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Mein Name ist Lucien Chevrier. Vor rund 250 Jahren wurde ich zum Vampir. Mein Erschaffer hatte jedoch keineswegs geplant, mich zu einem seiner Rasse zu machen, deshalb ziehe ich es vor, ihn meinen Mörder zu nennen. Ich habe mein jetziges Dasein einem ganz anderen zu verdanken, aber das ist eine lange Geschichte und ich bin bereit, sie dir zu erzählen. Doch eine Warnung vorweg: Dies ist keine Romanze, wie ihr Menschen sie inzwischen so oft zu erwarten scheint, wenn es um Vampire geht! Ich möchte dir offenbaren, was ich erlebte, und ich möchte dir erzählen, warum ich zu einem Verfolgten innerhalb der Vampirgemeinschaft wurde. Ich tue es, weil ich deine Hilfe benötige, denn ich bin das, was man in meiner Welt ein „Verräterherz“ nennt.
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
~1~
~2~
~3~
~4~
~5~
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~8~
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~10~
~11~
~12~
Ich machte die Zeit zu meiner Verbündeten,
obgleich sie doch meine ärgste Feindin ist.
Von den Zeigern der Uhr lasse ich mich geißeln,
damit sie mir Einhalt gebieten, wider die Völlerei.
So entsage ich dem überaus verlockenden Blutrausch,
zügele mich in meiner Gier und tue mir selbst Gewalt an,
um deinesgleichen zu schützen, so gut es mir eben
möglich ist.
Gewähre mir deine Zeit - Nur ein wenig davon,
und ich werde dir berichten, warum ich einen Teil
deiner kostbaren Lebensspanne für mich beanspruche.
Wir werden uns nicht als Freunde trennen, aber vielleicht doch zumindest als Wesen, die einander respektieren.
Lass uns beginnen, denn die Zeit drängt...
Ich bin eine verlorene Seele. Das war ich schon immer und es hat sich in den letzten rund zweihundertfünfzig Jahren nicht geändert.
Mein Name ist Lucien Chevrier. Geboren wurde ich in Paris im Jahre 1739. Inzwischen habe ich beinahe die ganze Welt bereist und es doch nicht geschafft, vor mir selbst davon zu laufen. Mein Vorname bedeute soviel wie „der Glänzende“ – und das ist auch schon das einzig Helle an mir.
Meine Augen sind so dunkel wie die meiner Vorfahren; mit dem einzigen Unterschied, dass meine kurzzeitig rot werden, wenn ich mich nähre. Ich entstamme keinem altehrwürdigen Vampirgeschlecht; meine Eltern waren Menschen, so wie meine Großeltern und die Generationen davor.
Vermutlich brach es ihnen das Herz, als ich im Alter von einundzwanzig Jahren starb. Die Gewalteinwirkungen waren nicht zu übersehen gewesen und werden vor allem meiner Mutter schwer zugesetzt haben, die von jeher eine sehr zarte und friedliebende Frau war. Ein Streit zwischen ihr und meinem Vater klang für andere Menschen stets wie eine angeregte Unterhaltung. Mehr ließen beide nicht zu, in dem Wissen, dass es Wunden schlagen würde, die man einem Menschen, den man liebt, nicht zufügen sollte.
Wir lebten nicht in wohlhabenden Verhältnissen, doch kann ich mich nicht entsinnen, je gehungert zu haben. Vielleicht ist es jedoch auch nur so lange her, dass ich feste Nahrung zu mir nahm, dass mir die Erinnerung an die Entbehrung derselbigen nicht mehr vorstellbar ist. Ich halte das für möglich, denn trotz meiner Fähigkeiten, die von Menschen gerne als übernatürlich bezeichnet werden, bin ich erstaunlicherweise nicht in der Lage, mich an Einzelheiten meines sterblichen Lebens zu erinnern. Zumindest nicht an die Dinge, an die ich mich gerne erinnern würde. Aber was sind auch schon einundzwanzig Jahre gegenüber gut zweieinhalb Jahrhunderten?
Ich bin dankbar, dass ich meine Mutter nicht sah, als sie meinen Leichnam entdeckte. Ich war in der glücklichen Lage, gerade in dieser Zeit meine Wandlung zu durchlaufen, die meinen Körper von dem meiner sterblichen Überreste trennte, und die dafür sorgte, dass ich in einer Zwischenwelt die Metamorphose für mein neues Leben durchlief. Diese Zwischenwelt ist nicht unbedingt ein schöner Ort, wie ich wohl klarstellen muss, aber dennoch ein Ort, an dem man lieber verweilt, als zu sehen, wie die eigene Mutter leidet.
Es muss ein schlimmer Anblick pour ma chère maman gewesen sein, als sie meine zerfetzte Kehle sah. Ich kann mich dunkel erinnern, dass der Vampir, der mir das angetan hatte, mir im Kampf auch den Arm brach.
Lange Zeit nach meiner Verwandlung suchte ich meinen Mörder, und schließlich, vor ein paar Wochen nun, fand ich ihn endlich. Es war mehr ein Zufall, wie ich gestehen muss, dennoch war meine Genugtuung nicht minder groß, als sie es gewesen wäre, wenn ich ihn kurz nach meiner Wandlung zum Untoten gefunden hätte.
Ich weiß, dass die Zeit der Sterblichen begrenzt ist – geradezu lächerlich eng bemessen, im Gegensatz zu meiner eigenen. Dennoch schreibe ich meine Geschichte für diejenigen auf, die nicht dem Vampirgeschlecht angehören. Natürlich könnte ich so tun, als würde ich dadurch lediglich jene warnen wollen, denen es nicht so ergehen soll, wie mir einst. Doch das ist nicht der Grund. Und ebenfalls geschieht es nicht, weil ich etwa glaube, etwas beichten zu müssen. Als Vampir habe ich es nicht nötig, bei sterblichen Menschen um Vergebung zu bitten - sterbliche Menschen, die mein Leben stets nur streifen und mir mehr zu Nahrungszwecken dienen, denn als Beichtvater, oder gar als Mentor. Ein geradezu lächerlicher Gedanke übrigens, euch als meinen Mentor in Betracht zu ziehen, denn ich weiß so viel mehr als ihr.
Ich bin bereit, dir ein wenig davon zu berichten; im Austausch dafür, dass du mir einen Teil deiner kostbaren Zeit schenkst. Und schuldig bin ich noch die Erklärung, warum ich sie überhaupt beanspruche, dies ist mir nicht entgangen.
Nun, sagen wir so … ich verfolge damit eigene Ziele, die - wie es der Zufall so will - ein paar eurer Leben schützen kann. Dass ich euch töte, um selbst zu überleben, leugne ich nicht. Und doch folge ich nur meinem Instinkt, denn auch wenn mein Geist in der Lage ist, sich zu konzentrieren, um zum Beispiel diese Zeilen aufs Papier zu bringen, so liegt jegliche Selbstkontrolle brach, wenn ich hungrig bin und der Geruch eures Lebenssaftes mir köstlich in die Nase steigt. In einem solchen Moment sollten wir uns lieber nicht begegnen, geneigter Leser. Hege also besser niemals den Wunsch, mich finden zu wollen - denke nicht einmal daran, dass du mich suchen könntest. Und blättere mit Bedacht die nächste Seite um, denn ein einziger Schnitt, der durch das scharfkantige Papier nur allzu leicht erfolgen könnte, würde vielleicht dein Ende bedeuten, da ich - von dir unbemerkt - in deiner Nähe verweile, um zu beobachten, wie meine Worte auf dich wirken. Es könnte geschehen, dass wir uns auf solch unliebsame Weise treffen, denn es ist kein Zufall, dass gerade du meine Geschichte nun liest. Glaube mir jedoch, dass ich es nicht wirklich auf dein Leben abgesehen habe. Das Einzige, worum ich dich ersuche, ist, dass du bitte vorsichtig sein mögest, und Verletzungen deines Körpers besser auf einen anderen Zeitpunkt verschieben solltest.
Um den scharfkantigen Seiten des Papiers zu entgehen, wäre es ratsam, meine Aufzeichnungen in digitaler Form zu lesen – ich werde mich darum kümmern, dass dir diese Möglichkeit gegeben ist, denn ich bin dem Fortschritt nicht abgeneigt – und war es nie, wenn er meinem Nutzen diente.
Aber verzeih, ich verlor mich in Gedanken, die zwar wichtig sind, jedoch deine Aufmerksamkeit vielleicht zu sehr von dem ablenken, was ich dir eigentlich zu erzählen gedachte.
~*~
Vor einigen Wochen also fand ich ihn. Nicolas Morlet, den ich stets als meinen Mörder, nicht etwa als meinen Schöpfer sah, wie wohl mancher fälschlich annehmen könnte. Er führte ein Antiquitätengeschäft in einer kleinen kopfsteingepflasterten Gasse im Herzen von Paris. Ich hatte die Spur bis zu ihm durch einen Gegenstand verfolgen können, den ich einem meiner Opfer entwendet hatte – was nur rechtens war, denn er gehörte mir! Mein Mörder hatte ihn damals an sich genommen, nachdem er meine Halsschlagader durchtrennt hatte, in dem festen Glauben, das restliche Blut, das er nicht mehr zu seiner Sättigung benötigte, würde in der Matratze meines Bettes versickern. Seiner Meinung nach würde ich die Taschenuhr nie mehr benötigen, die er mir raubte. Ich hatte sie von meinen Eltern geschenkt bekommen, um nicht zu spät zur Arbeit auf dem Fischmarkt zu erscheinen. Es war meine erste Anstellung, die ich nach langer Krankheit endlich wieder annehmen konnte. Meine Mutter hatte darauf bestanden, mich zu pflegen - aufopferungsvoll, wie es nun einmal ihre Art gewesen war. Und mit Erfolg noch dazu, denn endlich hatte ich die dunklen Zeiten hinter mir gelassen, in denen ich mit hohem Fieber und schwachem Geist darniedergelegen hatte. Ich fühlte mich zu dem Zeitpunkt, da meine Krankheit überwunden war und ich meine Kräfte wiedererlangt hatte, wie neu geboren. Ich hatte alles vor mir. Mein Leben war ein Abenteuer und ich war zu einem Entdecker geworden, der mit allen Sinnen seine Umwelt neu erforschte.
Aber das alles tut nun nichts zur Sache, denn ich will von ihm berichten – meinem Mörder. Er wollte mich sterben lassen, nicht etwa zu einem seiner Art machen.
Nun, es kam anders, wie wohl inzwischen deutlich geworden sein sollte. Ein Mädchen fand mich, während ich starb, und es erzählte mir eine Geschichte. Aber da mir bewusst ist, wie verwirrend dies nun für dich sein muss, werde ich von dieser Begebenheit zu einem späteren Zeitpunkt berichten. Ich nehme an, dass es die menschliche Vorstellungskraft auf eine harte Probe stellt, weil ich mich erinnern kann, wie sehr ich selbst mit der Wahrheit zu kämpfen hatte. Ich verspreche, dass ich dennoch versuchen werde, die Geschichte begreiflich zu machen. Doch später … später, als Lohn für deine Aufmerksamkeit. Und um mich selbst nun nicht zu sehr in meiner eigenen Erzählung zu verstricken.
Ich habe es nie gelernt, das kunstvolle Schreiben. Und ich gestehe, dass ich zuerst einen Literaten bat, meine Geschichte in Worte zu fassen. Das Einzige, was ich zu tun hatte, war, ihm alles zu erzählen, während er seine Finger geschäftig über eine Tastatur führte, die meine Worte direkt auf einem Bildschirm erscheinen ließ. Kurzum, er verwendete einen Laptop. Ein Schreibgerät übrigens, von dem ich zu Zeiten meines sterblichen Lebens nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Für Teufelszeug hätte man es gehalten. Der Mann jedoch betrachtete es als ganz gewöhnliches Hilfsmittel. Wir arbeiteten gut zusammen. Drei Abende hintereinander. Dann bekam er Nasenbluten und ich verlor meinen Literaten. Ich schaffte es sogar noch, ihm ein Taschentuch zu reichen, bevor meine Instinkte mich übermannten.
Seitdem glaube ich jedoch, dass es besser ist, wenn ich den Kontakt mit Menschen wieder auf ein Minimum reduziere. Ich schreibe nun an seinem Laptop, und für mich ist es nicht wirklich Teufelszeug, denn auch wenn zu meinen Lebzeiten so etwas undenkbar war, so habe ich – wie bereits erwähnt - doch die technische Entwicklung als Vampir mitverfolgen können und sie auch stets genutzt, wenn es mir möglich war und einen Vorteil verschaffte.
Aber kommen wir vom Laptop wieder zu dem Gegenstand, durch den ich zu Nicolas Morlet fand. Die Taschenuhr.
Nun, in der Tat brauchte ich sie nach den unschönen Ereignissen, die sich in meinem Schlafzimmer abgespielt hatten, nicht mehr. Und doch fehlte sie mir, denn selbst als Vampir neige ich dazu, mich an der Zeit zu orientieren. Ich werde sonst so gleichgültig, verliere die Kontrolle, töte zu oft und trinke zu viel Blut. Danach ist mir schlecht und zugleich verlangt zu viel Blut geradezu nach noch mehr davon. Das sind keine Mahlzeiten mehr, sondern Völlerei, die ohne Zeitgefühl einen regelrechten Blutrausch nach sich ziehen kann. Ein guter Grund also, ein wenig nach der Uhr zu leben und sich die Mahlzeiten gewissenhaft einzuteilen, damit es gar nicht erst soweit kommt. Es geht hier um Menschenleben, also denke ich, dass du mir in diesem Punkt zustimmen wirst.
Doch bevor du nun glaubst, ich hätte vielleicht wirklich über zweihundertfünfzig Jahre lang im Blutrausch gelebt, lass mich vorweg sagen, dass ich mir eine andere Uhr stahl, sobald ich begriff, dass sie mir von Nutzen war. Überhaupt bin ich recht praktisch verlangt und bediene mich der Dinge, die mir zur Verfügung stehen. Dazu zählen auch meine vampirischen Eigenschaften, die jedoch in der Fantasie der Menschen geradezu lächerliche Formen annehmen.
Tatsache ist jedoch, dass ich als Körperloser ein gewisses Maß an Auswahlmöglichkeiten habe, was mein Erscheinungsbild angeht. Und nein, eine Fledermaus gehört nicht dazu – der männliche menschliche Körper ist eine fixe Vorgabe, der auch ich unterliege.
Es dauerte etwas, bis ich in der Lage war, die Körper meiner Opfer ohne Probleme zu übernehmen. Meist bin ich jedoch ohnehin Lucien Chevrier in einer nicht alternden Ausgabe, da mir dieser Körper am meisten vertraut ist und ich ein klein wenig nostalgisch veranlagt bin. Doch ist es mir inzwischen ohne weiteres möglich, auch andere Gestalten anzunehmen, wenn ich mich nur genügend konzentriere, und wenn ich ausreichend gesättigt bin. Genaugenommen lässt meine Konzentration rasch nach, sobald der Hunger einsetzt, daher ist das Blut mir nicht nur Nahrung, sondern sorgt auch dafür, dass ich nicht in einen körperlosen Zustand gerate, der mich erneut in die Zwischenwelt zwingt.
Das ist übrigens nicht bei allen Vampiren so. Je älter der Stammbaum, desto mehr Kontrolle haben Vampire über ihren Körper. Und desto weniger Blut benötigen sie, um gesättigt zu sein. Es ist mir ein wenig peinlich, das zuzugeben, aber ich bin, „dank“ meiner relativ neuen Zugehörigkeit zu dieser Rasse, einer der jungen Wilden, die sich selbst regelrecht Gewalt antun müssen, um nicht mordend jede Nacht durch die Städte zu ziehen.
Wie ich bereits offenbarte, ist die Uhr in diesem Punkt meine Verbündete und vermag es, mich in die nötigen Schranken zu weisen, indem sie mir sagt, wie lange ich Enthaltsamkeit üben muss, bis ich meinen Hunger kontrolliert stillen darf.
Doch dass ich keiner alten Vampir-Linie angehöre, hat leider noch ganz andere Auswirkungen. Für mich tödliche, um genau zu sein, denn ich bin zu dem geworden, was man in unseren Kreisen ein Verräterherz nennt. Wie es dazu kam, und warum ich mir von dir Hilfe erhoffe, soll meine Geschichte offenbaren.
Ich muss dir recht geben, wenn du nun denkst, dass ich dann gefälligst weiter berichten sollte, was sich vor ein paar Wochen ereignet hat – denn dies muss man verstehen, wenn man die ganze Tragweite begreifen will.
Es war Anfang Mai letzten Jahres, als ich des Nachts durch den Jardin des Plantes ging. Die Wege des Parks waren um diese Zeit nicht mehr sehr bevölkert und der Mond stand voll am Himmel. Ich war hungrig, aber die Uhr verbot mir eine Mahlzeit, und so ignorierte ich meine wachsenden Eckzähne, als ich ein Paar auf einer der Bänke sitzen sah. Die helle Nacht verbarg nicht, was die Beiden trieben, auch wenn meine Sehfähigkeit selbst bei Neumond ausgereicht hätte, um mir zu offenbaren, dass er seine Hand in ihrer Bluse hatte, während sie eine stattliche Beule in seinem Schritt durch den Stoff seiner Jeans streichelte. Ich gebe zu, dass mich der Anblick nicht kalt ließ. Es ist durchaus nicht so, dass ich mir keinen Sex wünsche. Ich hatte zu Zeiten meines sterblichen Lebens leider viel zu wenig davon, und nun gestaltet sich die Sache eher schwierig.
Das liegt daran, dass ich bei Menschen immer Gefahr laufe, dass mir die heftig pulsierende Halsschlagader plötzlich besser gefällt, als sie es in dieser Situation tun sollte. Und zum anderen ist es leider so, dass Vampire mit besserem Stammbaum mich niemals erwählen würden.
Ich spreche übrigens nicht umsonst von Menschen oder Vampiren im Allgemeinen, denn ich fühle mich zu beiden Geschlechtern hingezogen.
An den Frauen mag ich ihre weiche Haut und die Rundungen, sowie den süßlichen Geruch, den sie verströmen, und der mich an den Sommer erinnert. Bei Männern genieße ich die ausgeprägtere Muskulatur, die maskuline Rauheit ihrer Körper und den herberen Duft, den sie ständig verströmen und der beim Sex so intensiv wird, dass er meine Sinne benebelt. Ich gewinne beiden Geschlechtern so viel ab, dass ich keines bevorzugen und keines verschmähen würde, wenn eine körperliche Annäherung von beiden Seiten erwünscht ist.
Doch obwohl damit die Auswahl augenscheinlich größer sein sollte, führen die besagten Probleme nicht gerade dazu, dass ich ein erfülltes Sexualleben hätte. Und unter dem Strich gesehen ist das Blut mir ohnehin wichtiger, weil es mich dauerhafter befriedigen und stärker machen kann, als der Sex es vermag.
An diesem Abend im Park jedoch spürte ich plötzlich dieses Verlangen nach einem anderen Körper in mir aufsteigen. Das war mir lange nicht mehr passiert und es war sehr verwirrend für mich, denn auf meiner Uhr konnte ich nicht ablesen, ob die Zeit dafür reif war.
Das, was ich gesehen hatte, diente offensichtlich dazu, diese Regung in mir zutage zu fördern, und eine Kontrolle war schwierig.
Da mein letzter Sex - der mit einer Vampirin niederen Ranges stattgefunden hatte - allerdings schon knapp sieben Jahre her war, ging ich davon aus, dass die Zeit vielleicht langsam gekommen war, mir erneut einen Partner zu suchen.
Ich verließ eilig den Park und hoffte auf einen meiner Art zu treffen, und den Glücksfall zu erleben, dass meine Herkunft nicht schlechter war, als dessen.
Natürlich war das Glück mir nicht hold. Ich lief ziemlich neben der Spur, wie man heute so sagt. Zwar macht das Sonnenlicht mir nichts aus, wie es gerne in Vampirgeschichten der Menschen zu lesen ist, doch gebe ich hier und jetzt offen zu, dass es mich enorm quälte, als die Sonne bereits aufging und ich immer noch niemanden gefunden hatte, der sich körperlich mit mir vereinigen wollte.
Ich war zu diesem Zeitpunkt also hungrig und geil … keine gute Mischung, und ich könnte es nun auf diesen jungen Mann schieben, der mich besser in Ruhe gelassen hätte. Doch das tat er nicht. Er war einer dieser Typen, die wie ich die Nacht durchgemacht hatten; nur dass er ein Mensch war und definitiv besser geschlafen und weniger Alkohol hätte trinken sollen.
Als er aus einem Nachtclub praktisch direkt in meine Arme torkelte, lallte er mir zu, dass die Nacht ihm gehört hatte. Ich erwiderte, dass er die Nacht gerne behalten könne, dass er es nun jedoch wäre, der mir gehöre, und ich packte fester zu. Er lachte und fragte mich, ob ich schwul sei. Ich zuckte mit den Schultern, was ihn wiederum zum Lachen veranlasste. Das gefiel mir irgendwie und ich nahm mir vor, ihn nach dem Sex am Leben zu lassen. So ein Lachen darf man nicht einfach auslöschen – auch ich habe gewisse Regeln, die ich einhalte, obwohl mir das „Handbuch für Vampire“ noch immer fehlt.
Er murmelte etwas davon, dass ich ihm gefallen würde. Seine Hand streifte mein Haar und er spielte mit den langen Strähnen, die dank meiner Unsterblichkeit niemals dünner werden, sondern mir voll und weich bis auf die Schultern reichen.
„Willst du mal was sehen?“, fragte er mich plötzlich. Ich war nicht abgeneigt, mir etwas von ihm zeigen zu lassen.
Er zog seine Lederjacke aus und schob den Ärmel seines T-Shirts ein Stück hoch. Seine grünen Augen strahlten mich erwartungsvoll an, während ich auf das Symbol starrte, ohne wirklich die Tätowierung zu sehen.
„Habe ich mir gestern abend erst stechen lassen. Ist noch ein bisschen blutig und tut weh, aber geil, oder?“
Er hatte recht, das Ding war noch blutig. Der Geruch seines Lebenssaftes drang wie Nebel in meinen Geist. Sein Testosteron waberte hinterher, und meine eigene Geilheit und der Hunger hebelten mein kontrolliertes Denken aus. Die Uhr an meinem Handgelenk schrie, dass es noch zu früh sei, aber zumindest schrie der Tätowierte nicht, als ich meine Zähne in dieses Symbol an seinem Oberarm bohrte. Er hielt es wohl für eine seltsame Form, mein Begehren auszudrücken, denn noch mehr seines Testosterons strömte in meinen Geist, während er wisperte: „Das wird der Wahnsinn mit dir, das spüre ich.“
Er behielt recht, es war der Wahnsinn. Der Sex war einfach unglaublich, und ich weiß, dass auch er es genoss. Leider schaffte ich es nicht, dafür zu sorgen, dass sein Lachen weiterleben würde. Wie ich bereits sagte, war mein kontrolliertes Denken lahmgelegt, und vielleicht wäre es besser gewesen, erst von ihm zu trinken, um mich in gesättigtem Zustand besser beherrschen zu können. Aber das ist paradox, denn dann hätte ich ihn ja bereits vor dem Sex getötet. So konnte ich ihm wenigstens ein paar wirklich glückliche Momente bescheren, bevor ich durch meine Instinkte gezwungen wurde, die Zähne in ihn zu bohren und ihm sein Leben zu entziehen. Ich tat es so sanft, wie es mir möglich war. Am Adrenalingehalt in seinem Blut konnte ich schmecken, dass er nicht litt. Ich weiß, das macht es nicht besser, aber ich schwöre bei meiner verlorenen Seele, dass er, durch den ausklingenden Orgasmus, als glücklicher Mann starb. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, in meiner für mich unkontrollierbaren Gier, und einen Moment lang dachte ich sogar darüber nach, was wäre, wenn ihm ebenfalls das Mädchen begegnete.
Er könnte zu mir gehören – wir könnten gemeinsam all die Dinge durchleben, denen ich seit über zweihundertfünfzig Jahren alleine ausgeliefert war. Er würde nicht allein sein müssen, sondern in mir einen Ratgeber und Vertrauten finden, wenn er mich wollte.
Aber das Mädchen erschien nicht. Zumindest zeigte es sich mir nicht, und machte ihm offenbar nicht das gleiche Angebot wie mir, denn er starb in meinen Armen … in seiner kleinen Wohnung … in seinem eigenen Bett.
Erinnerungen wurden wach. Und nachdem ich gesättigt war, überfielen mich schreckliche Gewissensbisse. Jedenfalls so schwere, wie es einem Vampir möglich ist. So etwas wie ein Trauma kennen wir nicht. Wir werden nicht verrückt vor Schuld oder Trauer. Aber ja, ich fühlte mich schlecht, nachdem ich mich von ihm genährt hatte und ihn tot dort liegen sah.
Vielleicht wäre dies nun ein guter Zeitpunkt, um klarzustellen, dass der Begriff Hunger für den Blutdurst eigentlich ein schlecht gewählter ist. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass ihn jemand verwendet, der eigentlich genügend Nahrung zur Verfügung hat, und der den Begriff Hunger mit Appetit auf etwas gleichsetzt. Einen solchen Hunger kann man nämlich unterdrücken, oder sollte es zumindest können. Der Hunger eines Vampirs jedoch ist etwas gänzlich anderes. Es widerstrebt mir verständlicherweise ihn mit dem Blutrausch eines Tieres zu vergleichen, aber zumindest trifft dies die Sache wesentlich besser, als der Appetit-Vergleich.
Ich hatte meinen Liebhaber also nicht getötet, weil ich noch ein wenig Hunger auf ihn hatte, sondern weil ich gar nicht anderes konnte. Und ich führte mir vor Augen, wer mich erst zu einem solchen Mörder gemacht hatte – mein eigener Mörder!
Als ich die Lederjacke vom Boden aufhob, die der Tätowierte einfach hatte fallen lassen, bemerkte ich, dass etwas aus der Innentasche hing. Eine Kette. Interessiert zog ich daran, worauf eine Taschenuhr zum Vorschein kam. Ich erkannte sie sofort, noch ehe ich den Deckel öffnete, um die Inschrift zu lesen. Sie lautete: Pour mon chéri Lucien.
Meine Mutter hatte zweifellos diese Worte zur Gravur in Auftrag gegeben und ich bin mir sicher, zusammen mit der Uhr hat sie dafür ein halbes Vermögen ausgegeben. Aber meine Eltern waren so glücklich, dass ich meine Krankheit überwunden hatte, und sie waren so stolz auf mich, dass ich die Anstellung auf dem Markt erhalten hatte, dass sie das Geld für mein Geschenk unbedingt hatten ausgeben wollen.
Der neue Job brachte einen guten Verdienst ein, und ich war bereit, dafür die entsprechenden Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Dazu gehörte natürlich das Aufstehen mitten in der Nacht. Der Umgang mit den Fischern und Händlern war rau und manchmal sogar gefährlich. Den Streitsüchtigen ging ich aus dem Weg, so gut es eben ging. Der Markt hatte ganz eigene Gesetze, die ich achtete, um nicht zwischen den Fischabfällen zu landen. Ich musste die Fische für den Verkauf ausnehmen, sie putzen und auslegen, bevor die ersten Käufer erschienen.
Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich anfangs so gut wie gar nicht mehr schlief, um ständig auf der Uhr nachzusehen, ob ich mich bereits wieder von meiner Bettstatt erheben musste. Ob ich je zu spät kam, ob ich Spaß an meiner Arbeit hatte, oder ob ich selbst Fisch aß, vermag ich nicht mehr zu sagen. Seltsam, welche Erinnerungen sich eingeprägt haben, und welche gänzlich verloren gingen, obwohl man doch meinen müsste, sie seien von Belang gewesen.
Als ich nun meine eigene Taschenuhr in den Händen hielt, die mir vor so langer Zeit von meinem Mörder entwendet worden war, glaubte ich an eine merkwürdige Ironie des Schicksals.
Wie besessen durchsuchte ich nun auch die anderen Taschen der am Boden liegenden Kleidung. Und ich wurde fündig! In der vorderen Jeanstasche fand ich einige Quittungen. Alle zerknittert und ineinander geknüllt. Zwei zeugten von einem Zigarettenkauf, eine war von einer Tankstelle. Und eine war handschriftlich ausgestellt worden. Sie belegte einen Uhrenkauf in einem Antiquitätenladen - die Adresse des Geschäftes war aufgedruckt.
Ich wollte die Spur aufnehmen, zu dem Mann, der mir vor so langer Zeit die Uhr gestohlen hatte. Ich entschied, den Antiquitätenladen so bald wie möglich aufzusuchen, um dort mehr zu erfahren.
Also wartete ich in der Wohnung meines Opfers, bis die Sonne am Himmel stand und die Geschäfte öffneten.
In der Zwischenzeit räumte ich die Küche ein wenig auf. Wir hatten sie zwar nicht benutzt, aber da das Bett das einzige war, was ich unordentlich gemacht hatte, und in diesem mein Opfer lag, sah ich davon ab, es neu zu beziehen. Stattdessen räumte ich Geschirr in die Spüle, wusch es ab und stellte es in ein Regal, das an der Wand über einem kleinen Tisch angebracht war. Dort fand ich noch drei weitere Taschenuhren und begriff, dass der junge Mann sie sammelte – gesammelt hatte. Erst in diesem Moment fiel mir wieder ein, dass auch seine Tätowierung eine Uhr darstellte. Mit meinen spitzen Zähnen hatte ich genau ein Loch jeweils in die Zwölf und Sechs dieser noch leicht blutigen Uhr gestoßen. Merkwürdig, dass mir das nicht eher aufgefallen war.
Wäre ich imstande, mich vor etwas so Unwirklichem wie dem Schicksal zu fürchten, hätte ich es wohl in diesem Moment getan, als mir klar wurde, dass die Uhren mein Leben auf mehr als nur eine Weise beherrschten. Einen Mann körperlich zu lieben und schließlich zu töten, der die gleiche Leidenschaft wie ich teilte - und zudem noch in den Besitz meiner Uhr gelangt war - war zugegebenermaßen schon eine eigenartige Wendung. Aber selbst wenn man die Ewigkeit vor Augen hat, ist man nicht imstande, die Zukunft zu sehen. Ich zumindest bin es nicht.
~*~
Als es Zeit wurde, machte mich also auf den Weg zu dem Antiquitätenladen.
Ich schwöre bei allen Mächten, dass ich nicht mit dem rechnete, was dann passierte. Und was ich zuvor noch aus tiefsten Herzen bedauert hatte, geschah diesmal aus reinem Hass. Ich brauchte Nicolas Morlet nicht, um mich zu nähren. Ich hatte es bereits an einem Menschen getan, den ich hatte leben lassen wollen. Grund genug, den Antiquitätenhändler hinzurichten, als ich in ihm den Mann erkannte, der mir im Kampf den Arm gebrochen, und der seine Zähne in meinen Hals gebohrt hatte. Als er mit mir fertig gewesen war, hatte er erneut zugebissen, um meine Schlagader zu zerfetzen und damit meinen Tod sicherzustellen. Dann hatte er in meinen Taschen gewühlt, wie ich es zweieinhalb Jahrhunderte später ebenfalls bei meinem Opfer getan hatte. Das alles war so schrecklich vorherbestimmt – wenn ich denn Furcht vor dem Schicksal hätte, wie ich bereits sagte.
Aber es gibt noch mehr von Nicolas Morlet zu berichten, denn ich sprach mit ihm, bevor ich Rache übte. Und dieses Gespräch zeigt dir vielleicht auch, warum ich so handeln musste, wie ich es tat.
Ich bitte dich inständig zu unterscheiden, warum der eine, und warum der andere Mann sterben musste. Es würde zu weit gehen, wenn ich behaupten würde, ich hätte den Tätowierten geliebt – wenn man einmal von der Verschmelzung unserer Körper absieht, was natürlich eine Form der körperlichen Liebe darstellt. Aber Tatsache ist, dass ich ihn kaum kannte. Ich spreche nun von Gefühlen, die irgendwo in der Seele wohnen, im Herzen, im Kopf, im Bauch … wo auch immer, und dort empfand ich nicht mehr für ihn, als eine erotische Neugierde, die wir gemeinsam stillten. Aber eines versichere ich dir – ich habe ihn nicht absichtlich getötet!
Nicolas Morlet hingegen schon.
Doch ich habe schon viel zu viel vorweg genommen. Eine Schwäche von mir, da ich eilig berichten möchte, ohne die Kunst des schriftlichen Erzählens tatsächlich zu beherrschen. Aber ich gebe diesbezüglich mein Bestes, wie ich dir versichern möchte.
Ich betrat also Morlets Laden gegen zehn Uhr vormittags. Es war ein sonniger Morgen, dem ich tatsächlich etwas abgewinnen konnte, obwohl es mich immer noch traf, dass meine Mahlzeit einen scheinbar so netten Menschen - der mich mit seinem Lachen hatte verzaubern können - das Leben gekostet hatte. Ja, ich gebe zu, dass mir das nahe ging, obwohl eine Stimme in mir mich ständig daran erinnerte, dass es nicht meine Schuld war, dass ich zu dem geworden war, was ich nun einmal bin. Die Schuld dafür – und für alles was ich in diesem Dasein verbreche - liegt bei meinem Mörder. Zumindest ist dies eine Beruhigung, auch wenn es sich in Menschenohren vermutlich eher wie eine feige Ausflucht anhören muss.
~*~
Als ich die Tür zum Laden öffnete, erklang eine kleine Glocke, die dort befestigt war. Erwähnte ich schon, dass ich ein wenig nostalgisch veranlagt bin? Nun, es freute mich zumindest, keinen akustischen Gong ertönen zu hören. Es ist so viel unpersönlicher, von einem technischen Gerät angekündigt zu werden, statt von einer kleinen metallenen Glocke, die man selbst in schwingende Bewegung versetzt hat. In letzterem Fall sind nämlich noch Kräfte am Werk, die man eigenhändig unter Kontrolle hat. Öffne ich eine Tür, die mit einer Glocke versehen ist, mit viel Schwung und Kraft, so kündet sie durch heftiges Klingen von meinem Elan, mit dem ich ein Geschäft betrete. Öffne ich jedoch langsam und zaghaft, so klingt sie nur leise und scheu, was den Inhaber zu der Frage veranlassen könnte, ob es mir auch gut ginge. Ein automatischer Gong klingt immer gleich, ohne dass ich Einfluss auf ihn hätte. Ihn interessiert mein Befinden nicht im Geringsten und er entzieht sich meiner Kontrolle.
Ja, ich gebe zu, dass es die Kontrolle ist, die mir eine Glocke sympathisch macht. Und hier hatte mich eine solche empfangen. Hinzu kam das freundliche Wetter an diesem Tag im Mai. Insofern müsste man annehmen, dass ich den Antiquitätenladen entsprechend versöhnt betrat. Dem war aber nicht so.
Kaum, dass ich im Laden stand, überfiel mich eine Vorahnung. Ich wollte eigentlich nur herausfinden, wo der Inhaber meine Uhr erworben hatte, und ich war bereit, eine lange Spur zurückzuverfolgen.
Der Geruch, der neben dem Staub, altem Leder und Holzwachs zu mir aus dem Büro drang, ließ meine enthusiastischen Pläne und meinen Tatendrang sofort verebben und wandelte sich zu einem Hassgefühl, wie ich es mir selbst bislang nur selten gestattet hatte. Aber es war noch etwas anderes als Hass vorhanden. Vielleicht ist es am besten mit tiefer Befriedigung vergleichbar, die sich unmittelbar körperlich auf einen auswirkt.
Oder – um noch beispielhafter zu werden - kann man es wohl mit dem gleichsetzen, was ein echter Kaffeetrinker empfindet, wenn er nach wochenlangem und gezwungenem Instant Kaffee Konsum, den Duft eines frisch aufgebrühten Bohnenkaffees riecht, und was er beim Geruch dieses Elixiers seines Begehrens empfindet. Ich weiß, dass viele Menschen Kaffee lieben, daher wähle ich den Vergleich. Meinem Literaten wäre vermutlich ein besserer eingefallen. Aber vielleicht auch nicht, denn er war selbst ein begeisterter Kaffeetrinker. Drei Abende hintereinander konnte ich beobachten, wie er während des Tippens Unmengen der schwarzen Brühe genussvoll trank. Er fürchtete nicht die anregende Wirkung des Gebräus, und er fürchtete mich nicht – was zweifellos ein Fehler war. Er konnte nicht ahnen, dass ich wirklich ein Vampir war, als er seinen Kaffee in meiner Küche zu sich nahm. Leider weiß ich nicht viel über ihn, da ich es fast ausnahmslos war, der redete, um ihm den Text zu diktieren, den ich auf diese Art später einem Leser mitteilen wollte. Doch immerhin wusste ich von seiner Kaffeeleidenschaft. Ich habe ihn daher mit ein paar Packungen seiner Lieblingssorte auf einem alten Friedhof begraben und meine Kräfte genutzt, um das frisch zugeschüttete Grab ungewöhnlich schnell altern zu lassen. Dies ermöglichte mir, die Spuren zu verwischen, aber natürlich vermisst man ihn.
Man sucht meinen Literaten noch heute, wie ich aus den Zeitungen weiß. Manchmal stelle ich mir vor, wie er die nun knöchernen Beine übereinander schlägt, mit ebenso knöchernen Fingern eine Tasse Kaffee an seinen lippenlosen Mund hebt und die dunkle Brühe ihm über das Gerippe läuft, nachdem er es in seinen fleischlosen Kiefer gekippt hat.
Zugegeben, eine makabere Vorstellung, aber vielleicht würde er es – wenn die Umstände schon so liegen, dass er sterben musste – selbst ein wenig als tröstlich empfinden, sich so zu sehen. Denn sicher wäre es einem Kaffeesüchtigen wie ihm ein grausamer Gedanke, all die Pakete mit frisch gemahlenem Kaffeepulver ungenutzt vergammeln zu sehen.
Aber kehren wir zu dem Moment zurück, als ich die Tür des Antiquitätenladens hinter mir schloss. Die Glocke war gerade verstummt, und meine Aufmerksamkeit auf ein Jagdgewehr gerichtet, das aus der Zeit um 1740 stammen musste. Es war verziert mit Ornamenten im Rokokostil und zeugte von einer Vergangenheit, die zwar die meine war, die ich jedoch beinahe vergessen hatte. Überhaupt war der Laden vollgepackt mit Gegenständen, die mich dunkel an meine Kindheit und Jugend erinnerten. Jeder, der mich ansieht, geht davon aus, dass meine Jugend gerade erst hinter mir liegt, doch in Wahrheit habe ich sogar das Greisenalter längst überwunden und blicke mit beträchtlichem Abstand an Jahren und Erfahrungen darauf zurück.
Nun, ich beschwere mich nicht, dass ich jung aussehe und ab und zu wurde mir sogar ein Maß an Attraktivität bescheinigt, das ausreichen sollte, um ein wenig Selbstzufriedenheit an den Tag zu legen. Tatsache ist jedoch, dass es Momente gibt, in denen ich mein wahres Alter glaube körperlich spüren zu können. Dies geschieht insbesondere dann – und das wird dich vermutlich nun nicht überraschen – wenn ich nicht ausreichend Nahrung zu mir genommen habe. Letztendlich dreht sich also immer alles nur um das eine … Blut.
Schritte erklangen, als der Inhaber des Antiquitätenladens aus seinem angrenzenden Büro in den Verkaufsraum trat.
Er erkannte mich nicht, aber ich erkannte ihn sofort. Keinen Moment lang hatte ich in den ganzen Jahren das Gesicht vergessen, das sich im Kampf gegen mich geifernd verzogen hatte.
Auch er sah noch genauso aus wie damals im Jahre 1760, als er versucht hatte, mich vom Leben zum Tode zu befördern. Ein Mann, der ungefähr dreimal so alt war wie ich, als er mich tötete. Aus dem Leben hatte er mich gerissen, aber der Tod hatte mich wieder ausgespuckt. Und so stand ich hier - genau wie er.
Es war skurril, aber nur halb so sehr, wie das, was dann folgte. Er besaß nämlich die absolute Unverfrorenheit, mich zu fragen, ob er mir helfen könne! Er hatte mich nicht als seinesgleichen erkannt, und erst recht nicht als sein Opfer, dem er die Kehle absichtlich zerfetzt hatte. Das war nicht weiter verwunderlich, aber ich entschied mich, aus einer Laune heraus, ein Spiel mit ihm zu spielen. Es sollte ungefähr so lange dauern, wie mein Todeskampf, also nicht allzu lange, und doch wie eine gefühlte Ewigkeit. Eine interessante Metapher übrigens für einen Untoten.
Ich sah mir einen alten Lampenschirm an, der aus Tierhaut bestand und ein verblasstes Muster zeigte, während ich unschlüssig murmelte: „Ich suche ein Geschenk für einen Freund. Ich habe ihn lange nicht gesehen, und ich denke, er verdient etwas ganz Besonderes. Etwas, das überdauert und das ihn überrascht. Verstehen Sie?“
Der Mann dachte kurz nach, dann wies er auf einige Gemälde und fragte: „Interessiert er sich für Kunst? Ich habe hier ausgesprochen interessante Stücke, die unterschiedlichen Epochen und Stilen angehören. Vielleicht wäre das etwas für Ihren Freund?“
Ich betrachtete die Kunstwerke nachdenklich, dann schüttelte ich den Kopf. „Ich denke, er mag lieber etwas, das eine Vergangenheit von düsterer Art hat. Vielleicht eine Waffe oder einen anderen Gegenstand, mit dem jemandem Gewalt angetan wurde.“
Der Mann sah mich argwöhnisch an, worauf ich rasch nachsetzte: „Er ist ein wenig sonderbar. Er hat selbst eine düstere Vergangenheit, auch wenn er sich jetzt wie ein biederer Geschäftsmann gibt und diese alten Geschichten gerne verdrängen möchte.“
Ich durchbohrte ihn mit meinem Blick, doch er schien es nicht zu bemerken, sondern erwiderte nachdenklich: „Dann wäre es vielleicht gut, ihn nicht mehr mit dieser düsteren Vergangenheit zu konfrontieren. Aber ich zeige Ihnen gerne einige Schusswaffen, oder die Dolche dort“, er wies auf eine Wand, an der Verschiedenes dieser Art hing. Dann sagte er vertraulicher: „Wenn Sie allerdings wirklich etwas Skurriles bevorzugen, dann hätte ich da etwas für Sie.“
Ich bemerkte, dass er langsam begann, ein Geschäft zu wittern, und ich konnte es ihm nicht verdenken, denn ein Mann, der einen Gegenstand sucht, um einen Freund wider dessen Willen an seine düstere Vergangenheit zu erinnern, sollte für solch einen Frevel wenigstens mit viel barer Münze bezahlen.
Vertraulich sagte ich: „Dafür wäre ich Ihnen wirklich sehr verbunden, Monsieur ...?“ Ich ließ den Rest des Satzes im Raum schweben. Der Mann lächelte knapp. „Nicolas Morlet“, erwiderte er dann.
Endlich bekam mein Mörder einen Namen! Das machte alles so viel leichter. Flüche gehen einem nur schwer von der Zunge, wenn man den Verfluchten nicht mit Namen betiteln kann. Sie verlieren dadurch an Kraft und dies ärgerte mich stets.
All die Jahre lang nur schwächelnde Flüche für meinen Mörder aussprechen zu können, war nicht befriedigend gewesen. Und so ratterte ich seinen Namen gleich ein Dutzend Mal hinunter, kaum dass ich endlich wusste, wie er hieß. Natürlich tat ich es nicht hörbar, denn es war noch zu früh. Wir spielten doch gerade so schön miteinander - und aufzuhören, wenn es am schönsten ist, war nie ein Motto von mir.
Nicolas Morlet hatte mir immerhin mein Leben genommen, als es am schönsten war, und so kann man es mir wohl nicht verübeln, wenn ich es nicht für sehr weise halte, andere Dinge ebenfalls zu einem solchen Zeitpunkt zu beenden.
„Warten Sie einen Moment“, sagte er und wie ich schon erwähnte, hatte ich es nicht eilig. Morlet kramte in seiner Tasche nach einem Schlüssel und öffnete damit eine Vitrine. Ich sah Kristallgläser darin stehen, Kelche und andere Gefäße, die hervorragend geeignet waren, Blut zu besonderen Anlässen daraus zu trinken. Außerdem erkannte ich einige Schmuckstücke. Broschen und Haarkämme aus Elfenbein, Ringe mit verschiedenen Edelsteinen, sowie jede Menge Manschettenknöpfe und Siegelringe. Ich war mir ziemlich sicher, dass das meiste aus Morlets Laden auf ähnliche Weise in seinen Besitz gelangt war, wie meine eigene Taschenuhr. Vorsichtig zog Morlet einen Gegenstand hervor, den ich im ersten Moment nicht erkannte. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn er war zerbrochen. Es handelte sich um eine gläserne Skulptur, die einen Engel darstellte. Einer der Flügel war nur noch halb vorhanden und der Kopf fehlte ganz. Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
„Das ist … kaputt“, sagte ich unwirsch. Plötzlich ermüdete mich mein eigenes Spiel, das mir schon viel zu lange zu dauern schien. Morlet war jedoch offenbar in seinem Element, und ich fürchte, dieser Punkt ging an ihn, denn er schaffte es, mich zu überraschen.
„Der Engel gehörte einer Dame aus reichem Hause. Sie ließ ihn anfertigen und zahlte ein halbes Vermögen dafür, damit er genau so erschaffen wurde, wie sie ihn sich vorstellte. Als ihr Mann erfuhr, wie hoch die Rechnung für das „Stück Glas“ gewesen war, wie er den Engel nannte, den seine Frau so bewunderte, tobte er vor Wut. Er sperrte sie in eines der Gästezimmer ihres Anwesens, warf den Engel hinterher und verschloss die Tür für zwei Tage.