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Wenn du am tiefsten Punkt deines Lebens endlich wieder lachen kannst und dich sogar neu verliebst… Für manche Dinge ist es irgendwann einfach zu spät. Das muss auch Leonie erkennen, die sich nie mit ihrer Mutter versöhnen konnte. Jetzt gibt es ihre Mutter plötzlich nicht mehr, und Leonie fällt in ein tiefes, schwarzes Loch. Aus genau diesem möchte sie ihre Tante Nina herausholen, die Leonie in ihre kleine Pension an der Ostsee einlädt. Dankbar sagt Leonie zu. Auch Ninas ziemlich schräge Familie ist anwesend und bringt Leonie immer wieder zum Lachen. Trotz allem Schmerz. Und dann gibt es noch Linus, einen Gast und zudem noch berühmten Sänger, der im Möwennest eincheckt. Leonie ist vom ersten Augenblick an genauso fasziniert von ihm wie er von ihr. Doch auch Linus hütet ein dunkles Familiengeheimnis - und nicht nur das... Begleite Leonie auf ihrer Reise an die Ostsee, wo sie ihre Lebensfreude wiederfindet und vielleicht sogar die große Liebe trifft.
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Impressum
Originalausgabe April 2024 Sommersongs und Ostseeküsse © Tina Keller, Berlin, Deutschland, 2024
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertung nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Cover: © Saga Egmont Verlag
Tina Keller
c/o Internet Marketing
und Publikations-Service
Frank W. Werneburg
Philipp-Kühner-Str. 2
99817 Eisenach
Tina Keller
Sommersongs
und
Ostseeküsse
Humorvoller Liebesroman
Das Meer ist wie ein Buch, das neue Kapitel für die Seele öffnet
Nach einem tragischen Verlust ist Leonie am Boden zerstört. Da kommt es ihr gerade recht, dass ihre Tante Nina sie in ihre schnuckelige Pension an der Ostsee einlädt. Gemeinsam mit Ninas schriller Verwandtschaft soll Leonie die Pension ein paar Wochen lang führen.
Außerdem erwartet die Mannschaft ein wahres Highlight: Der charismatische Sänger Linus residiert ebenfalls im „Möwennest“ und lässt Leonies Herz schnell höherschlagen.
Die Tage mit ihm sind unvergesslich. Meeresrauschen, Möwengeschrei und Strandspaziergänge tun ihr Übriges. Und die chaotische Verwandtschaft lässt kein Auge trocken. Leonie ist endlich wieder glücklich.
Doch dann taucht eine Frau auf, die behauptet, sie würde Linus in Kürze heiraten. Als Linus sich von ihr zurückzieht, bangt Leonie um ihr neues Glück.
War alles nur ein Sommernachtstraum?
Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.
Ganz ehrlich, einen blöderen Spruch habe ich selten gehört. Kaum zu glauben, dass er von Oscar Wilde ist. Das hier ist das Ende, und es ist definitiv nicht gut ausgegangen. Es gibt keine neue Chance. Es ist zu spät. Vorbei, und zwar für immer. Da wird gar nichts mehr gut.
Wie jeden Morgen wache ich wie gerädert auf. Stundenlang habe ich mich von einer Seite auf die andere gewälzt und bin erst im Morgengrauen eingeschlafen. Stöhnend taste ich nach meinem Wecker, um festzustellen, dass es 12 Uhr ist. Kein Wunder, wenn man erst um 5 einschläft. Ich kann froh sein, dass ich mir als Webdesignerin meine Arbeitszeit frei einteilen kann. Wenn ich jeden Morgen um 8 im Büro sein müsste, hätte ich ein echtes Problem.
Jetzt habe ich allenfalls das Problem, dass meine Tränensäcke ihrem Namen alle Ehre machen. Ich erschrecke mich richtig beim Anblick in den Spiegel und erkenne mich kaum wieder. Meine Augen sind geschwollen, ich habe wirres Haar und fleckige Haut und sehe einfach furchtbar aus.
Ich habe mir gestern auch nicht eingebildet, dass der Postbote und der Hermes-Kurier zusammengezuckt sind, als ich ihnen die Tür öffnete. Wahrscheinlich dachten sie, sie ständen einer verwahrlosten Drogensüchtigen gegenüber. Genauso fühle ich mich übrigens auch.
Kraftlos schlurfe ich zu meiner Nespresso-Maschine und schalte sie ein. Hunger habe ich keinen, was praktisch ist, denn im Kühlschrank befindet sich sowieso nichts. Ich habe keine Energie zum Einkaufen und kann mich nicht mal dazu durchringen, den Lieferdienst zu bestellen. Ich kann mich zu überhaupt nichts durchringen. Am liebsten würde ich den ganzen Tag schlafen – wenn ich es denn könnte. Aber nicht mal das gelingt mir.
Alarmiert fahre ich zusammen, als mein Handy klingelt. Bis ich es endlich unter einem Stapel Klamotten gefunden habe, hat der Anrufer schon wieder aufgelegt. Immerhin hat er nicht inkognito angerufen und ich erkenne die Nummer von Tante Nina.
Eigentlich ist Nina gar nicht meine Tante. Sie war eine enge Freundin meiner Mutter und als Kind habe ich sie automatisch mit „Tante“ angeredet. Dabei ist es geblieben.
Nina besitzt seit einigen Jahren eine Pension an der Ostsee, die sie mit viel Engagement und Herzblut betreibt. Bisher habe ich sie noch nie besucht, obwohl ich es mir oft vorgenommen habe. Aber irgendwie kam immer etwas dazwischen. Neugierig wähle ich ihre Nummer und bin gespannt, was sie von mir will. Nina meldet sich nach dem ersten Klingeln.
„Hallo Leonie, meine Liebe“, begrüßt sie mich herzlich. „Schön, dass du sofort zurückrufst. Ich dachte schon, du bist vielleicht gar nicht in Berlin. Wie geht es dir? Na, das ist eigentlich eine blöde Frage. Wie soll es dir schon gehen? Schlecht natürlich.“
„Das stimmt leider“, seufze ich. „Ich kann kaum schlafen und bin tagsüber immer nur müde. Ich kann mich zu nichts aufraffen und schon die kleinste Kleinigkeit überfordert mich. Irgendwie bin ich zu rein gar nichts mehr in der Lage.“
„Ach, Kind, nimm dir das selbst bloß nicht übel“, erwidert Nina tröstend. „So schnell verarbeitet man einen schlimmen Verlust nicht. Lass dir Zeit.“
Trübsinnig starre ich aus dem Fenster.
Lass dir Zeit.
Die Zeit heilt alle Wunden.
Stimmt das wirklich? Gibt es nicht auch Dinge, die niemals so ganz heilen; egal, wieviel Zeit vergeht? Die immer wehtun werden, weil sie so elementar sind? Die man niemals vergessen kann und die immer tief im Herzen brennen werden?
„Das tue ich ja auch“, antworte ich. „Aber diese Zeit ist eben nicht angenehm. Ich sitze nur sinnlos in der Gegend herum und weiß nicht, was ich machen soll. Ich meine, natürlich gäbe es genug zu tun, aber wie schon gesagt: Ich kann mich einfach zu nichts aufraffen.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, entgegnet Nina. „Darum wollte ich dir einen Vorschlag machen: Was hältst du davon, wenn du mich ein paar Wochen in meiner Pension vertrittst? Du kannst doch von überall aus arbeiten, oder?“
„Ja, schon“, antworte ich etwas überrascht. „Aber ich kenne deine Pension doch überhaupt nicht. Außerdem bezweifele ich, dass ich momentan in der Lage bin, irgendjemanden zu vertreten. Ich schaffe es ja noch nicht mal, zu einer normalen Zeit aufzustehen. Wie soll das gehen? Deine Gäste wollen sicher nicht bis zum Mittag warten, bis sie frühstücken können.“
„Keine Sorge, das müssen sie auch nicht“, sagt Nina vergnügt.
Sie ist eine fröhliche, warmherzige Person, in deren Gegenwart ich mich schon immer wohlgefühlt habe. Immer hat sie gute Laune, immer ist sie liebevoll und herzlich. Sie ist wirklich ein richtiger Schatz.
„Du wärst nämlich nicht allein“, fährt Nina fort. „Die allseits beliebte Chaosfamilie ist ebenfalls anwesend. In Persona sind das Burkhard, Barbara und Dieter. Da kommt immer Stimmung auf. Ich glaube, das würde dir in deiner Verfassung sehr guttun.“
„Ich weiß nicht“, murmele ich zögernd. „Ich möchte niemandem die Laune verderben. Und deinen Gästen schon gar nicht. Es macht keinen guten Eindruck, wenn jemand vom Personal immer nur traurig herumläuft. Und das bin ich jetzt einfach. Traurig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich jemals wieder lachen werde.“
Mist. Mir kommen schon wieder die Tränen. Ich habe doch immer so gern gelacht. Ist das jetzt für immer vorbei?
„Doch, das wirst du. Ganz bestimmt, Leonie-Maus“, sagt Nina mit einer Wärme in der Stimme, die mir verdammt guttut. „Glaub mir, irgendwann wird es leichter. Und du musst dir nun wirklich keine Gedanken darüber machen, ob du für meine Gäste den Clown spielst. Das Wichtigste ist, dass es dir wieder besser geht. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ostsee eine Menge dazu beitragen kann. Und meine verrückte Familie ebenfalls. Du bist hier bestimmt besser aufgehoben, als wenn du allein in deiner Berliner Wohnung hockst. Die Chaosfamilie lenkt dich sicher ein bisschen von deinem Schmerz ab. Meinst du nicht auch?“
Ein leichtes Lächeln huscht über mein Gesicht. Die Chaosfamilie. So hat meine Mutter Ninas Verwandtschaft auch immer genannt. Und chaotisch sind sie wirklich. Aber auch sehr liebenswert.
Burkhard ist ein netter, älterer Herr und altersmäßig irgendwas zwischen 70 und 85, das verrät er nicht. Gefühlt ist er Mitte 40 und dementsprechend sucht er sich auch seine Gefährtinnen aus.
Seine Nichte Barbara ist frech und vorlaut und nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie spricht das aus, was andere nur denken und hat keine Probleme damit, Tacheles zu reden.
Cousin Dieter hat ein großes Laster, nämlich das Essen. Dementsprechend hat er etliche Kilos zu viel auf den Rippen. Er ist ein sanftmütiger, netter Mensch und ich mag ihn wahnsinnig gern.
Mit den drei Chaoten ist es immer sehr lustig, da hat Nina schon recht. Trotzdem bezweifele ich, dass sie mich in meiner derzeitigen Situation aufheitern können. Andererseits tut mir das Alleinsein nicht gut und schlechter kann es mir eigentlich gar nicht gehen.
„Vielleicht würde mir das tatsächlich helfen“, räume ich ein. „Aber warum sollen wir dich denn vertreten? Bist du nicht da?“
„Ich war letztes Jahr ein paar Wochen in Kalifornien“, berichtet Nina und ich kann ihr Strahlen sogar durch das Telefon wahrnehmen. „Es hat mir so fantastisch gefallen, dass ich dieses Jahr wieder hinfliege. Ich werde mindestens sechs Wochen bleiben, sonst lohnt es sich nicht. Ich habe mich total in Kalifornien verliebt. Am liebsten würde ich auswandern.“
„Das meinst du jetzt aber nicht im Ernst?“, frage ich erschrocken. „Du willst doch nicht deine Pension aufgeben, an der du so sehr hängst? Als du sie vor ein paar Jahren übernommen hast, war das dein großer Traum und du warst total glücklich.“
„Keine Sorge, das bin ich immer noch“, bestätigt Nina. „Nein, ich will nicht auswandern. Aber ich könnte mich durchaus daran gewöhnen, jedes Jahr nach Kalifornien zu fliegen. Gern auch länger, vielleicht ein paar Monate.“
Wow, Nina hört sich total begeistert an. Wir unterhalten uns eine Weile über ihre Zeit in Amerika und was sie so sehr an dem Land fasziniert. Vor allem die immer gut gelaunten Menschen haben es ihr angetan.
„Das wäre für mich ein richtiger Kulturschock“, sage ich grinsend und stelle fest, dass sich endlich mal wieder ein Hauch von Humor in mir ausbreitet.
„Hier in Berlin sind die Leute generell schlecht gelaunt. Ganz einfach, weil andere es wagen, auch zu existieren.“
„Genau deshalb habe ich Berlin verlassen“, erklärt Nina. „Irgendwann konnte ich diesen bärbeißigen Humor nicht mehr ertragen. Ich weiß, dass sich jeder Berliner für einen Komiker hält, aber manchmal merken die Leute gar nicht, dass sie nur frech und unverschämt und keineswegs witzig sind. Das ging mir wirklich auf die Nerven.“
„Kann ich verstehen“, stimme ich zu.
Solange es mir gut geht, kann ich den derben Berliner Humor ganz gut ertragen. Aber wenn ich angeschlagen bin, so wie jetzt, fällt es mir deutlich schwerer. Ich wäre im Moment sehr dankbar für ein paar freundliche Gesichter. Die werde ich in Ninas Pension wohl eher finden als in Berlin.
„Wann soll es denn losgehen?“, erkundige ich mich.
„In zwei Wochen“, teilt Nina mir mit. „Ist das zu kurzfristig? Musst du noch irgendetwas organisieren?“
„Nein, eigentlich nicht“, erwidere ich. „Ich müsste nur ein paar Klamotten einpacken und meinen Laptop. Das ist in weniger als einer Stunde geschafft.“
„Fein“, freut sich Nina. „Unterbringen kann ich euch auch alle. Ich habe seit neuestem ein wunderschönes Gartenhaus. Da könnten sogar vier Personen schlafen, aber das will ich dir nicht zumuten. Das Gartenhaus ist für dich und Barbara reserviert. Burkhard und Dieter können sich mein Schlafzimmer teilen. Damit waren sie zwar schon letztes Jahr nicht einverstanden, haben es aber immerhin überlebt.“
„Brauchst du mich wirklich oder willst du mir nur etwas Gutes tun?“, schmunzele ich.
Nina ist einfach so gutherzig und will für alle immer nur das Beste. Wahrscheinlich hat sie sich überlegt, wie sie mir helfen kann und ist dann darauf gekommen, mich in ihre Pension einzuladen.
„Beides“, erwidert Nina schlicht. „Natürlich möchte ich dir etwas Gutes tun, aber es wäre wirklich toll, wenn du ein Auge auf die drei Irren werfen würdest. Letztes Jahr haben sie auch schon versucht, mich zu vertreten, und es war ein Segen, dass Svenja dabei war. Sonst wäre nämlich einiges schiefgegangen. Zum Glück habe ich erst im Nachhinein erfahren, dass Burkhard Orgien gefeiert hat und Dieter den Gästen alles weggefuttert hat. Das geht natürlich gar nicht. Du musst ein bisschen auf sie aufpassen.“
„Burkhard hat Orgien gefeiert?“, vergewissere ich mich. „Es stimmt schon, dass er nichts anbrennen lässt, aber Orgien traue ich dem Schwerenöter dann doch nicht zu. Du etwa?“
Nina lacht. „Ich weiß es nicht. Die Drei haben sich mit ihren Auskünften diesbezüglich sehr bedeckt gehalten. Ein paar merkwürdige Dinge haben sie aber schon gebracht. Wie immer halt. Es schadet nicht, wenn jemand da ist, der ein wachsames Auge auf sie hat.“
„Da hast du dir genau die Richtige ausgesucht“, finde ich. „Du weißt doch, dass ich schlecht durchgreifen kann.“
„Aber du kannst auf die Meute achtgeben und bei Bedarf Barbara einschalten“, schlägt Nina vor. „Die staucht die Jungs dann schon ordentlich zusammen.“
„Daran habe ich keinerlei Zweifel“, erwidere ich.
Ich merke, wie es mir bei dem Gedanken, mit dem Chaosteam ein paar Tage an der Ostsee zu verbringen, sofort besser geht. Ich glaube, es wäre doch eine ziemlich gute Idee, dorthin zu fahren.
„Es ist total lieb, dass du an mich denkst, Tante Nina“, sage ich dankbar. „Und du hast recht. Es würde mir sicher helfen.“
„Gott sei Dank bist du einsichtig“, seufzt Nina erleichtert. „Mir ist es gar nicht gut gegangen bei dem Gedanken, dass du allein zu Hause hockst und dir die Augen aus dem Kopf weinst. Ich weiß, Trauer braucht Zeit, aber zwischendurch darf man trotzdem auch mal lachen.“
Ich muss schlucken. Es ist lange her, seit ich so richtig gelacht habe. Und ich vermisse es.
Ja, es wäre wirklich schön, mal wieder lachen zu können.
Und ich glaube, mit der Chaos-Familie stehen die Chancen dafür gar nicht so schlecht.
♥♥♥
Kaum weiß ich, dass ich an die Ostsee fahren werde, Laune beträchtlich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich als Kind sehr oft am Meer war. Dann war ich jedes Mal total glücklich. Auch im Erwachsenenalter hat das Meer seine Faszination auf mich nie verloren. Diese Weite und Unendlichkeit des endlosen Wassers bis zum Horizont hat meine Probleme und Sorgen immer relativiert. Das sanfte Rauschen der Wellen hat eine enorm beruhigende Wirkung auf mich und hilft mir dabei, Stress abzubauen und zur Ruhe zu kommen. Immer, wenn es mir mies ging, musste ich nur im Sand sitzen und auf das Meer blicken – und schon fühlte ich mich besser. Nach ein paar Stunden war ich total erholt und entspannt. Einfach so.
Ich kann mich ebenfalls gut an die Zeit erinnern, als mein damaliger Freund mich verlassen hat. Der Schmerz hat mich fast umgebracht und ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir. Der einzige Ort, an dem ich sein wollte, war das weite Meer.
Da ich mir allerdings keinen Urlaub an der Ostsee leisten konnte, fuhr ich jeden Tag ins Strandbad Wannsee – das größte Strandbad Europas mit einem 1,2 Kilometer langen Strand. Es gab Strandkörbe und Liegestühle und der Sand war so weiß und fein wie an der Ostsee – was kein Wunder war, denn er kam von genau dort. Güterwaggonweise war er direkt vom Timmendorfer Strand hierher gekarrt worden.
Wenn ich den ganzen Tag in meinem Strandkorb saß und auf das glitzernde Wasser schaute, passierte etwas mit mir. Die Wellen kamen und gingen, kamen und gingen. So wie alles im Leben kommt und geht. Ereignisse, Menschen, gute Zeiten, schlechte Zeiten, Beziehungen, Freundschaften, Liebe, das Leben selbst.
Und je öfter ich dort saß und meine Blicke dem Wasser folgten, umso mehr konnte ich annehmen, was passiert war. Ich konnte den Lauf des Lebens annehmen. Mein Freund war gegangen und die Beziehung war zu Ende, aber wenn ich auf das Wasser schaute, wusste ich, dass es nicht das Ende meines Lebens war und irgendwann wieder eine neue Liebe auftauchen würde. Das war beruhigend. Das Meer und der Strand halfen mir, die Trennung zu verarbeiten.
Außerdem lernte ich am Strand Menschen kennen, die ebenfalls den ganzen Tag aufs Wasser starrten. Meistens hatten auch sie gerade einen Verlust erlitten und kamen hierher, um sich davon zu erholen. Es tat einfach gut, sich mit ihnen über Nichtigkeiten zu unterhalten, sich abzulenken, einfach an banale Dinge zu denken. So ging der Sommer vorbei und als der Herbst Einzug hielt, war mein Schmerz zum größten Teil geheilt.
Aber jetzt kann ich leider nicht ins Strandbad Wannsee fahren, weil es noch gar nicht geöffnet hat. Die Ostsee aber hat das ganze Jahr über geöffnet – und natürlich ist es sehr schön, dass man nicht – wie im Strandbad – um 18 Uhr rausgeworfen wird.
Eine leise Freude macht sich zaghaft in mir breit.
Hurra, Seelingsdorf, ich komme!
Es ist so weit. Zwei Wochen sind seit dem Telefonat mit Nina vergangen und ich bin auf dem Weg an die Ostsee. Und ich freue mich! Das erste Mal seit etlichen Wochen empfinde ich wieder ein Gefühl von Freude. Barbara, Burkhard und Dieter sind so herrlich schräg, dass sie mich ganz sicher ein bisschen von meinem Kummer ablenken können.
Je näher ich Seelingsdorf komme, desto besser fühle ich mich. Ich kann das Meer förmlich riechen und spüre, wie die Anspannung mehr und mehr von mir abfällt. Schon als Kind war ich viel lieber am Meer als in den Bergen. Mich hat diese Weite schon immer fasziniert. Und wenn ich am Strand herumtollen konnte, war ich wunschlos glücklich. So ist es im Grunde auch geblieben.
Die letzte Strecke fahre ich über kurvige Landstraßen und bewundere die wunderschönen, gelben Rapsfelder, die in der Sonne leuchten. Die sanften Wellen und Hügel sehen total idyllisch aus und ich kann mich nicht an ihnen sattsehen. Ich öffne das Fenster und atme den süßen Duft ein. Herrlich! Die Natur ist immer der beste Heiler.
Nach 3 ½ Stunden passiere ich das Schild Seelingsdorf und bin gespannt, was das Ostseebad zu bieten hat. Nina hat berichtet, dass der Ort nicht mehr als 1.500 Einwohner zählt. Geschäfte gibt es nicht und sogar der nächste Bäcker ist ein paar Kilometer weit entfernt. Das ist für mich absolutes Neuland. Wenn ich in Kreuzberg aus meiner Wohnung gehe, gibt es dort einfach alles – Lebensmittel-Läden, Bäcker, Döner-Buden, Restaurants und meine geliebte Markthalle, in der man alle kulinarischen Köstlichkeiten vorfindet, die man sich vorstellen kann. Ich werde mich sehr umstellen müssen, aber das nehme ich gern in Kauf, wenn ich am Meer bin.
Langsam fahre ich die Straße entlang, die direkt neben dem Meer verläuft. Ich kann nur im Schritttempo fahren, weil die Straße so eng ist, dass ich die zahlreichen Radfahrer vor mir nicht überholen kann. Aber das macht mir nichts aus, denn ich kann dabei das Meer bewundern.
Überall an der Strandpromenade gibt es kleine, reetgedeckte Häuschen, die alles Mögliche beherbergen: Kioske, Imbisse, Strandkorb-Verleih, Souvenirshops, Eisdielen.
Die Bewohner scheinen mächtig stolz auf ihren idyllischen Ort zu sein. Überall hängen Schilder, die ankündigen, wie wunderschön Seelingsdorf ist.
Seelingsdorf – Urlaub deines Lebens
Das Glück hat einen Namen: Seelingsdorf
Ausspannen im Paradies - Seelingsdorf
Ich lasse die Strandstraße hinter mir und biege in einen schmalen Weg ein. Links und rechts stehen wunderschöne Häuser mit gepflegten Gärten und bunten Blumenkästen auf den Fensterbrettern. Die rot-weißen Klinker-Häuser erinnern mich an die entzückenden Häuschen im georgianischen Stil in England. An vielen Eingängen hängen Schilder mit der Aufschrift Pension oder Zimmer frei. Hotels gibt es im Ort nicht.
Seelingsdorf wirkt, als sei hier die Welt noch in Ordnung – und das ist sie offenbar auch, wie mir Nina erklärte. Kriminalität gibt es in diesem beschaulichen Örtchen nicht und die Bewohner schließen weder ihre Autos noch ihre Haustüren ab.
Das müsste man in Kreuzberg mal machen – nach einer halben Stunde wäre sowohl das Auto als auch der gesamte Inhalt der Wohnung weg.
Ninas Pension ist ein gemütliches Haus mit Reetdach und knallroten Fensterläden am Ende der Straße. Es liegt direkt am Meer und hat zudem noch einen großen Garten.
Aufgeregt parke ich meinen Wagen in der Einfahrt und springe aus dem Auto. Ich atme die herrliche, klare Ostseeluft ein und fühle mich zum ersten Mal seit langer Zeit frisch und lebendig.
Als ich auf den Eingang zugehe, öffnet sich die Tür und eine fröhliche, braungebrannte Nina stürzt mir entgegen.
„Leonie, meine Kleine, da bist du ja!“, ruft sie überschwänglich und reißt mich in ihre Arme. „Wie schön, dich endlich mal wiederzusehen. Es ist so lange her. Lass dich mal drücken! Kaum zu glauben, dass du noch nie hier warst.“
„Eigentlich verstehe ich das auch nicht“, lache ich. „Du hast die Pension immerhin schon seit ein paar Jahren. Da hätte ich viel früher mal auftauchen sollen.“
„Das habe ich dir immer gesagt“, erinnert mich Nina. „Aber aus irgendwelchen Gründen wolltest du nie kommen. Naja, egal, jetzt bist du ja hier. Wo sind denn deine Koffer? Noch im Auto?“
„Ja, aber du sollst jetzt wirklich nicht meine Koffer schleppen“, wehre ich ab. „Ich kann mir ja erstmal alles ansehen.“
„Natürlich, gern“, erwidert Nina und hakt mich unter. „Als erstes musst du meinen Garten bewundern. Er ist traumhaft schön. Direkt dahinter ist das Meer und wir haben sogar einen eigenen Strandzugang. Das ist wirklich ganz wunderbar. Die Lage dieser Pension ist absolut fantastisch.“
„Das stimmt“, sage ich bewundernd und blicke mich um. Der Garten ist einfach eine Wucht. Überall stehen kleine Bäumchen, die als Tiere zurechtgestutzt sind. Es gibt bunte Blumeninseln, die an Farbenvielfalt nicht zu überbieten sind. Besonders gut gefallen mir die Rosen, die sich um ein schmiedeeisernes Tor ranken, denn Rosen sind meine Lieblingsblumen. Außerdem finden sich viele kleine, lauschige Plätze mit Stein- oder Holzbänken, Sesseln, Stühlen, Figuren und Brunnen. Die Aussicht, dass ich auf einer gemütlichen Bank sitze, den Wind in den Haaren und die salzige Luft in der Nase, lässt mein Herz höherschlagen. Hier werde ich bestimmt viele erholsame Stunden verbringen. Es ist eine wunderschöne Oase und ein perfekter Rückzugsort. Ich kann es kaum erwarten, bis ich hier mit einem guten Buch und einem Glas Wein sitze.
„Dein Garten ist ein Traum“, schwärme ich und kann mich gar nicht sattsehen an all der Pracht. „Wie viele Gärtner beschäftigst du?“
„Gar keinen“, lacht Nina. „Der Garten ist mein Hobby. Aber Konstantin, mein Lebensgefährte, hilft mir. Er ist genauso in den Garten vernarrt wie ich. Es macht uns beiden eine Unmenge Spaß, hier herumzuwerkeln. Uns fällt immer etwas Neues ein. Den Brunnen mit den römischen Figuren haben wir erst letzten Winter angelegt. Ist er nicht wunderschön?“
„Er ist absolut prachtvoll“, bestätige ich. „Ich komme mir vor wie im Paradies. Und dann diese One-Million-Dollar-Lage direkt am Meer!“
„Ich glaube, inzwischen würde dieses Grundstück tatsächlich ein paar Millionen kosten“, nickt Nina. „Ich habe es damals in einem ziemlich desolaten Zustand gekauft. Der Besitzer wollte es schnell loswerden und das war mein Glück. Ich zahle zwar noch etliche Jahre daran ab, aber die Einnahmen durch die Touristen übertreffen bei weitem meine Kalkulation. Das hat sich viel besser entwickelt, als ich mir das vorgestellt habe. Manchmal muss man einfach mutig sein. Und bei dieser Lage konnte ich gar nichts falsch machen.“
„Das glaube ich auch“, erwidere ich.
Ich bin wirklich im Paradies gelandet – und darf wochenlang bleiben. Zum ersten Mal seit langer Zeit empfinde ich tiefe Freude und Dankbarkeit.
„Hey, Leonie!“, ruft jemand und ich drehe mich um. Ein quietschbuntes Etwas mit feuerroten Haaren winkt mir vergnügt zu. Das ist zweifellos Barbara, die jetzt losspurtet und mich fast über den Haufen rennt.
„Mensch, da bist du ja!“, schreit sie in ohrenbetäubender Lautstärke. „Wie geil, dass wir uns endlich mal wiedersehen! Da habe ich wenigstens nette Gesellschaft bei dieser schrägen Mischpoke.“
„Meinst du mit schräger Mischpoke etwa uns?“
Ein älterer Herr mit einem glitzernden Käppi, einem Muskel-Shirt mit der Aufschrift I’m the Boss und sehr kurzen Shorts strahlt mich an. Es ist Barbaras Onkel Burkhard, den ich vom ersten Augenblick an in mein Herz geschlossen habe.
„Wen denn sonst?“, gibt Barbara ungerührt zurück. „Klar seid ihr gemeint.“
„Herzlich willkommen in Ninas schöner Oase“, begrüßt Burkhard mich und verbeugt sich galant vor mir. Dann greift er nach meiner Hand und drückt einen Kuss darauf. Er ist eben ein vollendeter Gentleman, obwohl sein Benehmen nicht so ganz zu seinem schrägen Outfit passt.
„Wir freuen uns sehr, dass du bei uns bist und uns unterstützt“, sagt er charmant lächelnd. „Deine Anwesenheit ist ein großer Gewinn für uns.“
„Seit wann redest du denn so geschwollen?“, wundert Barbara sich. „Hast du dich über gute Umgangsformen informiert?“
Burkhard lässt seine strahlend weißen Zähne aufblitzen.
„Ich habe immer die besten Umgangsformen“, erklärt er. „Aber bei dir kommt das ja überhaupt nicht an. Da ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Du warst schon als Kind so biestig und hast immer mit deinem Schmollmund herumgestanden und warst wegen irgendwas beleidigt. Obwohl es überhaupt keinen Grund gab. Du warst einfach stur und bockig. Da konnte man machen, was man wollte.“
„Die Sturheit liegt bei uns in der Familie“, sagt Barbara achselzuckend. „Daran müsstest du dich eigentlich längst gewöhnt haben. Du bist doch schon viel länger in dieser schrillen Familie als ich.“
„Papperlapapp“, sagt Burkhard und grinst bis über beide Ohren. „Ich bin nur unwesentlich älter als du.“
Barbara zieht spöttisch ihre Augenbrauen nach oben.
„Ich wüsste nicht, dass ich schon über 80 bin“, erklärt sie.
„Ich auch nicht“, behauptet Burkhard.
Nun hat auch Dieter uns erreicht. Burkhard nimmt mich herzlich in die Arme und Dieter drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich fühle mich sofort wohl und geborgen. Genau das brauche ich jetzt. Mir kommt es so vor, als seien die drei meine eigene Familie und das tut mir wahnsinnig gut.
„Dann wollen wir mal alles besprechen“, schlägt Nina vor. „Am besten, wir holen uns etwas Leckeres zu trinken und setzen uns an den großen Tisch da vorne.“
Sie deutet auf einen Steintisch, an dem gemütlich aussehende Sessel stehen.
„Nur was zu trinken?“, fragt Dieter entsetzt. „Ich dachte, es gäbe ein kleines Zwischengericht.“
„Was denn für ein Zwischengericht?“, will Barbara wissen. „Falls du es vergessen haben solltest, mein lieber Didi – was übrigens die Abkürzung für dicker Dieter ist: Du hast heute Morgen das halbe Frühstücksbuffet leergeräumt, mittags zwei Portionen Lasagne verdrückt und dir nachmittags vier Stück Kuchen reingeschoben. Es ist gerade mal 17 Uhr und du hast deinen Kalorienbedarf für die nächsten fünf Tage gedeckt. Außerdem gibt es in absehbarer Zeit Abendbrot. Was um alles in der Welt willst du denn jetzt schon wieder essen? Und was heißt überhaupt Zwischenmahlzeit? Gibt es für dich neben den drei Hauptmahlzeiten nebst Kaffee und Kuchen auch noch diverse Zwischenmahlzeiten?“
Dieter holt tief Luft und dunkelrot an.
„Du musst mir nicht gleich wieder stundenlange Vorträge halten“, meckert er los. „Es war nur eine harmlose Frage. Wenn es nichts gibt, schmiere ich mir eben notdürftig ein Brot. Das ist nicht so schlimm. In zwei Stunden gibt es zum Glück schon wieder Abendessen.“
„Eben“, erwidert Barbara gedehnt. „Und stell dir vor: Es ist durchaus möglich, mal zwei Stunden lang nichts zu essen. Besonders, wenn man die übrige Zeit nonstop über irgendeinem Teller hängt.“
Dieter schneidet seiner Cousine eine Grimasse.
„Dieter kann gern etwas zu essen bekommen, wenn er Hunger hat“, schaltet Nina sich gutmütig ein. „Wir sind eine Pension und es ist immer genug zu essen da.“
„Es war immer genug zu essen da“, korrigiert Barbara. „Jetzt ist nämlich Dieter hier. Am besten, du bringst ein Schloss am Kühlschrank an.“
„Zum Glück gibt es sowas nicht“, trumpft Dieter auf. „Du wärst tatsächlich in der Lage, sowas Gemeines zu machen.“
„Klar gibt es so etwas“, widerspricht Barbara grinsend. „Und selbstverständlich habe ich es schon besorgt und werde es auch anbringen. Sonst gönnst du dir einen kleinen Mitternachtssnack und am nächsten Morgen ist der Kühlschrank leer und wir haben nichts für die Gäste zum Frühstück.“
Dieter blickt seine Cousine entsetzt an.
„Es gibt wirklich ein Kühlschrank-Schloss?“, krächzt er. „Wer erfindet denn sowas Merkwürdiges?“
„Wahrscheinlich jemand, dessen Partner ihm alles weggefressen hat“, vermutet Barbara. „So wie du letztes Jahr übrigens.“
„Du liebe Güte, bist du nachtragend“, stöhnt Dieter. „Ich habe das schon längst wieder vergessen.“
„Das sieht dir ähnlich“, tadelt Barbara ihn. „Erst den Gästen alles wegfressen und sich dann nicht mehr daran erinnern wollen.“
„Ich habe den Gästen nicht alles weggegessen, sondern mir nur eine winzige Mahlzeit genehmigt“, schnappt Dieter. „Eine deiner zahlreichen unangenehmen Eigenschaften ist, dass du immer so maßlos übertreiben musst.“
„Du übertreibst es auch maßlos mit deiner Völlerei“, gibt Barbara ungerührt zurück.
Ich muss grinsen. Es tut mir gut, dass die beiden sich liebevoll streiten. Es hat etwas von Normalität und erweckt den Anschein, alles sei wie immer. Nichts hätte sich verändert.
Dabei hat sich alles verändert. Aber genau das will ich vergessen, und wenn es nur für einen kurzen Moment ist.
Ich bin so dankbar, dass ich hier sein darf.
Bis auf Leonie habt ihr ja schon einige Erfahrung, was das Führen der Pension angeht“, sagt Nina lächelnd und breitet einen großen Kalender vor uns aus. „Das ist der Belegungsplan, den es wie immer auch in elektronischer Form gibt. Aber da ich immer Angst habe, dass der Computer im entscheidenden Moment ausfällt, habe ich hier nochmal alles notiert.“
„Das finde ich sehr gut“, lobt Burkhard Nina und rückt sein glitzerndes Käppi mit den vielen Totenköpfen zurecht. „Ich traue der Technik sowieso nicht. Es war schon oft so gewesen, dass dann alles weg gewesen war. Und was ist dann? Dann steht man blöd da. Alles futsch. Was soll man dann machen? Dann weiß man doch gar nicht, wer kommt und wann das gewesen sein soll … äh … wann derjenige kommt. War das jetzt richtig?“
„Ich glaube, du hast heute schon wieder das eine oder andere Glas zu viel gebechert“, rügt Barbara ihren Onkel. „Du kannst dich ja überhaupt nicht mehr artikulieren. An dein dämliches ‚war … gewesen‘ haben wir uns inzwischen gewöhnt, aber du musst nicht in jedem Satz das Wort ‚dann‘ einflechten.“
Burkhard zieht die buschigen Augenbrauen zusammen.
„Ich kann reden, wie ich will“, braust er auf. „Du hast mir gar nichts zu verbieten. Was soll denn das? Ich lasse mir von dich … äh … von dir doch keine Vorschriften machen! So weit kommt es noch. Ich kann jeden Satz mit ‚dann‘ anfangen. Dann, dann, dann. Wir sind doch hier nicht im Deutschkurs. Was bildest du dir eigentlich ein? Bist du jetzt neuerdings Lehrerin geworden oder was?“
Burkhard ist so empört, dass ich laut lachen muss. Wie lange habe ich schon nicht mehr so herzhaft gelacht! Burkhard regt sich immer so niedlich auf, dass es automatisch lustig ist.
„Wenn ich euch erinnern darf – auch dieses Jahr gilt: keine Zankereien vor den Gästen“, sagt Nina mit Nachdruck. „Das ist wirklich wichtig, und ihr müsst euch unter allen Umständen daran halten. Die Gäste fühlen sich ganz bestimmt nicht wohl, wenn das Personal sich ständig streitet. Also nehmt euch zusammen, Leute.“
„Natürlich tun wir das“, ruft Burkhard euphorisch. „Das haben wir letztes Jahr auch gemacht. Wir haben uns nie vor den Gästen gestritten. Es war sehr harmonisch gewesen.“
„Naja“, murmelt Barbara und hebt ihre Augenbrauen. „Wenn du das so siehst, wird es wohl stimmen.“
„Natürlich stimmt das“, ereifert Burkhard sich. „Ich sage immer die Wahrheit.“
„Schön“, lächelt Nina und nickt mir zu. „Wenn nicht, schreitest du ein, liebe Leonie. So, nun kommen wir noch zu einer ganz besonderen Sache, die ich euch ans Herz legen möchte.“ Nina macht eine kunstvolle Pause und wir warten gespannt.
„Ihr kennt doch sicher alle Linus Lindner, oder?“, will Nina wissen und schaut in die Runde.
„Na klar“, ruft Barbara begeistert. „Wer kennt ihn nicht? Er ist mit jedem Song in den Charts und der absolute Superstar.“
„Linus Lindner? Ist das der Typ mit dem Hut?“, fragt Dieter und schiebt sich ein Plätzchen in den Mund. „Der mit dieser Betroffenheitslyrik auf Deutsch?“
„Das ist keine Betroffenheitslyrik“, widerspricht Barbara barsch. „Der hat verdammt gute Texte, die wirklich zum Nachdenken anregen. Und er schreibt sie auch noch selbst. Seine Songs gehen mitten ins Herz.“
„Die machen ein viel zu großes Brimborium um den“, mosert Burkhard. „Sie picken sich immer einen raus und heben den dann in den Himmel. Dann, dann, dann. Hehe.“
„Das tun sie sicher, aber Linus ist trotzdem richtig gut“, schwärmt Barbara. „Kein Wunder, dass er so erfolgreich ist. Aber was ist mit ihm?“
„Es gibt eine große Überraschung für euch. Stellt euch jetzt mal einen imaginären Trommelwirbel vor“, sagt Nina fröhlich.
Wir sehen sie erstaunt an.
„Linus tritt bei unserer diesjährigen Veranstaltung ‚Frühlings-Musik im Strandkorb‘ auf“, verkündet Nina sichtlich stolz. „Es gibt Veranstaltungen an verschiedenen Orten, und der krönende Abschluss ist sein Auftritt. Tja, und nun dürft ihr mal raten, wo er untergebracht ist.“
„Wahrscheinlich in diesem teuren Wellness-Hotel im Nebenort“, vermute ich.
Nina schüttelt grinsend den Kopf. „Falsch geraten. Hat noch jemand eine Idee?“
„Du willst doch nicht sagen, dass ….“
Meine Stimme stellt ihren Dienst vorübergehend ein.