Sommerglut - Hanna Julian - E-Book

Sommerglut E-Book

Hanna Julian

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Beschreibung

Eine Hitzewelle fegt übers Land. Am frühen Samstagmorgen wird die Leiche eines Jugendlichen im Steinbruch gefunden. Wurde der reiche Steffen Hornung ermordet? Kommissar Frieder Gangers Jagdinstinkt ist geweckt. Als neu Zugezogener hat er jedoch nicht nur mit den Schatten seiner eigenen Vergangenheit zu kämpfen, sondern auch mit der Missgunst und dem Argwohn seiner Kollegen. Im Zuge der Ermittlungen nimmt er Steffens Clique unter die Lupe, von denen beinahe jeder als Täter infrage kommt. Angefangen beim gewalttätigen Trevor bis hin zum schwulen Henrik, der um jeden Preis verhindern will, dass seine Beziehung zu Sirko – dem Sohn der Konkurrentin seiner Mutter – geoutet wird. Um die beiden Friseurladeninhaberinnen rankt sich ein Geheimnis, das alles zerstören könnte. Schon bald wird klar: die Ortschaft, in der Frieder ermittelt, steckt voller skurriler Gestalten mit ihren ganz eigenen Rätseln.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Impressum

Leseprobe zu »KEMET – Der Fluch«

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

Weitere Gay Storys von Hanna Julian

Prolog

»Polizeidienststelle Anderfurth, Wachtmeister Joachim Brandt.«

»Hier spricht Förster Jochen Dengler. Ich habe gerade bei meiner morgendlichen Runde einen Toten gefunden. Die Leiche liegt im Steinbruch, nahe der Ortschaft Wederhaus.«

»Sind Sie sicher, dass die Person tot ist?«

Dengler blickte in die Schlucht. Unter ihm, in gut fünfzig Meter Tiefe, lag der Körper eines jungen Mannes; er wies geradezu groteske Verdrehungen auf. Eine Blutlache hatte sich neben dem Kopf ausgebreitet.

»Ziemlich sicher. Genau kann ich es natürlich nicht sagen. Ich stehe am Waldrand und kann an dieser Seite nicht gefahrlos absteigen. Er liegt auf dem Firmengelände, das umzäunt ist. Arbeiter sind noch keine zu sehen. Vielleicht kommt heute auch niemand. Ich glaube, die arbeiten samstags nicht.«

Der Polizist am anderen Ende der Leitung erwiderte: »Ich schicke einen Streifenwagen und rufe den Firmenchef an, damit er die Schranke öffnet. Einen Krankenwagen schicke ich auch – für alle Fälle.«

»Gut. Ich gehe an der anderen Seite runter und warte vor dem Tor.« Der Polizist stimmte zu. Dengler drückte den roten Hörer auf seinem Handy, das Gespräch wurde beendet. »Krankenwagen«, murmelte Dengler spöttisch. Der kam auf jeden Fall zu spät, da war er sich sicher. Er sah erneut in die Schlucht hinab und betrachtete die leblose Gestalt. Dann riss er sich von dem Anblick los und schaute zu den nebelverhangenen Bergen in der Ferne. Sie sahen unwirklich aus. Die dunklen Baumwipfel auf der anderen Seite der Schlucht wirkten da schon viel realer. Der Himmel war unter dem Morgennebel in eine Mischung aus Rosa und Orange getaucht. Der Dunst, der aus den Seen und Bächen aufstieg, würde schon bald verschwinden, die Feuchtigkeit viel zu rasch von der Hitze des Sommertages verdrängt werden. Um diese Jahreszeit ging die Veränderung schnell vonstatten. Sicher würde es wieder ein heißer Tag werden, wie schon die Tage zuvor. Noch war es jedoch ein wenig kühl. Dengler fröstelte sogar leicht. Vielleicht waren es aber auch die besonderen Umstände, die ihm die Missempfindungen bescherten. Doch die Dinge waren nun einmal so, wie sie waren. Niemand wusste das besser, als er. Jochen Dengler schulterte das Gewehr neu, damit er seinen Körper durchstrecken konnte, um seine Rückenmuskulatur zu lockern. Dann rief er nach seinem Hund – einem schwarzen Labrador-Retriever – der einen Weg in die Tiefe gefunden hatte und den Toten beschnüffelte. Auf vier Pfoten war eben einiges leichter. Manchmal beneidete Dengler den Hund um dessen sorgenfreies Leben. Für ihn bedeutete eine Leiche kein Problem, sondern Abenteuer pur. Das Tier parierte sofort, als Dengler es rief, und kämpfte sich den steilen Abhang wieder hinauf. Staub wurde unter seinen Pfoten aufgewirbelt. Es war mindestens zweieinhalb Wochen her, seit es zuletzt geregnet hatte. Der Dunst, der dem Boden in den Tälern zumindest noch ein wenig Feuchtigkeit spendete, reichte bei weitem nicht bis zu den Anhöhen hinauf. Hier war alles trocken und sogar das Gras wurde bereits strohig. Dengler lauschte – noch war es still. Der Hund berührte seinen Herrn mit der Nase am Bein, Dengler tätschelte ihm geistesabwesend den Kopf.

»Es kann jetzt nicht mehr lange dauern, dann ist hier die Hölle los«, prophezeite er.

Kapitel 1

Wie winzige funkelnde Sterne schwebten Staubpartikel durch die Scheune. Dort, wo der Strahl der Mittagssonne sie traf, wirkten sie wie ein eigener Kosmos. Sirko hob seine Hand und spreizte die Finger. Er hielt ein Auge geschlossen, um zu beobachten, wie die glitzernden Flugkörper in einer optischen Täuschung auf seiner Haut landeten.

»Was treibst du denn da?« Henrik spähte durch Sirkos Finger, in dem Versuch, das zu erkennen, was sein Freund sah.

»Ach, gar nichts.« Sirko ließ die Hand sinken und legte sie Henrik auf den nackten Bauch. Er war ein bisschen klebrig, Spermageruch lag noch unverkennbar in der Luft. Die beiden jungen Männer hatten es sich – wie so oft in letzter Zeit – auf den Strohballen bequem gemacht, die im hintersten Teil der Scheune von Bauer Frankenheim lagerten. Josef Frankenheim kam nur selten hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Und schon gar nicht während der Mittagshitze, von der er behauptete, sie würde sein Hirn verbrutzeln wie Stück Speck. Es war gut für die beiden jungen Männer, dass der alte Trunkenbold nur so sporadisch sein Land versorgte. Frankenheim hatte alle Hände voll mit den paar Milchkühen zu tun, die ihm noch geblieben waren, nachdem er einen Teil hatte verkaufen müssen, um nicht den kompletten Hof an die Bank zu verlieren. Für Sirko und Henrik war die abgelegene Scheune zum besten Versteck seit Jahren geworden. Im Winter hatten sie sich hier bereits geliebt, auch wenn das zugegebenermaßen recht ungemütlich gewesen war. Nun, bei den heißen Temperaturen, war es auch nicht immer optimal; sie genossen es dennoch und kamen sich wie Könige vor, da sie dieses Refugium entdeckt hatten.

Sirko beugte sich hinab und küsste Henriks Brust. Dann küsste er ihn auf den Mund, und sie ließen ihre Zungen umeinander kreisen. Ihr Atem ging noch schnell vom hinter ihnen liegenden Höhepunkt; der Kuss schmeckte süß und sinnlich. Als Sirko sich neben Henrik ins Stroh legte, schwieg er einen Moment, doch sie wussten beide, dass sie das Thema nicht länger hinauszögern konnten, das das gesamte Dorf erschütterte. Nach einem tiefen Seufzen fragte Sirko schließlich: »Was denkst du, wie wird sich die Clique verhalten? Die Nachricht von heute Morgen muss ja ein ganz schöner Schock für euch gewesen sein. Es wissen doch bestimmt schon alle, oder?«

Henrik seufzte ebenfalls. Er rieb sich über die Stirn, die vor Schweiß glänzte.

»Die meisten, schätze ich. Trevor hat es mir erzählt – er rief mich an. Kimberly und Claas wissen es auch. Sie haben darüber in der Whatsapp-Gruppe geschrieben. Von Cosma und Kristof habe ich noch nichts gehört. Keine Ahnung, ob die schon Bescheid wissen, aber sie werden es sicher schon bald bei Whatsapp lesen – außerdem wird es eh nicht lange dauern, bis auch die letzte Seele in diesem Kaff informiert ist.«

»Stimmt, es wäre seltsam, wenn es anders wäre«, stimmte Sirko zu. »Wer aus der Clique wird wohl am meisten um Steffen trauern?«

Henrik zuckte mit den Schultern. »Ich jedenfalls nicht! Kimberly vielleicht. Sie hat sich zuletzt ganz schön an ihn rangehangen.«

Sirko zog einen Halm aus dem unter ihnen liegenden Strohballen und rieb ihn gedankenverloren zwischen seinen Fingern.

»Die Frage ist nur, warum sie das getan hat. Glaubst du, sie war in ihn verknallt?«

»Nein, das glaube ich nicht. Die wollte ihn bestimmt nur um den Finger wickeln, damit er ihr mehr Einfluss in der Clique verschafft. Immerhin hat sie das ja auch schon bei Trevor bewirkt. Dafür macht sie die Beine jederzeit breit, und zwar für alle, von denen sie sich was verspricht – diese berechnende Schlampe.«

»Das ist echt ekelhaft! Und diejenigen bedienen sich dann, obwohl sie wissen, dass sie nicht die Einzigen sind?«

»Ja.«

Sirko machte ein Würgegeräusch und sagte kopfschüttelnd: »Ich verstehe echt nicht, warum du noch mit denen rumhängst. Wer mit solchen Leuten zu tun hat, wirkt doch immer verdächtig. Ausgerechnet du beschäftigst dich mit diesen Typen, wo du doch so empfindlich bist, dass jemand herausfinden könnte, dass du schwul bist. Kannst du den Kontakt zur Clique nicht einfach abbrechen?«

Henrik strich sich die dunklen Ponysträhnen aus der Stirn, mit seinen blauen Augen blickte er Sirko resigniert an.

»Dazu ist es jetzt wohl zu spät.«

»Sieht ganz so aus. Aber es ist ja auch nicht das erste Mal, dass ich dich darum bitte. Du hättest früher auf mich hören sollen.«

Henrik stöhnte auf. »Wir haben schon tausendmal drüber gesprochen. Und ich habe es dir bereits x-mal gesagt: Ich brauche die Clique als Tarnung.«

»Stimmt, das sagst du immer wieder. Aber ich frage mich, ob du nicht langsam mal genug von dem Versteckspiel hast.«

Henrik lachte bitter und griff nach seiner Unterhose, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass Sirkos Worte ihn ärgerlich gemacht hatten, denn normalerweise blieben sie nackt, bis sie aufbrechen mussten. Zum Glück hielt seine Verärgerung jedoch meist nicht lange an – im Grunde liebte Henrik Harmonie, auch wenn er oft genug vorgab, es wäre anders. Zumindest glaubte er, dass er das tun müsste, um sich vor allem zu schützen, das ihn seiner Meinung nach angreifbar machte.

»Nicht jeder kann von sich behaupten, mit Menschen unter einem Dach zu leben – und mit ihnen zu arbeiten – die Verständnis für ihn haben.« Henrik stand auf. Sirko wusste, dass er ihn momentan nicht dazu bringen würde, sich wieder entspannt neben ihn zu legen, also nahm er die zweitbeste Möglichkeit wahr und sah dem Muskelspiel seines Freundes zu, während der seine Kleidung anzog. Es war ein sexy Schauspiel aus Kraft und Geschmeidigkeit; nichts davon war gekünstelt. Henrik besaß einfach eine natürliche Attraktivität, wie Sirko neidlos anerkannte. Nachdem er seine Unterhose, die Shorts und das Slipknot T-Shirt trug, setzte Henrik sich wieder neben Sirko. Nun blickten seine Augen nicht mehr genervt, und er streichelte zärtlich Sirkos Hals.

»Versteh doch, es ist nicht so leicht für mich. Nicht jeder kann ein Paradiesvogel sein wie du und damit auch noch gut bei den Leuten – und vor allem bei seiner Familie – ankommen. Du hast wirklich Glück.«

»Ich musste viel einstecken, als ich mich entschied, offen schwul zu leben«, erinnerte Sirko ihn.

Sie beiden wussten, wie oft er in der Schule eine blutige Nase oder eine dicke Lippe riskiert hatte, weil er geradezu offensiv tuntig aufgetreten war. Inzwischen kokettierte er nicht mehr damit – zumindest nicht absichtlich. Im Großen und Ganzen kamen die meisten Menschen mit seiner Art nicht nur gut klar, sondern sie schätzen ihn sogar. Durch seine Freundlichkeit und die beinahe immerwährende gute Laune hatte er sich im Dorf – und bei seinen Kunden – äußerst beliebt gemacht. Henrik hatte recht, wenn er sagte, dass das Leben ihm selbst nicht die Möglichkeit gelassen hatte, im Familienverband den gleichen Weg zu gehen. Manchmal behauptete er, seine Mutter würde ihn sofort mit der Schere niederstechen, wenn sie herausfände, dass er schwul ist. Sirko wusste, dass das nicht nur einfach ein Spruch war. Die Friseurin bestand darauf, dass Henrik hetero sei – und sie verachtete seine schwulen Berufskollegen, die angeblich bei jedem männlichen Kunden während der Arbeit dessen Schritt inspizieren würden. Sie ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie solche Menschen verabscheute. Und am schlimmsten war für sie der Sohn ihrer Friseur-Konkurrentin im Dorf – Sirko. In ihren Augen war er ein frivoler Gestörter mit abartigen Neigungen, die man verbieten sollte. Sie wurde niemals müde, das den Leuten unter die Nase zu reiben, und sie beharrte darauf, Henrik sei Lichtjahre von Sirko entfernt – eben ein echter Kerl durch und durch. Die Clique schien ihr dafür als wichtigstes Argument zu dienen; und deshalb hieß sie es gut, dass er in seiner Freizeit mit solch furchtbaren Gestalten herumhing. Wenn sie gewusst hätte, wie wenig Henrik von Sirko in Wahrheit entfernt war, hätte sie vermutlich auf der Stelle der Schlag getroffen.

»Ich weiß noch, dass du in der Schule oft gelitten hast«, sagte Henrik. »Ich war von deinem Mut, trotzdem weiter demonstrativ zu deiner Homosexualität zu stehen, immer schwer beeindruckt. Das war echt sexy! Heimlich habe ich dich so sehr angeschmachtet, dass ich ständig Bauchschmerzen der übelsten Art hatte, wenn du in meiner Nähe warst. Ich konnte von Glück reden, dass du nur in der Parallelklasse warst, sonst hätte ich bestimmt meinen Abschluss nicht geschafft, weil ich ständig zu dir geschaut hätte, statt mich auf den Unterricht zu konzentrieren.«

Sirko lachte, warf den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs stachelig gestylte, kurze blonde Haar, als wolle er es auf affektierte Art kämmen. Dann wurde er wieder ernst.

»Du schmierst mir ja ganz schön Honig ums Maul. Aber damals, in der Schulzeit, wäre ich nie drauf gekommen, dass du auf mich stehst. Im Gegenteil, ich dachte ständig, von dir käme die nächste körperliche Attacke. Habe ich dir mal erzählt, dass ich immer innerlich zusammengezuckt bin, sobald du irgendwo aufgetaucht bist?«

»Das hast du mir erst fünf oder sechs Mal erzählt, glaube ich.«

»Ja, kann sein«, räumte Sirko ein. Sie lachten beide, doch dann wurde Henrik wieder ernst.

»Tja, aber genau diesen Ruf muss ich aufrechterhalten. Wobei ich natürlich nicht unbedingt den Ruf eines Schlägertypen haben muss, aber doch eine gewisse Art von ...« Er suchte nach dem richtigen Wort.

»Aggression«, half Sirko aus.

Henrik nickte. »Ja, zur Selbstverteidigung.«

Sirko seufzte und rieb sich die Augen. So langsam machte ihm die trockene Luft in der Scheune zu schaffen.

»Nicht gleich heulen, nur weil die Wahrheit bitter ist«, scherzte Henrik.

»Lustig …«, knurrte Sirko. »Ich wünschte halt nur, es wäre anders, und du hättest nicht das Gefühl, anderen etwas vorspielen zu müssen, was du nicht bist.«

»Es ist nun mal nicht so einfach. Jedenfalls nicht für mich. Und jetzt, wo Steffen tot ist, wird es mit Sicherheit sehr ungemütlich in unserem kleinen Kaff werden. Du musst mir versprechen, deine Zunge im Zaum zu halten.«

»Das klang eben aber noch ganz anders. Am Sack hattest du sie verdammt gerne«, erinnerte Sirko mit einem lasziven Lächeln. Er hoffte, ein wenig des Zaubers zurückholen zu können, den sie zuvor noch beim Liebesspiel genossen hatten. Doch Henrik ließ sich nicht in die Stimmung von vorhin zurückversetzen. Im Gegenteil, sein Blick wurde ärgerlich.

»Niemand darf herausfinden, dass wir ein Geheimnis haben. Wenn unsere Beziehung ans Licht kommt, wird meine Mutter mich im hohen Bogen aus dem Geschäft und der Wohnung werfen. Dann stehe ich auf der Straße und bin geliefert. Das darf einfach nicht passieren!«

»Das wird es nicht. Ich werde niemandem was von uns erzählen. Aber eines muss ich noch loswerden, Henrik ...« Sirko zögerte, weil er nicht wusste, wie er es formulieren sollte. Schließlich entschied er sich, seine Vermutung als Frage zu tarnen.

»Glaubst du, Steffen hat etwas über uns gewusst?«

»Keine Ahnung. Vielleicht. Im Grunde muss ich trotz aller Vorsicht damit rechnen, dass jemand herausfindet, dass ich schwul bin.«

»Klar, aber bei ihm wäre es besonders schlimm, denn die Hornungs haben jede Menge Einfluss im Ort – was wiederum echt schwierig für deine Mutter und euer Geschäft werden könnte. Ist es also nicht im Grunde eine Erleichterung, dass Steffen diesen … Unfall hatte?«

Als er bei dem Wort Unfall zögerte, verdüsterte sich Henriks Blick, er antwortete jedoch umgehend. »Es ist sogar eine sehr große Erleichterung«, gab er zu.

Sirko nickte und entschied, besser nicht weiter auf das Thema einzugehen. Sie würden früher oder später damit noch genügend konfrontiert werden, daher wollte er ihre kostbare gemeinsame Zeit nicht weiter durch dieses belastende Thema vergiften. Das Dumme war nur, dass er den Schatten nicht mehr aus seinen Gedanken verdrängen konnte, weil ihm klar geworden war, wie vorteilhaft Steffens plötzlicher Tod für Henrik tatsächlich war. Er wollte nicht darüber nachdenken, aber die Erkenntnis hielt sich hartnäckig in seinem Bewusstsein. Als Henrik ihn streichelte, bekam Sirko trotz der Sommerhitze eine Gänsehaut.

»Ist das Ding kaputt?«

Kommissar Frieder Ganger schlug mit der flachen Hand gegen den Kaffeevollautomaten, der in der Schreibstube stand. »Mach schon!«, fuhr er das Gerät an.

»Nicht mit Gewalt«, mahnte eine Frau im mittleren Alter, stand von ihrem Bürostuhl auf und kam Frieder zu Hilfe. Sie gab der Maschine einen gefühlvollen Klaps gegen die linke Seite; der Kaffee begann in die Tasse zu laufen und verströmte dabei seinen typisch würzigen Duft.

»Ein paar Kollegen und ich haben vor einigen Jahren extra zusammengelegt, um die Maschine anzuschaffen. Im Prinzip ist sie noch in Ordnung, sie braucht nur ab und an einen kleinen ermunternden Schubs – so, wie wir alle von Zeit zu Zeit.« Sie zwinkerte Frieder zu und hielt ihm dann die Hand hin. »Sie sind also der neue Kommissar? Frieder Ganger, wenn ich nicht irre.» Er nickte. »Ich bin Sabine Landau und erledige hier einen Großteil der Schreibarbeiten, außerdem bin ich so eine Art Mädchen für alles.« Sie schüttelten sich die Hände, während Sabine Landau erläuterte: »Mein Urlaub hatte vor zwei Wochen angefangen, deshalb haben wir uns an Ihrem ersten Tag gerade verpasst. Haben Sie sich inzwischen eingewöhnt? Also, ich meine, bis auf den Kaffeeautomaten.« Sie grinste.

Frieder, der inzwischen einen Schluck getrunken hatte, nickte rasch. »Ja, könnte man so sagen. Zumindest sollte ich es wohl sagen, um nicht total trottelig zu wirken. Und dass ich das gestanden habe, bleibt unter uns!« Er verengte drohend die Augen, doch das Lächeln darin brachte Sabine Landau zum Lachen.

»Natürlich, Vorgesetzte haben bei mir immer Narrenfreiheit – schon aus taktischen Gründen. Aber im Ernst, das wird schon werden. Wir sind eine nette Truppe hier, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.«

»Doch, diesen Eindruck habe ich bereits gewonnen. Und bislang war es auch recht ruhig, sodass ich mich mit allem vertraut machen konnte. Aber jetzt wird es wohl mit der Eingewöhnungszeit vorbei sein. Ein junger Mann kam ums Leben. Er wurde heute Morgen vom Förster aufgefunden.«

Die Kollegin hob eine Augenbraue und atmete tief durch.

»Ich hörte davon. Das Unglück im Steinbruch bei Wederhaus – ich wohne übrigens in Wederhaus. Steffen Hornung ist tot aufgefunden worden. Dennoch glaube ich nicht, dass uns das auf der Wache großartig betreffen wird. Sicher, die Sache ist tragisch, aber wohl eher kein Fall für uns, sondern ein bedauernswerter Unfall, der bald zu den Akten gelegt wird.«

»Mag sein. Aber ich bin mir nicht sicher, dass es wirklich ein Unfall war.«

»Als Kommissar müssen Sie das ja schon von Berufs wegen anzweifeln.« Sie ließ es nicht wie einen Scherz klingen.

»Nun ja, es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass er einfach so den Abhang hinuntergestürzt sein soll. Ich war eben dort und habe mir die Stelle angesehen. Der Zaun ist teilweise so niedrig angebracht, dass der Zugang aufs Gelände ein Kinderspiel ist. Die Betreiber haben sehr unverantwortlich gehandelt, und das wird sicher noch ein Nachspiel haben. Doch das ist nicht unsere Sache. Für mich zählen nur die Fakten und die ergeben: Es ist ein Ort, den man nicht unterschätzen sollte. Steffen Hornung ist jedoch hier aufgewachsen und wusste bestimmt wie gefährlich es ist, die Barriere zu überwinden und sich dort aufzuhalten.«

»Gehen Sie immer davon aus, dass die Menschen vernünftig sein müssten, nur weil sie um die Gefahr wissen? So würde ich Sie gar nicht einschätzen. Sicher, Steffen Hornung ist hier aufgewachsen und weiß, dass der Steinbruch lebensgefährlich sein kann. Aber er war nun mal ein Halbstarker. Niemand begreift, was in deren Köpfen vorgeht – am wenigsten vermutlich sie selbst.«

»Da haben Sie möglicherweise recht. Dennoch möchte ich nicht einfach von einem Unfall ausgehen. Es bleibt natürlich abzuwarten wie viel Alkohol er im Blut hatte, eventuell auch Drogen ... Und ich muss in Erfahrung bringen, wer mit ihm vor dem Zeitpunkt seines Todes zusammen war. Auf der Lichtung am Waldrand, unmittelbar neben dem Steinbruch, lagen vier benutzte Kondome, ein paar Bierdosen, leere Chipstüten und einiges mehr, das auf eine intime Party hindeutet. Ich gehe schwer davon aus, dass Steffen Hornung daran teilgenommen hat. Was auch immer geschehen ist, mir sieht sein Sturz nicht einfach nach einer tödlichen Unachtsamkeit aus.«

Sabine Landau runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Gerade deshalb sieht es für mich nach einem Unfall aus. Wer weiß … vielleicht wollte Steffen pinkeln gehen und hat nicht darauf geachtet, wo der Abgrund ist.«

»Natürlich ist das eine Möglichkeit. Aber wenn dort mehrere Leute anwesend waren, warum hat niemand nach seinem Unfall Hilfe gerufen? Ich möchte diejenigen ausfindig machen, die ihn zuletzt gesehen haben. Wenn ich mit meiner Vermutung, dass mehr dahintersteckt, falsch liege, werde ich unverzüglich die Ermittlungen einstellen. Aber das heißt bei weitem nicht, dass ich erst gar keine einleite, nur weil ein Unfall so offensichtlich zu sein scheint.«

»Sie bringen viel Enthusiasmus mit – viel Ehrgeiz. Wollen Sie eine Mordkommission für den Fall einrichten?«

Frieder hob beschwichtigend die freie Hand.

»Das wäre wohl verfrüht, da es noch keine stichhaltigen Beweise für einen Mord gibt. Ich führe nur Ermittlungen durch. Alles Weitere wird sich dann zeigen. Ich bin mir sicher, dass einige denken, nur weil ich aus der Großstadt komme, würde ich ein wenig Wildwest spielen wollen. Aber ich versichere Ihnen, dass das nicht mein Ziel ist.«

Sabine Landau nickte. »Schön, das zu hören, aber ich glaube, ich bin die falsche Ansprechpartnerin. Ich hatte das zumindest nicht von Ihnen gedacht – und das tue ich auch jetzt nicht, da ich weiß, dass Sie der Sache mehr auf den Grund gehen wollen, als jeder andere hier es täte.«

»Jemand, der dafür sorgen kann, dass ich meinen so dringend benötigten Kaffee bekomme, kann niemals der falsche Ansprechpartner sein. Und wenn ich mich damit selbst noch in ein möglichst positives Licht rücken konnte, bereue ich meine Offenbarung keine Sekunde lang.« Frieder grinste von einem Ohr zum anderen. Sabine Landau grinste zurück. »Gut gemacht, denn das ist Ihnen zweifellos gelungen.«

Frieder wurde nun wieder ernst. »Kannten Sie Steffen Hornung?« Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er ein wichtiges Indiz für seine Vermutung, dass es sich nicht um einen Unfall handelte, vorerst verschwieg. Aber er wollte, dass diejenigen, die Steffen Hornung gekannt hatten, so unvoreingenommen wie möglich seine Fragen beantworteten.

»Ja, ich kannte ihn. Aber nicht besonders gut. Er war der Sohn reicher Eltern. Schwieriger Typ. Nicht unbedingt straffällig, aber unangenehm, arrogant und ein Waffennarr. Zumindest, was man sich so erzählt. Erwischt wurde er nie, aber auf dem elterlichen Grundstück soll geschossen worden sein – und ich kenne Leute, die sagen, dass Steffen das Gewehr seines Vaters benutzen durfte, kaum dass er es als Dreikäsehoch einigermaßen sicher halten konnte.«

»Und das hat nie jemand überprüft?«

»Nicht, dass ich wüsste. Wir sind hier in einer Kleinstadt, das dürfen Sie nicht vergessen. Und das unmittelbare Umfeld besteht aus Landleben pur, soweit das Auge reicht – ebenso, wie es in Wederhaus der Fall ist. Hier läuft vieles anders, als Sie es vermutlich bislang gewohnt waren. Und ich fürchte, bevor Sie alles umkrempeln, ist es eher wahrscheinlich, dass man Sie umkrempelt. Ich würde Ihnen daher – mit allem Respekt natürlich – raten, sich darauf einzustellen, wie die Dinge hier laufen. Einflussreiche Leute können sich hier viel erlauben, denn niemand würde sie jemals anschwärzen. Da rennen wir gegen Wände. Und wenn der Junge auf dem elterlichen Grundstück geschossen hat, können ihn sämtliche Dorfbewohner dabei während ihres Sonntagssparziergangs gesehen haben, glauben Sie mir, keiner wird Ihnen davon auch nur ein Sterbenswörtchen sagen. Zumindest nicht offiziell – und darauf kommt es nun mal an, wenn man etwas in die Wege leiten will.«

Frieder nahm einen Schluck Kaffee und murmelte dann: »Danke für Ihre Ehrlichkeit. Ich bin jemand, der so etwas mag. Aber ich muss auch zugeben, dass ich mir nicht sicher bin, ob mir das alles so gefällt.«

»Ich hoffe, Sie haben dennoch vor, zu bleiben.«

»Absolut! Unser Gespräch war sehr aufschlussreich. Aber ich sollte mich jetzt wieder an die Arbeit machen.« Er hob die Hand zum Gruß und ging mit der Kaffeetasse in sein Büro. Als er am Schreibtisch saß, ließ er den Kopf in die Hände sinken. Was hatte er eigentlich erwartet, als er das pulsierende Großstadtleben von Berlin gegen diese hinterwäldlerische Polizeidienststelle eintauschte? Vielleicht tatsächlich etwas mehr Ruhe ... Wer sollte ihm das nach den tragischen Ereignissen auch übelnehmen? Da er jedoch längst noch nicht zum alten Eisen gehörte, würde er auf keinen Fall in den gleichen Trott wie so viele verfallen, die sich damit begnügten, es dem Bürgermeister einer Kleinstadt recht zu machen. Wenn es etwas zu ermitteln gab, lieferte er das Beste ab, das er zu bieten hatte. Und das war für gewöhnlich jede Menge! Aber im Grunde hatte die Kollegin ja recht – er sollte sich nicht zu sehr darauf versteifen, dass es sich bei Hornungs Tod nicht einfach um einen dummen Unfall handelte. Möglicherweise sogar um einen Suizid … Ob dieser infrage kam, würde er noch herausfinden müssen. Es kam nicht selten vor, dass gerade junge Menschen, die ein reiches Elternhaus hatten, sich selbst als Versager fühlten und diesen Ausweg aus ihrem scheinbar so sinnlosen Leben suchten. Sie hatten das Gefühl, nicht in die Fußstapfen ihrer erfolgreichen Eltern treten zu können, darum glaubten sie, wertlos zu sein. Ein sehr trauriges Motiv für einen Selbstmord. Das war sicher tragisch, aus polizeilicher Sicht jedoch schnell abgehandelt. Aber da war nun mal die Sache mit dem Handy, das man bei dem Toten gefunden hatte. Es war auf eine Art zerstört gewesen, die Frieder misstrauisch machte. Er hatte daher die Fachleute gebeten, zu prüfen, ob man die Daten darauf noch retten konnte. Sicher hätte es bei dem Sturz zu Bruch gehen können, doch die Beschädigung sah anders aus. Alles deutete darauf hin, dass jemand darauf getreten, oder es mit einem Stein bearbeitet hatte. Zumindest war es ein stichhaltiges Indiz, um sich den Fall näher anzusehen. Denn was auch immer dazu geführt hatte, dass Steffen Hornung auf dem Boden des Steinbruchs gelandet war, Frieder wollte den Grund dafür herausfinden. Und er wusste, dass er den Fall erst guten Gewissens zu den Akten legen konnte, wenn er sich selbst davon überzeugt hatte, dass es sich nicht um Mord handelte.

Wasserflaschen und Gläser standen auf dem Tisch der Gartenhütte. Eine Gruppe von Jugendlichen saß auf den Holzstühlen, die darumstanden. Es war früher Nachmittag; die Stimmung der jungen Erwachsenen war gereizt. Eine der beiden anwesenden Frauen schluchzte ab und zu.

»Hör doch mal auf zu heulen, Kimberly! Wem soll das denn jetzt noch nutzen? Steffen ist tot! Daran änderst du auch nichts mehr, wenn du rumflennst. Also reiß dich gefälligst zusammen, damit wir besprechen können, was wir den Bullen für 'ne Geschichte auftischen. Die werden früher oder später zu uns kommen, und dann sollte jeder von uns ganz genau wissen, was er denen erzählt.«

»Ist das dein einziges Problem? Du bist so ein Arsch, Claas! Macht dir Steffens Tod denn echt gar nichts aus? Er war doch auch dein Freund! So eifersüchtig kannst nicht mal du auf ihn gewesen sein, dass du so tust, als wäre dir sein Tod scheißegal!«, fauchte Kimberly.

»Ich bin nicht gerade am Boden zerstört, nur weil er hopsgegangen ist. Und warum sollte ich eifersüchtig auf ihn gewesen sein? Wegen dir etwa? Ach, Prinzesschen, komm mal wieder runter! Ich habe dich letzte Nacht genauso gevögelt wie Steffen – und wie Trevor natürlich, von dem du wohl immer noch glaubst, dass er dich liebt. Das ist halt dein Problem, du hast einfach keine Ahung, wer gut für dich ist.«

»Ach, und derjenige sollst wohl ausgerechnet du sein?«

Die junge Frau mit den knallroten, kurzgeschorenen Haaren und dem Nasenpiercing funkelte Claas zornig an.

»Warum nicht? Immerhin würde ich dir verzeihen, dass du es bislang mit fast jedem aus der Clique getrieben hast. Guck dir allein mal die letzte Nacht an! Außer Henrik haben doch alle bei dir einen weggesteckt. Es gibt nur wenige Typen, die einer Frau das nicht vorhalten würden. Aber ich könnte beide Augen zudrücken, wenn du dich endlich mal für mich allein entscheiden würdest.«

»Wie großzügig von dir – du Wichser! Denkst du echt, ich würde was drum geben, was du mir vorhältst oder auch nicht? Ich finde was Besseres als dich! Und fest steht schon mal, dass du dir demnächst 'ne andere suchen musst, die dich ranlässt. Kannst es ja bei Cosma versuchen.« Sie blickte kurz zu der anderen jungen Frau, die nur stumm den Kopf schüttelte. Kimberly wandte sich wieder Claas zu und sagte entschieden: »Bei mir brauchst du auf jeden Fall nicht mehr anzukommen.«

Claas seufzte. »Ganz toll, Kimberly. Statt mal über dein Verhalten nachzudenken ... Ich weiß echt nicht, warum ich ausgerechnet an dir einen Narren gefressen habe. Es gibt eine ganze Menge nette Mädchen. Du hingegen bist nicht nur eine Schlampe, sondern auch total undankbar und, viel schlimmer noch, eiskalt und berechnend. Da kannst du noch so viele Krokodilstränen vergießen, jeder hier hat dich längst durchschaut. Steffen sollte irgendwas für dich tun, deshalb hast du ihm so viel Aufmerksamkeit zukommen lassen. Aber wer weiß … ohne dein Getue würde Steffen vielleicht sogar noch leben.«

»Was soll denn das heißen?«

»Na, der Arme war doch in letzter Zeit total durch den Wind und ziemlich gereizt. Du wirst ihm wohl mit deiner Anbiederei mächtig auf den Sack gegangen sein. Vielleicht hat er sich ja freiwillig den Abhang runtergestürzt, nur um endlich Ruhe vor dir zu haben.«

»Du mieser Dreckskerl!« Kimberly funkelte Claas voller Zorn an. Die anderen Cliquenmitglieder hatten der Auseinandersetzung bisher schweigsam gelauscht, doch jetzt gerieten sie alle gleichzeitig in Aufruhr. Wildes Gerede setzte ein. Jeder wollte seine Meinung am lautesten kundtun, was lediglich bewirkte, dass sie sinnlos aufeinander einschrien.

»Haltet jetzt alle sofort die Fresse!«, befahl Trevor schließlich und verschaffte sich Gehör, indem er mit der Faust so fest auf den Tisch schlug, dass einige der Plastikwasserflaschen umkippten. Trevor war der akzeptierte Anführer der Clique, die anderen taten meist, was er ihnen sagte. Auch diesmal erzielten seine Worte eine Wirkung, doch die darauffolgende Stille wurde abermals durch Kimberlys Schluchzen gestört. Trevor sah sie mit mahnendem Blick an; die Narbe auf seiner Stirn hatte einen dunklen Rotton angenommen. Kimberly gestikulierte wild mit den Händen. »Was denn? Ich kann doch nichts dafür, dass ich heulen muss! Und jetzt gibt mir Claas auch noch die Schuld an Steffens Tod. Und so einer behauptet, er würde mich lieben.«

Sie blickte mit verweinten Augen zum auffällig blonden Claas. Es war ein paar Wochen her, dass er sich für eine Färbung in senfgelb entschieden hatte. Vermutlich hatte er damit endlich erreichen wollen, nicht mehr so durchschnittlich auszusehen. Denn das war er, wenn man es genau betrachtete. Ein durchschnittlicher Kerl mit durchschnittlichem Aussehen – bis er sich die Haare färben ließ. Henrik hatte ihm davon abgeraten und betont, dass seine Mutter solche krassen Experimente nicht gerne in ihrem Salon sah. Flüsternd hatte er ihm empfohlen, so etwas besser bei der Konkurrenz machen zu lassen. Claas hatte jedoch darauf bestanden, dass Henrik sich der Sache annahm und ihm ein üppiges Trinkgeld gezahlt, da er auf keinen Fall zu »Das Haarparadies« gehen wollte. Der Friseursalon, in dem der schwule Sirko arbeitete, hätte seinen ausgefallenen Farbwunsch zwar sicher liebend gerne erfüllt, aber Claas wollte nicht mal in der Nähe dieser für ihn abartigen Individuen gesehen werden. Also hatte Henrik ihm, an einem Nachmittag, an dem seine Mutter nicht im Salon gewesen war, widerwillig den Gefallen getan. Das Ergebnis sah, wie zu erwarten, fürchterlich aus. Doch Claas gab immer noch vor, seine neue Haarfarbe toll zu finden – obwohl er sie inzwischen meist unter einem schwarzen Käppi verbarg.

»Ich liebe dich ja auch, du dämliches Miststück«, säuselte Claas und deutete einen Luftkuss in Kimberlys Richtung an. Sie sprang wutentbrannt auf und wollte sich auf ihn stürzen, doch Trevor fing sie ab und drückte sie auf ihren Stuhl zurück.

»Hört jetzt endlich mit diesem kindischen Getue auf! Das ist ja zum Kotzen! In einer Sache hat Claas allerdings recht: Wir müssen uns überlegen, was wir den Bullen sagen. Von unseren Plänen dürfen die auf jeden Fall kein Wort erfahren, sonst sind wir geliefert.«

»Wenn wir nicht so dämlich sind, ihnen selbst davon zu erzählen, werden sie das wohl kaum herausfinden. Es weiß doch niemand außer uns was davon. Es sei denn, jemand hat es herumerzählt«, brachte sich Cosma ins Spiel. Ihr langes blondes Haar war frisch gewaschen, aber sie fuhr immer wieder mit den Händen hindurch, was darauf schließen ließ, dass sie ihr momentanes Aussehen nicht optimal fand. Im Grunde fand sie das allerdings ohnehin selten und suchte immer nach neuen Produkten, die sie noch schöner machen würden. Cosma blickte in die Runde, um zu sehen, ob sich jemand des Verrats schuldig bekennen würde – alle schüttelten nacheinander die Köpfe.

»Wäre aber nicht das erste Mal, dass sich ein Idiot bei der Polizei verquatscht und Probleme hervorruft, wo eigentlich gar keine waren«, gab Kristof zu bedenken. Es kam selten vor, dass der Nerd der Clique nicht mit Cosma einer Meinung war. Jeder wusste, dass er heftige Gefühle für sie hegte. Cosma hingegen schien die Einzige zu sein, die davon keine Kenntnis hatte. Oder sie wollte sie nicht haben, denn ihr stand der Sinn absolut nicht nach einer Beziehung mit einem Computerfreak, sondern sie strebte eine Karriere im Filmbusiness an – und das so weit von Wederhaus und jedem anderen Kaff in Deutschland entfernt, wie nur möglich. Kristof sah sie entschuldigend an, bevor er der Clique seine Meinung erläuterte.

»Unsere Pläne waren ja nun wirklich noch nicht weit vorangeschritten«, erinnerte er. »Und ich glaube nicht mal, dass die Polizei groß ein Fass aufmachen würde, wenn sie herausfände, dass wir ein paar Geldautomaten hacken wollten. War bislang doch nur reine Theorie. Und mit Steffens Tod hat das nicht das Geringste zu tun.«

»Okay, ihr seid verhaftet!«

Alle zuckten zusammen, als Henrik plötzlich in der Tür stand. Der schüttelte missbilligend den Kopf und sagte an Kristof gewandt: »Vielleicht erzählst du einfach noch lauter von diesen bekloppten Plänen, die sowieso nicht geklappt hätten. Den anderen willst du klarmachen, wie idiotisch sie sich bei der Polizei in die Scheiße manövrieren könnten, aber du bist doch selbst nicht schlauer, du Intelligenzbolzen!«

»Boah scheiße, hast du mich erschreckt!«, bekannte Kristof, der erst blass geworden war, nur um jetzt eine knallrote Birne zu bekommen.

Henrik nahm sich einen der Klappstühle, die in der Ecke standen, und positionierte ihn neben Kristof. Während er sich darauf fallen ließ, sagte er: »Genau das meine ich. Warum posaunst du hier bekloppte Ideen in der Gegend rum, die einfach nur im Suff entstanden sind? Oder hast du schon konkretere Pläne, von denen ich nichts weiß?«

Kristof schüttelte rasch den Kopf. »Nein. Ich hatte nur mal mit Trevor darüber gesprochen, dass die ganze Sache schon realisierbar wäre ...«

Trevor mischte sich nun wieder ein. »Und bei dem Gespräch ist es dann ja auch geblieben. Henrik hat recht, es wäre wirklich schlauer, wenn du einfach deine Schnauze halten würdest, statt dich aufzuspielen. Das kann dich sonst mal in echte Schwierigkeiten bringen – oder uns alle!«

Kristof sank unter der Kritik, die von zwei Seiten auf ihn einprasselte, sichtbar in sich zusammen. Sein Blick ging immer wieder zu Cosma, um zu prüfen, ob sie ihn nun verabscheute, doch die bemerkte nicht mal, dass er sich vor allem wegen ihr unbehaglich fühlte. Trevor ergriff erneut das Wort.

»Also gut, ich denke, wir sollten denen ruhig erzählen, dass wir gefeiert haben. Das werden sie ohnehin schon rausgefunden haben. Wie spät war es, als wir nach Hause gegangen sind? Weiß das noch jemand?«

»Es muss so um halb fünf gewesen sein, glaube ich.« Claas blickte kurz auf seine Uhr, als könne er dadurch seine Vermutung bestätigen.

»Ja, stimmt. Es wurde schon hell. Ich bin so gegen fünf ins Bett gefallen«, sagte Cosma.

»Okay, wenn Claas und Cosma sich einig sind, dann bleiben wir jetzt alle bei dieser Uhrzeit. Dass wir Alkohol getrunken haben, werden wir wohl auch zugeben können. War ja gar nicht mal so viel. Ein paar Bier halt. Ist ja keine große Sache ...« Trevor zuckte mit den Schultern.

»Klar ist das eine große Sache! Egal wie wenig das deiner Ansicht nach war – wenn Steffen in die Schlucht gestürzt ist, weil er betrunken war, sind wir doch irgendwie mitschuldig!« Es war Kimberly, die in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung diesen Einwand erhob.

Trevor flüsterte beruhigend ihren Namen, beugte sich zur ihr vor und umfasste eine Strähne ihres Haares. Sie neigte den Kopf in seine Richtung und schloss die Augen, als sie diese unerwartete Zärtlichkeit spürte. Dann riss sie die Lider jedoch weit auf und gab einen spitzen Schrei von sich, als Trevor sich ihre Strähne plötzlich fest um die Hand schlang und mit einem Ruck an ihrer Kopfhaut riss.

»Jetzt hör mir mal gut zu, Goldstück! Wenn Steffen besoffen in die Schlucht gefallen ist, werden wir das sicher schon in Kürze erfahren, und alles ist gut ...«

Kimberly heulte bei dem Wort »gut« laut auf. Trevor zog fester an ihrer Strähne; Kimberly verstummte.

»Aber wenn rauskommt, dass er gar nicht so viel getankt hatte, und dass es Streitigkeiten unter uns gab, könnte das für jeden von uns zum Problem werden. Und ich hasse Probleme, hast du kapiert?«

»Ja. Ja, verdammt!«, keuchte Kimberly. In ihren Augen standen Tränen.

»Sie hat es verstanden, Trevor, lass sie jetzt los, Mann!« Claas war aufgestanden, um Kimberly endlich zu Hilfe zu kommen. Er hatte zwar starke Gefühle für sie, aber auch eine Menge Respekt vor dem Anführer der Clique. Trevor funkelte ihn kurz an, dann gab er die Strähne jedoch frei und fuhr Kimberly mit einem groben Streicheln über die Wange.

»Reg dich nicht auf, Claas, Kimi und ich verstehen uns blendend. Nicht wahr, meine kleine Stute?«

»Nenn sie nicht so!«, keifte Claas. Trevor ließ von Kimberly ab, machte einen Schritt auf Claas zu und schlug ihm blitzschnell mit der flachen Hand auf die Wange. Die andere Hand ballte er zur Faust, um sie Claas mitten ins Gesicht zu schlagen, falls der sich erneut gegen ihn auflehnen würde. Bevor es dazu kommen konnte, hatte sich Henrik dazwischengeschoben und hielt Trevors Handgelenke fest umschlungen. Die beiden jungen Männer standen sich so dicht gegenüber, dass ihre Nasenspitzen einander fast berührten.

»Lass mich los, Henrik!«, knurrte Trevor.

»Das werde ich, aber reiß dich jetzt endlich zusammen! Wenn du nicht willst, dass die Bullen von Streitigkeiten erfahren, die unter uns herrschen, solltest du keine Schläge austeilen.«

Trevor schnaubte noch einmal, dann schüttelte er jedoch den Kopf.

»Scheiße Mann, du hast recht. Ist gut … du kannst mich loslassen.«

Henrik gab die Hände des Anführers frei.

»Also, ...«, fasste Trevor zusammen und ließ seine Stimme dabei betont ruhig klingen, »... wir erzählen denen, dass wir gefeiert haben und gegen halb fünf alle gemeinsam aufgebrochen sind. Steffen ging mit uns zur Landstraße und war – genauso wie wir alle – auf dem Weg ins Dorf. Nachdem wir uns am Ortseingang getrennt haben, hat ihn von uns niemand mehr gesehen. Warum er zurückgegangen ist, wissen wir nicht. Vielleicht hatte er etwas verloren und wollte es suchen … Vielleicht stürzte er dabei in die Schlucht. Ja, das klingt gut. Und vielleicht war es ja auch wirklich so.«

Zustimmendes Gemurmel trat ein. Einige nickten, zufrieden mit dieser Version der Geschichte. Kimberly hingegen starrte nur auf ihre Knie und ließ nicht erkennen, ob sie Trevors Anweisungen nachkommen würde.

»Wir sollten zusehen, dass wir jetzt nach Hause gehen. Wenn die Polizei aufkreuzt, gebt ihr euch ganz gelassen. Wir haben nichts zu verbergen. Ist das klar?« Alle nickten.

Die Jugendlichen verließen die Gartenhütte.

Henrik dachte auf dem Nachhauseweg über die Dinge nach, die an diesem Samstag bereits geschehen waren. Zum einen natürlich die Nachricht über Steffens Tod. Trevors Anruf hatte ihn geweckt und es hatte einen Moment gedauert, bis Henrik verstand, wovon er überhaupt sprach. Trevor hatte von Steffens Tod durch seine Mutter erfahren, die es von der Kassiererin im Supermarkt erzählt bekommen hatte – diese wiederum hatte auf dem Weg zur Arbeit das Polizeiaufgebot beim Steinbruch gesehen und sich bei einem befreundeten Polizisten nach dem Grund dafür erkundigt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet. Für Henrik stand trotz der tragischen Geschehnisse fest, dass er zum Treffen mit Sirko ging. Immerhin freuten sie sich bereits seit Tagen darauf, endlich wieder miteinander vögeln zu können. Henrik liebte es, Sirkos vergleichsweise zarten Körper umschlingen, streicheln und küssen zu dürfen. Er hatte sich sofort auf den Weg zu ihm gemacht, und am liebsten hätte er nach der schlimmen Nachricht den Rest des Tages mit Sirko verbracht. Aber Trevor hatte auf das Treffen der Clique am Nachmittag bestanden. Henrik war nicht pünktlich gewesen, und es grenzte fast an ein Wunder, dass der Anführer ihn für sein spätes Erscheinen nicht zusammengestaucht hatte. Allerdings hatte Henrik auch einen Auftritt hingelegt, wie der Anführer der Bande ihn nun mal einfach mochte. Manchmal war Henrik selbst überrascht, wie leicht es ihm gelang, jemanden zusammenzustauchen. Menschen, die ihn näher kannten, wussten, dass er in Wahrheit nicht so war. Allen voran kannte Sirko sein wahres Wesen, und das bedeutete Henrik mehr als alles andere. Aber mit seinem Rüffel an Kristof hatte er seine Stellung in der Clique gestärkt. Und das war immens wichtig! Unweigerlich kehrten Henriks Gedanken jedoch wieder zu Sirko zurück. Seine Augen … seine Hände … seine Zunge … und das, was er damit bei ihm angestellt hatte. Er war ganz in diese Bilder vertieft, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte. Noch in die lustvollen Gedanken verstrickt, machte sein Herz einen freudigen Hüpfer – vielleicht war es Sirko, der ihn auf der Straße entdeckt hatte und ihm nachging, um ihm einen heimlichen Kuss aufzudrücken. Das wäre nicht zum ersten Mal so. Denn obwohl Henrik immer tausend Tode starb, wenn so etwas passierte, gehörte es zu seinen erotischen Highlights, wenn sein Freund ihn kurz in der Öffentlichkeit berührte oder ihm in einem dunklen Hauseingang rasch einen begehrlichen Zungenkuss verpasste. Doch es war nicht Sirko, der ihn einholte, sondern Kimberly. Henrik vermutete, dass sie sich dafür bedanken wollte, dass er Trevor wieder zur Vernunft gebracht hatte, doch ihr Blick sah alles andere als dankbar aus. Als sie ihn eingeholt hatte, trat sie dicht an ihn heran. Ihre Stimme war ein leises Zischen.

»Ich habe keine Ahnung, was heute Morgen passiert ist, Henrik, aber du sollst wissen, dass ich gesehen habe, wie du mit Steffen zur Hauptstraße zurückgegangen bist. Er hat etwas über dich gewusst, nicht wahr? Etwas, das dich in Schwierigkeiten bringen kann. Was wird wohl die Polizei darüber denken? Sieht so aus, als könntest du in ein schlechtes Licht geraten … vielleicht sogar ein sehr schlechtes Licht. Und ich weiß, dass deine Mutter das alles andere als gut finden wird! Ich denke, du hast allen Grund, dir ernsthaft Sorgen zu machen.«

Kapitel 2

Der Befragungsraum war nicht das, was Frieder bislang gewohnt war. Für seinen Geschmack war er zu groß. Er bevorzugte es, sich ganz und gar auf sein Gegenüber konzentrieren zu können, und da gefielen ihm Wände, die die Szene eng umfassten, um einiges besser als das Büroraumfeeling, das in der Polizeiwache seines neuen Einsatzortes herrschte. Vermutlich ging man davon aus, dass Befragte sich nicht eingesperrt vorkommen sollten – was sicher für die meisten Menschen auch seine Richtigkeit hatte. Frieder war jedoch nicht mehr gewillt, jeden mit Samthandschuhen anzufassen – nicht, nachdem diese Sache im letzten Jahr geschehen war. Er hatte einen Fall übernommen, bei dem ein siebenjähriges Mädchen als vermisst gegolten hatte. Frieder sprach mit den Eltern, die ihm unendlich leidgetan hatten. Die Mutter war am Boden zerstört gewesen und befürchtete das Schlimmste, während der Vater versuchte, tapfer zu bleiben, auch wenn er die Tränen kaum zurückhalten konnte. Dreimal war Frieder bereits im Elternhaus des Mädchens gewesen, um Befragungen durchzuführen – natürlich hätte er diese verzweifelten Menschen dafür niemals auf die Wache beordert. Er hatte das Zimmer ihrer Tochter Eva durchsucht, aber nichts gefunden, das ihn in dem Fall weiterbrachte. Bei einem Kind in diesem Alter war das nicht verwunderlich gewesen. Als er zum vierten Mal die Eltern aufsuchte, um mit ihnen das weitere Vorgehen zu besprechen, zog der Vater plötzlich eine Waffe. Ohne zu zögern, schoss er der Mutter in den Kopf. Als er auf Frieder zielte, erschoss dieser ihn. Zweifelsohne hatte der Mann es genau so gewollt. In seinem Hobbykeller hatte er ein handgeschriebenes Geständnis deponiert – gleich neben dem Vorratsraum, in dem die Kühltruhe mit der Leiche seiner Tochter gestanden hatte. Jahrelang hatte er das Kind sexuell missbraucht. Von der Mutter unbemerkt, wie er schwor. Als das Mädchen zuletzt so heftig weinte, dass er befürchten musste, es ernsthaft innerlich verletzt zu haben, hatte der Vater es in seiner Panik vor den Konsequenzen erwürgt. Er schrieb, wie leid ihm alles täte und wie wichtig es ihm sei, dass seine Frau niemals von seinen Gräueltaten erfuhr. Darum tötete er auch sie und wollte selbst nicht mehr weiterleben. Frieder wurde klar, dass er selbst wohl nicht ernsthaft in Gefahr geschwebt hatte, aber ein Teil von ihm war mit der Mutter, die er nicht hatte beschützen können, gestorben. Natürlich war es müßig, darüber nachzudenken, wie sie mit dem Wissen, dass ihr Mann die eigene Tochter so lange gequält und schließlich umgebracht hatte, weitergelebt hätte. Es war jedoch nicht an Frieder, das zu beurteilen. Was ihn aber seitdem immer wieder beschäftigte, war die Frage, warum er nicht einmal ansatzweise darauf gekommen war, den Vater zu verdächtigen. Natürlich machte ihm niemand deswegen einen Vorwurf – außer er selbst. Frieder hatte sich geschworen, nie mehr davon auszugehen, dass jemand unschuldig war, nur weil er so wirkte, als litte er. Seitdem ließ er sich von der Erkenntnis leiten, dass ein zu großes Maß an Mitgefühl falsch und gefährlich sein konnte. Manchmal hatte Frieder sich gefragt, ob er den Vater vielleicht eher dazu gebracht hätte, sich zu verraten, wenn er ihn, statt in dessen eigenem Haus, im Verhörraum befragt hätte. In den eigenen vier Wänden hatte der Mann sich wohl geschützter gefühlt. Und gerade diesen Schutz wollte Frieder den Befragten nach Möglichkeit inzwischen versagen. Dass das im aktuellen Fall nicht funktionieren würde, war ihm jedoch vollkommen klar, denn es gab einfach zu viele Menschen, die er zu Steffen Hornung befragen musste. Zum einen, weil er Teil einer Clique gewesen war, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit kurz vor seinem Tod getroffen hatte, und zum anderen, weil sich in dem Dorf, in dem er gelebt hatte, die Leute gut untereinander zu kennen schienen. Der ein oder andere würde bestimmt wichtige Einblicke liefern können. Dass Frieder diese Menschen jedoch nicht alle auf die Wache beordern konnte, war klar. Er würde sich im Laufe der Zeit einfach vorarbeiten müssen. Zunächst war es wichtig, sich anzuhören, wie der Förster Steffen aufgefunden hatte. Danach würde Frieder mit den Eltern des Toten reden – das war immer das Schwierigste überhaupt. Natürlich konnte er sie nicht auf die Polizeidienststelle zitieren, auch wenn alles in ihm sich dagegen sträubte, erneut ein trauerndes Elternpaar in dessen Haus aufzusuchen. Er musste das unbedingt überwinden. Immerhin hatte er sich extra versetzen lassen, um neu zu beginnen. Seine gesamte berufliche Zukunft hing davon ab, und deshalb nahm Frieder sich vor, über sämtliche seiner eigenen Schatten zu springen.

Der Controller in Kristofs Hand war schweißnass. Aus den Lautsprechern erklang in süßer Regelmäßigkeit der Schrei eines Sterbenden. Blut spritzte umher, seine Opfer blieben mit verdrehten Augen und zerfetzten Gliedmaßen am Boden liegen. Er lag gut in der Zeit, die Mission war beinahe schon erfüllt, und sein eigener Health-Status lag immerhin noch bei sechzig Prozent. Es war befreiend, alles niederzumetzeln, das sich ihm in den Weg stellte. Und es lenkte ihn davon ab, dass Henrik und Trevor ihn lächerlich gemacht hatten. Immer wieder passierte ihm das, obwohl er doch der Intelligenteste der ganzen Truppe war! Die anderen gaben das sogar zu, und trotzdem behandelten sie ihn wie irgend so ein dahergelaufenes Arschloch. Ja, sie gingen so mit ihm um, als würde er eigentlich gar nicht mal richtig dazugehören. Dabei würde es die Clique nicht mal geben, wenn er nicht dafür gesorgt hätte, dass sie sich vor gut vier Jahren zum ersten Mal trafen. Natürlich wollte inzwischen keiner mehr wissen, dass er sie damals zusammengeführt hatte. Nicht jetzt, da sie zu kräftigen jungen Männern herangewachsen waren, die mehr Wert auf ihre Muskeln legten, als auf den Zusammenhalt, den sie sich damals gegenseitig versprochen hatten. Im Grunde waren sie damals nämlich alle Loser gewesen, die von den anderen gemieden worden waren. Trevor mit seiner kriminellen Vergangenheit. Kimberly mit ihrem damals schon flittchenhaften Auftreten. Steffen, der durchgeknallte Waffennarr. Henrik, der Sohn einer herrschsüchtigen Mutter. Cosma, das überschminkte Püppchen. Und er selbst, der Streber ohne Freunde. Immerhin hatte er das geändert – für sich selbst, und für jeden anderen von ihnen. Nur, dass es ihm eben keiner mehr danken wollte und sie ihn stattdessen oft genug wie einen Aussätzigen behandelten. Kristof tötete noch drei Gegner, dann nutzte er die Wartezeit bis zum Level-Aufstieg, um sich einen runterzuholen. Er tat es schnell und mit Verbissenheit. Das Gefühl des Orgasmus reihte sich nahtlos in seine Tötungsorgie ein. Als er fertig war, griff er wieder zum Controller und ballerte einem großen Kerl eine volle Ladung Munition zwischen die Augen. Das Gesicht seines Opfers war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Programmierer hatten dafür gesorgt, dass einem kein Detail der Zerstörung entging – genial! Eine klaffende Wunde, gefüllt mit dem Brei aus Hirn, Fleisch, Blut und Knochensplittern. Kristof konnte sich daran nicht sattsehen. Er drückte die Pausetaste, um Kontrolle über den Augenblick zu haben. Ja, hier hatte er die volle Kontrolle … hier war er Gott! Ein Gott der Rache, wie im Alten Testament. Kristof setzte das Spiel fort und lud die Waffe neu.

»Danke Herr Dengler, dass Sie sich herbemüht haben. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Tag nicht ganz so begonnen hat, wie Sie es sich vorgestellt hatten.« Frieder schenkte dem Förster ein Lächeln. Dieser gab es in einer rekordverdächtigen Kurzvariante zurück und strich sich über den graumelierten Vollbart.

»Das sucht man sich halt nicht aus.«

»Nein, sicher nicht. Ich muss Ihnen leider noch ein paar Fragen stellen. Um wie viel Uhr haben Sie die Leiche von Steffen Hornung gefunden?«

Dengler überlegte. »Es muss kurz nach sechs gewesen sein. War direkt zu Anfang meiner frühmorgendlichen Tour. Dass es der Sohn von Hornungs war, habe ich allerdings erst später erfahren. Hätte auf die Entfernung jeder junge Mann sein können.«

»Verstehe«, sagte Frieder. »Sie hatten ein Gewehr dabei, als Sie heute Morgen am Steinbruch waren. Wollten Sie auf die Jagd gehen?«

Der Bärtige nickte. »Ja. In der Nähe des Steinbruchs ist ein Hochstand, von dem aus man die Lichtung gut überblicken kann.« Er zögerte kurz und sagte dann: »Ich habe einen Jagdschein. Wollen Sie ihn sehen?«

Frieder hob die Handflächen. »Nein, nein. Das wird schon seine Richtigkeit haben. Was jagt man denn um diese Jahreszeit so?«

»Schwarzwild zum Beispiel.«

»Schwarzwild … aha«, murmelte Frieder.

»Wildschweine«, erläuterte der Förster. »Sie haben nicht viel Ahnung von der Jagd, oder?«

Frieder schüttelte den Kopf. »Nein, in der Tat nicht. Ich bin in der Stadt aufgewachsen und hatte mit der Jagd nichts am Hut. Sie kümmern sich also nicht nur um den Baum- sondern auch um den Wildtierbestand hier in der Gegend?«

»Wenn Sie damit einverstanden sind ...« Der Förster tat so, als warte er eine Erlaubnis ab, doch sein Blick war spöttisch. Er gehörte ganz klar zu den Menschen, die Städter nicht sonderlich ernst nahmen. Frieder verspürte Ärger darüber, doch er unterdrückte ihn.

»Das liegt ja nicht in meiner Entscheidung«, erwiderte er. Die überhebliche Art des Försters war nicht gerade das, was er von Menschen bislang gewohnt war, die eine Leiche entdeckt hatten. Allerdings verwunderte es ihn kaum, dass jemand, der Tiere totschoss, nicht wie ein Häufchen Elend dasaß, nur weil er eine Leiche gesehen hatte. Möglicherweise war es sogar ein Glück gewesen, dass dies jemandem widerfahren war, der das mental gut auf die Reihe bekam. Frieder hatte da schon ganz andere Sachen erlebt …

»Haben Sie jemanden in der Nähe des Steinbruchs gesehen?«, fragte er.

»Keine Menschenseele. Um diese Zeit ist das allerdings nicht ungewöhnlich.«

»Nein, sicher nicht. Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen?«

Dengler dachte nach. »Nichts, bedaure.«

Frieder hatte es nicht anders erwartet und nickte nur knapp, bevor er seine nächste Frage stellte.

»Kannten Sie den Toten persönlich?«

»Das will ich wohl meinen. Es ist der Sohn meines Nachbarn. Ich kannte Steffen sein ganzes Leben lang.«

Das überraschte Frieder und er fragte sich, ob er vorschnell geurteilt hatte, was die mentale Stärke des Mannes anging. Vielleicht wirkte er wesentlich gefasster, als er es in Wahrheit war.

»Tut mir sehr leid, dass Sie den Sohn Ihres Nachbarn so vorfinden mussten.«

»Nur weil ich Steffen von klein auf kannte, muss das nicht zwangsläufig heißen, dass sein Auffinden für mich ein großer Schock gewesen wäre. Er war nicht unbedingt mein Lieblingsmensch.«

Seine Offenheit ließ Frieders Mitgefühl rasch wieder schwinden.

»Dann hatten Sie Differenzen mit Steffen Hornung?«

»Mit dem? Nein, eigentlich nicht. Mit seinen Eltern habe ich Differenzen, wie Sie es so schön nennen.«

»Wie würden Sie es denn nennen?«

»Ich würde sagen, dass die sich für was Besseres halten, obwohl sie in Wahrheit der letzte Dreck sind. Also, rein menschlich gesehen.«

Frieder ließ die harsche Aussage des Försters unkommentiert.

»Welcher Art ist denn Ihr Ärger mit der Familie Hornung?«

»Die üblichen Nachbarschaftsstreitigkeiten vermutlich. Sachen, die sich in den Ohren anderer oft harmlos anhören, einem selbst aber die Lebensqualität zerstören. Die Hornungs feiern zum Beispiel oft – eigentlich ständig. Weit bis in die Nacht hinein, egal ob am Wochenende oder auch mitten unter der Woche. Da ich meist schon vor Morgengrauen raus muss, fühle ich mich dadurch massiv gestört. Zudem parken deren Gäste mit Regelmäßigkeit meine Einfahrt zu. Da bin ich dann schon mal um halb fünf morgens rüber und habe Sturm geklingelt. Die waren gerade erst ins Bett gegangen und haben mich angeschrien – die mich! Diese Bande von Vandalen, die denken, sie würden zu den oberen Zehntausend gehören, nur weil sie ein Vermögen geerbt haben. Mal sehen, wie lange die das Geld noch beisammen halten können …«

»Gibt es Anlass zu der Vermutung, dass die Hornungs in finanziellen Schwierigkeiten sind?«

»Keine Ahnung. Ich meine nur, wer ständig Partys schmeißt und zig Gäste verköstigt, muss ja auch jede Menge Geld dafür ausgeben.

---ENDE DER LESEPROBE---