangen, zierliche und wohlproportionierte Figur, dunkelbraune Haut und lange Wimpern. Sie ist Vertrauensschülerin und in allen naturwissenschaftlichen Fächern die Klassenbeste. Wahrscheinlich wird sie irgendwann für einen Milliardär arbeiten und eine Kolonie auf dem Mars gründen oder so. Ach was, irgendwann wird sie selbst Milliarden verdienen.
Er ist nichts Besonderes.
Warum habe ich dann beim Anblick seines Arms um sie das Gefühl, als würde es mich innerlich zerreißen?
»Ah, alles klar«, sage ich schnell. »Danke für die Info.«
Und dann sehe ich auf, an den Groupies vorbei zu der Gestalt, die mich vom hell erleuchteten Teil des Gangs aus beobachtet.
Ich erstarre zwar nicht, aber verliere fast das Gleichgewicht. Leonie sagt meinen Namen und fragt mich etwas, doch ich höre nicht zu. Ich murmele, dass ich spät dran bin, und eile davon.
Geister bewegen sich lautlos. Wenn er mir folgt, werde ich ihn nicht hören.
Als ich die Doppeltüren aufstoße und auf den Parkplatz stolpere, riskiere ich einen Blick über meine Schulter. Leonie beobachtet mich, als wäre ich ein kurioses Ausstellungsstück in einem Museum. Mitch schaut einfach nur verwirrt.
Hinter ihnen eilt Wachsjacke heran. Er hat mich entdeckt und ist mir jetzt auf den Fersen.
Der Nordwind nimmt ebenso die Verfolgung auf und jagt einen kalten Schauer durch meinen Schulpullover. Ich habe keine Ahnung, wohin ich laufe – einfach weg, raus, irgendwohin, wo er nicht ist. Die Glocke läutet. Niemand hält mich auf, als ich, so schnell ich kann, um das Wissenschaftsgebäude stiefele.
Meine Prothesen sind nicht für Geschwindigkeit gebaut. Die Füße sind zum Rennen nicht biegsam genug. Ich muss mein Tempo drosseln und verlasse den Weg auf der Rückseite der Klassenzimmer, wo die Bepflanzung völlig außer Kontrolle geraten ist. Auch wenn es eine Sackgasse ist, fühle ich mich hier umgeben vom Geruch frischer Blätter und feuchter Erde sicherer. Ich schließe die Augen und zähle meine Atemzüge.
Audrey würde wissen, wie ich ihn abschütteln könnte, aber ich bin allein und kann nicht klar denken.
Nach Hause kann ich nicht. Dad geht erst später zur Arbeit. Wenn ich so früh wieder durch die Tür marschiere, kriegt er einen Anfall. Ich habe jetzt eine Freistunde, in der ich eigentlich Prüfungsstoff wiederholen sollte – in den nächsten sechzig Minuten wird mich also niemand vermissen. Und wenn ich nicht wegrennen kann, dann muss ich mich eben verstecken, und zwar an einem besseren Ort als hier.
Als die Glocke läutet, mache ich mich in Richtung Sportplatz auf. Am südlichen Rand steht ein alter Schuppen, in dem die Sportausrüstung aufbewahrt wird. Er ist weit genug vom Hauptgebäude entfernt, sodass ich nicht Gefahr laufe, entdeckt zu werden, während ich über das offene Gelände gehe. Von den Klassenzimmern aus kann ich auch nicht gesehen werden und im Schuppen ist es trocken genug, damit ich mir keine Erkältung hole. Dort kann ich warten und mich später zurück in den Unterricht schleichen. Die Tür steht einen Spaltbreit offen und ich will sie gerade ganz aufziehen, da zögere ich.
Wenn Wachsjacke mich hier drin erwischt, sitze ich in der Falle. Ich kann nicht durch Wände gleiten. Also gehe ich stattdessen hinter den Schuppen, wo unzählige Füße den Rasen zu einem matschigen Streifen zertrampelt haben, der mit Kippen übersät ist.
Raucher kommen hierher und Paare, die zwischen den Unterrichtsstunden knutschen wollen. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, wenn ich einfach auf Heather gehört und nicht an dieser total beschissenen Klassenfahrt nach Saint-Lô in der Normandie teilgenommen hätte, würde ich jetzt vielleicht ständig hierherkommen, um ein wenig zu knutschen.
Aber das hat ja auch erst in Frankreich angefangen, von daher vielleicht doch nicht.
Mitch und ich haben nie darüber gesprochen, weder über den Kuss noch darüber, was mir am nächsten Tag zugestoßen ist oder was er allen erzählt hat. Wahrscheinlich werden wir es auch nie tun. Ich erinnere mich noch, wie er mich angesehen hat, bevor wir uns geküsst haben. Jetzt sieht er Leonie so an.
Soll mir recht sein.
Aus dem Schuppen ertönt ein dumpfes Krachen. Ist da jemand drin? Ich weiche zurück, den Blick fest auf das kleine Fenster gerichtet. Über mir knarzt und zittert der große Kastanienbaum. Etwas trifft mich am Hinterkopf. Ein mit Erde verkrusteter Stiefel, eine braune Cordhose, keine Socken …
Das Gesicht des Manns ist aufgedunsen und seine geschwollene Zunge hängt durch verzogene Lippen heraus. Sein Körper schwingt in der Luft hin und her, ein Strick ist fest um seinen Hals geschlungen. Sein Darm hat sich entleert und der Gestank steigt mir in die Nase. Mit rasendem Puls schwanke ich weg.
Er sollte nicht hier sein.
Die Schule ist ein sicherer Ort. Heather hat das ganze Gelände gründlich überprüft. Nicht mal die geringste Spur eines gebundenen Geists, geschweige denn einer Todesschleife. Dieser Mann ist wie der Junge im Schnee. Er weiß nicht, dass er tot ist, und erlebt seine letzten Momente immer wieder aufs Neue. Jeden Augenblick könnten seine Erinnerungen mich einfangen. Ich muss von hier weg.
Die blutunterlaufenen Augen des Manns öffnen sich schlagartig.
Die Schule verblasst und ich stehe vor einer weiß gefliesten Wand, die kreuz und quer mit merkwürdigen rostbraunen Symbolen überzogen ist. In dem riesigen Raum stehen mehrere Kerzen in flachen Lehmschalen. Ich rieche abgestandene Luft und schimmelndes Essen. Eine Halbmondbrille liegt auf einem langen Tisch. Ich befinde mich unter der Erde, vielleicht in einem Kellergeschoss? Mir fallen alte Laborausrüstung, aufgerollte Gummischläuche und zwei bauchige Flaschen in Halterungen ins Auge, in denen etwas Fleischiges herumwirbelt.
Ich muss hier raus. Ich muss hier raus, bevor …
Der Mann kommt eine Treppe in der Mitte des Raums herunter, ein aufgewickeltes Seil in Händen. Er ist mittleren Alters, weiß, mit kurz geschnittenem Haar. Tränen laufen ihm aus den geschwollenen Augen. In dem tiefen Spülbecken zündet er ein Feuer an, wirft ganze Stapel handgeschriebener Blätter hinein und kippt dabei eine Flasche Whisky. Ein altes Schwarz-Weiß-Foto von einem Mann und einem Mädchen geht als Letztes in Flammen auf. Ich kann es nicht deutlich genug erkennen, ehe das Bild Blasen schlägt und sich in der Hitze wellt.
Ich bin zu verängstigt, um auch nur einen Finger zu rühren. Selbst wenn ich es könnte, kann ich mich nur in einer endlosen Schleife vor- und zurückbewegen. Ich spüre das bekannte Ziehen in meinem Innern und versuche, dagegen anzukämpfen, aber ich bin auch jetzt nicht stärker als mit vierzehn. Der Mann öffnet den Mund, um zu sprechen, und seine Stimme klingt, als würde Luft durch einen kaputten Blasebalg gepresst werden. Der Geruch von Schweiß, Chemikalien und einer so tiefen, kaum zu ertragenden Trauer umhüllt mich.
Rachel.
Etwas verändert sich.
Das Seil reibt an meinen Handflächen. Resignation lässt meine Knochen schwer werden. Ich bereite die Schlinge vor, klettere auf den Tisch und steige auf den Stuhl. Er schwankt. Ich kicke ihn weg.
Und falle ins Leere.
Der Magen sinkt, das Herz rast. Schmerz. Doch mein Genick ist nicht gebrochen. Hoffnung blitzt kurz auf, gefolgt von einer erdrückenden Enge. Meine Finger greifen nach meinem Hals. Ein quälender Druck steigt in meiner Brust auf. Der Mann steht unter mir und sieht zu. Dunkelheit nagt am Rand meines Sichtfelds. Meine Lungen schreien nach Luft.
Wir werden das immer und immer wieder durchmachen, bis mein Körper stirbt und mein Geist sich für alle Ewigkeit zu seinem gesellt.
Etwas prallt gegen mich. Arme umschlingen meinen Oberkörper und ziehen mich nach unten. Die Schlinge zieht sich zu und fällt dann ab. Was mir noch an Luft bleibt, platzt aus meinen Lungen heraus, als ich auf den feuchten Rasen knalle. Ein Gewicht zerquetscht mir die Rippen, ehe es von mir herunterrollt.
Mein Puls ist schwach, meine Gedanken sind wie verklebt und langsam. Ich hieve mich auf die Ellbogen und huste ins Gras. Jeder Atemzug ist wohltuender als der davor. Wachsjacke ist neben mir, mit einer Hand auf meinem Arm.
»Das war entweder sehr mutig oder sehr dumm.« Er klingt wie diese affektierten Nachrichtensprecher von der BBC.
Ich habe keine Kraft mehr, um wegzulaufen.
»He, Jungs! Was ist hier los?« Wir sehen beide auf und erblicken den Konrektor, der mit großen Schritten auf uns zukommt. MrFarrell steckt gerne mal den Kopf hinter den Geräteschuppen, um Raucher auf frischer Tat dabei zu ertappen, wie sie sich eine schnelle Kippe reinziehen. Ich weiß das eigentlich. Ich weiß es, aber habe es vergessen, weil ich nie hierherkomme.
Wachsjacke fackelt nicht lange, sondern springt sofort auf und sprintet davon. Ich kann MrFarrell ansehen, dass er sich nicht entscheiden kann, ob er ihm hinterherrennen soll. Dann wird ihm offensichtlich klar, dass ich das leichtere Ziel bin, denn kurz darauf steht er über mir und bombardiert mich mit Fragen.
Mir kommt Galle hoch und ich kotze mein Mittagessen auf MrFarrells Schuhe.
Und dann trifft es mich schlagartig. MrFarrell hat »Jungs« gesagt, er hat uns also beide gesehen. Und der Geist hat unter der Wachsjacke unsere Schuluniform getragen – verknitterter grauer Pulli, gestreifte Krawatte und eine zu große Hose, als hätte er die Kiste mit den Fundsachen geplündert.
Das kann nur eins bedeuten … er ist überhaupt kein Geist.
4
Vermisst
Irgendwann habe ich mir in der Todesschleife in die Hose gepisst. Das passiert bei einer Erhängung. Jetzt sitze ich vor dem Büro der Schuldirektorin mit einem Handtuch auf dem Fleck in meinem Schoß. Mein Hals fühlt sich an, als hätte mir der Hulk einen Schlag gegen die Luftröhre versetzt. Fragen prasseln auf mich ein, aber meine Stimme ist nicht mehr als ein schwaches Röcheln.
Gut. Ich will nicht reden: Sie würden mir sowieso nicht glauben. Sie glauben, Wachsjacke und ich hätten uns wegen eines Mädchens geprügelt oder aus sonst einem Grund, weswegen Jungs sich ihrer Meinung nach raufen. Niemand weiß, wer er ist, und ich kann ihnen keinen Namen nennen. Als ich schließlich herauskrächze, dass er der Neue sei, meinen sie, es gäbe keine neuen Schüler. Er könnte also auch ein Geist sein, so gut stehen die Chancen, ihn aufzuspüren. Das heißt, wenn ich ihn überhaupt wiederfinden wollte. Was echt nicht der Fall ist.
Aber wenn er kein Geist ist, dann muss er ein Seher sein.
Als Kind dachte ich, dass es sicher eine Menge Leute gibt, die die Toten sehen können. Tja, Fehlanzeige. Trotzdem habe ich immer gehofft, ein Arzt würde sich mit meinen Eltern hinsetzen und ihnen erklären, dass ihr Junge jetzt Geister sieht – nur eine weniger bekannte Folgeerscheinung von Meningitis, nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste.
Das ist natürlich nie passiert, weil es nicht darum geht, wie ich gestorben bin, sondern darum, warum ich zurückgekommen bin. Und daran kann ich mich gar nicht erinnern.
Obwohl eine Decke auf mir liegt, ist mir immer noch kalt. Die Kälte ist mir ins Mark gekrochen und ich kann sie einfach nicht abschütteln. Für einen kurzen Augenblick befinde ich mich wieder in dem gefliesten Raum. Der Qualm der brennenden Papiere im Spülbecken steigt mir in die Nase, ich spüre den groben Strick und dann …
Die Glocke läutet und entlässt einen Strom von Schülerinnen und Schülern hinaus in die Gänge. Riesige Fenster trennen die Verwaltungsbüros vom Hauptflur. Neugierige Gesichter starren durch die Scheiben, als wäre ich ein Tier im Zoo. Leonie und Mitch stehen gleich hinter den Schwingtüren. Ich will nicht, dass Mitch mich so sieht. Mir bleibt jedoch nichts anderes übrig, als mich kleinzumachen und den Kopf in die Hände zu legen, um meine Scham zu verbergen.
Unbändige Wut verdrängt sie. Audrey hat mich angelogen. Wenn ich gewusst hätte, dass Wachsjacke kein Geist ist, wäre ich nicht davongerannt, hätte mich nicht hinter dem verdammten Geräteschuppen versteckt und wäre nicht in eine Todesschleife hineingeraten.
Die Schwingtür quietscht, als Leonie hereinmarschiert. Für jemanden, der so klein ist, ist sie ganz schön imposant. Ich winde mich auf meinem Stuhl. Wenn sie noch näher kommt, wird sie die Pisse und meinen Schweiß riechen. Oh Mann, bestimmt stinke ich. Mitch ist immer noch auf der anderen Seite der Scheibe und fixiert mich so, als wollte er irgendetwas mit den Fäusten bearbeiten und hätte nichts dagegen, wenn ich dieses Etwas wäre.
»Charlie«, sagt Leonie sanft. »Was ist passiert?«
Ich halte den Blick fest auf meine Füße gerichtet. Sie werden mich das nie vergessen lassen. Wahrscheinlich bin ich mal wieder Thema Nummer eins an der Schule. »Er hat’s wieder getan. Ja, genau wie bei der Klassenfahrt in der Normandie. Also, ich war zwar nicht dabei, aber Alyssa hat gesagt … blablabla.« Ach verdammt, die können mich alle mal!
Ich kann nicht aufhören zu zittern. Dann treffen zu meiner Erleichterung die Sanitäter und mein Dad ein. Leonie und Mitch treten aufgrund der ganzen Aufregung den Rückzug an, bevor sie irgendeine Geschichte aus der Vergangenheit herauskramen und mich damit quälen können.
Dad geht vor mir in die Hocke, um mir ins Gesicht zu sehen; graue Augen begegnen meinen. Er ist ein Schrank von einem Mann, mit breitem Oberkörper und stämmigen Gliedern, an den Schläfen zieht sich sein Haar bis zu der lichten Stelle oben auf seinem Kopf zurück. Er drückt meine Schulter und murmelt etwas Beruhigendes, bevor MrsPrabakar, die Schuldirektorin, und MrFarrell ihn um ein Gespräch unter vier Augen bitten. Die beiden Sanitäter untersuchen mich und schließen mich an tragbare Blutdruckmonitore oder so was an. Als Dad wieder aus dem Büro kommt, hat er einen gequälten Ausdruck im Gesicht.
Ich will mich dafür entschuldigen, dass ich ihm das Leben schwer mache.
Ich will wissen, warum Audrey mir nicht gesagt hat, dass Wachsjacke ein Seher ist.
Ich will mit Ollie und Heather sprechen, denn diese Todesschleife sollte gar nicht dort sein.
So, wie ich in sie hineingefallen bin – gepeinigter Geist, quälende Angst, hilflose Panik –, genau so ist es auch beim letzten Mal passiert. Als Teil unseres Geschichtsunterrichts zum Thema Zweiter Weltkrieg sind wir mit der Klasse in die Normandie gefahren und haben Schlachtfelder, Museen und Gedenkstätten besucht. Wie durch ein Wunder habe ich es geschafft, jegliche Todesschleifen zu vermeiden – bis zum allerletzten Tag. Ich bin zu übermütig geworden, habe es nicht kommen sehen. Zwei Jahre sind seitdem vergangen und ich bin noch genauso schwach und zu nichts zu gebrauchen wie damals. Wenn Audrey mich nicht rausgezogen hätte …
Was, wenn sich etwas verändert hat und sich alle Schleifen in York verschoben haben? Dann werden die Straßen ein verdammtes Minenfeld sein.
Mir wird schummrig vor Augen. Die Kälte lähmt mich. Einer der Sanitäter stellt mir eine Frage, aber mehr als ein Kopfschütteln kriege ich nicht hin.
»Sein Blutdruck sackt ab.«
Ich öffne den Mund, um ihnen zu sagen, dass es mir gut geht, ehrlich, doch dann verzerrt sich der Raum, ich bekomme keine Luft mehr und in meinem Kopf wird es still.
Als ich aufwache, sitzt Wachsjacke auf einem Stuhl neben meinem Krankenhausbett und schreibt in ein ledergebundenes Notizbuch. Ich setze mich mühsam auf, ich bin stinksauer. Und er kapiert es nicht mal. Er sitzt einfach nur da, angezogen wie ein Volltrottel in blassroten Chinohosen und einem Opa-Pulli. Er trägt Schuhe wie ein alter Mann, aus abgenutztem braunem Leder mit Lochmuster.
Wenigstens trägt er keine Quastenslipper. Meine Großmutter hat immer gesagt, man könne Typen mit Quasten an den Schuhen nicht trauen.
»Was machst du denn hier?« Meine Stimme ist brüchig und heiser.
»Dich besuchen.«
»Hier ist nur Familie erlaubt.« Ich war schon wegen einer Menge Operationen hier, bei denen mir Narbengewebe entfernt worden ist, damit ich Prothesen tragen kann. Ich kenne die Regeln.
Er klappt sein Notizbuch zu. »Ich habe dem Pflegepersonal erzählt, ich wäre dein geheimer fester Freund, damit sie mich reinlassen.«
»Du hast was?«
»Entspann dich, die Betonung lag auf geheim. Deine Mum ist übrigens gerade gegangen.«
»Du hast ihr aber nicht gesagt, dass ich schwul bin …«
»Du bist schwul? Oh. Nein, nein, natürlich habe ich ihr das nicht gesagt. Ich habe so getan, als wären wir befreundet. Sie schien sich richtig zu freuen, mich kennenzulernen, und meinte, dass ich so lange bleiben soll, wie ich will.«
»Sie glauben, dass du mich angegriffen hast«, sage ich.
»Echt?« Er zieht verschwörerisch die Augenbrauen hoch. »Ich habe nämlich gehört, es wäre ein Schüler von der York Secondary gewesen, und ich gehe auf die St.Matthews. Das hat also nichts mit mir zu tun.« Er hält sich wirklich für den Tollsten.
Eingebildeter Schnösel.
Der diensthabende Krankenpfleger kommt hereingewuselt, verkündet seine Freude darüber, dass ich wach bin, überprüft meine Vitalfunktionen und erklärt, dass der Arzt bald vorbeischauen wird. Als er geht, wirft er Wachsjacke einen vielsagenden Blick zu, zwinkert und zieht den Vorhang um mein Bett herum zu.
Seit ein paar Tagen schon sehe ich jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, das Gesicht dieses Jungen vor mir, aber in echt wirkt er anders, nicht so unheimlich, eher nervig als bedrohlich. Er ist schlank, leicht gebräunt und hat eine lange gerade Nase und ein Grübchen am Kinn. An seiner linken Schläfe zieht sich eine breite weiße Strähne durch die bronzefarbenen Locken, als hätte ihn an der Stelle der Blitz getroffen.