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Das vielfach verfilmte und für das Theater und die Oper adaptierte Meisterwerk aus dem Science-Fiction-Genre: grandios, philosophisch und packend! Der Planet Solaris ist von einem Ozean bedeckt, der eigenen physikalischen Gesetzen zu gehorchen scheint. Der Psychologe Kris Kelvin wird geschickt, um die Wissenschaftler, die den Ozean von einer Raumstation aus untersuchen, zu unterstützen. Doch nichts hätte ihn auf die merkwürdigen Ereignisse vorbereiten können, die ihn dort erwarten: Schon bald steht er seiner verstorbenen Geliebten gegenüber, an deren Selbstmord er sich schuldig fühlt. Auch die anderen Besatzungsmitglieder sehen sich mit schmerzhaften unterdrückten Erinnerungen konfrontiert. Kann es sein, dass der Ozean ein eigentümlich intelligentes Wesen ist, das die Vergangenheit heraufbeschwört – aus Gründen, die niemand versteht? Das sagen Amazon-Rezensionen: »Die Geschichte ist seht tiefgründig, man muss sich ein Bisschen drauf einlassen. Sehr zu empfehlen, das Nachwort von Lesch und Zaum! Nicht überspringen, zweimal lesen.« Begeisterter Leser »Der Film war schon toll, das Buch um vieles besser. Als SF-Fan ein Pflichtbuch. « Dagmar »Meine kühnsten Erwartungen sind übertroffen worden. "Solaris" bietet sowohl dramaturgisch wie poetisch und philosophisch-essayistisch etwas, was man sonst nicht leicht findet. Zumindest im Bereich der Science-Fiktion-Literatur ist es einmalig.« StevenStone Mit einem Nachwort von Harald Lesch und Harald Zaun! *** Pflichtlektüre für große Science-Fiction Fans! ***
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Seitenzahl: 363
Solaris
STANISLAW LEM wurde 1921 in Lwow, Polen, geboren. Neben zahlreichen belletristischen Werken verfasste er theoretische Schriften über Science-Fiction und über Gebiete der angewandten Philosophie und der Kybernetik. Sein Schaffen umfasst 28 Werke, deren Gesamtauflage fast 8 Millionen Exemplare erreichte. Er starb im Jahr 2006 in Krakau.
Der Planet Solaris ist von einem Ozean bedeckt, der eigenen physikalischen Gesetzen zu gehorchen scheint. Der Psychologe Kris Kelvin wird geschickt, um die Wissenschaftler, die den Ozean von einer Raumstation aus untersuchen, zu unterstützen. Doch nichts hätte ihn auf die merkwürdigen Ereignisse vorbereiten können, die ihn dort erwarten: Schon bald steht er seiner verstorbenen Geliebten gegenüber, an deren Selbstmord er sich schuldig fühlt. Auch die anderen Besatzungsmitglieder sehen sich mit schmerzhaften unterdrückten Erinnerungen konfrontiert. Kann es sein, dass der Ozean ein eigentümlich intelligentes Wesen ist, das die Vergangenheit heraufbeschwört – aus Gründen, die niemand versteht?
Stanislaw Lem
Mit einem Nachwort von Harald Lesch und Harald Zaun
Aus dem Polnischen von Irmtraud Zimmermann-Göllheim
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2021© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006© 2021 des Nachworts by Harald Lesch und Harald Zaun© für die deutsche Ausgabe Claassen Verlag, Düsseldorf 1981© 1968 by Wydawnictwo Literackie, KrakauTitel der polnischen Originalausgabe: Solaris (Wydawnictwo Literackie, Krakau)Orthografie und Interpunktion wurden behutsam modernisiertUmschlaggestaltung: Brian BarthTitelabbildung: © Brian BarthAutorenfoto: © Ullstein Buchverlage GmbHE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2644-3
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Der Neue
Die Solaristen
Gäste
Sartorius
Harey
Die »Kleine Apokryphe«
Die Beratung
Ungeheuer
Flüssigsauerstoff
Das Gespräch
Die Denker
Träume
Der Erfolg
Das alte Mimoid
Nachwort
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Der Neue
Um neunzehn Uhr Bordzeit stieg ich, vorbei an den Leuten, die den Schacht umstanden, über die Metallsprossen ins Innere der Kapsel hinab. Drinnen war gerade genug Platz, um die Ellbogen wegzuspreizen. Sobald ich das Ende in die Leitung geschraubt hatte, die aus der Wand hervorstand, blähte sich der Raumanzug auf, und von nun an konnte ich nicht die kleinste Bewegung mehr ausführen. Ich stand – oder hing vielmehr – im Luftbett, mit der Metallhülle in eins verfugt.
Als ich den Blick hob, sah ich durch die vorgewölbte Scheibe die Wände des Schachtes und weiter oben Moddards darübergeneigtes Gesicht. Es verschwand sofort, und Finsternis brach herein, denn von oben wurde der schwere Schutzkegel aufgesetzt. Ich hörte den achtmal wiederholten Pfiff der Elektromotoren, die die Schrauben festzogen. Dann – das Zischen der Luft, die in die Amortisatoren eingelassen wurde. Das Auge gewöhnte sich an die Finsternis. Schon sah ich den blassgrünen Umriss des einzigen Kontrollanzeigers.
»Fertig, Kelvin?«, ertönte es in den Kopfhörern.
»Fertig, Moddard«, antwortete ich.
»Sorg dich um nichts. Die Station empfängt dich dann«, sagte er. »Glückliche Reise!«
Ehe ich zum Antworten kam, knirschte etwas über mir, und die Kapsel erbebte. Instinktiv spannte ich die Muskeln an, aber es geschah weiter nichts.
»Wann geht es los?«, fragte ich und hörte etwas rascheln, so als rieselten Körnchen von feinstem Sand auf eine Membran.
»Du fliegst schon, Kelvin. Alles Gute!«, antwortete Moddards nahe Stimme. Bevor ich noch daran glaubte, tat sich gerade vor meinem Gesicht ein breiter Spalt auf, durch den ich die Sterne erblickte. Vergebens bemühte ich mich, Alpha des Wassermanns aufzufinden, zu dem der Prometheus entflog. Der Himmel in dieser Gegend der Galaxis sagte mir nichts, ich kannte auch nicht eine Konstellation, im schmalen Fenster war andauernd funkenblitzender Staub. Ich wartete, wann sich der erste Stern eintrüben sollte. Ich gewahrte es nicht. Sie wurden nur schwächer und schwanden, verschwammen im immer röteren Grund. Ich begriff, dass ich schon in den äußersten Schichten der Lufthülle war. Steif, in die pneumatischen Polster eingemummt, konnte ich nur geradeaus schauen. Noch immer war kein Horizont da. Ich flog und flog und spürte es gar nicht, nur dass meinen Körper langsam, schleichend, Gluthitze überflutete. Draußen regte sich leises, durchdringendes Zwitschern wie von Metall über nasses Glas. Ohne die Ziffern, die im Fensterchen des Kontrollanzeigers sprangen, hätte ich mir gar nicht klargemacht, wie jäh ich fiel. Sterne waren nicht mehr da. Rostrote Helle füllte das Sichtfenster aus. Ich hörte den eigenen Puls schwer gehen, das Gesicht brannte, im Nacken spürte ich den kalten Luftzug von der Klimaanlage; ich bedauerte, dass es mir nicht geglückt war, den Prometheus noch zu sehen – er muss schon außer Sichtweite gewesen sein, als die automatische Vorrichtung das Sichtfenster öffnete.
Die Kapsel zuckte einmal und noch einmal, vibrierte unerträglich, dieses Zittern ging durch alle Isolierhüllen, durch die Luftpolster, und drang tief in meinen Körper – der blassgrüne Umriss des Kontrollanzeigers verwischte sich. Ich betrachtete das ohne Angst. Nicht um am Ziel zugrunde zu gehen kam ich von so weit hergeflogen.
»Station Solaris«, sagte ich. »Station Solaris, Station Solaris! Tut irgendwas. Mir scheint, ich verliere die Stabilität. Station Solaris, hier ein Anflieger. Empfang.«
Und wieder verpasste ich einen wichtigen Moment, das Auftauchen des Planeten. Riesig, flach breitete er sich aus; den Ausmaßen der Streifen auf seiner Oberfläche konnte ich entnehmen, dass ich noch weit war. Oder eigentlich – hoch, denn ich hatte schon diese nicht festsetzbare Grenze hinter mir, wo aus dem Abstand von einem Himmelskörper Höhe wird. Ich fiel. Fortwährend fiel ich. Jetzt spürte ich das, sogar als ich die Augen schloss. Ich öffnete sie gleich wieder, denn ich wollte so viel wie möglich sehen.
Ich wartete einige Male zehn Sekunden Stille ab, dann rief ich neuerlich. Auch diesmal erhielt ich keine Antwort. In den Kopfhörern wiederholte sich salvenweise das Geknatter atmosphärischer Entladungen. Seinen Hintergrund bildete ein Rauschen, so dumpf und tief, als wäre das die eigene Stimme des Planeten. Den orangefarbenen Himmel im Sichtfenster überzog eine Trübung. Sein Glas wurde dunkel; instinktiv krampfte ich mich zusammen, so gut es meine pneumatischen Bandagen zuließen, bis ich in der nächsten Sekunde begriff: Das waren Wolken. Wie hochgeblasen, sauste die Wolkenbank nach oben davon. Ich sank weiter, bald in der Sonne, bald im Schatten, die Kapsel drehte sich um eine senkrechte Achse, und die riesige, wie aufgeschwollene Sonnenscheibe trieb rhythmisch vor meinem Gesicht vorbei, von links erscheinend und rechts untergehend. Auf einmal, durch all das Rauschen und Geknatter, begann mir direkt ins Ohr eine ferne Stimme zu plappern:
»Station Solaris an Anflieger, Station Solaris an Anflieger. Alles in Ordnung. Anflieger unter Kontrolle der Station. Station Solaris an Anflieger, vorbereiten zur Landung zum Zeitpunkt null, ich wiederhole, vorbereiten zur Landung zum Zeitpunkt null, Achtung, Anfang. Zweihundertfünfzig, zweihundertneunundvierzig, zweihundertachtundvierzig …«
Die einzelnen Wörter waren getrennt durch Bruchteile von Miau-Tönen, Anzeichen, dass es kein Mensch war, der sprach. Das war zumindest seltsam. Normalerweise rennt alles, was lebt, auf den Flughafen, wenn jemand Neues ankommt, noch dazu direkt von der Erde. Ich konnte jedoch nicht länger darüber nachdenken, denn der gewaltige Kreis, den die Sonne rund um mich zog, bäumte sich hoch mitsamt der Ebene, auf die ich zuflog; dieser Neigung folgte eine zweite, in die Gegenrichtung; ich schwankte wie das Gewicht eines riesigen Pendels, und gegen den Schwindel ankämpfend, erblickte ich auf dem wie eine Wand hochstehenden, von schmutzig lila und schwärzlichen Streifen gebänderten Planetengefilde ein winziges Schachbrett aus weißen und grünen Pünktchen – die Markierung der Station. Zugleich riss sich etwas mit Geknatter von der Außenseite der Kapsel los: das lange Geschirr des Ringfallschirms, der heftig knisterte; in diesem Geräusch lag etwas unaussprechlich Irdisches – erstmals, nach so vielen Monaten, das Rauschen von wirklichem Wind.
Alles begann nun sehr schnell zu gehen. Bisher hatte ich nur gewusst, dass ich fiel. Jetzt sah ich es. Das weiß-grüne Schachbrett wuchs überstürzt, schon sah ich, es war aufgemalt auf einem länglichen, walfischhaften, silbrig glänzenden Rumpf mit seitlich wegstehenden Nadeln von Funkmessgeräten, mit Spalieren dunklerer Fensteröffnungen, und dieser metallene Koloss ruhte nicht auf der Oberfläche des Planeten, sondern hing über ihr und zog über tintig schwarzen Grund den eigenen Schatten mit, einen elliptischen Fleck noch tieferer Schwärze. Gleichzeitig gewahrte ich die violett angelaufenen Furchen des Ozeans, die schwache Bewegung zeigten, zugleich stiegen die Wolken nach oben fort, am Saum von blendendem Scharlach umfasst, der Himmel zwischen ihnen wurde fern und flach, bräunlich orangefarben, und alles verwischte sich: Ich geriet ins Schlingern. Bevor ich zum Rufen kam, brachte ein kurzer Schlag die Kapsel in senkrechte Lage zurück; im Sichtfenster funkelte in quecksilbrigem Licht, gewellt bis an den rauchigen Horizont, der Ozean; die knarrenden Leinen und Ringe des Fallschirms hakten sich plötzlich los und flogen über den Wellen dahin, vom Wind getragen, und die Kapsel schaukelte weich, mit dieser eigentümlichen verlangsamten Bewegung, wie gewöhnlich in einem künstlichen Kraftfeld, und senkte sich hinunter. Das Letzte, was ich noch sehen konnte, waren die gegitterten Fliegerkatapulte und zwei wohl etliche Stock hoch aufragende Spiegel fein durchbrochener Radioteleskope. Etwas stoppte die Kapsel mit dem durchdringenden Laut von Stahl, der elastisch gegen Stahl schlägt, etwas öffnete sich unter mir, und mit einem gedehnten, schnaufenden Seufzer beendete die metallene Nussschale, in der ich aufrecht feststeckte, ihre hundertachtzig Kilometer lange Reise.
»Station Solaris. Null und null. Landung beendet. Ende«, vernahm ich die tote Stimme der Kontrollvorrichtung. Mit beiden Händen (ich spürte einen unbestimmten Druck auf der Brust, und die Eingeweide wurden als unangenehme Last spürbar) fasste ich den Griff hinter meinen Schultern und trennte die Kontakte. Die grüne Aufschrift ERDE leuchtete auf, und die Wand der Kapsel öffnete sich; das pneumatische Bett stieß mich leicht in den Rücken, sodass ich, um nicht zu fallen, einen Schritt vorwärts machen musste.
Mit leisem Zischen, fast wie mit einem resignierten Seufzer, verließ die Luft die Windungen des Raumanzugs. Ich war frei.
Ich stand unter einem silbrigen, wie ein Kirchenschiff hohen Trichter. Die Wände herab liefen Bündel farbiger Rohre und verschwanden in kleinen runden Schächten. Ich wandte mich um. Die Ventilationskanäle röhrten und sogen die Restchen giftiger Planetenatmosphäre ein, die während der Landung hier eingedrungen waren. Leer, wie ein geplatzter Kokon, stand die zigarrenförmige Kapsel auf einem Becken, das in eine stählerne Erhöhung eingelassen war. Die Außenbleche waren schmutzig braun verrußt. Ich ging eine kleine Rampe hinab. Danach war auf das Metall eine raue Plastikschicht aufgespritzt. An den Stellen, wo gewöhnlich die fahrbaren Raketenheber entlangrollten, war sie bis auf den nackten Stahl abgewetzt. Auf einmal verstummten die Gasverdichter der Ventilatoren, und völlige Stille trat ein. Ich schaute ein wenig hilflos umher, wartete auf das Auftauchen irgendeines Menschen, aber noch immer kam niemand. Nur ein Neonpfeil wies flammend auf ein lautlos gleitendes Fließband. Ich betrat es. Das Gewölbe der Halle verlief in einer schönen Parabel-Linie nach unten und ging in die Röhre des Korridors über. In seinen Nischen türmten sich Stöße von Flaschen für komprimierte Gase, von Tanks, Ringfallschirmen, Kisten, alles in Unordnung hingeschmissen, wie es kam. Auch das gab mir zu denken. Das Fließband endete bei einer runden Erweiterung des Korridors. Hier herrschte noch größere Unordnung. Unter einem Berg Blechkannen verströmte eine Pfütze öliger Flüssigkeit. Ein unangenehmer, starker Geruch erfüllte die Luft. Nach verschiedenen Seiten gingen Schuhspuren, deutlich abgedrückt in diesem klebrigen Saft. Zwischen den Blechbehältern kugelten Schlangen weißer Fernschreiberstreifen, zerrissene Papiere und Müll, das sah aus wie aus den Kabinen herausgefegt. Und wieder leuchtete ein grüner Anzeiger auf und verwies mich zur mittleren Tür. Dahinter verlief ein so enger Korridor, dass darin kaum zwei Leute aneinander vorbeikonnten. Licht gaben die oberen Fenster, gegen den Himmel gerichtet, mit linsenartigen Glasscheiben. Noch eine Tür, im Schachbrettmuster weiß und grün gestrichen. Sie stand einen Spaltbeit offen. Ich trat ein. Die halbkugelförmige Kabine hatte ein großes Panoramafenster; in ihm flammte der nebelverhängte Himmel. Unten verschoben sich lautlos die schwärzlichen Hügel der Wellen. In den Wänden waren lauter geöffnete Schränkchen. Sie waren angefüllt mit Instrumenten, Büchern, Trinkgläsern mit eingetrocknetem Bodensatz, verstaubten Thermosflaschen. Auf dem schmutzigen Fußboden standen fünf oder sechs mechanische ›marschierende Tischlein‹, dazwischen einige Lehnsessel, schlaff, denn die Luft war aus ihnen ausgelassen. Nur einer war aufgeblasen, mit zurückgebogener Lehne. In ihm saß ein kleiner, schmächtiger Mensch mit sonnverbranntem Gesicht. Die Haut schälte sich ihm in ganzen Fetzen von der Nase und den Jochbeinen. Ich kannte ihn. Das war Snaut, Gibarians Stellvertreter, ein Kybernetiker. Im solaristischen Almanach hatte er seinerzeit ein paar recht originelle Artikel veröffentlicht. Gesehen hatte ich ihn noch nie. Er trug ein Netzhemd, bei dem die weißen Haare auf der flachen Brust einzeln durch die Maschen hervorschlüpften, und eine einstmals weiß gewesene, auf den Knien fleckige und von Chemikalien verätzte Leinenhose mit zahlreichen Taschen wie bei einem Monteur. In den Händen hielt er eine Plastikbirne, so eine, woraus man auf Raumschiffen ohne künstliche Gravitation trinkt. Er schaute mich an, wie von blendendem Licht geschockt. Die Birne entfiel den gelockerten Fingern und hüpfte ein paarmal nach Art der Luftballons. Ein wenig von einer durchsichtigen Flüssigkeit rann heraus. Langsam wich ihm alles Blut aus dem Gesicht. Ich war zu verblüfft, um etwas zu äußern, und die schweigende Szene dauerte an, bis seine Angst mich irgendwie auf unfassliche Weise ansteckte. Ich machte einen Schritt. Und er duckte sich im Lehnsessel.
»Snaut …«, flüsterte ich. Er zuckte, wie unter einem Hieb. Schaute mich mit unbeschreiblichem Abscheu an, krächzte hervor:
»Ich kenn dich nicht, ich kenn dich nicht, was willst du …?«
Die ausgeschüttete Flüssigkeit verdunstete schnell. Ich spürte den Geruch von Alkohol. Trank der? War er betrunken? Aber warum fürchtete er sich so? Ich stand immer noch in der Mitte der Kabine. Ich hatte weiche Knie, und meine Ohren waren wie mit Watte verstopft. Den Druck des Fußbodens unter den Sohlen empfand ich als etwas noch nicht völlig Sicheres. Jenseits der gebogenen Fensterscheibe bewegte sich rhythmisch der Ozean. Snaut wandte die blutunterlaufenen Augen nicht von mir. Die Angst schwand aus seinem Gesicht, aber was nicht verschwand, war unsäglicher Ekel.
»Was hast du …?«, fragte ich halblaut. »Bist du krank?«
»Sorgst du dich …«, sagte er dumpf. »Aha. Sorgen wirst du dich, was? Aber warum um mich? Ich kenn dich nicht.«
»Wo ist Gibarian?«, fragte ich. Eine Sekunde lang blieb ihm die Luft weg, seine Augen wurden wieder glasig, etwas strahlte in ihnen auf und verlosch.
»Gi…giba«, stotterte er. »Nein! Nein!!!«
Er schüttelte sich in lautlosem, idiotischem Gekicher, das plötzlich aussetzte.
»Zu Gibarian bist du gekommen …?«, sagte er fast ruhig. »Zu Gibarian? Was willst du mit ihm machen?«
Er schaute mich an, als hätte ich plötzlich aufgehört, für ihn gefährlich zu sein; in seinen Worten und noch mehr in ihrem Tonfall lag etwas wie gehässige Beleidigung.
»Was sagst du da?«, stammelte ich ganz benebelt. »Wo ist er?«
Er war starr.
»Das weißt du nicht …?«
»Er ist betrunken«, dachte ich. Sinnlos betrunken. Mich packte wachsender Zorn. Eigentlich hätte ich weggehen sollen, aber mir riss die Geduld.
»Reiß dich zusammen!«, donnerte ich. »Woher kann ich wissen, wo er ist, wenn ich den Moment erst eingeflogen bin! Was ist mit dir los, Snaut!!!«
Die Kinnlade klappte ihm herab. Wieder blieb ihm einen Moment lang der Atem weg, aber irgendwie anders, ein plötzlicher Glanz erschien in den Augen. Mit zitternden Händen fasste er die Armlehnen des Sessels und erhob sich mühsam, dass die Gelenke knackten.
»Was?«, sagte er fast ernüchtert. »Eingeflogen? Von wo bist du eingeflogen?«
»Von der Erde«, antwortete ich wütend. » Vielleicht hast du schon von ihr gehört? Sieht aus, als hättest du nicht!«
»Von der Ee… lieber Himmel … so bist du also – Kelvin?!«
»Ja. Was schaust du so? Was ist daran so merkwürdig?«
»Nichts«, sagte er und klapperte schnell mit den Liddeckeln. »Nichts.«
Er rieb sich die Stirn.
»Kelvin, entschuldige, das ist nichts, weißt du, einfach die Überraschung. Ich war nicht darauf gefasst.«
»Was heißt, du warst darauf nicht gefasst? Ihr habt doch vor Monaten die Nachricht bekommen, und Moddard hat heute noch telegrafiert, von Bord des Prometheus …«
»Ja. Ja … gewiss, bloß, siehst du, hier herrscht ein gewisser … Wirrwarr.«
»Allerdings«, antwortete ich trocken. »Das ist schwer zu übersehen.«
Snaut wanderte um mich herum, als überprüfte er das Aussehen meines Raumanzugs, des gewöhnlichsten von der Welt, mit dem Zaumzeug von Leitungen und Kabeln auf der Brust. Hustete ein paarmal. Berührte die knochige Nase. »Vielleicht willst du ein Bad nehmen …? Das wird dir guttun. Die blaue Tür, auf der anderen Seite.«
»Danke. Ich kenne den Plan der Station.«
»Vielleicht hast du Hunger …?«
»Nein. Wo ist Gibarian?«
Er trat ans Fenster, als hätte er meine Frage nicht gehört. Den Rücken zu mir gewandt, sah er wesentlich älter aus. Das kurz geschorene Haar war weiß, den sonnverbrannten Nacken zeichneten Falten, tief wie Schnitte. Vor dem Fenster glitzerten die großen Kämme der Wellen, die sich so langsam hoben und senkten, als sollte der Ozean gerinnen. Beim Hinschauen gewann man den Eindruck, die Station verschöbe sich eine Spur seitwärts, als ob sie von einem unsichtbaren Untersatz glitte. Dann kehrte sie ins Gleichgewicht zurück und ging mit ebenso träger Neigung nach der anderen Seite. Aber das war wohl Täuschung. Fetzen schleimigen Schaums in der Farbe von Blut sammelten sich in den Kesseln zwischen den Wellen. Einen Augenblick lang spürte ich einen flauen Druck in der Magengrube. Die trockene Ordnung an Bord des Prometheus erschien mir als etwas Wertvolles, unwiederbringlich Verlorenes.
»Hör zu«, rührte sich unverhofft Snaut, »momentan bin nur ich …« Er wandte sich um. Rieb sich nervös die Hände. »Du wirst dich mit meiner Gesellschaft zufriedengeben müssen. Vorläufig. Sag Ratz zu mir. Du kennst mich nur vom Foto, aber das macht nichts, alle sagen so. Ich fürchte, dagegen ist nichts zu wollen. Wenn einer im Übrigen Eltern mit so kosmischen Ambitionen gehabt hat wie ich, dann klingt Ratz erst so richtig …«
»Wo ist Gibarian?«, fragte ich hartnäckig noch einmal. Er blinzelte.
»Tut mir leid, dass ich dich so empfangen habe. Das … ist nicht nur meine Schuld. Ich hab ganz vergessen, hier hat sich viel abgespielt, weißt du …«
»Ach, in Ordnung«, antwortete ich. »Genug davon. Also was ist mit Gibarian? Er ist nicht in der Station? Er ist irgendwohin geflogen?«
»Nein«, antwortete er. Schaute in den Winkel, der mit Kabelspulen vollgestellt war. »Er ist nirgends hin geflogen. Und wird nicht fliegen. Dadurch eben … unter anderem …«
»Was?«, fragte ich. Immer noch waren mir die Ohren verstopft, und ich glaubte schlechter zu hören. »Was soll das heißen? Wo ist er?«
»Du weißt es eh schon«, sagte er in ganz anderem Ton. Sah mir kalt in die Augen, dass mich ein Frösteln überlief. Vielleicht war er auch betrunken, aber er wusste, was er sagte.
»Da war was …?«
»Da war was.«
»Unfall?«
Er nickte. Er bejahte nicht nur, er hieß es auch gut, wie ich reagierte.
»Wann?«
»Heute vor Tag.«
Merkwürdig, ich verspürte keinen Schock. Dieser ganze kurze Austausch einsilbiger Fragen und Antworten beruhigte mich eher durch seine Sachlichkeit. Ich bildete mir ein, dass ich Snauts zuvor unverständliches Verhalten jetzt schon begriff.
»Wie?«
»Zieh dich um, räum die Sachen ein und komm wieder her … in … sagen wir, in einer Stunde.«
Ich zauderte einen Moment.
»Gut.«
»Wart«, sagte er, als ich mich zur Tür wandte. Er schaute mich eigentümlich an. Ich sah: Was er sagen wollte, das wollte ihm nicht über die Lippen.
»Wir waren drei, und jetzt mit dir sind wir wieder drei. Kennst du Sartorius?«
»Wie dich, vom Foto her.«
»Er ist oben im Laboratorium, und ich nehme nicht an, dass er vor der Nacht von dort herauskommt, aber … jedenfalls erkennst du ihn. Wenn du sonst jemanden sehen solltest, verstehst du, nicht mich und nicht Sartorius, verstehst du, dann …«
»Was, dann?«
Ich wusste nicht, ob ich träumte. Vor dem Hintergrund der schwarzen Wellen, die im Licht der sinkenden Sonne blutig glitzerten, setzte er sich in den Lehnsessel, ließ den Kopf hängen wie zuvor und schaute zur Seite, auf eine Spule mit aufgewickeltem Kabel.
»Dann … mach gar nichts.«
Ich brauste auf. »Wen kann ich sehen? Ein Gespenst?!« »Ich verstehe dich. Du denkst, ich bin verrückt geworden. Nein. Ich bin nicht verrückt geworden. Ich kann dir das nicht anders sagen … vorläufig. Im Übrigen, vielleicht … geschieht gar nichts. Jedenfalls denk daran. Ich hab dich gewarnt.«
»Wovor!? Wovon redest du?«
»Beherrsch dich«, er redete hartnäckig weiter. »Benimm dich, wie wenn … sei auf alles gefasst. Das ist unmöglich, ich weiß. Versuch es trotzdem. Das ist der einzige Ausweg. Sonst weiß ich keinen.«
»Aber WAS werde ich sehen!!!« Ich schrie fast. Kaum hielt ich mich davor zurück, ihn an den Schultern hochzureißen und tüchtig zu schütteln, wie er so dasaß, in den Winkel starrte, mit diesem erschöpften sonnverbrannten Gesicht, und mit sichtlicher Anstrengung jedes einzelne Wort aus sich herauswürgte.
»Ich weiß nicht. In gewissem Sinne hängt das von dir ab.«
»Halluzinationen?«
»Nein. Das ist – real. Nicht … attackieren. Denk daran.«
»Was sagst du da?!«, äußerte ich, und die Stimme war nicht meine.
»Wir sind nicht auf der Erde.«
»Polytheria? Aber die sind überhaupt nicht menschenähnlich!«, rief ich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um ihn herauszureißen aus diesem Starren auf einen Punkt, wo er eine das Blut in den Adern einfrierende Unsinnigkeit herauszulesen schien.
»Deshalb ist es eben so furchtbar«, sagte er leise. »Denk daran: Nimm dich in Acht!«
»Was ist mit Gibarian geschehen?« Er antwortete nicht.
»Was macht Sartorius?«
»Komm in einer Stunde.«
Ich wandte mich um und ging. Während ich die Tür öffnete, schaute ich noch einmal zu ihm hin. Er saß, das Gesicht in den Händen, klein, geduckt, in der fleckigen Hose. Erst jetzt bemerkte ich: An den Knöcheln beider Hände hatte er verkrustetes Blut.
Die Korridorröhre war leer. Ich stand eine Weile vor der geschlossenen Tür und horchte. Die Wände mussten dünn sein, von draußen klang das Wimmern des Windes durch. Auf der Türplatte präsentierte sich ein etwas schräg und schlampig aufgeklebtes rechteckiges Stück Pflaster und darauf mit Bleistift die Aufschrift »Mensch«. Ich schaute dieses undeutlich gekritzelte Wort an. Einen Moment lang wollte ich zu Snaut zurückkehren, aber ich sah ein, das war unmöglich.
Die irre Warnung tönte mir noch in den Ohren. Ich bewegte mich, und die Schultern beugte mir das unerträgliche Gewicht des Raumanzugs. Leise, so als versteckte ich mich unwissentlich vor einem unsichtbaren Beobachter, kehrte ich zurück in den runden Raum mit den fünf Türen. Darauf befanden sich Schilder: Dr. Gibarian, Dr. Snaut, Dr. Sartorius. Auf der vierten war keines. Ich zögerte, dann drückte ich leicht den Griff und öffnete sie langsam. Als sie aufschwenkte, erlebte ich das an Gewissheit grenzende Gefühl, dass dort jemand war. Ich trat ein.
Niemand war da. Das gleiche vorgewölbte Fenster, nur etwas kleiner, war auf den Ozean gerichtet, der hier – gegen die Sonne – fettig glänzte, so als flösse von den Wellen hinunter gerötetes Öl. Scharlachener Widerschein erfüllte das ganze Zimmer, das einer Schiffskabine ähnlich war. Auf einer Seite standen Bücherregale, zwischen ihnen war ein mit Kardans befestigtes Bett senkrecht an die Wand geschnallt, auf der anderen Seite waren lauter Schränkchen, dazwischen hingen auf Nickelrahmen streifenweise zusammengeklebte Flugaufnahmen und in Metallgriffen Kolben und Reagenzgläser, alle mit Watte zugestopft. Unter dem Fenster waren weiß emaillierte Schachteln in zwei Reihen aufgestellt, so, dass man kaum zwischen ihnen durchkonnte. Bei manchen war der Deckel gelüpft – sie waren angefüllt mit Unmengen von Instrumenten, Plastikschläuchen; in beiden Ecken befanden sich Hähne, ein Rauchabzug, Tiefkühlfächer; das Mikroskop stand auf dem Fußboden, es fand nicht mehr Platz auf dem großen Tisch neben dem Fenster. Als ich mich umwandte, sah ich gleich bei der Eingangstür einen bis zur Decke reichenden, nicht ganz geschlossenen Schrank voll Overalls, Arbeits- und Schutzschürzen, in den Fächern Wäsche, zwischen den Schäften der Strahlenschutzstiefel glitzerten Aluminiumflaschen für die tragbaren Sauerstoffgeräte. Zwei Geräte samt den Masken baumelten, ans Geländer des hochgeklappten Bettes angehängt. Überall herrschte das gleiche nur oberflächlich und wie in Eile irgendwie geordnete Chaos. Ich sog prüfend die Luft ein und spürte einen schwachen Hauch von chemischen Reagenzien und eine Spur von einem scharfen Geruch – das war doch nicht etwa Chlor? Instinktiv suchte ich mit den Augen die vergitterten Ventilationsöffnungen in den Winkeln an der Decke. Die Papierstreifen, die an ihre Rahmen geklebt waren, flatterten sanft, zum Zeichen, dass die Kompressoren funktionierten und normale Luftzirkulation in Gang hielten. Ich trug Bücher, Apparate und Instrumente von zwei Stühlen in die Winkel und verstaute das, wie es nur ging, bis rund um das Bett zwischen dem Schrank und den Regalen verhältnismäßig freier Raum entstand. Ich zog den Ständer heran, um den Raumanzug aufzuhängen, nahm die Schieber der Reißverschlüsse zwischen die Finger, ließ aber gleich wieder los. Irgendwie konnte ich mich nicht entschließen, den Raumanzug abzuwerfen, so als sollte ich dadurch wehrlos werden. Noch einmal überblickte ich das ganze Zimmer, prüfte, ob die Tür gut zugeschnappt war, und da sie kein Schloss hatte, schob ich nach kurzem Zögern die zwei schwersten Schachteln vor. Solcherart provisorisch verbarrikadiert, befreite ich mich durch dreimaliges Zerren aus meiner schweren, knarrenden Hülle. Der schmale Spiegel an der Innenseite des Schranks zeigte einen Teil des Zimmers. Aus dem Augenwinkel erfasste ich dort irgendeine Bewegung, ich fuhr hoch, aber das war mein eigenes Spiegelbild. Das Trikot unter dem Raumanzug war durchgeschwitzt. Ich warf es ab und drückte gegen den Schrank. Er glitt zur Seite, in der Nische dahinter erglänzten die Wände eines winzigen Badezimmers. Auf dem Fußboden, unter der Brause, ruhte eine stattliche flache Kassette. Ich trug sie nicht ohne Mühe ins Zimmer hinaus. Als ich sie auf den Fußboden stellte, sprang der Deckel auf wie durch eine Feder, und ich erblickte Fächer voll absonderlicher Exponate: lauter karikierte oder grob in dem dunklen Metall skizzierte Instrumente, zum Teil analog zu denen, die in den Schränkchen lagen. Alle waren unbrauchbar, unfertig geformt, abgerundet, angeschmolzen, wie aus einem Brand geborgen. Und das Merkwürdigste: Das gleiche Gepräge von Zerstörung trugen auch die Griffe, die aus Cermet waren, also praktisch unschmelzbar. In keinem Laboratoriumsofen hätte sich ihre Schmelztemperatur erzielen lassen – höchstens im Inneren eines Atommeilers. Aus der Tasche meines aufgehängten Raumanzugs holte ich den kleinen Strahlungsmesser, aber die schwarze Schnauze schwieg, als ich sie den Trümmern näherte.
Ich hatte nur Slip und ein Netzhemd an. Beides schmiss ich auf den Fußboden wie Fetzen und sprang nackt unter die Brause. Das Aufschlagen des Wassers empfand ich wie eine Erleichterung. Ich wand mich unter dem Guss harter, heißer Strahlen, massierte mich, prustete, alles irgendwie übertrieben, so als schüttelte und schleuderte ich aus mir diese ganze trübe, mit Verdächtigungen ansteckende Ungewissheit fort, die die Station überflutete.
Ich suchte im Schrank einen leichten Trainingsanzug aus, der sich auch unter dem Raumanzug tragen ließ. In die Taschen räumte ich meine ganze spärliche Habe um. Zwischen den Blättern des Notizbuches spürte ich etwas Hartes. Das war mein Wohnungsschlüssel von der Erde, der sich ich weiß nicht wie hierher verirrt hatte. Ich drehte ihn eine Weile zwischen den Fingern und wusste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Endlich legte ich ihn auf den Tisch. Mir fiel ein, dass ich vielleicht irgendeine Waffe brauchen konnte. Mein Universal-Taschenmesser war bestimmt keine, aber ich hatte nichts anderes und befand mich noch nicht in einem solchen Geisteszustand, dass ich mich auf die Suche nach einem Strahlenwerfer oder dergleichen gemacht hätte. Ich setzte mich auf ein Metallstühlchen mitten in dem leeren Raum, weit weg von allen Sachen. Ich wollte allein sein. Zufrieden stellte ich fest, dass ich noch über eine halbe Stunde Zeit hatte; nichts zu wollen, Gewissenhaftigkeit beim Einhalten aller Verpflichtungen liegt in meiner Natur, gleichviel, ob es um Wichtiges oder Unbedeutendes geht. Die Zeiger auf dem Vierundzwanzig-Stunden-Zifferblatt standen auf sieben. Die Sonne ging unter. Sieben Uhr Ortszeit, das war zwölf an Bord des Prometheus. Die Solaris musste auf Moddards Bildschirmen schon auf das Ausmaß eines Fünkchens zusammenschrumpfen und sich in nichts von den Sternen unterscheiden. Aber was konnte mich der Prometheus angehen? Ich schloss die Augen. Völlige Stille herrschte, abgesehen von dem Miauen in den Röhren, das in regelmäßigen Abständen erscholl. Im Bad tickte leise das Wasser, das aufs Porzellan tröpfelte.
Gibarian war tot: Wenn ich richtig verstand, was Snaut gesagt hatte, dann war kaum mehr als ein halber Tag seit Gibarians Tod vergangen. Was hatten sie mit dem Körper gemacht? Begraben? Stimmt, auf diesem Planeten ließ sich das nicht machen. Ich dachte darüber sachlich längere Zeit nach, so als wäre das Schicksal des Leichnams das Wichtigste, bis ich mir die Unsinnigkeit dieser Überlegungen bewusst machte, aufstand und anfing, diagonal durchs Zimmer auf und ab zu gehen, und dabei mit der Fußspitze die wirr verstreuten Bücher anstieß, dann eine kleine, leere Feldtasche; ich bückte mich und hob sie auf. Sie war nicht leer. Sie enthielt eine Flasche aus dunklem Glas, so leicht, als wäre sie aus Papier geblasen. Ich schaute durch sie hindurch auf das Fenster, in das düster rote, von schmutzigen Nebeln verqualmte letzte Abendlicht. Was war mit mir los? Warum beschäftigte ich mich mit jedem Blödsinn, mit jedem unwichtigen Kleinkram, der mir unterkam?
Ich zuckte zusammen, denn das Licht schaltete sich ein. Selbstverständlich eine Fotozelle, die für die einfallende Dämmerung empfindlich war. Ich war voll Erwartung, die Anspannung wuchs bis zu dem Grad, dass ich hinter mir keinen leeren Raum haben wollte. Ich beschloss, dagegen anzukämpfen. Ich rückte den Stuhl zu den Regalen. Ich zog den nur allzu wohlbekannten zweiten Band der alten Monografie »Die Geschichte der Solaris« von Hughes und Eugl heraus und begann darin zu blättern, den dicken, steifen Buchrücken aufs Knie gestützt.
Die Entdeckung der Solaris erfolgte nahezu hundert Jahre, bevor ich geboren wurde. Der Planet kreist um zwei Sonnen, eine rote und eine blaue. Über vierzig Jahre lang näherte sich ihm kein Raumschiff, die Gamov-Shapley’sche Theorie über die Unmöglichkeit der Entstehung von Leben auf Planeten von Doppelsternen galt damals als erwiesen. Die Bahnen solcher Planeten ändern sich unentwegt infolge des Wechselspiels der Massenanziehungen, das vor sich geht, während die beiden Sonnen einander umkreisen.
Die entstehenden Perturbationen kürzen und längen abwechselnd die Bahn des Planeten, und sollten Urkeime von Leben entstehen, so unterliegen sie der Zerstörung durch glutheiße Strahlung oder auch durch eisige Kälte. Diese Änderungen vollziehen sich im Zeitraum von Jahrmillionen, also der astronomischen oder biologischen Größenordnung nach (da die Evolution Hunderte Millionen, wenn nicht eine Milliarde von Jahren erfordert) – in sehr kurzer Zeit.
Nach den ursprünglichen Berechnungen sollte sich die Solaris im Lauf von fünfhunderttausend Jahren bis auf die Distanz von einer halben astronomischen Einheit ihrer roten Sonne nähern und nach einer weiteren Million – in ihren Glutenabgrund stürzen.
Aber schon nach etwas mehr als zehn Jahren überzeugte man sich, dass die Solarisbahn keineswegs die erwarteten Änderungen aufwies, ganz als ob sie konstant wäre, so konstant wie die Bahnen der Planeten unseres Sonnensystems.
Man wiederholte, nun schon mit höchster Genauigkeit, die Beobachtungen und Messungen, die nur bestätigten, was bekannt war: Die Solaris besitzt eine unbeständige Umlaufbahn.
Von einem unter etlichen Hundert neu entdeckten Planeten pro Jahr, die mit Notizen von ein paar Zeilen, mit Angabe der Elemente ihrer Bewegung, in die großen Statistiken einbezogen werden, avancierte die Solaris nun in den Rang eines besonderer Beachtung würdigen Himmelskörpers.
Und so kreiste denn an die vier Jahre nach dieser Entdeckung Ottenskjolds Expedition um den Planeten und untersuchte ihn vom Laokoon und von zwei Begleitschiffen aus. Diese Expedition hatte den Charakter provisorischer, improvisierter Auskundschaftung, zumal sie nicht zum Landen ausgerüstet war. Sie brachte in Äquator- und Pol-Umlaufbahnen eine größere Anzahl von Beobachtungssatelliten an, deren Hauptaufgabe die Messung der Gravitationspotenziale war. Überdies wurden die fast gänzlich vom Ozean bedeckte Planetenoberfläche und die wenigen aus seinem Niveau herausragenden Hochebenen erforscht. Diese erreichen insgesamt nicht den Flächeninhalt Europas, obwohl die Solaris einen um zwanzig Prozent größeren Durchmesser hat als die Erde. Diese unregelmäßig verstreuten Brocken von felsigem und ödem Land häufen sich vor allem auf der Südhalbkugel. Man stellte auch die Zusammensetzung der Atmosphäre fest, die keinen Sauerstoff enthält, und maß überaus genau die Dichte des Planeten sowie die Albedo und andere astronomische Elemente. Wie erwartet, wurden keine Spuren von Leben aufgefunden, weder an Land, noch gewahrte man welche am Ozean.
Während weiterer zehn Jahre zeigte die Solaris, nun schon im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Observatorien dieses Bereichs, erstaunliche Tendenz zur Beibehaltung ihrer außer allem Zweifel gravitationsmäßig unbeständigen Umlaufbahn. Eine Zeit lang roch die Angelegenheit nach Skandal, denn die Schuld an einem solchen Beobachtungsergebnis suchte man (immer aus Sorge um das Wohl der Wissenschaft) bald auf bestimmte Leute zu schieben, bald auf die Rechenanlagen, deren sie sich bedienten.
Der Mangel an Geldmitteln zögerte die Entsendung einer eigentlichen Solaris-Expedition weitere drei Jahre hinaus, bis zu dem Zeitpunkt, da Shannahan die Besatzung komplett hatte und vom Institut drei Einheiten der Tonnage C, Kosmodromklasse, erlangte. Anderthalb Jahre vor Eintreffen der Expedition, die vom Gebiet des Alpha des Wassermanns aus startete, brachte vonseiten des Instituts eine zweite Explorationsflotte ein automatisches Satelloid, Luna 247, in eine Solaris-Umlaufbahn. Nach drei jahrzehntelang auseinanderliegenden Rekonstruktionen arbeitet dieses Satelloid heute noch. Die Daten, die es sammelte, bestätigten endgültig, was Ottenskjolds Expedition wahrgenommen hatte: den aktiven Charakter der Ozeanbewegungen.
Ein Schiff Shannahans verblieb auf einer hohen Umlaufbahn, zwei dagegen landeten nach einleitenden Vorbereitungen auf einem felsigen Stück Land, das beim Südpol der Solaris etwa sechshundert Quadratmeilen einnimmt. Die Arbeiten der Expedition waren nach achtzehn Monaten beendet und verliefen günstig, bis auf einen Unglücksfall, der durch Fehlfunktion der Apparate verursacht wurde. Innerhalb des Wissenschaftlerteams kam es jedoch zur Aufspaltung in zwei gegnerische Lager. Zum Gegenstand des Streits wurde der Ozean. Aufgrund der Analysen wurde er als organisches Gebilde erkannt (ihn lebendig zu nennen wagte damals noch niemand). Während jedoch die Biologen in ihm ein primitives Gebilde sahen – eine Art gigantischen Verband, also gleichsam eine einzige monströs auseinandergewachsene flüssige Zelle (aber sie nannten ihn »präbiologische Formation«), die den ganzen Globus mit einem gallertigen, stellenweise eine Tiefe von mehreren Meilen erreichenden Mantel überzogen hat –, behaupteten Astronomen und Physiker, das müsse eine außerordentlich hoch organisierte Struktur sein, die möglicherweise an Verschlungenheit des Aufbaus die irdischen Organismen übertreffe, da sie doch imstande sei, aktiv die Ausformung der Planetenbahn zu beeinflussen. Es wurde nämlich keinerlei andere Ursache entdeckt, die das Verhalten der Solaris erklärt hätte; überdies fanden die Planetarphysiker eine Beziehung zwischen bestimmten Prozessen des Plasma-Ozeans und dem örtlich gemessenen Gravitationspotenzial, das sich in Abhängigkeit vom Ozean-eigenen »Stoffwechsel« änderte.
So brachten also Physiker und nicht Biologen die paradoxe Formulierung »plasmatische Maschine« vor; darunter verstanden sie ein Gebilde, in unserem Sinne vielleicht auch unbelebt, doch fähig, zielbezogene Tätigkeiten zu unternehmen – fügen wir gleich hinzu: in astronomischer Größenordnung.
In diesem Streit, der innerhalb von Wochen die bedeutendsten Autoritäten sämtlich in seinen Wirbel hineinzog, geriet zum ersten Mal seit achtzig Jahren die Gamov-Shapley’sche Doktrin ins Wanken.
Eine Zeit lang suchte man sie noch zu verteidigen, indem man behauptete, der Ozean habe nichts mit Leben zu tun, er sei nicht einmal ein »para«- oder »prä«-biologisches Gebilde, sondern eine geologische Formation, gewiss ungewöhnlich, aber nur zur Fixierung der Solarisbahn durch Schwerkraftänderungen fähig, wobei man sich auf die Le-Chatelier’sche Regel berief.
Solchem Konservatismus zum Trotz erwuchsen Hypothesen, wie etwa eine der besser ausgearbeiteten, von Civito und Vitta, der Ozean sei das Ergebnis dialektischer Entwicklung: Aus seiner Vorform, dem Ur-Ozean, einer Lösung träge reagierender chemischer Körper, vermochte er unter dem Druck der Verhältnisse (das heißt, der Bahnänderungen, die seine Existenz bedrohten) ohne alle Zwischenstufen irdischer Entwicklung, also ohne das Entstehen von Ein- und Vielzellern, ohne pflanzliche und tierische Evolution, ohne das Auftreten von Nervensystem und Gehirn, gleich in das Stadium des »homöostatischen Ozeans« umzuspringen. Das heißt mit anderen Worten, dass er sich nicht wie die irdischen Organismen Hunderte Jahrmillionen lang an die Umwelt anpasste, um erst nach einer so enormen Zeitspanne eine intelligente Rasse zu erzeugen, sondern sofort seine Umwelt bewältigte.
Das war durchaus originell, bloß wusste weiterhin niemand, wie eine sirupartige Gallerte die Bahn eines Himmelskörpers stabilisieren kann. Seit fast hundert Jahren kannte man Anlagen zur Herstellung künstlicher Kraft- und Schwerefelder, die Gravitoren, aber niemand konnte sich auch nur vorstellen, wie ein Resultat, das – in den Gravitoren – das Ergebnis komplizierter Kernreaktionen und enormer Temperaturen ist, von einem gestaltlosen Brei zustande gebracht werden kann. In den Zeitungen, die damals zur Kurzweil der Leser und zum Grauen der Wissenschaftler nur so strotzten von hanebüchenen Schwindeleien zum Thema »Geheimnis der Solaris«, fehlte es auch nicht an Behauptungen, der planetare Ozean sei … ein entfernter Verwandter der irdischen elektrischen Zitteraale.
Als es gelang, das Problem zumindest einigermaßen zu entwirren, erwies sich, dass die Erklärung, wie dies bei der Solaris später noch oft vorkam, an die Stelle eines Rätsels ein anderes, vielleicht noch erstaunlicheres, setzte.
Die Untersuchungen ergaben, dass der Ozean keineswegs nach dem Prinzip unserer Gravitoren funktioniert (was im Übrigen unmöglich wäre), sondern direkt die Raum-Zeit-Metrik zu modellieren vermag, was unter anderem zu Abweichungen in der Zeitmessung an ein und demselben Längengrad der Solaris führt. Demnach kannte der Ozean nicht nur in gewissem Sinne die Einstein-Boevische Theorie, sondern vermochte sogar (was man von uns nicht sagen kann) ihre Konsequenzen zu nutzen.
Als dies ausgesprochen war, brach in der wissenschaftlichen Welt einer der heftigsten Stürme unseres Jahrhunderts los. Die ehrwürdigsten, allgemein als Wahrheiten anerkannten Theorien stürzten zu Schutt zusammen, in der wissenschaftlichen Literatur tauchten die ketzerischsten Artikel auf, und die Alternative »genialer Ozean« oder »Graviations-Gallerte« erhitzte alle Gemüter.
Das alles geschah an die zwanzig Jahre, bevor ich geboren wurde. Als ich zur Schule ging, galt aufgrund weiterhin erkannter Tatsachen die Solaris bereits allgemein als mit Leben ausgestatteter Planet – der freilich nur einen einzigen Bewohner hat.