So bloody Far - Sandra Busch - E-Book

So bloody Far E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Die Wandlung zum Vampir ist für den SEED-Officer Far Baxter ein Schock, aber er arrangiert sich damit. Auch gesteht er sich endlich ein, dass er viel mehr für seinen Partner Songlian Walker empfindet. Doch plötzlich taucht Songlians Bruder Bhreac auf der Bildfläche auf und zwingt Far zu einem perfiden Abkommen. Far bleibt nichts anderes übrig, als mitzuspielen, um die zu schützen, die er liebt. So bloody Far ist der Nachfolgeband von Blood in mind.

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So bloody Far

Sandra Busch

Impressum

© dead soft verlag,  Mettingen 2012

© the author

http://www.deadsoft.de

Cover: M. Hanke

Motiv: © Oleksandr Lishinsky – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-943678-14-7 (print)

ISBN 978-3-943678-15-4 (EPub)

Heiß, heiß … Ihm war heiß. Und gleichzeitig eisig kalt. Sein Leib schmerzte, brannte, fror. Er zitterte, schlug in Krämpfen um sich. Am Schlimmsten war sein Kiefer. Von dort gingen die Schmerzen aus, die sich wellenartig über seinen Körper ausbreiteten. Jeder einzelne Muskel und jeder Knochen schien von diesem Schmerz erfasst und von ihm durchdrungen zu werden. Schmorte er etwa im ewigen Fegefeuer oder was geschah mit ihm? Seine Augen mussten mit Blut gefüllt sein, denn er sah nur rote Schleier. Die Augäpfel selber brannten, als würde sich Säure in sie hineinfressen. Heulend warf er sich auf dem durchgeschwitzten Laken umher. Diese Hitze, diese unerträgliche Hitze, die ihn innerlich verzehrte. Gleichzeitig zitterte er vor Kälte. Er fauchte, keuchte, stöhnte und knurrte gegen die Schmerzen an … und gegen den Hunger. Diesen erschreckenden, alles beherrschenden, unermesslichen Hunger …

Songlian befand sich allein in dem dunklen Krankenzimmer, in das die Sanitäter Far gebracht hatten. Er hatte alle hinausgeschickt, auch den Doc.

„Es ist zu gefährlich“, hatte er lediglich gesagt. „Während der Wandlung wird er nicht er selbst sein.“

Sicherheitshalber hatten sie die Tür abgeschlossen, obwohl eine einfache Tür kein Hindernis für einen wild gewordenen Vampir darstellte. Aber eine Tür zu verschließen vermittelte wenigstens ein besseres Gefühl. Songlian wusste sie alle draußen auf dem Flur: Jonathan, Joey und Cooper, das komplette Team 3, Jayden Cullen und einige seiner Nachtwölfe und den Chief. Sogar der Boss hatte ihr geheiligtes Büro verlassen und war auf ihren hochhackigen Pumps zum Krankenzimmer geeilt. Songlian konnte die spitzen Absätze durch die Tür auf dem Flur unruhig hin- und herwandern hören. Alle warteten sie auf den Moment, in dem Songlian ihnen sagen würde, ob Far die Wandlung überlebt hatte, oder ob er an Lorcans verseuchtem Biss gestorben war.

Still beobachtete Songlian seinen Freund. Durch sein heftiges Ankämpfen gegen die Metamorphose machte es sich Far bloß zusätzlich schwer. Mit der ihm typischen Dickköpfigkeit weigerte er sich, den menschlichen Teil seines Körpers sterben zu lassen. Dies war allerdings ein Kampf, den er verlieren würde, denn dafür hatten Lorcans nadelspitze Fangzähne und das gewaltsam eingeimpfte, vampirische Drüsensekret gesorgt. Die Frage war nur, ob Far stark genug war, um die Wandlung zu überstehen. Und ob er auch akzeptieren konnte, dass er zu einem der Wesen mutierte, die er selber noch vor Kurzem in den Straßen New Yorks gejagt hatte.

Auf einmal erschlaffte Fars Leib. Sein Herzschlag und alle weiteren Lebensfunktionen hatten endlich ausgesetzt. Die heikle Phase der Wandlung begann. Würde Far zu neuem Leben erwachen? Zwei nervenaufreibende Stunden lang starrte Songlian voller Angst auf seinen toten Freund. Unruhig begann er nun selber auf und ab zu laufen, genau wie der Boss draußen vor der Tür. Er wusste nicht, was er tun würde, sollte Far diesen kritischen Augenblick nicht überstehen. Bestimmt würde er den Verstand verlieren, wenn wegen seiner verdammten Familie wieder einmal jemand umkam. Jemand, an den er dieses Mal hoffnungslos sein Herz verloren hatte. Far …

Doch zu seiner größten Erleichterung schien alles gut zu verlaufen. In dem zu einem wütenden Knurren verzogenen Gesicht konnte Songlian inzwischen perfekt ausgebildete Fangzähne ausmachen. Weiß schimmerten sie zwischen den halb geöffneten Lippen hervor. Erwartungsvoll trat Songlian einen Schritt näher.

Pfeifend begann Far wieder zu atmen, oberflächlich erst, dann immer tiefer und regelmäßiger. Er hatte seine Geburt zum Vampir überstanden.

Wir hatten gerade zueinandergefunden,dachte Songlian traurig. Und nun wirst du mich bestimmt hassen, weil du in mir ständig Lorcan und das Ende deiner Menschlichkeit sehen wirst.

Far lag jetzt ruhig auf dem zerwühlten Bett und schaute ein wenig orientierungslos zur Zimmerdecke hinauf. Würde er sein Schicksal akzeptieren?

Zeit für deine erste Mahlzeit.Songlian öffnete eine Blutkonserve. Allein der Blutgeruch reichte aus, um Far aufmerksam zu machen. Mit dem Becher in der Hand näherte sich Songlian dem Bett.

„Trink das. Danach wird es dir besser gehen.“

„Songlian?“ Fars Stimme klang erschöpft. „Es ist dunkel. Wieso kann ich dich trotzdem sehen?“

„Trink das, Far.“ Ohne auf Fars Frage einzugehen, reichte ihm Songlian den Becher mit der dunklen Flüssigkeit, die metallisch, süß und salzig zugleich schmecken würde. Far wirkte noch immer ganz durcheinander und trank den Becher leer, ohne den seltsamen Geruch zu hinterfragen. Mit sichtlicher Erleichterung schloss er für einen kurzen Moment die Augen. Songlian wusste, dass nun neue Kraft durch seine Adern strömte.

Was immer Songlian ihm gegeben haben mochte, es half über das erschreckende Hungergefühl hinweg. Von einem Augenblick zum anderen fühlte sich Far erfrischter und reger. Er stellte den Becher auf den Nachttisch neben seinem Bett ab und sah leise stöhnend auf. Irgendetwas musste ihn überfahren haben. Jedenfalls fühlte er sich so. Songlian schien in einem Kegel aus gedämpftem Licht zu stehen, sodass er ihn trotz des abgedunkelten Raumes erkennen konnte. Verwundert blinzelte Far mehrmals.

„Was ist passiert, Songlian?“

Statt einer Antwort trat sein Freund einige Schritte zurück. Und plötzlich tauchten Bilder in Fars verschwommener Erinnerung auf. Es waren vage Bilder, denn man hatte ihm Songlians Lieblingsdrogen verabreicht. Doch trotz der Crawlers hatte sein Verstand einige Eindrücke abgespeichert: Songlian, der wie ein Wilder kämpfte und Lorcan, der ihm äußerst schmerzhaft die Zähne in den Hals geschlagen hatte. Da er nicht tot war, konnte dies nur eines bedeuten …

„Nein“, flüsterte Far. Er griff erneut nach dem Becher. Dieses Mal mit zitternden Fingern. Blutige Reste klebten in seinem Inneren.

„Nein.“ Er schüttelte entsetzt den Kopf und schleuderte den Becher quer durch den Raum, wo er an einer Wand zersplitterte.

„NEIN!“ brüllte Far. Mit einem Satz war er aus dem Bett und stürzte Songlian unbeholfen vor die Füße, weil ihm sein Körper nicht wie gewohnt gehorchte. Mit einiger Mühe gelang es Far sich zu koordinieren und aufzurichten.

„Langsam, Far. Du musst dich erst daran gewöhnen …“

„Gewöhnen?“, schrie Far ihn an. „Sieh mich an, verdammt!“ Voller Wut schmiss Far mühelos das schwere Krankenbett um. Mühelos! Er stieß einen weiteren Schrei aus, frustriert, wild und zornig. Ein Stuhl segelte an Songlian vorbei und zerschellte wie zuvor der Becher ebenfalls an der Wand. Danach begann Far seine Faust gegen die Tür des Spindes zu schlagen, bis sich die Stahltür komplett verbogen hatte. Songlian verhielt sich passiv und ließ ihn seine Wut austoben.

Schließlich sank Far mit einem Wimmern an der Wand zu Boden, zog die Knie an und legte den Kopf darauf. Wieso hatte Lorcan ihn nicht einfach umbringen können? Wieso hatte er sich einen derartig grausamen Scherz erlaubt? Vor Verzweiflung biss Far die Zähne zusammen. Er spürte verflixt scharfe Fangzähne in seinem Mund. Fangzähne! Verflucht, er war doch ein Officer der SEED!

Songlian hatte sich Fars Ausbruch schweren Herzens angesehen. Er spürte die tiefe Verzweiflung seines Freundes, die wie Wellen von ihm auszugehen schien. Nach einer Weile trat er vorsichtig näher. Far schien sich inzwischen etwas gefasst zu haben.

„Okay“, hörte er Far sagen. „Okay, es lässt sich nicht ändern, nicht wahr?“

„Nein“, antwortete Songlian leise.

„Diese Hurensöhne haben nur dafür gesorgt, dass ich ihnen weitaus effektiver den Garaus machen kann. Alles in allem geht es mir ja eigentlich besser als zuvor, oder? Ich bin nahezu nicht zu töten, bin schneller und stärker, kann besser sehen und … zum Teufel … ich kann riechen wie ein Bluthund.“ Far sah auf. An der Art, wie seine Kiefermuskeln hervortraten, konnte Songlian sehen, wie sich Far bemühte seine Wut und seine Hilflosigkeit ganz tief in seinem Inneren zu verschließen. Songlian hatte beinahe den Eindruck, als säße vor ihm ein zehnjähriger Junge, der auf die Leichen seiner Familie schaute und sich mit aller Gewalt dazu zwang nicht in Tränen auszubrechen.

„Far, es tut mir leid. So entsetzlich leid“, brach es aus Songlian hervor. Mit der fließenden Geschmeidigkeit eines frischgeborenen Vampirs erhob sich Far, allerdings dieses Mal etwas vorsichtiger als zuvor.

„Das braucht es nicht, Songlian. Du kannst schließlich nichts dafür.“

„Wäre ich in dieser Nacht neulich nicht einfach weggelaufen, dann wärst du mich nicht suchen gekommen …“

Far verpasste Songlian unerwartet einen harten Stoß. Mit einem überraschten Laut taumelte er einige Schritte zurück.

„Es hat mich niemand gezwungen, dich zu suchen, Songlian. Außerdem hätte ich in dieser Nacht auch ein wenig sensibler auftreten können, aye?“ Seine Stimme wurde sarkastisch: „Vielleicht solltest du dich bei Lorcan dafür bedanken, dass du nun einen Partner auf Lebenszeit hast.“

Partner, nicht Liebhaber und Songlian anstatt Song.

Warum nur fühle ich mich so grässlich?,fragte sich Songlian traurig. Er hätte in diesem Augenblick um Far weinen mögen, der so voller Hass war. Mühsam riss er sich zusammen.

„Die anderen warten vor der Tür. Bist du in der Lage, ihnen gegenüberzutreten?“

Als Far nach kurzem Zögern nickte, klopfte Songlian gegen die verschlossene Tür und rief dabei: „Macht auf!“

Angesichts dieser Vorsichtsmaßnahme zog Far die Augenbrauen empor, gab dazu allerdings keinen Kommentar ab. Aber er war doch überrascht, wer ihn alles erwartete. In den Gesichtern der Kollegen und Freunde war ausnahmslos Erleichterung zu erkennen.

„Wie fühlen Sie sich, Baxter?“, fragte Anabelle Wilcox und trat einen Schritt vor.

„Prima, Boss. Es war schon immer mein größter Wunsch, ein Vampir zu werden“, antwortete Far höhnisch. Hinter ihm gab Songlian warnende Zeichen.

„Natürlich“, murmelte Wilcox betroffen. „Wir hätten es uns selbstverständlich ebenfalls anders gewünscht.“

„Zumindest weilst du noch unter uns und das ist das Wichtigste“, verkündete Jonathan und umarmte Far kurzerhand. Derartig entwaffnet verkniff sich Far einen weiteren bösen Kommentar.

„Aye, wir hatten schon geglaubt, dass wir dich verloren hätten“, brummte Joey und klopfte Far verlegen auf die Schulter. Die anderen äußerten sich ähnlich. Endlich drängte sich Jayden Cullen zu seinem Freund durch und zog ihn wortlos an sich.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte Far und ließ den Blick erfreut über die Nachtwölfe gleiten.

„Wir haben ganz gut zusammengearbeitet, als wir dich und Songlian gesucht haben“, antwortete Cooper und Jayden nickte zustimmend. „Da konnten wir sie schließlich nicht einfach vor der Tür stehen lassen.“

„Zusammengearbeitet?“

„Ich denke, das wird Ihnen Walker alles in Ruhe erzählen. Zeit genug werden Sie dafür jedenfalls in den nächsten Tagen haben.“ Wilcox mischte sich rasch in das Gespräch ein, ehe jemand Fars Fragen beantworten konnte.

„Wie meinen Sie das, Boss?“, fragte Far.

Songlian horchte ebenfalls auf, denn auch ihm war der eigenartige Unterton seiner Vorgesetzten nicht entgangen. Wilcox warf Chief Morlay einen unbehaglichen Blick zu.

„Hören Sie, Baxter, es war bereits schwierig genug dem Polizeichef Walker unterzuschieben. Aber was glauben Sie, was mir das Department erzählt, wenn hier zwei Vampire den Dienst versehen? Das würde so aussehen, als würden wir neuerdings offiziell Vampire einstellen. Ich kann daher nicht garantieren, dass Sie weiterhin bei der SEED beschäftigt werden können.“

Auf einmal herrschte Totenstille. Dafür brach einen Augenblick später ein ungeheurer Tumult los, in dem nur Songlian und Far schwiegen. Songlian hatte bereits damit gerechnet, für Far dagegen musste diese Ansage wie ein kalter Wasserguss kommen. Die anderen hatten weniger Hemmungen und ließen ihrem Ärger freien Lauf.

„Ruhe!“, brüllte die kleine Wilcox auf einmal mit erstaunlich kräftiger Stimme und tatsächlich kehrte wieder Stille ein.

„Natürlich werde ich alles daran setzen, dass sie beide bleiben können. Trotzdem treffe nicht ich die Entscheidung. Es tut mir wirklich leid, Baxter.“

„Ich bin also suspendiert?“ Far sah seinen Boss fassungslos an.

„Nicht suspendiert. Beurlaubt unter vollen Bezügen. Das trifft Sie leider genauso, Walker.“

Songlian nickte bloß. Warum gegen das Unvermeidliche protestieren? Hinter ihnen erscholl ein unwilliges Schnauben.

„Wenn die dich nicht mehr wollen, Ice, dann kommst du zu uns zurück. Und Songlian bringst du mit, aye?“

Mit einem Lächeln wandte sich Far zu Jayden um.

„Ich will Unterweltler töten. Wo und wie ist mir egal“, sagte er zu niemand Bestimmtem.

„Ich melde mich, sobald ich etwas erreicht habe“, sagte Wilcox. „Gehen Sie nach Hause und erholen Sie sich erst einmal. Ich würde Sie beide wirklich ungern verlieren, Baxter. Das müssen Sie mir glauben.“

Doch Far hatte sich bereits abgewandt und ging wie betäubt den Flur entlang in Richtung Ausgang. Songlian folgte ihm eilig. Er warf nur einen entschuldigenden Blick über die Schulter zurück, wo die anderen ihnen betroffen hinterher sahen.

Far sprach kein Wort, bis sie in ihrer Wohnung waren. Er hätte auch gar nicht gewusst, was er sagen sollte. Mister X schnürte um ihre Beine, schnurrte und maunzte, bis Far ihn endlich emporhob und mit dem Kater im Arm ziemlich ratlos dastand.

„Ich werde dich mit einem Freund bekannt machen, der mir die Blutkonserven besorgt“, sagte Songlian hinter ihm. Far nickte zustimmend. Er zauste Mister X das Fell und setzte ihn gleich darauf beinahe hastig ab, als ihm bewusst wurde, dass er nun ganz genau sagen konnte, wo die blutgefüllten Adern des Katers entlangliefen.

„Wirst du mit mir trainieren?“, fragte er Songlian unbehaglich. „Ich habe das Gefühl in einen fremden Körper zu stecken und möchte meine Reaktionen testen.“

„Natürlich“, murmelte der.

„Außerdem solltest du mir erzählen, was eigentlich passiert ist. Ich kann mich bloß erinnern, dass ich dich im Battlefield verpasst habe und dass Ooghi auf einmal hinter mir im Auto saß. Und ich weiß, dass du gekämpft hast …“

Songlian seufzte.

„Setzen wir uns“, schlug er vor.

Die nächsten Stunden über berichtete Songlian ihm, was in den letzten Tagen geschehen war. Außerdem versuchte er Far zu erklären, was es bedeutete ein Vampir zu sein. Die Fähigkeit, in der Nacht zu sehen, besser zu riechen sowie stärker und schneller als bisher zu sein gehörten zu den Dingen, mit denen Far sich durchaus anfreunden konnte. Die Gefahr des Bluthungers dagegen konnte er überhaupt nicht einschätzen. Songlian warnte ihn allerdings eindringlich davor. „Halte immer Blutkonserven in Reserve, ehe du vor Hunger gezwungen bist, über einen Menschen herzufallen. Das macht dich nicht besser, als diejenigen, die du vernichten willst.“

Far nickte und sah Songlian nachdenklich an.

Warum bist du einfach weggelaufen?,drängte es ihn zu fragen. Habe ich dich in dieser Nacht wirklich so sehr erschreckt? Du hast doch behauptet, du würdest mich lieben. Und von Anfang an hast du mich angegraben. Wieso hast du dann so wenig Vertrauen in mich, dass du tatsächlich fürchtest, ich würde dich verletzen? Damit stellst du mich glatt auf eine Stufe mit deinen verfluchten Brüdern. Oder … Oder war es dir mit uns gar nicht ernst? Hatte Lorcan recht? Hast du dich bloß in meinem Kofferraum versteckt, weil du ausprobieren wolltest, ob du bei einem Officer landen kannst? Ist das deine Art, dir die Jahrhunderte amüsanter zu gestalten? Far musste sich eingestehen, dass Lorcans abfällige Worte über Songlians angebliche Spielchen Zweifel in ihm gesät hatten. Vielleicht hatte sein Freund wirklich nur die Herausforderung gesucht, ausgerechnet den verbissensten Officer der SEED herumzukriegen. Den Officer, der sogar persönliche Motive für die Jagd auf Unterweltler hatte. Aber hätte Songlian in diesem Fall für ihn in dieser Grube gekämpft? Zur Hölle! Wenn er sich bloß besser an diesen Tag erinnern könnte. So sehr er sich auch das Hirn zermarterte, er erinnerte sich lediglich an vage Bruchstücke. Von dem spektakulären Kampf und seinen Bedingungen hatte ihm lediglich Songlian vorhin berichtet.

„Was ist?“, fragte Songlian mit unsicherer Stimme. Far zuckte mit den Schultern.

„Ich fühle mich unruhig. Können wir vielleicht mit einem kleinen Probekampf beginnen?“

„Du solltest dich lieber erst etwas ausruhen. Eine Wandlung ist keine Kleinigkeit“, sagte Songlian besorgt.

„Ein kleiner Kampf wird bestimmt nicht schaden.“ Far sprang bereits auf und zog sich das Shirt über den Kopf, ehe Songlian weitere Einwände erheben konnte. Der seufzte und zog sich ebenfalls das Hemd aus, während Far die Übungsstöcke suchte. Sie rückten die Möbel im Wohnzimmer beiseite, um einigermaßen Platz zu haben. Anschließend nahm jeder von ihnen zwei der Übungsstöcke in die Hände, die vom Gewicht und der Länge her ihren Dolchen nachempfunden waren.

„Wir fangen langsam an, damit du dich erst einmal an den Übungsablauf gewöhnst und steigern dann die Geschwindigkeit“, schlug Songlian vor. Far nickte. Beinahe im Zeitlupentempo gab Songlian zunächst das Muster vor, dem Far mit Leichtigkeit folgen konnte. Einige Wiederholungen später erhöhte Songlian das Tempo. Far konzentrierte sich mit halb geschlossenen Augen auf den Trainingsablauf, spürte die neue Geschmeidigkeit seiner Muskeln und die Freude an diesem kämpferischen Tanz. Er registrierte auch Songlians fließende Bewegungen und fühlte erneut dieses Kribbeln im Magen. Mühsam versuchte er diese Gefühle zu unterdrücken. Songlian war vor ihm weggelaufen, weil er ein ungehobelter, unsensibler Holzklotz war und nicht gemerkt hatte, dass er Songlian verschreckte. Daran wollte Far fest glauben. Er konnte damit leben, dass er ein Trottel war. Aber sollte Songlian ihn dagegen verarscht haben … Far knurrte und steigerte von sich aus das Tempo. Songlians bernsteingelbe Augen leuchteten für einen Moment überrascht auf. Mühelos ging er darauf ein. Das wiederum reizte Far und er griff nun mit aller Gewalt an, um sich von seinen ungewollten Gedanken abzulenken. Mit wirbelnden Armen und schnellen Tritten tanzten sie durch das Zimmer, fuhren mit raschen Attacken aufeinander zu, blockten und konterten und versuchten es mit mehr oder weniger fiesen Tricks. Songlian beherrschte die Kniffe vieler Jahrzehnte und die Eleganz eines mehr als geübten Kämpfers. Far dagegen war durch zahlreiche üble Straßenkämpfe gestählt worden und kämpfte mit einer Wildheit, die die meisten erschreckte. Schließlich siegte die Erfahrung. Songlian drehte sich unter einem Hieb hindurch, schlug Far den Ellenbogen in den Magen, was ihn taumeln ließ und trat ihm wuchtig in die Kniekehlen. Gleichzeitig hieb sein rechter Arm gegen Fars Schulter und hebelte ihn dadurch gekonnt aus dem Gleichgewicht. Far krachte zu Boden. Im nächsten Moment kniete Songlian auf ihm und eines der Übungshölzer lag unmissverständlich auf Fars Kehle. In einem echten Kampf wäre er nun tot. Die Nähe von Songlians Gesicht und der intensive bernsteingelbe Blick verursachte Far erneut Herzklopfen.

Fars seltsamer Gesichtsausdruck bewirkte, dass Songlian beinahe hastig von ihm abließ. Beim Blut! So einen Blick hatte ihm sein Freund noch nie zugeworfen. Hoffnungslos und wütend war ihm dieser Blick vorgekommen. Songlian hätte sich selber ohrfeigen können. Erst musste sich Far mit seinem Vampirdasein abfinden und dann wurden ihm zur Krönung des Ganzen in einem Übungskampf die Grenzen aufgezeigt. Dabei wusste Songlian doch, wie schnell sich Far in seinem Stolz treffen ließ. Wenig elegant rappelte sich Far auf und pfefferte sein Übungsholz wortlos in eine Ecke.

„Far, das ist kein Drama. Du bist bloß müde von deiner Wandlung. Geh duschen und hinterher solltest du dich ausruhen und erholen“, sagte er und trat nach außen hin völlig ruhig an das Fenster, um auf die Straße hinunter zu sehen. Er spürte Fars Blick in seinem Rücken und traute sich gar nicht, ihn zu erwidern. Also starrte er weiter aus dem Fenster. Dabei verspürte Songlian ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust. Die wohlgeformten, schweißglänzenden Muskelpartien seines Partners hatten ihn mehr erregt, als gut war. Die raubkatzenhaften Bewegungen während des Kampfes waren beinahe zu viel gewesen und als Far zum Schluss unter ihm lag … Kopfschüttelnd fuhr sich Songlian durch den Schopf. Er konnte die Dusche laufen hören, als sich Far endlich darunter stellte. Wie gern hätte er in diesem Augenblick das Duschgel auf Fars attraktivem Körper verteilt. Songlian vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte.

Schlag dir das aus dem Kopf,dachte er verzweifelt. Er ist nicht mehr der Far, der er vor der Wandlung war. Und es ist meine Schuld, dass er ein Vampir geworden ist. Das wird er nicht vergessen können. Allein wie er mich angesehen hat, als er am Boden lag. Als könnte er meine Berührungen nicht ertragen … Mit einem frustrierten Fauchen warf sich Songlian auf das an die Wand geschobene Sofa und legte einen Arm über seine Augen. Warum hatte er sich bloß auf einen Menschen einlassen müssen? Warum hatte er nicht sein selbst auferlegtes Exil beibehalten? Warum …

„Die Dusche ist frei, wenn du jetzt darunter willst.“ Far stand mit einem Handtuch um die Hüften vor ihm. Songlian starrte das Stück Stoff an, als könnte allein sein Blick es zum Rutschen bringen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Far und kratzte sich genau die Stelle an seinem Hals, an der ihn Lorcan gebissen hatte.

„Aye“, seufzte Songlian und sprang auf. Er bemühte sich Fars unmittelbare Nähe zu meiden. Die Erektion in seiner Hose war bereits unangenehm genug und es war an der Zeit, um Fars Radikalkur mit einer kalten Dusche auszuprobieren. Auf halbem Weg ins Bad hielt Songlian inne. Nein, eine Dusche würde definitiv nicht mehr helfen. Er schnappte sich sein Hemd und zog es hastig über.

„Ich muss noch mal weg“, murmelte er in Fars Richtung und verließ fluchtartig mit der Jacke in der Hand die Wohnung. Er würde Phillip aufsuchen und sich an dem willigen Freund abreagieren, bis er Far wieder gegenübertreten konnte, ohne sich zu blamieren.

Songlian hatte nach Erregung gerochen. Selbst unter dem Duft von Sandelholz und Zimt hatte Far dies mit seinen neuen geschärften Sinnen bemerkt. Zudem war ihm die deutliche Wölbung in Songlians Hose nicht entgangen. Verwirrt blickte Far auf die Tür, durch die sein Freund verschwunden war. Also doch keine Spielchen, wie Lorcan es behauptet hatte. Aber warum war Songlian dann derartig geflüchtet? Nicht einmal vernünftig angezogen hatte er sich. Seufzend ließ sich Far auf das Sofa fallen, auf dem vor wenigen Augenblicken sein Partner gelegen hatte und dessen Leder Songlians Körperwärme anhaftete.

Was beschwerst du dich eigentlich?,fragte eine Stimme in seinem Inneren. Du erzählst ihm dauernd, dass du ihn nicht liebst. Danach fällst du im Bett regelrecht über ihn her. Was soll Songlian eigentlich von dir halten?

„Ich liebe ihn nicht“, knurrte Far trotzig in das stille Zimmer hinein.

Du stehst nur neuerdings einfach so auf nackte Männer,wisperte die Stimme jetzt böse. Auf diesen Kommentar fiel Far kein Gegenargument ein. Er konnte nicht leugnen, dass Songlian ihn ungemein anzog. Dieses wohlige Gefühl, Songlian in den Armen zu halten; die aufsteigende Erregung, wenn sie sich küssten; die angenehme Nähe des anderen und seine aufreizenden Blicke ließen Far überhaupt nicht kalt.

„Was willst du eigentlich?“, fragte sich Far grummelig. Er rappelte sich auf, um sich aus dem Küchenschrank eine Flasche Gin zu holen. Während er die klare Flüssigkeit in ein Glas kippte, murmelte er: „Was ich will, ist völlig nebensächlich. Die Frage ist, was Songlian will.“ Far kippte das erste Glas auf Ex. Warum nur war Songlian davongelaufen, wenn er auf ihn reagiert hatte? Trübsinnig blickte er in sein leeres Glas. Es war an der Zeit auszutesten, ob sich ein Vampir betrinken konnte.

Phillip war nicht in seinem Apartment und im Wellnesstempel mochte ihn Songlian nicht suchen. Stattdessen zog er zum Battlefield weiter. Barnaby war an diesem Abend nicht da, dafür entdeckte Songlian eine andere bekannte Gestalt an der Bar. Der junge Mann hieß Gabriel und auch er besuchte den Club regelmäßig. Songlian hatte ihn vor zwei Jahren im Battlefield kennengelernt und seitdem hatten sie öfters eines der Separees geteilt. Erleichtert seufzte Songlian auf. Gabriel war sogar besser als Barnaby und mit seinem immer verstrubbelten dunkelbraunen Haar und den grünen Augen auch mehr sein Typ. Ohne ein Wort zu verlieren, packte er den jungen Mann am Arm und zog ihn mit sich auf eines der Separees zu. Es war Zeit für eine Radikalkur, um die hässliche Erfahrung durch Lorcans Freunde aus seiner Erinnerung zu vertreiben.

„Dir ebenfalls einen schönen Abend, So-lian.“ Gabriel grinste und folgte Songlian bereitwillig in die Abgeschiedenheit des Raumes. Kaum war die Tür des Separees ins Schloss gefallen, zerrte Songlian bereits ungeduldig an Gabriels Kleidern. Zum einen hatte er ein bisschen Angst, dass er wie in der Nacht mit Far erneut kneifen würde. Zum anderen war er trotz allem immer noch total scharf auf seinen Freund. Dieses Wechselbad der Gefühle brachte ihn langsam aber sicher um den Verstand.

„Mann, wenn du es so dringend benötigst, dann lass mich dir erst einmal helfen Druck abbauen.“ Gabriel, der von seinem Dilemma nichts ahnte, lachte. Seufzend ließ ihn Songlian los. Mit geschickten Fingern öffnete Gabriel seine Hose und kniete vor ihm nieder. Erleichtert stöhnte Songlian auf, als sich der warme Mund des anderen um sein Geschlecht schloss und geschickte Lippen ihn zu verwöhnen begannen. Einen kurzen Moment später ergoss er sich bereits.

„Na, du hattest es wirklich eilig, was?“, murmelte Gabriel überrascht und begann Songlian völlig auszukleiden.

„Ein wenig“, brummte der mit heiserer Stimme. Während sich Gabriel jetzt selber auszog, dachte Songlian wehmütig an Far, der zu Hause hockte und wahrscheinlich gar nicht mehr wusste, was los war. Allein der Gedanke an seinen Partner bewirkte, dass er sofort wieder hart wurde. Schnaufend ließ er sich auf die Kissen am Boden fallen. Gabriel beugte sich über ihn und seine kundigen Hände fuhren verlockend über Songlians Haut.

„Top oder Bottom?“, hauchte er in Songlians Ohr.

„Top“, knurrte der und schob Gabriel in die Kissen. Wenn er die Führung übernahm, würde es bestimmt gehen.

„Kein Beißen“, warnte er in Erinnerung an seine demütigendsten Stunden in Lucas Winters Haus und griff zur Gleitcreme, um Gabriel vorzubereiten.

„Beißen? Habe ich dich jemals gebissen?“, fragte Gabriel erstaunt und keuchte eine Moment später auf, als Songlian in ihn eindrang.

Far,dachte Songlian wehmütig. Er schloss die Augen und nahm einen kraftvollen Rhythmus auf, von dem er wusste, dass Gabriel darauf stand. Einen kurzen Moment empfand er Scham darüber an einen anderen zu denken, während er Gabriel in dem Separee vögelte, doch dieser Augenblick währte nicht lange.

Gabriel lag an ihn geschmiegt und war in den frühen Morgenstunden in einen erschöpften Halbschlaf gesunken. Nachdenklich blickte Songlian auf den jungen Mann hinab. Er hatte Gabriel immer gemocht. Nicht nur als Gespielen im Bett, sondern ebenfalls als Gesprächspartner. Allerdings konnte Gabriel Far niemals das Wasser reichen. Im Gegensatz zu Far war Gabriel klein und zierlich. Sein schlanker Körper wies eine leichte, künstliche Bräune auf, war gepflegt und sehr attraktiv. Was Gabriel fehlte, waren Fars aufregende Muskeln, die breiten Schultern und die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen. Außerdem fand Songlian es irgendwie angenehm zu Far aufsehen zu können. Mit seiner Größe von 1,90 m überragte er Songlian um gute zehn Zentimeter.

Genau richtig, um sich vertrauensvoll in seine kräftigen Arme zu schmiegen,dachte Songlian sehnsüchtig. Um sich beschützt und behütet zu fühlen.

Gabriel war dagegen immer willig, liebte es mit Songlian Sex zu haben und machte keinen Hehl daraus, eine feste Beziehung mit ihm aufnehmen zu wollen. Dabei war es gerade Fars Temperament und der Hauch von Gefahr, der von ihm ausging, was Songlian an seinem Liebsten antörnte. Und natürlich sein Lachen, der warme Geruch seiner Haut, der aufgeweckte Geist sowie die verschmitzten Blicke, die Far ihm zuwerfen konnte … Blicke, auf die er zurzeit vergeblich wartete. Wieder reagierte sein Körper allein bei dem Gedanken an seinen Freund. Seufzend beugte sich Songlian über Gabriel und leckte über dessen pochenden Puls am Hals bis hinab zur Schulter. Seine Hand schlich sich streichelnd zwischen Gabriels Beine und mit einem wohligen Seufzer öffnete der die Augen.

„Solltest du eine weitere Runde wollen, So-lian, dann aber als Bottom. Ich werde sonst überhaupt nicht mehr laufen können“, murmelte er schläfrig.

„Vergiss es“, knurrte Songlian ungehalten. Bottom! Kam ja gar nicht infrage. Nicht … nicht nach Lorcans Spießgesellen und schon gar nicht für Gabriel. Songlians Lust auf den jungen Mann verschwand schlagartig. Er krabbelte aus dem Kissenberg und suchte seine verstreut herumliegenden Kleider auf. Gabriel stützte sich gähnend auf einen Ellenbogen.

„Willst du bereits gehen?“, fragte er etwas munterer. Songlian brummte etwas Unverständliches und zog sich an. Es wurde Zeit, sich erneut Far zu stellen.

„Bleib ruhig hier“, sagte er zu Gabriel. „Das Separee bezahle ich.“

Gabriel lächelte ihn an.

„Wann sehe ich dich wieder, So-lian?“, fragte er mit einem Schnurren in der Stimme.

Wenn es nach mir ginge, gar nicht mehr. Aber es ist ja Far, der mich nicht mehr will.

„Sobald es sich ergibt“, antwortete Songlian mit einem Achselzucken. In einem Anflug von schlechtem Gewissen gab er Gabriel einen Kuss. Es war ja nicht seine Schuld, dass er nicht Far war. Und es war ebenfalls nicht Gabriels Schuld, dass sich der Mann seines Herzens auf einmal kühl und unnahbar zeigte.

Far saß mitten im Wohnzimmer auf dem Fußboden, als Songlian zurückkehrte. Er trug noch immer lediglich das Handtuch und schien sich eine komplette Flasche Gin genehmigt zu haben, seit Songlian ihn allein gelassen hatte. Nicht einmal die Möbel hatte er an ihren angestammten Platz zurückgeschoben, dabei war er doch der Ordnungsfanatiker von ihnen.

„Wo warst du?“, fragte Far im scharfen Ton, ohne sich zu ihm umzudrehen. Songlian gab keine Antwort. Er war Far keinerlei Rechenschaft schuldig und er musste sich von ihm auch nicht derartig anschnauzen lassen. Außerdem konnte er seinem Freund kaum erzählen, wo und wie er die Nacht verbracht hatte. Obwohl Far es wahrscheinlich ohnehin wusste. Es war so verflixt schwer, etwas vor ihm geheim zu halten. Kommentarlos drehte sich Songlian um und ging erst einmal duschen. Wenn sich Far in dieser Stimmung befand, hatte es keinen Zweck mit ihm zu reden.

Inzwischen fand Songlian sein eigenes Verhalten idiotisch. Weglaufen war keine Lösung und sein Fremdgehen würde ihr Verhältnis nicht gerade verbessern. Sofern sie noch ein Verhältnis hatten. Far würde die Stunden mit Gabriel gewiss nicht als Therapiesitzung für Vergewaltigungsopfer betrachten. Vielleicht hätte er Far lieber bei den Schultern packen und ihn so lange beuteln sollen, bis er den verdammten Vampir aus ihm herausgeschüttelt und seinen alten Far zurück gehabt hätte.

Während sich Songlian frische Kleider anzog, Mister X fütterte und aus purer Gewohnheit in der Küche ein Frühstück zubereitete, wurde sein schlechtes Gewissen von Minute zu Minute größer. Und zusammen mit dem schlechten Gewissen wuchs die Wut wegen seines unbesonnenen Handelns auf sich selber.

Far folgte ihm in die Küche.

„Es wäre schön zu wissen, wo du dich herumtreibst. Dann kann ich mir beim nächsten Mal eine langwierige Suche ersparen“, erklang seine Stimme vom Schrank her, wo er den Vorrat an Ginflaschen überprüfte. Diese durchaus verdiente Bemerkung brachte Songlians emotionales Fass zum Überlaufen.

„Ich bin eine erwachsene Person. Es war mir nicht klar, dass ich mich neuerdings bei dir abmelden muss, wenn ich einmal allein sein will“, zischte er erbost. „Während der letzten vierhundertzwölf Jahre habe ich schließlich auch auf mich aufpassen können.“

Auf einmal fiel ihm ein, das seine vierhundertzwölf Jahre ohne Fars Hilfe ein abruptes Ende in Lucas’ Haus genommen hätten. Und genau diesen Gedanken konnte er in Fars Gesicht lesen. Wenigstens war Far klug genug, um es nicht laut auszusprechen. Dennoch ärgerte sich Songlian ungemein. Sie starrten einander an. Songlian herausfordernd, Far dagegen angesichts Songlians unerwarteten Wutausbruchs irgendwie hilflos. Endlich wandte sich Far einfach ab und tappte auf nackten Füßen ins Schlafzimmer. Songlian fauchte wie eine überreizte Katze und schaltete als Nächstes den Herd ein, um Spiegeleier zu braten. Unbeherrscht klatschte er die Eier in die Pfanne, um anschließend mit einem Seufzen die Schale herauszusuchen. Diese ganze Situation begann ihm zu entgleiten. Natürlich tat es gut, die Wut herauszulassen. Leider hatte es nur wieder den Falschen erwischt. Am Besten war es, wenn er den Mund hielt.

Kurz darauf kehrte Far angezogen in die Küche zurück. Ein Hauch von Gin umgab ihn, als er sich schweigend an den Esstisch setzte und den Kopf in eine Hand stützte. Songlian ignorierte ihn und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Teebeutel, der in der Kanne verzweifelt um sein Leben schwamm. Nach genau fünf Minuten fischte er den Beutel aus dem Wasser und trug die Kanne zum Tisch hinüber. Während er sich um Toast, Tomaten, Käse und die Eier kümmerte, schenkte Far den Tee in die bereitstehenden Becher ein. Schweigend begannen sie zu essen. Schließlich warf Far frustriert sein Besteck auf den Teller.

„Was tue ich hier eigentlich? Ich brauche das doch gar nicht mehr.“ Er klang ziemlich kläglich.

Songlian sah von seiner Mahlzeit auf. Zu seiner Überraschung entdeckte er einen Anflug von Verzweiflung in Fars Gesicht. Schlagartig verrauchte sein eigener Ärger.

„Zum einen schmeckt es“, sagte er daher leise. „Außerdem fällst du unter den Menschen weniger auf, wenn du ganz normal isst.“

Unsicher sah Far ihn an.

„Oder willst du dich lieber standesgemäß in einen Sarg verkriechen, nur bei Nacht herauskommen und alte Omis erschrecken?“, fragte Songlian weiter. Damit entlockte er Far ein halbherziges Grinsen.

„Ich habe es nicht so mit Särgen. Songlian, sollte ich dich mit meiner dummen Bemerkung auf die Palme gebracht haben, dann tut es mir leid. Ich wollte mich bestimmt nicht mit dir streiten“, seufzte Far schließlich. Immer noch Songlian und nicht Song. Innerlich war es Songlian zum Weinen zumute.

„Schon okay“, murmelte er daher. „Es war mein Fehler. Ich hätte dich nicht anschreien dürfen. Das war ungerecht. Also bin ich es, der sich entschuldigen muss.“ Songlian stocherte in seinem Spiegelei herum.

„Und was machen wir nun den ganzen Tag? Zum Dienst können wir ja nicht“, erkundigte sich Far nach einem Moment unangenehmen Schweigens.

„Wir könnten erneut Jagd auf Ooghi machen“, schlug Songlian vor, um seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen. „Da er seine alte Hülle abgestreift hat, werden wir mit der Suche zwar von vorne anfangen müssen, aber wir könnten bei seinen bisherigen Geschäften einhaken. Sicherlich wird uns Jonathan ein paar Auskünfte besorgen.“ Er bemerkte, dass er Interesse in Far geweckt hatte. Die stahlgrauen Augen hatten einen gefährlichen Schimmer angenommen.

So begehrenswert,dachte Songlian hingerissen und beugte sich rasch über seinen Teller mit dem zermantschten Spiegelei.

„Eine gute Idee. Ich rufe ihn gleich an.“

Songlian deutete auf die Uhr und bremste Far aus: „Gönn ihm wenigstens zwei weitere Stunden, bevor du anrufst. Es ist früh am Morgen, Kollege.“

So langsam kannte sich Far nicht mehr aus. Songlian blieb die ganze Nacht weg und kehrte erst in den frühen Morgenstunden mit dem Geruch eines Fremden auf seiner Haut zurück. Dann motzte er Far auch noch unverschämterweise an, obwohl sich Songlian schließlich denken konnte, dass er sich Sorgen machen würde, wenn er wieder einmal unbeherrscht aus der Wohnung stürmte. Der letzten Aktion dieser Art hatte es Far immerhin zu verdanken, dass er jetzt dauernd mit der Zunge gegen Fangzähne stieß. Und was sollte nun diese blöde Anrede, von wegen Kollege? Wollte Songlian darauf hinweisen, dass er in Far nicht mehr als einen Kollegen sah?

Das war es offensichtlich mit ,ich liebe dich‘,dachte Far und unterdrückte die aufsteigende Enttäuschung.

Macht ja nichts. Diese angebliche Liebe war ja ohnehin eine Einbahnstraße gewesen,redete er sich tröstend ein. Es ist besser, wenn wir es lediglich bei einer Wohngemeinschaft zwischen Arbeitskollegen belassen.

„Far?“

Er schreckte aus seinen trübsinnigen Gedanken auf.

„Hm?“

„Magst du die restlichen Eier?“

Far schüttelte den Kopf und half Songlian den Tisch abzuräumen. Danach zog sich sein Partner an den Schreibtisch in seinem Zimmer zurück, um ein paar geschäftliche Angelegenheiten aufzuarbeiten. Far wusste dagegen im Augenblick nichts mit sich anzufangen. Er hörte eine Zeit lang Musik, doch selbst die rauen Texte der Totenwirker halfen ihm heute nicht beim Abschalten. Also drehte er eine langsame Runde durch die Wohnung, räumte unnötig irgendwelche Dinge von links nach rechts, sah eine halbe Stunde auf die im Morgenlicht daliegende Straße hinunter und schlenderte anschließend gelangweilt zu Songlian hinüber. Der saß auf der Kante des Schreibtischs und studierte eine Landkarte. Als er Far am Türrahmen lehnend bemerkte, schaute er auf.

„Hey“, sagte Far leise.

„Hey.“ Songlians Blick war unergründlich. Ein wenig unsicher trat Far näher.

„Was siehst du dir da an?“, fragte er.

„Nur eine Karte von Irland. Die ist mir eben zufällig in die Hände gefallen.“