Twelve Bones (Die Souls-Dilogie, Band 2) - Rosie Talbot - E-Book

Twelve Bones (Die Souls-Dilogie, Band 2) E-Book

Rosie Talbot

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Beschreibung

Sogar die Toten haben ihre eigenen Schauergeschichten Gemeinsam haben Charlie und Sam die Geister von York gerettet. Nun können sie endlich ein normales Paar sein – wenn es so etwas denn gibt. Doch dann werden sie Zeugen eines brutalen Angriffs und erkennen, dass eine neue Gefahr in den Schatten lauert. Eine Gefahr, die größer ist als jede zuvor – und die es auf die Lebenden abgesehen hat. Außerdem treibt sich die geheimnisvolle Organisation Die Hand in der Stadt herum. Bald schon geraten Charlie und seine Freunde zwischen die Fronten und dieses Mal steht das Leben aller auf dem Spiel … Die schaurig-romantische Fortsetzung des TikTok-Erfolgs Sixteen Souls In Twelve Bones – der herzzerreißenden Fortsetzung des TikTok-ErfolgsSixteen Souls – trifft düsteres Mystery auf queere Romance in der atmosphärischen Spukstadt York. Band 2 der schaurigen Jugendfantasy-Dilogie von BookTokerin Rosie Talbot begeistert wieder mit gruseligen Elementen, actionreicher Spannung und fesselnden Plottwists. Außerdem ist es eine bewegende Geschichte über Verlust und Rache, schwere Entscheidungen, Mut im Angesicht der Gefahr und darüber, was es heißt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Perfekt für Fans von Cemetery Boys, Heartstopper und V.E. Schwabab 14 Jahren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 564

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für die Toten.

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr am Ende des Buchs eine Content Note.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Inhalt

  1 – Das heimgesuchteste Haus in Acomb

  2 – Verwittert

  3 – Grays Court

  4 – Ein Mann weniger

  5 – Schatten

  6 – Gefährliche Ideen

  7 – Auf dem Obduktionstisch

  8 – Und dann waren’s nur noch zwei

  9 – Knochenwerfen

10 – Was übrig bleibt

11 – King’s Staith

12 – Schwarzer Spiegel

13 – Stock und Stein und gebrochenes Gebein

14 – Marmaduke

15 – Bücher und Knochen

16 – Das Haus toter Dinge

17 – Ratten in einem Käfig

18 – Angemessene Vorsichtsmaßnahmen

19 – Pest und Pomp

20 – Die letzte Vorstellung

21 – Unausgesprochen

22 – Die primäre Augurin

23 – Sprich mit Der Hand

24 – Ein Flüstern in den Wänden

25 – Mit Tinte geschrieben

26 – Hinter einem dunklen Spiegel

27 – Mit Haut und Knochen

28 – Wiedersehen

29 – Wir müssen über Charlie reden

30 – Die Erinnerungsbox

31 – Kleine magische Tricks

32 – Versiegelt und besiegelt

33 – Staub zu Staub

34 – Der gespiegelte Weg

35 – Zwölf Knochen

36 – Der Kreis

37 – Köder

38 – Blut im Wasser

39 – Was dich nicht umbringt

40 – Abscheulichkeit

41 – Das letzte Gefecht

42 – Die Sterne sind nichts im Vergleich zu uns

43 – Die Grenze überschreiten

Danksagung

Content Note

1

Das heimgesuchteste Haus in Acomb

Es heißt, York sei die heimgesuchteste Stadt in Europa. Als ob ich das nicht wüsste.

Wir wohnen etwas außerhalb in einem schlichten einstöckigen Haus mit einem ungepflegten Vorgarten und einem hässlichen Hauseingang. Nichts Besonderes, könnte man meinen, aber dennoch halten sich im Moment vier tote Seelen in meinem eher winzigen Zimmer auf. Das würde bestimmt in jedem Haus eine überdurchschnittliche Geister-pro-Quadratmeter-Dichte darstellen.

»Hast du keine andere Krawatte, Junge?«, fragt MrBroomwood. Mein älterer, mausetoter Nachbar gönnt sich gerade eine Pause vom ständigen Abschreiten unserer Sackgasse und ist uneingeladen vorbeigeschneit, um mir seine Meinung zu meinem Outfit mitzuteilen.

Genervt zupfe ich an einem losen Faden des billigen Polyesterstoffs herum. »Was genau gefällt Ihnen an der hier denn nicht?«

Broomwood rümpft schniefend die Nase und verschränkt die Arme über seinem gestreiften Morgenmantel. Die Toten sehen nicht tot aus, jedenfalls nicht für mich. Sie wirken quicklebendig, gestochen scharf and kein bisschen durchsichtig.

»Die sieht nicht besonders … professionell aus«, erwidert er.

Ollie lehnt grinsend an meiner Kommode. »Das sagt ausgerechnet der Mann, der sein Nachleben in Schlafanzug und Morgenmantel verbringt.«

Geister erscheinen so, wie sie sich selbst in Erinnerung haben, und verändern nur selten ihr Aussehen. Das ist nämlich gar nicht so einfach – es erfordert eine Menge Selbstwahrnehmung und Broomwood war schon immer jemand, der seine Nase lieber in die Angelegenheiten anderer gesteckt hat, statt sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. Vermutlich wird er den Gürtel seines Morgenmantels noch ein paar Jahrzehnte lang hinter sich herschleifen.

»Es ist ein Date, kein Vorstellungsgespräch.« Nicht, dass ich viel mehr Erfahrung mit Vorstellungsgesprächen hätte. Nicht mal einen Teilzeitjob kann ich landen, egal, wie viele Bewerbungen ich rausschicke. Ich hole meine Anzugschuhe unter dem Bett hervor und schaue mich nach meinem Schuhlöffel um. Steife Lederschuhe auf meine Prothesen zu ziehen, ist die totale Fummelei. »Das Restaurant, in dem Sam reserviert hat, ist irgendein Nobelschuppen. Ich glaube, es hat sogar Sterne.«

In den letzten sieben Jahren, seit ich an Meningitis gestorben bin, beide Beine unterhalb des Knies verloren und angefangen habe, Geister zu sehen, bin ich nie jemandem begegnet, der so war wie ich. Bis ich Sam kennengelernt habe.

Er hat alles verändert.

Natürlich bin ich damals nicht tot geblieben. Dafür kann ich mich bei Heather bedanken, meinem ersten Geist. Die Ärztin, die mich behandelt und ihr eigenes Leben geopfert hat, um mich von den Toten zurückzubringen und einen Seher aus mir zu machen. Jetzt sitzt sie auf meinem Bett und dreht ihren Krankenhausausweis zwischen den Fingern, wobei ihr Stethoskop sich in dessen Trageband verheddert. Dante, der Geist eines Collies, döst neben ihr.

»Echte oder metaphorische Sterne?«, fragt Ollie. Mit seinem widerspenstigen roten Haar, seinem breiten Mund und seiner Schiebermütze sieht er wie ein richtiges Schlitzohr aus, das mich gleich bestehlen wird. Allerdings ist er schon seit einem Jahrhundert tot und besucht gern Univorlesungen. Heather hat uns einander vorgestellt, als ich elf war. Damals habe ich einen gleichaltrigen Kumpel gebraucht, der das ganze gruselige Zeug versteht, von dem ich meinen lebenden Freunden nichts erzählen konnte. »Metaphorisch bedeutet …«

»Ich weiß, was das bedeutet, alter Mann.« Ich schaue auf mein Outfit hinunter. »So schlecht sieht es gar nicht aus, oder?«

Mal von der grottigen Krawatte abgesehen und davon, dass mein Hemd an den Schultern zu eng ist.

»Also, ich sag dir das jetzt als Freund.« Ollie lächelt verlegen. »Du sieht aus, als würdest du zu deiner Wiederholungsprüfung gehen.«

»Aber in meinem besten Jogginganzug kann ich auch nicht aufkreuzen.« Ich nehme eine meiner Prothesen ab, drehe sie um und klemme das Fußteil in den Anzugschuh. Sobald es drinsteckt, lege ich die Prothese wieder an und hantiere ein wenig mit dem Schuhlöffel herum, bis ich mir sicher bin, dass alles richtig sitzt. Jetzt das andere Bein.

»Also ich finde, du siehst sehr gut aus, Charlie.« Heather schenkt mir ein sanftes Lächeln.

Ollie verdreht die Augen. »Deine Mum würde genau dasselbe sagen, was nichts daran ändert, dass du nicht wie du aussiehst.«

Vielleicht ist das momentan eine gute Sache.

»Ich habe sonst nichts zum Anziehen.« Ich zeige auf die verworfenen Polohemden und Jogginghosen, die überall in meinem Zimmer herumliegen.

In unserem Zimmer sollte ich sagen. Wie immer haben Ollies aktuelle Interessen die Wände in Beschlag genommen. Ausdrucke von Sapphos Gedichten hängen auf einer Seite und ein paar des Comics Trenchcoat Brigade, Band 1 auf der anderen. Im Regal über meinem Schreibtisch drängen sich die Actionfiguren von Spider-Man und Thor zusammen mit meinen Schulbüchern, die Staub ansetzen. Und der Schreibtisch ist übersät mit Kopien von Leonies und Sams mathemagischen Notizen und meinen eigenen krakeligen Versuchen, Glyphen zu zeichnen.

Wenn ich diesen Sommer etwas gelernt habe, dann, dass ich kein geborener Mathemagiker bin. Ich bin schon in einfacher Mathematik grottenschlecht. Daher ist mir nicht ganz klar, warum ich dachte, phantasmische Theorie, magische Konkordanzen, Osteomagie und Nekroskopie – was zum Teufel das auch sein soll – würden mir leichter fallen.

Aber ich kann jetzt nicht aufgeben, weil das Nachleben vieler Seelen davon abhängt, dass ich dieses Zeug beherrsche.

Alle meine Freunde haben richtige Zukunftspläne. Leonie will in Oxford Naturwissenschaften studieren. Mitch hat seine Kochlehre in einem schicken Restaurant in der Stadt begonnen. Und eine Galerie in London ist daran interessiert, Sams Gemälde zu verkaufen, wenn er bereit ist, sich von ihnen zu trennen.

Die einzige Sache, die ich so halbwegs auf die Kette kriege, ist, den Toten zu helfen. Vor fünf Monaten habe ich den Seelen von York versprochen, sie vor Okkultisten wie Caleb Gates zu schützen, die sie fangen und ihnen ihre Energie aussaugen wollen. Doch einer solchen Macht bin ich nicht gewachsen. Gates hat allein mit der Kraft seiner Gedanken einen Tisch durch die Gegend geworfen. Wenn ich Leute wie ihn davon abhalten will, den heimischen Geistern zu schaden, muss ich schneller, stärker und besser werden.

Das kann ich nur auf einem Weg erreichen: indem ein Geist von mir Besitz ergreift.

Eigentlich sollte das gar nicht möglich sein. Für die Toten sind Sehende aus Fleisch und Knochen. Sie können nicht in unsere Haut fahren, ohne uns dabei umzubringen. Das ist übrigens auch der Grund, warum es so gefährlich ist, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Wenn einer von ihnen beschließt, mich anzugreifen … das macht echt keinen Spaß.

Aber wie sich herausgestellt hat, kann man doch von einem Geist besessen werden – zumindest, wenn man zu Der Hand gehört, der Geheimorganisation von Sehern und Geistern, die zwei ihrer Mitglieder auf Gates angesetzt hat. Direkt vor unseren Augen ist ein Geist namens Dusan in den Seher Jan Liska gefahren. Jep, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt blutverschmiert, verletzt und mit Kabelbinder an ein Tischbein gefesselt war, weiß ich, was ich gesehen habe. Sie haben sich bewegt, als wären sie eine einzige Person, und das so schnell und stark, wie es ihnen allein nicht möglich gewesen wäre.

Die Hand nennt es »den gespiegelten Weg gehen« oder einfach »Spiegeln«.

Genau das ist der Vorteil, den ich brauche, um mein Versprechen, die Geister von York zu verteidigen, halten zu können. Nur haben wir leider keine Ahnung, wie Spiegeln überhaupt funktioniert. Ganz egal, wie viele Mathemagie-Bücher ich durchforste, ich finde einfach nichts darüber und Sam kann ich nicht um Hilfe bitten.

Heather krault Dante zwischen den Ohren und der Collie wacht schnaubend auf, dreht sich auf den Rücken, um sich den Bauch streicheln zu lassen, und wedelt dabei glücklich mit dem Schwanz. »Sam wird dich mit und ohne Krawatte mögen.«

»Darum geht’s nicht«, erwidere ich, als ich mich daran erinnere, dass ich heute Abend aus anderen Gründen gestresst bin. Ich will, dass Sam stolz darauf ist, mit mir zusammen zu sein. Und heute wagen wir uns in seine Welt, mit Stoffservietten und diesem ganzen feinen Kram. Wahrscheinlich wird er einen Samtanzug mit Krawattenschal tragen und ein seidenes Einstecktuch, das zu seinen Socken passt. Und er wird so richtig scharf darin aussehen.

»Deine Ohren werden rot«, sagt Ollie und grinst verschmitzt.

»Halt die Klappe.«

Anscheinend hat Sam »Neuigkeiten«, über die er mit mir reden will, und ich bin total nervös. Vielleicht will er Schluss machen, weil es in York einfach zu viele schlechte Erinnerungen für ihn gibt. Hier musste er zusehen, wie Gates seinen Vater brutal ermordet hat. Seine Mum hat immer noch die Villa in Italien und sie haben hier bisher kein neues Haus gefunden. Vielleicht wird Sam mir also gleich mitteilen, dass er doch wegzieht und keine Lust auf eine Fernbeziehung hat.

Dass er es lieber vor unserem sechsmonatigen Jubiläum beenden will, wäre gar nicht so abwegig … aber warum gehen wir dann in dieses schicke Restaurant?

Er lässt mich doch nicht herausgeputzt antanzen, nur um mich dann abzuservieren, oder?

Na schön, ich lass das mit der Krawatte. Obwohl der Knoten nicht sonderlich fest ist, bekomme ich ihn nicht auf. Ich mache mich an der Polyesterseide zu schaffen und zerre am falschen Ende, woraufhin sich das blöde Ding um meinen Hals zusammenzieht. Wie eine Schlinge.

Oh nein, nein, nein.

Ich spüre einen Stich im Herzen, höre meinen Puls in den Ohren und die Welt rauscht näher heran. Stinkende Luft. Ein Strick reibt an meiner Haut. Seit ich in die Todesschleife eines erhängten Manns gefallen bin, gerate ich jedes Mal in Panik, wenn sich etwas gegen meine Kehle drückt. Verzweifelt versuche ich, die Krawatte zu lockern.

»Steck den Teil wieder darunter.« Mit erhobenen Händen eilt Heather herüber, kann mir aber nicht helfen. Zwar können Geister mich berühren, jedoch nicht meine Kleidung. »Ja, genau so und jetzt löse sie.«

Ich schaffe es nicht.

Es klopft. Die Tür geht auf. »Bist du so weit, Charlie? Es ist schon nach halb …«

Schritte. Hände legen sich auf meine.

»Lass mich mal.«

Dad. Seine Finger bewegen sich langsam, aber effektiv. Die Krawatte löst sich. Er legt mir zwei schwere Hände auf die Schultern. »Alles in Ordnung?«

Ich öffne den obersten Knopf meines Hemds, nicke und atme. Ein. Aus. Ein. Aus. Das Angstgefühl lässt nach und wird zu einem leichten Plätschern in meinem Hinterkopf.

Mit meinen Prothesen und den Schuhen bin ich so groß wie Dad. Wir haben dieselben kantigen Gesichtszüge, dieselbe starke Kieferpartie und dasselbe hellbraune Haar. Alle männlichen Friths sehen aus, als gehörten sie in den Boxring. Auch Grandpa, aber der hat sein ganzes Leben lang Lämmer mit der Flasche aufgezogen und ist durch die Yorkshire Dales gestapft. Dad fährt Taxi. Wenn es in unserer Familie einen Kämpfer gibt, dann bin ich das, nur dass meine Kämpfe im Geheimen stattfinden.

»Lass dir Zeit«, sagt er.

Meine Eltern wissen nicht mal die Hälfte von all dem, was mir passiert ist – weder was die Geister noch die Multischleife betrifft und sie haben auch nicht die geringste Ahnung, wie Sams Vater wirklich gestorben ist oder was Caleb Gates uns angetan hat. Sie wissen nur, dass sie mich fast verloren hätten, schon wieder. Und wegen der ganzen Geschichte, dass ich Tote sehen kann, war ich noch nie gut darin, mich »normal« zu verhalten.

»Alles in Ordnung«, sage ich und bemühe mich, selbstsicher zu klingen.

»Du siehst gut aus.« Dad klopft mir auf die Schulter. »Sam ist ein echter Glückspilz. Total verliebt, wenn du mich fragst, und das ist auch gut so. Deine Mum hat nämlich schon die halbe Hochzeit geplant.« Als er mein erstauntes Gesicht sieht, bricht er in schallendes Gelächter aus. »Du kennst sie doch. Sie ist einfach froh, dass du einen tollen Kerl gefunden hast. Kein Grund, nervös zu sein, okay? Heute Abend wird super.«

»Ich bin nicht nervös«, erwidere ich.

»Lügner«, flüstert Ollie.

Dads Lächeln spannt sich an und ein besorgter Ausdruck schleicht sich in sein Gesicht. »Pass … einfach auf dich auf, ja? Treib dich nicht zu spät allein draußen herum und ruf mich an, wenn ich dich abholen soll.«

»Wir halten uns von Ärger fern. Versprochen.«

»Na ja, der Ärger scheint euch auch so zu finden.« Er verzieht die Miene. »Damit will ich nur sagen, dass ich beruhigter wäre, wenn sie endlich diese Bande verhaften würden, die willkürlich Leute angreift. Bis dahin musst du vernünftig sein und geh keine unnötigen Risiken ein, ja?«

Ich verstehe schon, warum er sich sorgt, und vielleicht sollte ich auch Angst haben, aber eine Bande von Arschlöchern ist gerade mein geringstes Problem. In der Regel machen mir die Toten mehr zu schaffen als die Lebenden. Erst letzte Woche hat mich der Geist eines örtlichen Handwerkers auf der öffentlichen Toilette überrascht und verlangt, dass ich auf einem Handwerkerportal für das Profil seines Sohns eine positive Bewertung schreibe. »Nicht, wenn ich pinkele«, wollte er nicht als Antwort gelten lassen. Nur mit vereinten Kräften konnten Heather, Ollie und George Villiers ihn lange genug zurückhalten, damit ich abhauen konnte.

Ich glaube nicht, dass er mir etwas angetan hätte, doch manche Seelen würden sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Was sollte ich meinem alten Herrn also erzählen?

»Ja, ich würde mir ja gern darum Sorgen machen, Dad. Allerdings haben Sam und ich es nicht nur mit durchgeknallten Anliegen von Geistern-, Todesschleifen und Hungrigen zu tun, die uns fressen wollen, sondern warten auch darauf, dass Die Hand hier auftaucht und uns ein paar Sachen erklärt. Nein, ich weiß auch nicht, warum sie noch niemanden geschickt hat, und wenn ich ehrlich bin, macht mich das ganz schön nervös.«

Falls sie tatsächlich aufkreuzt, nimmt sie uns vielleicht in ihre Organisation auf und weiht uns in ihre Geheimnisse ein, damit wir uns mit zwei Geistern spiegeln können und enorme Kräfte erhalten. Dann werden uns keine wütenden Seelen, Todesschleifen oder Okkultisten jemals wieder etwas anhaben können.

Ha! Träum weiter.

Ich reibe mir den Nacken. Für mich und Sam waren die letzten Monate nicht einfach. Jeder Tag mit ihm ist anders. Manchmal ist er ganz der Alte, der voller Tatendrang bekümmerten Seelen helfen und jedes Rätsel lösen will. Und dann gibt es dunklere Tage, wenn ihn die Erinnerungen an den Tod seines Vaters völlig vereinnahmen. Auch nur das Bett zu verlassen, ist da schon zu viel für ihn.

Ich kann ihn nicht heilen. Er kann mich nicht heilen. Stattdessen nehmen wir jeden Tag, wie er kommt. Das reicht erst mal, damit wir weitermachen können.

Aber was wird passieren, wenn er nächsten Sommer irgendwo auf die Uni geht, während ich immer noch hier festsitze und versuche, meine Prüfungen zu bestehen, ohne einen Plan, was ich mit meinem Leben anfangen will? Immer auf Abruf für die Geister von York da zu sein, hält mich zwar auf Trab, doch damit kann ich kein Geld verdienen.

Immer eins nach dem anderen. Vielleicht macht Sam ja auch gleich mit mir Schluss. Als Erstes muss ich heute Abend überstehen.

Brauche ich einen schickeren Mantel? Es ist Oktober und zu kalt, um ohne rauszugehen, aber ich habe nur meine alte schwarze Steppjacke.

»Gehen wir«, sage ich, weil ich weiß, dass ich mir viel zu viele Gedanken mache.

Dad macht sich auf den Weg nach draußen. »Ich warte im Auto.«

Schnell stopfe ich noch ein Paar Kompressionsstrümpfe und einen Schraubenzieher in meine Tasche, nur für den Fall, dass ich meine Prothesen ein wenig polstern oder neu einstellen muss.

»Bis gleich.« Heather nickt mir zu und ist offensichtlich etwas unruhig. In letzter Zeit ist sie das totale Nervenbündel. Wenn ich sie jedoch frage, was los ist, sagt sie, es sei alles in Ordnung. Alles ist vermutlich das Problem.

Ich blicke zurück. Ollie zeigt mir seinen hochgereckten Daumen. Dante winselt leise und wedelt mit dem Schwanz. Sogar Broomwood wirkt ein wenig gefühlsduselig. Mit einem unauffälligen Winken wende ich mich von meiner untoten Familie ab, setze ein Lächeln auf und wappne mich für meine lebenden Verwandten.

Aus dem Wohnzimmer kann ich schon meine sechsjährigen Zwillingsschwestern aus vollem Halse singen hören: »Charlie und Sam sitzen auf dem Baum …«

2

Verwittert

Eine halbe Stunde später stehe ich an der Ecke von Grape Lane und Swinegate und stoße Flüche in die kalte Luft aus. Drei tote Mädchen, die weite Kleider mit Reifröcken tragen, japsen schockiert über meine Ausdrucksweise. Entschuldigend hebe ich eine Hand in ihre Richtung, als sie durch die Wand eines nahe gelegenen Schönheitssalons huschen – ihr Kichern hallt um die Kreuzung herum.

Geister dabei zu beobachten, wie sie die Gesetze der Physik ignorieren, hat mir früher echt Probleme gemacht. Ich hatte alle möglichen Regeln – Heather und Ollie durften zum Beispiel nicht durch Wände gleiten –, damit ich mich nicht mit dem merkwürdigen Zusammenstoß von Leben und Nachleben auseinandersetzen musste. Inzwischen stört es mich nicht mehr ganz so sehr. Es sieht aber nach wie vor seltsam aus.

Vor dem Slug&Lettuce-Pub verfolgen einige Trinkgäste meinen Ausbruch mit unbehaglichem Interesse.

Na toll, Publikum.

Früher hat mich auch das gestört, doch so langsam lerne ich, darauf zu pfeifen, was andere Leute denken. Sam sagt immer: »Wir schulden niemandem, normal zu sein«, und er hat recht.

In York ist die Vergangenheit über Türen eingemeißelt. Sie steckt in schmiedeeisernen Schildern und verbirgt sich in den mit Flechten überzogenen Backsteinen der Geschäfte und Restaurants aus dem 18.Jahrhundert. Die Geschichte der Stadt bringt eine Vielfalt von Geistern mit sich – Soldaten aus allen Epochen, Bewohnerinnen und Bewohner des alten Jorvik, mit Staub bedeckte Kerle in Overalls, Wollwarenhändlerinnen, Eisenbahnarbeiter, Damen in vornehmen Ballkleidern, Herren mit Umhängen und Halskrausen, Chocolatiers in eleganten Schürzen – durch diese Straßen und Gebäude zieht sich eine endlose Prozession verschiedenster Nachleben.

All diese Geister habe ich versprochen zu beschützen.

Ich habe immer geglaubt, Okkultisten würden Seelen in Flaschen stecken und als Trophäen in einer Art Kuriositätenkabinett aufbewahren. Aber die Wahrheit ist noch viel schlimmer. Sie fangen sie, um ihnen ihre phantasmische Essenz zu entziehen und diese dann für magische Theoreme (ein hochtrabendes Wort für Zauber) zu benutzen, was den Geist tötet. Für immer und ewig. Den Anhängern des Okkulten ist es egal, dass erdgebundene Seelen ein Bewusstsein haben, die Fähigkeit besitzen zu denken und na ja, Personen sind. Für sie sind sie nichts weiter als eine Energiequelle.

Von dem Abwehrzauber, den wir vor nicht mal zwei Wochen über den Eingang zum Coffee Yard gemalt haben, ist bereits nichts weiter übrig als eine helle Schliere und Herbstschauer haben den Putz fast komplett sauber gewaschen.

Verdammt.

Ohne intakte Abwehrzauber können Okkultisten Geisterfallen legen und sich jede vorbeikommende Seele schnappen. Ich muss das in Ordnung bringen.

Mit zusammengekniffenen Augen fixiere ich die verblasste Markierung, als würde das etwas ändern. Geister, kein Problem. Magie? Das ist was anderes. Ohne Hilfsmittel kann ich Zauber oder Theoreme nicht sehen. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit.

»Da hat jemand dran rumgeschrubbt.« Heather stemmt die Hände in die Hüften. »Vielleicht hat die Stadtverwaltung die Fassade reinigen lassen.«

Ollie pfeift nach Dante, der nicht weit von uns an irgendetwas auf der Straße schnüffelt. »In einer Stadt mit so vielen Geistertouren sollte man eigentlich meinen, dass seltsame okkulte Symbole zur Stimmung beitragen. Ruf doch den Tourismusverband an und verkauf ihnen die Abwehrzauber als eine gruselige Schnitzeljagd für Touris. Die Symbole könnten so eine Besonderheit wie die Katzenskulpturen an den Gebäuden werden.«

»Das ist gar keine schlechte Idee«, meine ich, mache Fotos von der abgenutzten Markierung und poste sie in unserer Team-Spectre-Chatgruppe.

Im ältesten Teil von York wimmelt es nur so von Toten. Jede Ecke und Kreuzung braucht einen Abwehrzauber gegen Geisterfallen. Bisher haben wir es nur geschafft, die Straßen zwischen Low Petergate und Davygate zu schützen.

Mein Kumpel Mitch antwortet:

Ich schau’s mir nach der Arbeit an.

Mitch und seine Freundin Leonie besitzen Kryptogläser – Brillen, mit denen man Magie und Geister sehen kann. Er wird erkennen können, ob der Zauber unter der abgewaschenen Farbe immer noch wirkt.

Wenn nicht, sind wir aufgeschmissen.

Dante bellt einmal aufgeregt und prescht die Gasse entlang. In den Schaufenstern hängen Halloween-Laternen, die die abendliche Dunkelheit durchbrechen und Fledermaus-Girlanden erleuchten. Sam biegt um die Ecke und streichelt den herumwuselnden Dante, der nun hochspringt, um den Geist in Sams Begleitung zu begrüßen. Geoff Monroe, ein kanadischer Pilot, der aus einem Fenster des Golden Fleece in den Tod gestürzt ist, salutiert und macht sich dann fröhlich pfeifend auf den Weg.

Für Sam und mich ist es gefährlich, allein unterwegs zu sein. Anders als normale Menschen können Geister uns berühren und daher auch verletzen. Es gab mal eine Zeit, da habe ich mir gewünscht, kein Seher zu sein – ich wollte einfach nur »normal« sein. Doch allen Gefahren zum Trotz könnte ich mir inzwischen ein anderes Leben nicht mehr vorstellen.

Bei der ganzen Sorge um die Abwehrzauber habe ich völlig vergessen, weiter Panik zu schieben, dass Sam vielleicht nicht mehr mit mir zusammen sein will. Aber jetzt, da er mit den Händen in den Hosentaschen vor mir steht, verknotet sich mein Magen und ich spüre ein Flattern in der Brust. Selbst wenn er entspannt wirkt, kann er hinter seinem souveränen Auftreten eine Menge Ängste und Selbstzweifel verbergen. Ich versuche einzuschätzen, wie er drauf ist, und betrachte sein Gesicht und die leichten Schatten unter seinen Augen. Wird er unsere Beziehung gleich beenden?

Oh Mann, hoffentlich nicht.

Hitze steigt in meine Wangen und ich wünschte, ich wäre besser angezogen oder hätte zumindest Klamotten an, die richtig sitzen.

Wenn ich ihn ansehe, muss ich an einen scharfen Bibliothekar mit Gutsherrenstil denken. Er ist schlank, einen halben Kopf kleiner als ich und hat eine lange, gerade Nase, ein Grübchen am Kinn und inmitten seiner dunklen Locken hängt ihm eine breite weiße Strähne in die Stirn. Warum einen Samtanzug tragen, wenn ihm ein waldgrüner Blazer total gut steht, der seine bernsteinfarben gesprenkelten Augen zur Geltung bringt? Und kein Scheiß, das rot geblümte Einstecktuch passt zum Armband seiner Uhr. Nichts bleibt dem Zufall überlassen.

»Hi«, sagt Sam und schenkt mir sein süßes einseitiges Lächeln. Das hoffnungsvolle Flattern hinter meinem Brustbein wird stärker. Ich lasse eine Hand um seine Taille gleiten und ziehe ihn vorsichtig an mich, um seinen rechten Arm nicht zu quetschen oder Druck auf seine schwache Schulter auszuüben. Sam lehnt sich an mich. Vor lauter Freude drücke ich meine Lippen auf seine. Er riecht nach Zedernholz und schmeckt nach Minze.

Vielleicht wird ja doch alles gut.

»Keine Schlinge?«, frage ich überrascht.

»Ich fühle mich besser.«

Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Als letzten Frühling sein Haus über uns eingestürzt ist, hat er sich die rechte Schulter ausgekugelt und das Gelenk ist immer noch ein wenig locker. Aber das muss er selbst wissen.

»Oh, das ist echt übel.« Sam windet sich um mich herum und schaut sich den Grape-Lane-Abwehrzauber genauer an. »Die an der Stonegate und Low Petergate sind auch ein bisschen verblasst, aber nicht so schlimm wie der hier.«

Er reicht mir sein silbernes Feuerzeug und kramt einen kleinen Beutel mit getrockneten Kräutern aus der Innentasche seines Blazers. Für solche Fälle hat er auch immer eine handgroße, flache Schale dabei. Während er einen kleinen Haufen Kräuter anzündet, diene ich ihm als Windschutz. Ich habe vergessen, woraus die Mischung besteht, aber sie duftet nach Zitrus und Pfefferminze. Rauchschwaden schlängeln sich in die Höhe und wabern über die abgenutzte Farbe über dem Eingang des Coffee Yard.

Entlang der Innenseite des Gässchens – in York auch Snickleway genannt – flackert etwas auf. Blinzelnd streiche ich mit der Hand über den Backstein, als eine unvollständige Glyphe erscheint. Eine Geisterfalle vielleicht? Die praktisch unsichtbaren und schwer auszumachenden Fallen sind dazu bestimmt, zuzuschnappen, sobald ein Geist sie berührt.

Ollie duckt sich unter meinem Arm hindurch, um sie sich besser anzusehen. »Die funktioniert schon seit vierzig Jahren nicht mehr.«

»Seit wann bist du Experte, wenn es um zerfallende Geisterfallen geht?«, frage ich.

»Bin ich nicht, aber ich erinnere mich an den Typen, der die hier gelegt hat, und das ist schon mindestens vierzig Jahre her.«

»Wenn es also ein Problem mit unseren Abwehrzaubern gibt, hat es nichts mit dieser Falle zu tun«, bestätigt Sam.

»Glaubst du, wir haben uns beim Mischungsverhältnis vertan?«, frage ich und reibe mir übers Gesicht. »Bei der Mistel musste Mitch grob schätzen.« Die Zutaten, die Zubereitung der Farbe und das Anbringen der Abwehrzauber haben es echt in sich. Wir haben Monate gebraucht, um das Rezept richtig hinzubekommen, zumindest so, wie wir es für richtig gehalten haben. »Wenn wir wieder von vorne anfangen müssen, wird’s ewig dauern, vor allem ohne eine richtige Küche. Ich kann meinen Eltern ja schlecht erzählen, dass ich drei Tage lang einen Topf selbst gemachter Farbe anrühren muss, die wie geronnenes Blut aussieht und wie eine Kloake stinkt. Und das nur, damit ich mir dann die Nächte um die Ohren schlagen und die Stadt mit okkulten Symbolen beschmieren kann. Außerdem müssen die Abwehrzauber einfach wirken …«

Sam legt mir sanft eine Hand auf den Arm, aber ich rede ohne Punkt und Komma weiter. »Ich kapier’s echt nicht. Leonie und Mitch haben sie alle leuchten sehen, als wir sie angebracht haben. Okkultisten könnten jederzeit nach York zurückkommen. Die Abwehrzauber sind unsere erste Verteidigungslinie und ich kann nicht mal …«

»Charlie.« Sam hält mich jetzt fest und zwingt mich, ihn anzusehen.

Ich verstumme. »T…tschuldige.«

»He, entschuldige dich nie für komischen Geisterscheiß. Wir geben schon unser Bestes. Ich mache mir auch Sorgen.«

»Ich … hab nur gedacht, dass inzwischen alles anders wäre«, erwidere ich. »Dass wir wenigstens ein paar Antworten hätten.«

»Viola tut, was sie kann.«

Seit Leonie ihr zufällig im Buchladen begegnet ist, hat Viola Sampire viele unserer Wissenslücken gestopft. Da sie tot ist, kann sie selbst keine Magie ausüben, sie kann sie jedoch unterrichten – mathemagische Grundkenntnisse, Phantomatologie und diesen ganzen Kram. Leonie und sie stecken fast jeden Tag die Köpfe zusammen, arbeiten an Schutzschilden und Verteidigungstheoremen und versuchen, die Geheimnisse der Magie zu entschlüsseln und bessere Möglichkeiten zu finden, die Geister von York und uns selbst zu schützen.

Es geht nur langsam voran.

»Ich weiß«, sage ich, weil ich nicht wie ein Arsch klingen will. Auch wenn ich ihr schlechtester Schüler bin, ist Viola eine fantastische Lehrerin. »Aber Die Hand hätte sich mittlerweile zeigen müssen.«

»Ich glaube, wir können froh sein, dass sie es nicht getan hat.« Sam begegnet meinem Blick und hält ihn fest. »Als es darauf angekommen ist, waren Dusan und Liska bereit, jede Seele in dieser Multischleife zu opfern, nur um Gates aufzuhalten. Sie wollten weder sich noch uns retten. Wir sind Der Hand egal.«

Ich sehe weg und spüre, wie meine Ohren rot werden. »Ich weiß, ich weiß.«

Die Vorstellung, dass ein Hungriger – ein Geist, der dieses schwachsinnige Gerücht glaubt, dass das Fressen von Seherfleisch ihn wieder lebendig macht – sich an Sam heranschleichen könnte, macht mich total fertig.

Wir müssen uns spiegeln. Je länger ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass wir nur so dauerhaft in Sicherheit sein werden. Doch leider kennt lediglich Die Hand die dazu nötigen Theoreme und was wir über sie wissen, können wir an fünf Fingern abzählen. Das meiste stammt dabei von Viola – und sie hasst diese Organisation.

Erstens: Es handelt sich um eine mysteriöse Organisation von Sehenden und Geistern, die sich zusammengetan haben, um Okkultisten zu vernichten. Ihrer Ansicht ist es, na ja, böse, die Toten zu fangen und in Flaschen zu stecken, um sie als Batterien für Zaubersprüche zu benutzen.

Zumindest was das betrifft, sind wir ganz einer Meinung.

Zweitens: Ihre Anführerin heißt Meryem. Als Liska von ihr geredet hat, bin ich davon ausgegangen, sie wäre eine Seherin, aber sie ist eine Seele – und Viola zufolge eine sehr alte und autoritäre noch dazu, mit der wir uns nicht anlegen wollen.

Drittens: Die Hand ist nicht die Antwort auf meine Gebete. Zwar weiß nur sie, wie man Seelen in einer symbiotischen Seelenverbindung spiegelt, die Superkräfte verleiht, doch Viola meint, dass sie uns niemals in ihre Geheimnisse einweihen wird, es sei denn, wir schließen uns ihr an.

Viertens: Sich ihr anzuschließen, ist möglicherweise keine so gute Idee. Die Hand besteht aus Soldatinnen und Soldaten, die stets umherreisen und Okkultisten aufmischen. Ich versteh’s ja. Das ist sehr verlockend. Aber es ist so einfach, Dinge kaputt zu machen; ich will lieber lernen, wie man sie wieder in Ordnung bringt. Außerdem sind nicht alle, die sich fürs Okkulte interessieren, böse – Rawley war kein schlechter Kerl und Viola ist auch okay. Und ich könnte niemals jemanden absichtlich töten. Nie im Leben.

Fünftens: Alle, die unbefugt mit ihren kostbaren, geheimen Theoremen herumspielen, sterben einen unschönen Tod. Ich erinnere mich daran, wie sich Jan Liska mit einem Schlagstock dem Okkultisten entgegengestellt hat. Blitze sind durch Gates’ Körper gezuckt und die Essenz, die er den gefangenen Seelen entzogen hat, hat ihm unnatürliche Kräfte verliehen.

Mit den Geheimnissen Der Hand haben Okkultisten nicht zu spielen.

Der gespiegelte Weg ist jenen heilig, die vom Tod berührt sind.

Meryem wusste, dass du es auf einem anderen Weg versuchen wirst.

Gates war auf die Macht eifersüchtig, die das Spiegeln Der Hand verleiht, und wollte deshalb alles aus der Mathemagie herausholen, um sie nachzuahmen. Weil er kein Seher war, konnte er sich selbst nicht mit einem Geist spiegeln. Deshalb hat er Seelen in eine Multischleife gezwungen und sich eine Geisterfalle ins Fleisch geritzt, um sie alle an sich zu binden.

Und es hat funktioniert. Er wurde unmenschlich stark, schnell und bösartig, eine lebende Waffe, die das Gebäude um uns herum zum Einstürzen gebracht hat. Und obwohl er so mächtig war, konnte sich das wirklich gespiegelte Paar – Liska und Dusan – trotzdem gegen ihn behaupten.

Meinst du nicht, es wäre sinnvoll, darüber Bescheid zu wissen?, möchte ich Sam fragen, kann es aber nicht.

Sam will davon nichts hören, was ich auch verstehe. Um zu bekommen, was er wollte, hat Caleb Gates eine Menge Geister gefoltert – Heather und Ollie eingeschlossen. Sam will auf keinen Fall auch nur annähernd so wie er werden.

Und ich genauso wenig. Ich will mich richtig spiegeln, eine lebenslange Bindung, die sowohl Seher als auch Geist aus freien Stücken eingehen. Seit Monaten durchforstet Miri – Sams Hackerfreundin – das Dark Web nach irgendwelchen Hinweisen auf Die Hand. Bisher ergebnislos.

Falls Meryem irgendwo da draußen ist, sind wir ihr offensichtlich scheißegal. Wir sind ganz auf uns allein gestellt.

Sam schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Wir brauchen sie nicht, Charlie. Wir kommen gut zurecht.«

Du vielleicht, aber ich nicht.

Er ist ein talentierter Maler und der Erbe eines riesigen Vermögens; er kann sich aussuchen, was er mit seinem Leben anfangen will. Ein Seher zu sein, ist alles, was ich habe.

»Seher, ich brauche eure Hilfe«, unterbricht uns ein scharfer Ruf. Wir wirbeln herum und entdecken eine untersetzte weiße Frau mit kräftiger Nase, die ein zu großes Karohemd und ausgewaschene Jeans trägt. Das Haar hat sie im Nacken zu einem strengen Dutt geknotet. Sie sieht nicht tot aus, doch das tun Geister ohnehin nur selten.

»Wenn es darum geht, einen Wikipedia-Eintrag zu ändern …«, setze ich mit einem Seufzen an.

»Es geht nicht um die verdammte Wikipedia. Unzählige sterbliche Überreste sind aus den Untersuchungslaboren in King’s Manor gestohlen worden und jemand hat es wie einen Katalogisierungsfehler aussehen lassen.« Sie schweigt kurz, vielleicht um sich zu vergewissern, dass wir ihr auch zuhören. »Ich bin Professor Alice Purcell, das war meine Ausgrabung. Ich mache keine Fehler oder verlege Artefakte.«

»Sie glauben, sie wurden geklaut?«, fragt Sam.

»Ich glaube es nicht nur, Junge. Ich weiß es.« Die Frau tippt sich gegen das Brustbein. »Eine Studentin bestiehlt das Institut und ich werde nicht zulassen, dass sie meine Arbeit in den Schmutz zieht. Ihr müsst meine alten Kolleginnen und Kollegen warnen, Anzeige bei der Polizei erstatten und dem sofort ein Ende bereit… he!«

Ein ziemlich rotgesichtiger Typ in einem lavendelblauen Seidengewand und mit einer beeindruckenden Perücke stößt die Archäologin mit dem Ellbogen aus dem Weg. Er ist hundertprozentig tot. Bei älteren Geistern ist das recht leicht zu erkennen, weil nicht viele Leute ständig in altertümlichen Klamotten herumlaufen.

»Ah, verehrte Seher, ich hatte gehofft, Euch in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Die Residenz meiner Familie steht schon seit Langem leer und befindet sich in einem äußerst verfallenen Zustand; eine schreckliche Tragödie, denn der Salon bietet einen ergötzlichen Blick auf den Fluss.« Heather schreitet ein und hält ihn uns vom Leib, doch er redet weiter. »Es war zuvor schon ein trostloser Ort, doch wenn die Todesschleife auf der ersten Etage nicht entfernt wird … nun, dann wird mein restlicher Tod wirklich unerträglich.«

»Unerträglich?«, wiederholt Ollie mit einem Schnauben. »Sie sehen völlig in Ordnung aus.«

Lavendel wirft ihm einen superentrüsteten Seitenblick zu. »Die Todesschleife ist äußerst besorgniserregend und ich will unbedingt neue Tapeten in Auftrag geben.«

»Wir … äh, können momentan leider keine Todesschleifen entfernen.« Ich sehe zu Sam hinüber. Er hat die Hände in den Taschen vergraben und seine ausdruckslose Miene regt sich nicht.

Geister, die in Todesschleifen feststecken, sind nicht wie Ollie. Er ist eine freie Seele und kann gehen, wohin er will. Und sie sind auch nicht gebunden wie Heather, die aus irgendeinem Grund, über den sie nicht reden will, an das Krankenhaus gekettet ist und deshalb York nicht verlassen kann. Bei Todesschleifen handelt es sich um Erinnerungsblasen, in denen sich die Wirklichkeit um eine Seele schlingt, sodass diese gezwungen ist, ihren Tod immer wieder zu durchleben. Darin gefangen weiß sie entweder nicht, dass sie tot ist, oder kann es nicht akzeptieren.

Todesschleifen gehören zu den gefährlichsten Dingen, mit denen Sam und ich als Seher zu tun haben, aber wenn wir bereit sind, das Risiko einzugehen, können wir sie auflösen. Dazu müssen wir in sie hineingehen und der Seele begreiflich machen, dass sie längst gestorben ist. Wenn wir den Kreislauf durchbrechen, ist sie frei. Wenn wir scheitern, sterben wir auf dieselbe Art wie der Geist und unsere Körper zahlen den Preis.

In einer Todesschleife gibt Sam mir Rückhalt und erinnert mich daran, wer ich bin. Ohne ihn kann ich der gefangenen Seele nicht helfen – eine Schleife zu betreten, könnte bei ihm jedoch traumatische Flashbacks hervorrufen.

»Hören Sie, wir haben gerade eine Menge Anfragen. Und wir werden uns auch um Ihre kümmern, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wann«, erkläre ich Lavendel, weil ich Sam nicht unter Druck setzen will.

Wir hätten jedes Recht, nie wieder einen Fuß in eine Todesschleife zu setzen. Irgendwann werden wir es zwar tun müssen, weil ich versprochen habe, alle gefangenen Seelen in York zu befreien. Aber ich muss noch einen Weg finden, es allein zu schaffen.

Noch eine Sache, bei der ich versage.

»Die fehlenden sterblichen Überreste sind von historischer Bedeutung«, blafft die Archäologin.

»Wem nutzen schon schimmlige Knochen?«, schnaubt Lavendel.

»Wenn es Ihre irdischen Überreste wären, würden Sie ganz anders reden.«

Er funkelt sie böse an. »Ich wüsste nicht, warum. Es ist unwahrscheinlich, dass ich sie jemals wieder brauchen werde. Gewiss hat eine gefährliche Todesschleife Vorrang. Unsere Gemächer auf der ersten Etage sind so gut wie unbrauchbar.«

Die Herbstwolken haben sich zusammengeballt und tauchen die Stadt in reflektiertes Licht. Es riecht nach Regen.

»Eure Probleme sind beide wichtig«, beschwichtige ich sie. »Aber, wie ich schon sagte, wir haben gerade alle Hände voll zu tun, weil uns viele Geister um Gefallen bitten.«

Und wir verblassende Abwehrzauber in Ordnung bringen müssen.

Die Archäologin sieht mich von oben herab an. »Verdiene ich etwa nicht die Hilfe, die ihr allen Yorker Seelen versprochen habt?« Sie schnaubt. »Wenn noch mehr Knochen abhandenkommen, ist das ganz allein eure Schuld. Ihr tragt dann die Verantwortung dafür.«

Ihre Worte sind wie ein Schlag in die Magengrube. Sie beobachtet, wie er ins Schwarze trifft, und löst sich in Luft auf.

»Wie unhöflich«, kommentiert Lavendel.

»So, das reicht jetzt. Verziehen Sie sich!« Ollie scheucht ihn weg, als wäre er eine Katze, die in Broomwoods geliebte Blumenbeete kackt.

Ich kann es nicht ausstehen, wenn man uns vorwirft, die Seelen seien uns egal. Vor allem nachdem wir den ganzen Sommer lang Wikipedia-Einträge korrigiert, Vorfahren recherchiert und sogar dem einen oder anderen lebenden Verwandten einen anonymen Brief geschickt haben.

»Ihr werdet euch zum Abendessen verspäten«, warnt Heather.

Ich bin total gestresst. Wie sollen wir mit Stoffservietten, Porzellangeschirr und piekfeinem Essen einfach dasitzen und ein paar Stunden lang über etwas anderes reden? Genau in diesem Augenblick könnten Seelenfänger durch Yorks Straßen streifen und unser Versagen ausnutzen, aber Sam will noch mit mir über etwas sprechen und …

»Wir müssen nicht gehen«, sagt Sam.

Ich sehe ihn überrascht an. »Aber … du hast doch einen Tisch reserviert.«

»Ich ruf an und stornier ihn.« Sein Lächeln ist traurig, doch er versucht, es beruhigend wirken zu lassen. »Dir ist jetzt nicht wirklich danach.«

Ich zucke zusammen, denn ich habe eigentlich gehofft, dass ich meine Sorgen besser verberge.

»Und wenn ich ehrlich bin, geht’s mir genauso.« Er zeigt auf die Abwehrzauber. »Wir müssen das hier in Ordnung bringen, und zwar schnell. Wie wär’s also mit Plan B? Du, ich, Zimmerservice und ein gemütlicher Rechercheabend? Vielleicht können wir herausfinden, was schiefgelaufen ist.«

Heather schenkt uns ein tröstendes Lächeln, während Ollie Dante auf der Straße im Kreis nachjagt. »Wir begleiten euch zurück zum Hotel und dann braucht unser Vierbeiner ein wenig Auslauf.«

»Okay«, sage ich und überlege, wie ich diesen vermasselten Abend wiedergutmachen kann. »Wie viel Zeit, glaubst du, haben wir, bis wieder ein Geist oder gleich ein ganzer Haufen davon aufkreuzt, um uns in den Ohren zu liegen?«

Sam gibt einen nachdenklichen Laut von sich. »Ich würde sagen, mindestens eine Stunde.«

3

Grays Court

Eingezwängt zwischen York Minster und der alten Stadtmauer befindet sich Grays Court, die ehemalige Residenz der Schatzmeister des Münsters. Früher haben dort Ritter und Würdenträger übernachtet. Jetzt ist es ein schickes Hotel. Sam wollte langfristig eine Airbnb-Wohnung mieten, statt hier zu wohnen, aber seine Mum hat auf das Grays bestanden, weil es – ich zitiere – »eine tiefe spirituelle Resonanz besitzt, die uns in unserer Trauer beschützen wird«.

Vermutlich meint sie damit die Koppelfenster, die dunklen Holzvertäfelungen in der langen Galerie, die Himmelbetten und den Zimmerservice. Dieses Gebäude vibriert von Vergangenheit, und Geschichte und der Duft von Holzwachs erfüllen die Luft. Dementsprechend spukt es dort auch.

Der Typ am Empfang hat keine Ahnung, dass drei Geister in voller Livree versuchen, über seine Schulter die Zeitung zu lesen. Als er sie zuklappt, um uns zu begrüßen, stöhnen sie frustriert auf.

Sam gibt beim Zimmerservice unsere übliche Bestellung auf. Da ich so oft im Laufe des Sommers hier gewesen bin, kennen mich mittlerweile fast alle Angestellten. Sie haben es auch endlich aufgegeben, sich dafür zu entschuldigen, dass es keinen Aufzug gibt. Ich versteh’s ja, das Hotel steht unter Denkmalschutz, und daher können sie kaum etwas tun, um es barrierefrei zu machen.

Weil Dante unruhig ist, gehen Heather und Ollie gleich mit ihm Gassi. Gerade als wir hoch in Sams Zimmer wollen, schwebt eine vertraute, melodische Stimme die Galerie hinunter, gefolgt von einer eindrucksvollen Frau mittleren Alters mit gebräunter Haut und glänzendem Haar. »Ah, caro!«

»Hallo, MrsHarrow«, sage ich und bin wegen meines schrecklichen Hemds sofort total verlegen. Wie immer ist sie ganz in Schwarz gekleidet und trägt hochhackige Stiefel – scheiß auf die gepflasterten Straßen.

»Bitte, sag doch Lucrezia zu mir.« Sie küsst mich auf die Wange und hinterlässt vermutlich einen Lippenstiftabdruck. »Warum seid ihr schon so früh zurück?«

»Komplikationen mit den Abwehrzaubern«, antwortet Sam.

Wenn ich ehrlich bin, kommt es mir immer noch echt komisch vor, wie offen er mit seiner Mum darüber redet, dass er Tote sehen kann. Ich verstehe, warum er es tut: Sie glaubt ihm. Sogar bevor Sam ein Seher wurde, war sie davon überzeugt, ihm würde eine besondere psychische Resonanz innewohnen oder irgend so ein Stuss. Daher wird sie ihm kaum unterstellen, er würde irgendwelches Zeugs erfinden oder halluzinieren.

Darauf war ich sogar neidisch, bis ich sie schließlich persönlich kennengelernt habe. Entweder sie nimmt Sam völlig die Luft zum Atmen oder sie vergisst wochenlang, dass er überhaupt existiert, weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, ihre pseudospirituellen Retreats für Megareiche zu organisieren.

»Perfetto, dann könnt ihr mich ja heute Abend begleiten.« Mit einem strahlenden Lächeln versucht sie, uns in Richtung Tür zu bugsieren.

»Wir haben gerade was zu essen bestellt«, protestiert Sam.

»Aber Charlie muss Claire kennenlernen …«

Er löst sich aus ihrem Griff und verzieht das Gesicht. »Nein, Mamma.«

»Ich habe sie letztes Jahr auf einem Chakra-Retreat getroffen, Charlie. Sie besitzt die Gabe des wahren Sehens.«

Ich werfe Sam einen fragenden Blick zu. »Noch eine Seherin?«

»Sie ist ein selbst ernanntes Medium. Eine Hochstaplerin.«

»Sie ist keine Hochstaplerin«, fährt MrsHarrow ihn an. »Glaubst du etwa, man kann nur auf deine Art mit der Geisterwelt kommunizieren?«

»Geisterwelt?«, prustet eine der livrierten Seelen. Der Rezeptionist tut so, als würde er nicht lauschen. Wir sollten diesen Streit lieber irgendwo unter vier Augen statt im Eingangsbereich eines Nobelhotels austragen, aber Lucrezia scheint das nicht zu kümmern.

»Komm mit, deinem Vater zuliebe.«

Sam spannt den Kiefer an. »Er ist nicht mehr da.«

Sie antwortet in schnellem Italienisch und atmet dann tief durch, um sich zu beruhigen. »Von uns gegangen, aber nicht verloren. Dein Vater ist zwischen zwei Ebenen gefangen und braucht unsere Hilfe.«

Aus Sams Blick spricht Verbitterung. Ich möchte die Hand nach ihm ausstrecken, weiß jedoch nicht, ob er das auch will.

»So funktioniert das nicht«, erwidert er.

»Und du bist allwissend? Aber natürlich weißt du mit achtzehn alles, was es über diese Welt und die nächste zu wissen gibt … So weise, so mächtig.« MrsHarrow schüttelt den Kopf. »Du hast eine besondere Gabe, ihr beide habt das, aber Claire kann hinter den Schleier blicken. Ich habe durch sie mit deinem Vater gesprochen …«

Sam wischt sich über die Wangen, als er zur Treppe zurückweicht. »Hör auf damit.«

Der Typ am Empfang starrt uns jetzt unverhohlen an, genauso wie die beiden Gäste, die sich um uns herumdrängen, um einzuchecken, und der Portier, der ihr Gepäck trägt.

MrsHarrow schnieft, stellt sich ein wenig aufrechter hin und wendet sich an mich: »Ich werde meinen Mann nicht auf der Spektralebene im Stich lassen.«

Der was?

Und schon ist sie in einer Wolke aus teurem Parfüm und mit einem seidenen Rascheln durch die Tür.

Ich gehe Sam hinterher. Er steigt die Stufen schneller hoch, als ich ihm mit meinen Prothesen folgen kann. »He, warte. Sprich mit mir.«

Auf dem ersten Treppenabsatz wirbelt er herum und nimmt mein Gesicht in beide Hände. Ich stehe immer noch auf der Stufe darunter und halte mich am Geländer fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. In seinen Augen schimmern Tränen. Sein Kuss ist sanft, aber fest und ich lasse mich fallen. Es ist ein Kuss, der ausdrückt: Ich fühle gerade zu viel und brauche etwas, damit es aufhört.

Ich erwidere seinen Kuss also und lege alles hinein, was ich habe, um ihn zu der Ablenkung zu machen, die wir beide brauchen. Nichts, was Sam passiert ist, kann ich ändern. Als wir in die Multischleife gegangen sind und alle gefangenen Seelen gebeten haben, mit uns zu kommen, hat sich MrHarrow geweigert. Vielleicht hatte er zu viel Angst, war zu egoistisch oder zu stur. Der Schmerz in Sams Augen, als sein Vater ihn zum wiederholten Mal enttäuscht hat … den werde ich nie vergessen. Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass Sam so etwas je wieder durchmachen muss.

Aber wie kann ich ihn oder sonst jemanden beschützen? Ich bin eine Niete in Magie und was bringt es mir, mich körperlich fit zu halten, wenn mein Gegner mit gestohlenen Seelen vollgepumpt ist und die Fähigkeit besitzt, ein Haus über mir einstürzen zu lassen?

Gates’ fieses Grinsen, als er die Essenz der gefangenen Geister in sich aufgenommen hat, blitzt in meinen Gedanken auf und ich versteife mich.

Sam tritt einen Schritt zurück und sieht mich unter langen schwarzen Wimpern hervor an. »Willst du … das überhaupt?«

»Ja, ich mache mir nur Sorgen um dich.« Ich nehme seine Hände. »Deine Mum …«

Mit einem Seufzen dreht er sich auf dem Treppenabsatz um. »Sie hört nur das, was sie hören will.«

Ich trete zu ihm. »Klingt so, als würde Claire Cole sie ausnutzen.«

»Sie war bereits auf der ganzen Welt auf Tournee und es ist sogar die Rede von einer Fernsehshow. Du kennst ja meine Mutter, sie saugt so was immer gierig auf. Ich habe ihre sogenannten ›sehenden‹ Freunde alle getroffen und die sind unerträglich.«

»Du hast dieses Medium schon kennengelernt?«

»Ich bin mit dem Versprechen von Afternoon Tea in eine Falle gelockt worden.«

»Mit Kuchen geködert. Clever.«

»Hinterhältig und geradezu heimtückisch. Ich musste eine ganze Stunde bleiben. Sie hat in einer Tour über Intuition und die Gabe, mit den Toten zu kommunizieren, geschwafelt, das war völlig lachhaft. Claire ist keine Seherin, das steht fest«, schnaubt Sam. »Natürlich hat Mutter ihr alles über unsere Fähigkeiten erzählt, genau wie sie mich damals in Surrey vor aller Welt geoutet hat.«

Warum erzählt er mir das erst jetzt? Offensichtlich geht ihm das an die Nieren und ich will für ihn da sein, aber meine Nase natürlich auch nicht in seine Angelegenheiten stecken, wenn er noch nicht bereit ist, darüber zu reden.

»Früher habe ich mir immer gewünscht, sie würde Zeit mit mir verbringen, statt durch Europa zu tingeln«, fährt Sam fort. »Aber jetzt wäre es mir lieber, wenn sie zurück nach Italien geht und mich in Ruhe lässt. Ich … ich mache mir nur Sorgen um sie und Claire Cole ist eindeutig hinter ihrem Geld her.«

Dann hat er also definitiv nicht vor wegzuziehen. Vor Erleichterung löst sich der Knoten in meinem Bauch.

»Wir könnten Claire abschrecken«, sage ich.

Sam zuckt leicht mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, ist mir das Geld egal.« Wenn er so einen Scheiß vom Stapel lässt, habe ich alle Mühe, keine Stielaugen zu bekommen. Ich kann kaum meine Handyrechnung bezahlen.

»Ich weiß, dass Vaters Seele fort ist. Falls irgendeiner der Geister, denen Gates die Energie ausgesaugt hat, je zurückkommt, wird es bis dahin Jahrhunderte dauern. Aber Mutter vermisst ihn so sehr und die Art, wie er gestorben ist … Ich habe ihr eine Menge Sachen gar nicht erzählt … was er getan hat … seine Pläne.«

Sam senkt den Blick und wendet sich ab, als würde er erwarten, dass ich sauer werde.

Doch ich habe keinen Grund dazu.

MrHarrow war kein guter Mensch. Wenn mein Tod sein Unternehmen hätte retten können, hätte er mich umgebracht und Sam ist seinetwegen durch die Hölle gegangen. Aber so, wie er gestorben ist – durch eine Kugel in den Kopf direkt vor unseren Augen –, war brutal.

»Möchtest du über deinen Dad reden?«, frage ich. »Das haben wir bisher nie richtig gemacht.«

»Ehrlich gesagt, nein. Ich bin noch zu wütend auf ihn. Ich will einfach nur vergessen.«

»Alles klar.« Ich umarme Sam fest. »Dann komm, wir ertränken unseren Kummer in Pasta und Recherche.«

Als ich mich aufsetze, wird der brennende Schmerz in meinem Rücken zu einem dumpfen Pochen. Ich befinde mich in Sams Bett, unter meinem Ellbogen liegt ein offenes Buch. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Scheiße, schon nach elf. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich eingeschlafen bin.

Sams Hotelzimmer ist der Hammer. Die Wände sind mit Stoff ausgekleidet, der Bettrahmen ist mit Blumenschnitzereien verziert und an der hinteren Wand hängt ein riesiger Fernseher, den er nur einschaltet, wenn ich da bin. Er läuft momentan und ein kleines Pop-up-Fenster auf dem Bildschirm fragt, ob wir noch weiterschauen.

Im Halbdunkel mache ich neben dem Bett eine hohe Gestalt aus und fahre erschrocken zusammen, aber es ist nur seine Staffelei. Die meisten von Sams Sachen sind beim Einsturz seines alten Hauses verschüttgegangen. Seitdem hat er sich wieder mit Künstlerbedarf eingedeckt und während seiner Genesung die Geister von York gemalt. Das größte seiner Gemälde lehnt an der Wand. Als großer Kunstliebhaber wollte Villiers ein Doppelporträt mit James Reid. Die beiden Männer stehen nebeneinander und halten denselben Handschuh, was anscheinend Symbolcharakter hat. Eigentlich haben sie mindestens ein Jahrhundert auseinandergelebt und hätten sich nie kennenlernen können. Dass sie einander im Tod gefunden haben, hat etwas Magisches für mich.

Ich lasse den Blick durch den Rest des Raums schweifen. Keine Geister – weder fremde noch bekannte – lauern in den sich sammelnden Schatten. Warum bin ich dann so angespannt? Durch meine Knochen zieht sich ein unruhiges Kribbeln. Ein weiterer Albtraum?

Manchmal suchen mich der Lumpenjunge von Bedern, das Kind, das in den Shambles im Schnee erfroren ist, der Radfahrer aus der Monkgate und die Hunderte von anderen Todesschleifen in York im Schlaf heim. Wahrscheinlich werde ich so lange von ihnen träumen, bis wir sie befreit haben.

Sie sind es jedoch nicht, die mir gerade zu schaffen machen. Ich war in meinen Erinnerungen an die Multischleife gefangen. Das Messer, mit dem man mir den Rücken aufgeschlitzt hat, der Gestank der Wälder, Rauch in der Luft. Sams Lippen auf meinen, die mich vom Rand der Hölle zurückgezogen haben.

Lavendel hat uns gebeten, eine Todesschleife zu entfernen, und ich habe Nein gesagt, was das genaue Gegenteil meines Versprechens an die Geister von York ist. Welche Seele auch immer in dieser Schleife gefangen ist, ich möchte ihr helfen. Aber ohne Sam werde ich es bestimmt nicht überleben und ich werde ihn auf keinen Fall bitten, mich zu begleiten. Vielleicht ist ja jetzt alles anders, nachdem ich einmal im Inneren einer Multischleife war und überlebt habe. Wenn ich das nächste Mal in eine Todesschleife marschiere, werde ich mich vielleicht genau daran erinnern, wer ich bin und was ich zu tun habe, statt mich in dem Tod des gefangenen Geists zu verheddern. Oder vielleicht auch nicht. Ich brauche Sam. Das ist so verdammt frustrierend.

Wenn ich mich um diese Todesschleife kümmern will, könnte ich Heather oder Mitch als Verstärkung mitnehmen. Sie könnten mich herausziehen, falls es schiefgeht. Sam wird das jedoch nicht gefallen, er wird auch dort sein wollen. Wenn es nach mir ginge, würde er sich einer Schleife nie wieder auch nur nähern. Aber das ist nicht meine Entscheidung.

Er hat sich im Bett zusammengerollt, das kleine Löffelchen zu meinem großen, die dunklen Locken gegen das Kissen gedrückt, und atmet tief ein und aus. Seine Wimpern flattern. Ich stehe total auf seine Wimpern.

Ach, Mist, er trägt immer noch seinen Binder.

»He«, flüstere ich und stupse ihn sanft an.

Er stöhnt, grummelt etwas in sein Kissen und zieht die Knie noch fester an.

»Nee, Schatz, komm schon.« Ich schmiege mein Gesicht an seinen Hals. »Mein superattraktiver Freund muss aufwachen.«

Er dreht sich um und sieht mich mit schläfrigen Augen an. »Warum?«

»Weil er mit seinem Binder eingeschlafen ist und ihn ausziehen muss.«

»Boah.« Sam hievt sich schnaubend hoch und schiebt sich die Locken aus der Stirn. »Wie viel Uhr ist es?«

»Spät. Ich sollte nach Hause gehen.« Mathemagie-Bücher sind auf der Bettdecke verstreut. Ich sammele sie ein, enttäuscht, dass wir nicht herausgefunden haben, was das Problem mit den Abwehrzaubern ist. Laut unseren Notizen sollten sie, selbst wenn ihre Farbe verblasst, nichts von ihrer Stärke einbüßen. Was zählt, ist die Magie, sie könnten also weiterhin intakt sein.

Sam nimmt mir ein Buch aus den Händen und legt es weg. »Oder … du könntest bleiben.« Sein süßes, verschmitztes Lächeln stellt komische Sachen mit meinem Herzschlag an. Er wackelt mit den Augenbrauen. »Keine Geister.«

»Nur wir«, flüstere ich, als mir klar wird, dass er recht hat. Heather und Ollie sind von ihrem Spaziergang mit Dante noch nicht zurück. Wir sind wirklich allein, was nicht sehr oft vorkommt. Ich will einfach cool bleiben, als hätte sich in der letzten halben Sekunde nichts geändert. Dabei ist genau das passiert. »Ich könnte hier übernachten. Meine Beine habe ich schon für den Tag abgenommen.«

Darüber muss er lachen. Aber es stimmt. Denn wenn meine Prothesen einmal ab sind, ist es eine ziemliche Fummelei, sie wieder anzulegen, und das müsste ich tun, um nach Hause zu gehen. Gut, das ist etwas übertrieben, eigentlich ist das kein Ding, es sei denn, meine Stümpfe sind richtig wund. Dann habe ich keine andere Wahl und muss eine Pause einlegen. Gerade sitze ich jedoch hier mit nacktem Oberkörper. Neben mir ein scharfer Kerl, der nichts anhat außer Binder und Boxershorts, während seine Locken in alle Richtungen abstehen und in seinen Augen der Schalk blitzt.

Ich gehe nirgendwohin.

Schnell schicke ich Mum eine Textnachricht, dass ich bei Sam schlafe. Das ist kein Problem, sie möchte einfach nur wissen, wo ich bin. Was völlig verständlich ist, wenn man bedenkt, was sie und Dad meinetwegen alles dieses Jahr durchmachen mussten.

Die ersten Wochen, nachdem Sam und ich zusammengekommen sind, haben sich meine Eltern echt peinlich angestellt und wir mussten jedes Mal, wenn er da war, meine Zimmertür offen lassen. Sie haben es dann jedoch aufgegeben, als ich einmal spätnachts einen panischen Anruf von Sams Mum bekommen habe. Dad hat mich daraufhin um zwei Uhr morgens zum Grays Court gefahren und ich habe die ganze Nacht mit Sam verbracht, während er geweint hat. Das war eine harte Nacht, die für uns beide allerdings eine Menge Mauern eingerissen hat.

Letzten Monat wollte Dad ein ernstes Gespräch zum Thema »Schwängere deinen Freund nicht« mit mir führen. Ich weiß nicht, wer von uns beiden röter im Gesicht war – vermutlich ich, weil Reid und Villiers im Zimmer Schach gespielt und darauf gewartet haben, dass ich Reids Läufer auf dem Brett bewege. Natürlich haben sie den peinlichsten Moment in meinem Leben zum Schreien komisch gefunden.

Sam und ich sind noch nicht so weit. Ja klar, irgendwann wollen mir mehr machen und wir haben auch schon darüber geredet. Aber wir müssen beide noch mit den Ereignissen im letzten Frühling und ihren Folgen fertigwerden – sowohl geistig als auch körperlich. Obwohl er schon mal mit jemand anderem zusammen war und ich nicht, ist er deswegen, glaube ich, noch nervöser als ich. Und ich schiebe schon voll die Panik, weil ich ihn nicht verlieren will. Dafür ist er mir zu wichtig.

Ich ziehe ihn auf meinen Schoß und fahre mit den Fingern durch sein Haar. In meinem Unterleib breitet sich ein Hitzegefühl aus, als er mit tiefer Stimme meinen Namen sagt. Ich küsse ihn, bis wir beide keuchend nach Luft ringen und ein Feuerwerk vor meinen Augen explodiert.

Ich kann mein Glück kaum fassen, so einen Freund zu haben.

Dann vibriert etwas an meinem Rücken und ich stoße einen kleinen Schrei aus. Mein Handy. Sam lacht, als ich stöhne. Dann sehe ich, wer anruft, und gehe sofort ran. »He, Alter, danke für deine Hilfe.«

»Ist Sam bei dir?«, fragt Mitch. Er klingt müde.

»Ja, ist er. Schlechte Neuigkeiten?«

Sam runzelt besorgt die Stirn. Ich hebe eine Hand und warte, dass Mitch uns sagt, was los ist. Man kann ihn nicht drängen; manchmal ist er gedankenvoll und aufrichtig, dann reißt er plötzlich wieder einen Witz – Mitch lässt sich generell gern Zeit und macht die Dinge auf seine Art.

Ein Schnauben am anderen Ende der Leitung. »Ich kann die Zauber ziemlich deutlich unter der Farbe sehen. Sie leuchten. Das heißt dann wohl, dass sie aktiv sind, oder?«

»Scheint so.«

»Aber da ist noch was anderes.« Er hält inne. Im Hintergrund kann ich Musik hören, wahrscheinlich aus einem Pub in der Nähe. »Ich glaube, dass jemand an unserem Theorem herumpfuscht.«

Mir stockt der Atem. Jemand anderes benutzt Magie in York.

»Ist Leonie da?«, frage ich. Sie hat mathemagische Theorie sogar noch besser drauf als Sam und wir brauchen Antworten.

»Sie lässt sich gerade herfahren«, erwidert Mitch.

»Okay, gib uns zehn Minuten.«

Sam stellt keine Fragen, sondern rutscht einfach von meinem Schoß und zieht sich an. Ich schnappe meine Liner und lege die Prothesen an, indem ich die Pins ausrichte und Druck ausübe, bis beide jeweils innerhalb der Schäfte einschnappen. Ein schmerzhaftes Ziehen geht durch meine Stümpfe, aber da ich meinen Rollstuhl nicht hier habe, muss ich da jetzt durch. Nicht dass es einfach wäre, sich im Rollstuhl durch das Stadtzentrum von York zu bewegen.

Als wir das Zimmer verlassen, stolpern wir fast über Ollie und Heather. Sie haben es sich auf dem Flur bequem gemacht und Dante macht zu ihren Füßen ein Nickerchen.

»Himmel, wo brennt’s denn?«, fragt Ollie und rappelt sich auf.

Ich ziehe meine Steppjacke an und taste meine Taschen ab, um sicherzustellen, dass ich alles dabei habe. »In York treibt sich ein Okkultist herum.«

4

Ein Mann weniger

Der hochgewachsene schlanke Typ, der nach heißem Öl und gezogenem Zucker riecht und an der Ecke von Stonegate und Little Stonegate auf uns wartet, hat gewelltes blondes Haar und ein Lächeln, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sogar mit grauer Haut und geschwollenen Augen nach einer langen Schicht werfen Passantinnen und Passanten Mitch flirtende Blicke zu.

Ohne sich seiner Wirkung bewusst zu sein, zeigt er auf die ins Holz geschnitzte Meerjungfrau an der Ecke, wo wir den Abwehrzauber versteckt haben. »Wie schlimm, glaubt ihr, ist es?«

Wie der Abwehrzauber an der Grape Lane ist die Farbe kaum mehr zu sehen und lediglich eine rote Schliere ist auf dem dunkelgrünen Balken übrig geblieben.

»Schauen wir uns den Schaden mal genauer an«, sage ich und nehme die Kryptogläser, die Mitch mir hinhält.

Heather tritt zur Seite, damit eine Gruppe Männer auf Sauftour nicht durch sie hindurchläuft. Mit eingezogenen Schultern gegen den Nieselregen gehen die Kerle an uns vorbei.

Ich wische Tropfen von den halbmondförmigen Gläsern und setze die Brille auf, woraufhin die Welt sofort trüber wird und unsere Abwehrzauber – zwei einfache Striche wie brennende Streichhölzer, die jeweils nach oben und nach unten zeigen – aufleuchten. Mithilfe der Kryptogläser können normale Menschen nicht nur Geister sehen und hören, sondern auch verborgene Magie ausmachen.

An dem Theorem hat definitiv jemand herumgepfuscht. Eine gerade Linie zieht sich jetzt durch die ursprünglichen Glyphen, wobei der eine Strich in einer ungleichen Doppellinie endet und der andere mit einem kleinen Kreis. Auf der rechten Seite steht ein J oder S über einer Trennlinie und ein Ü darüber. Die Änderungen schimmern schwach und sind schwer zu erkennen, aber sie sind eindeutig da.

Als ich mich umdrehe, erhasche ich mit den Kryptogläsern einen Blick auf Ollie und Heather – beide wirken wie ausgewaschen und flimmern verzerrt. Wenn Seher durch diese Art Brille die Toten betrachten, ist das verdammt unangenehm.

Ich nehme sie schnell ab und reiche sie weiter. »Sam?«

Er setzt sie auf, holt ein kleines Skizzenbuch aus seiner Jacke und zeichnet die neuen Glyphen über dem Abwehrzauber ab.

Ich danke Mitch dafür, dass er sich die Zeit genommen hat.

Er zuckt mit den Schultern. »Keine Ursache.«

Dabei ist das nicht selbstverständlich. Als er und Leonie mich vor ein paar Jahren in eine Todesschleife haben fallen sehen, habe ich sie aus meinem Leben ausgeschlossen, statt ihnen von den Geistern zu erzählen. Ich habe behauptet, es wäre zu ihrer eigenen Sicherheit, eigentlich habe ich mich jedoch nur wie ein verunsicherter Arsch benommen. Irgendwann haben sie die Wahrheit dann herausgefunden und wir haben uns wieder vertragen. Mitch ist seit der Grundschule mein bester Freund und er und ich haben einfach da weitergemacht, wo wir aufgehört haben. Es ist wie früher und doch anders. Zum Beispiel bin ich nicht mehr in ihn verknallt.

Dass wir wieder Kumpels sind, ist verdammt genial. Ich will das nicht ausnutzen.