Sonderpädagogik - Edith Staud - E-Book

Sonderpädagogik E-Book

Edith Staud

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Beschreibung

In diesem Buch wird versucht die Bedeutung der Erkenntnisse der Hirnforschung in Bezug auf die Körperbehindertenpädagogik darzustellen. Die Problematik wird sowohl in Theorie als auch in Praxis dargestellt. Es richtet sich an Lehrer und Eltern behinderter Kinder. Die Autoren haben sich intensiv mit der Thematik der Hirnforschung beschäftigt und dabei ihre zentrale Bedeutung für den Bereich der Pädagogik erkannt. Es ist wichtig, dass die besondere Problematik körperbehinderter Kinder und Jugendlicher frühzeitig erkannt wird und sie entsprechend ihrer Probleme ressourcenorientiert gefördert werden können. Dieses Buch soll Hilfestellung geben, damit Lehrer, Eltern, Mitarbeiter an Behinderteneinrichtungen und Lehramtsstudenten zu einem besseren Verständnis der Problematik gelangen. Homepage: www.staudbooks.de

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Zielgruppe: Lehrer, Studenten, Eltern behinderter Kinder, Mitarbeiter in den sozialen Dienstleistungen und alle Interessierten

 

Der Inhalt wurde sorgfältig recherchiert, bleibt aber ohne Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit. Der Autor kann für fehlerhaft Angaben und deren Folgen weder eine juristische noch irgendeine Haftung übernehmen.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Erkenntnisse der Hirnforschung

2.1 Das Gehirn

2.2 Bausteine des Gehirns

2.3 Die Bedeutung der ersten Lebenseindrücke

2.4 Die Spiegelneurone

2.5 Die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen

2.6 Die Neuroplastizität des Gehirns

Behinderung und Körperbehinderung

3.1 Belastung und Reaktionen der Eltern

3.2 Belastung durch Behinderung und Krankheit aus der Sicht des Betroffenen

3.3 Probleme in der sozialen Dienstleistung

3.4 Reaktionen der Gesellschaft

3.5 Sozialisationsbedingungen

Körperbehindertenpädagogik - Wissenschaft und Personengruppe

4.1 Körperbehindertenpädagogik als Wissenschaft

4.2 Personengruppe

4.2.1 Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen

4.2.2 Kinder mit Spina bifida

4.2.3 Epilepsiekranke Kinder

4.2.4 Chronisch kranke Kinder

4.2.5 Progredient kranke Kinder

4.2.6 Kinder mit körperlichen Fehlbildungen

4.2.7 Traumatisierte Kinder

4.2.8 Schwerstbehinderte Kinder

4.2.9 Kinder mit Minimaler Cerebraler Dysfunktion (MCD)

4.3 Kinder mit mehrfachen Behinderungen

4.3.1 Körperbehinderte Kinder mit autistischen Störungen

4.3.2 Körperbehinderte Kinder mit Sehbehinderungen

4.3.3 Körperbehinderte Kinder mit Hörbehinderungen

4.3.4 Körperbehinderte Kinder mit Sprachbehinderungen

4.3.5 Körperbehinderte Kinder mit Lese- Rechtschreibschwäche

Lernen nach den Erkenntnissen der Gehirnforschung

5.1 Lernen und Gedächtnis

5.2 Lernen unter Stress?

5.3 Lerntypen

5.4 Die Bedeutung der Sekundärassoziationen beim Lernen

5.5 Lernen durch Belohnung und Bestrafung

5.6 Lernen mit Hilfe von Multimedia

Arbeitsbereiche in der Körperbehindertenpädagogik

6.1 Förderdiagnostik

6.2 Vorschulische Förderung

6.3 Schulische Förderung und Probleme in der Leistungsbewertung

6.4 Integration in einer Regelschule oder Förderung in einer Sondereinrichtung?

Vorschläge zur Verbesserung der Situation der behinderten Schüler/innen.

7.1 Musik und Bewegung

7.2 Soziales Lernen in der Schule

7.2.1 Normverdeutlichung und Grenzziehung

7.2.2 Konsequenz

7.2.3 Pädagogischer Konsens

7.2.4 Humane Kommunikation, Umgangsformen, Kleidung, Aussehen

7.2.5 Empathie fördern

7.2.6 Konfliktmanagement

7.3 Meditation

7.4 Erfolgserlebnisse für Kinder mit ADS und Autismus

7.4.1 ADS und ADHS in der Schule

7.4.2 Förderung autistischer Kinder in der Schule

Mitarbeiter und Eltern

Zusammenfassung

Literatur

1 Einleitung

Ich habe 28 Jahre an einer Körperbehindertenschule gearbeitet und diese Arbeit hat mir sehr viel Spaß bereitet. Es ist eine interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit, bei der die behinderten Menschen im Mittelpunkt stehen. In den letzten Monaten habe ich nun einige Bücher über die Erkenntnisse der Hirnforschung gelesen. Diese Literatur hat mich angeregt, mir darüber Gedanken zu machen, inwieweit die Erkenntnisse der Hirnforschung für die Körperbehindertenpädagogik von Bedeutung sind. An einer Körperbehindertenschule sind in der Regel eine Vielzahl von Mitarbeitern mit unterschiedlichen Qualifikationen beschäftigt. Das Spektrum erstreckt sich von der Schulleitung, der Verwaltungsleitung, den Sonderschullehrern, oft auch Grund- und Hauptschullehrern, den Therapeuten, Krankengymnasten bis zum Zivildienstleistenden, den Hausmeistern und weiterem Personal. Alle diese Mitarbeiter haben täglich Kontakte mit Behinderten und ihre Kenntnisse über deren Probleme werden wohl recht unterschiedlich sein. Aber auch die Lehrer an Regelschulen wie Grund- und Hauptschule, Realschule, Gymnasium haben in ihren Klassen zum Teil Integrationskinder, die behindert sind. Diese Lehrer haben in der Regel keine Körperbehindertenpädagogik studiert und sind daher mit dieser Problematik wahrscheinlich nicht so vertraut. Ebenso wird es den Eltern behinderter Kinder ergehen, die zwar von der Problematik persönlich betroffen sind, sich fachlich vielleicht selbst etwas kundig gemacht haben, aber keine spezielle Berufsausbildung in bezug auf dieses Problem haben. Und nun bleiben noch die Behinderten selbst, die zwar wahrscheinlich mehr oder weniger ihre Problematik registrieren und erkennen, sich aber nicht alles erklären können. Für diesen ganzen Personenkreis habe ich mit diesem Buch den Versuch unternommen, einige Probleme mit Hilfe der Erkenntnisse der Hirnforschung darzustellen.

Im zweiten Kapitel dieses Buches werde ich in einem kurzen Überblick das menschliche Gehirn beschreiben. Da es der wichtigste Teil des Zentralnervensystems ist, sozusagen die Schaltzentrale, ist es beim Menschen ziemlich groß. Als Laie und Nichtmediziner hat man zum Teil wahrscheinlich Schwierigkeiten sich dieses komplexe Gebilde im ganzen vorzustellen. Ich habe versucht, diese Inhalte so darzustellen, dass es für den Leser nachvollziehbar ist. Unter 2.2 werden die Nervenzellen oder Neurone beschrieben, aus denen unser Gehirn besteht. Dann folgt das Kapitel über die Bedeutung der ersten Lebenseindrücke, die für die weitere Entwicklung des Kindes zentral sind. In dieser Zeit, den ersten drei Lebensjahren, besteht bei den körperbehinderten Kindern durch ungünstige Umstände wegen der Körperschädigung die Gefahr, dass zu der bestehenden Körperschädigung noch weitere Schädigungen erworben werden und eine Behinderung entsteht. Um dies weitgehend zu vermeiden kommen der Diagnostik und der Frühförderung zentrale Bedeutung zu.

Nun folgen wesentliche Erkenntnisse der Hirnforschung über die Spiegelneurone und die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die sogenannten Spiegelneurone sind zwar angeboren, aber sie entfalten und entwickeln sich in den ersten Lebensjahren nur unter günstigen und passenden Bedingungen. Und gerade diese Bedingungen sind bei vielen körperbehinderten Kindern aufgrund der Behinderung nicht ausreichend vorhanden, und dies kann die Entwicklung der Fähigkeit zur Empathie beeinträchtigen. Der ohnehin schon durch die Behinderung belastete Kontakt mit Nichtbehinderten kann durch eine beeinträchtigte Empathiefähigkeit des Behinderten noch weiter nachteilig beeinflusst werden.

Diese zum Teil mangelnde oder beeinträchtige Empathiefähigkeit der behinderten Schüler, besonders, wenn diese von Geburt an sichtbar behindert waren, ist mir während meiner Tätigkeit auch aufgefallen. Der Kontakt mit manchen Schülern ist dann erschwert, da sie die Intentionen ihres Gegenübers nur schwer erkennen können, und auch Probleme haben, sich vorzustellen, wie ihr Verhalten auf die Mitmenschen wirkt.

Da bei vielen behinderten Kindern es durch die Behinderung zu frühen Erfahrungen von Einsamkeit und Verlust kommt, kann dies eine lebenslange Empfindlichkeit der neurobiologischen Systeme zur Folge haben. Behinderte Kinder können als Folge ihrer Behinderung daher eine höhere Stressempfindlichkeit erwerben, was im Unterricht und im Umgang mit ihnen berücksichtigt werden sollte. Aufgrund dieser Fakten ist es nachvollziehbar, dass durch eine Behinderung eine Verhaltensstörung entstehen kann und sich eine erhöhte Neigung zu Aggression entwickeln kann.

Die Erkenntnis von der Neuroplastizität des Gehirns ist für die Körperbehindertenpädagogik von besonderer Bedeutung. Da die Kinder aufgrund ihrer Behinderung (wenn sie von Geburt an behindert sind) eine Erfahrungswelt erleben, die von den Erfahrungen Nichtbehinderter abweicht, ergibt sich oft die Frage, ob vorhandene Defizite durch eine entsprechende Förderung noch ausgeglichen werden können und in welchem Lebensalter dies noch möglich ist. Da unser Gehirn über Neuroplastizität verfügt, scheint eine ressourcenorientierte Förderung auf jeden Fall sinnvoll zu sein.

In Kapitel drei möchte zuerst die Begriffe der Behinderung, Körperschädigung und Körperbehinderung erwähnen. Eine Behinderung hat zunächst Auswirkungen auf den behinderten Menschen selbst, aber auch auf sein Umfeld. Die Ursachen, Reaktionen und Folgen für das behinderte Kind, für seine Eltern, für die betreuenden Mitarbeiter in Institutionen und die Reaktionen der Gesellschaft früher und heute werden anschließend beschrieben. Um die behinderten Menschen zu schützen hat der Staat gesetzliche Regelungen im Grundgesetz und Sozialgesetzbuch geschaffen, die den behinderten Kindern ein Recht auf schulische Ausbildung und auf Integration garantiert. Körperbehinderte Kinder können in Sonderschulen oder auch, wenn möglich, in allgemeinen Schulen den Unterricht besuchen. Dies ist in der Verwaltungsvorschrift des KM vom 8. März 1999 (KuU S. 45/1999) geregelt.

In der Körperbehindertenschule werden Kinder mit sehr unterschiedlichen Behinderungen unterrichtet. Diese Behinderungen werde ich beschreiben. Da die Körperbehindertenschule auch Kinder mit Autismus und ADHS aufnimmt und diese Behinderungen in der Literatur über die Hirnforschung erwähnt werden, werde ich auch sie kurz beschreiben. Viele der behinderten Kinder sind in ihrem Seh-, Hör- und Sprechvermögen durch ihre Behinderung beeinträchtigt. Daher wird diese Problematik angesprochen.

Der Mensch lernt nach den Erkenntnissen der Gehirnforschung eigentlich immer. Deshalb ist Kapitel 5 dem Thema des Lernens gewidmet. Dabei werde ich die Erkenntnisse verschiedener Hirnforscher vorstellen, die auch für nichtbehinderte Menschen von Bedeutung sind. Körperbehinderte Kinder und Jugendliche haben aufgrund der Beeinträchtigungen je nach Behinderung spezielle Probleme beim Lernen. Der Diagnostik kommt daher eine besondere Bedeutung zu, denn mit ihrer Hilfe ist es möglich, Defizite zu erkennen und einen geeigneten Förderplan zu erstellen. Dabei wäre die Frage zu stellen, inwieweit eine defizitorientierte Förderung angemessen ist und inwieweit im Einzelfall aber vor allem ressourcenorientiert zu fördern ist.

Kapitel 6 ist der Körperbehindertenpädagogik und ihren Aufgabenfeldern, also den Arbeitsbereichen des Körperbehindertenpädagogen gewidmet. Da behinderte Kinder auch als Integrationskinder eine Regelschule besuchen können, möchte ich diese Problematik noch ansprechen, indem die Frage aufgeworfen wird, ob die Integration in einer Regelschule oder die Förderung in einer Sondereinrichtung vorzuziehen ist und wie dies gesetzlich geregelt ist.

Zuletzt folgen noch Überlegungen, wie nach den Erkenntnissen der Hirnforschung die Situation der behinderten Schüler und damit aber auch aller weiteren von dieser Problematik betroffenen Personen (Eltern, Lehrer usw.) verbessert werden könnte.

Einen Dank möchte ich dem Mitarbeiter dieses Buches aussprechen. Ohne seine Arbeit wäre dieses Buch nicht entstanden. Während ich für die inhaltlichen Teile überwiegend verantwortlich bin, hat er die praktische Arbeit wie Zeichnungen, Formatierung, Eingabe des Textes, Formatierung in Latex usw. geleistet.

2 Erkenntnisse der Hirnforschung

Bevor ich mich den Problemen der Körperbehindertenpädagogik zuwende, möchte ich die Erkenntnisse der Hirnforschung, wie sie von Prof. Dr. Bauer, Prof. Dr. Spitzer, Prof. Dr. Roth, Prof. Dr. Hüther usw. geschildert werden beschreiben.

2.1 Das Gehirn

Abbildung 2.1: Übersicht über den Aufbau des Gehirns (vgl. Becker-Carus 2004, S. 61)

„Die Grundauffassung der modernen Hirnforschung lautet, dass alles, was wir sind und tun, untrennbar mit den Strukturen und Funktionen unseres Gehirns zu tun hat, und das gilt natürlich auch für die Persönlichkeit und die aus ihr sich ergebende Entscheidungs- und Handlungsstruktur eines Menschen, und damit auch für die Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn.“ (Roth 2007, S. 33)

 

Beschreibung 1 Das Gehirn

 

Legende für Abbildung 2.1

Hirnstamm: Steuerzentrum grundlegender lebenserhaltender Aktivitäten (Atmung, Herzschlag)

Medulla oblongata: Zentren für Atmung, Herzschlag, Herzgefäßmuskulatur, Blutdruck, Verdauung, Reflexe für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts

Brückenhirn (Pons): Schlaf-Wach-Funktionen, Schlafphasen, Hirnnerven

Kleinhirn (Cerebellum): Koordination präziser Muskel- und Körperbewegungen

Mittelhirn (Mesencephalon): besteht aus dem

Tegmentum (Hirnschenkel): grundlegende Triebzentren

Tectum (Mittelhirndach): Koordination optischer Reflexe, Koordination akustischer Informationen

Formatio reticularis: Kontrolle des allgemeinen Erregungszustandes und der Wachheit, Aufmerksamkeitsfokussierung auf bestimmte Reize

Zwischenhirn (Diencephalon): zentrale Schaltstelle des Nervensystems

Teile:

Thalamus: Hauptumschaltstelle zwischen den Sinnesorganen und der Hirnrinde (Cortex).

Hypothalamus: zentrales Steuersystem für die Funktionen des vegetativen Nervensystems (Gleichgewichtszustände der inneren Körpervorgänge, Motivation, emotionale Zustände, Hormonhaushalt, Körpertemperatur, Blutdruck, Atmung, Eireifung).

Enge Verbindung zur Hypophyse und damit Kontrolle über die Produktion verschiedener Hormone.

Endhirn oder Telencephalon

(vgl. Becker-Carus 2004, S. 61)

 

Deshalb ist es zuerst wichtig, sich über den Bau und die Funktion kundig zu machen (vgl Roth 2007, S. 33). Das Gehirn liegt im Schädel und ist der wichtigste Teil des Zentralnervensystems. Es ist in das Gehirnwasser eingebettet und gegen Druck und Stoß geschützt. Der älteste Teil des Gehirns ist das Stammhirn, das beim Menschen von den anderen Gehirnteilen fast verdeckt ist (siehe Abbildung 2.1). Bei Tieren macht es heute noch fast die gesamte Hirnmasse aus (vgl. Vester 2007, S. 15).

Während der Evolution hat sich das Gehirn verändert (vgl. Vester 2007, S. 20).

Bei den niederen Tieren sind die Teile des Gehirns, die die Koordination und die automatischen Reaktionen des Körpers steuern am größten (das Kleinhirn, das Zwischen- und Mittelhirn, das verlängerte Mark mit Brücke und das Riechhirn). In der weiteren Entwicklung in der Evolution wurde die Kommunikation in der Gruppe und die Denkfähigkeit (und damit das Großhirn) immer wichtiger. Die Oberfläche des Großhirnlappens, er hatte sich aus dem Riechhirn entwickelt, vergrößerte sich so, dass sich der Lappen in Falten legen musste und die Teile, die den Instinkt beherrschen immer kleiner wurden (vgl. Vester 2007, S. 20).

Das menschlich Gehirn ist vergleichsweise groß. Es hat ein Volumen von rund 1300 Kubikzentimetern und wiegt 1,3 Kilogramm (vgl. Roth 2007, S. 35). Es zeigt den typischen Aufbau eines Säugetiergehirns und besteht aus sechs Teilen: das Verlängerte Mark, die Brücke, das Kleinhirn, das Mittelhirn, das Zwischenhirn und das End- oder Großhirn. Als Hirnstamm werden Mittelhirn, Brücke und Verlängertes Mark bezeichnet (vgl. Roth 2007, S. 36, 37).

Am menschlichen Gehirn fällt besonders die vielgewundene Hirnrinde auf, die den größten Teil des Gehirns umgibt. Auch sehr groß und an der Oberfläche stark eingefaltet ist das Kleinhirn (vgl. Roth 2007, S. 38).

Die Großhirnrinde ist beim Menschen groß. Auseinandergefaltet umfasst sie 2200 Quadratzentimeter. In ihr befinden sich rund 15 Milliarden Nervenzellen, die durch über eine halbe Trillion Kontaktpunkte (sie werden auch Synapsen genannt) verbunden sind. Das Ganze ist ein komplexes Netzwerk und die Großhirnrinde gilt als der Sitz von allem, was den Mensch zum Menschen macht. Die Großhirnrinde wird auch als Cortex cerebri bezeichnet (vgl. Roth 2007, S. 38).

Der Cortex wird in vier Bereiche oder „Lappen“ eingeteilt. Man unterscheidet Stirnlappen, Scheitellappen, Schläfenlappen und Hinterhauptslappen (siehe Abbildung 2.2). Die Großhirnrinde wird in anatomische Felder eingeteilt. Die sogenannten sensorischen Felder haben mit der Verarbeitung von Informationen des Sehens (im Hinterhauptslappen), des Hörens (am oberen vorderen Rand des Schläfenlappens), der Körperempfindung und des Gleichgewichts (am vorderen Rand des Schläfenlappens)zu tun. Der insuläre Cortex liegt tief eingesenkt zwischen Stirn-, Schläfen- und Scheitellappen. Dort werden das Körpergefühl, die affektive Schmerzempfindung, die Eingeweidewahrnehmung, und die Geschmacksempfindungen verarbeitet. Riechinformationen werden in der Riechrinde verarbeitet, die in den limbischen Rindenarealen liegt (vgl. Roth 2007, S. 39-41).

Abbildung 2.2: Darstellung des Großhirns (vgl. Becker-Carus 2004, S. 65)

Außer den sensorischen gibt es auch motorische Hirnrindenfelder. Sie liegen alle am oberen hinteren Rand des Frontallappens. Von hier aus werden die einzelnen Muskeln gesteuert, die Feinbewegungen kontrolliert, Bewegungsabläufe geplant und gesteuert, aber auch bei Vorstellungen dieser Aktionen ist dieser Bereich aktiv. In den anderen Hirnrindenfeldern werden die Informationen miteinander verbunden und in Verbindung mit Gedächtnisinhalten werden komplexe Informationen erzeugt. Im hinteren unteren Scheitellappen auf der linken Seite werden symbolisch-analytische Informationen verarbeitet wie Mathematik, Sprache, Schrift und die Bedeutung von Zeichen und Symbolen. Der rechtsseitige hintere Scheitellappen ist der Ort, an dem die räumliche Orientierung lokalisiert ist. Im Scheitellappen befindet sich unser Körperschema und die Verortung unseres Körpers im Raum, auch ist er beteiligt an der Planung, Vorbereitung und Steuerung von Greif- und Augenbewegungen. Der obere und mittlere Schläfenlappen ist der Sitz der auditorischen Wahrnehmung und der Sprache. Der untere Schläfenlappen und der Übergang zwischen Scheitel-Schläfen- und Hinterhauptslappen ist wichtig für die komplexe visuelle Informationsverarbeitung. Auch die Bedeutung und die Interpretation von Objekten, Gesichtern, Gesten und Szenen findet in diesem Bereich statt. Im präfrontalen Cortex (Stirnlappen) befindet sich das Arbeitsgedächtnis, hier werden auch Ereignisse und Probleme der Außenwelt erfasst (vgl. Roth 2007, S. 42, 43)

 

Beschreibung 2 Darstellung des Großhirns

 

Legende für Abbildung 2.2

Großhirn (Cerebrum)

Die Großhirnrinde wird auch als Cortex cerebri oder cerebraler Cortex oder als Cortex bezeichnet.

Frontallappen (Lobus frontalis): Sitz der motorischen Rindenfelder (Motorik)

Zentralfurche (Sulcus centralis):

Scheitel- oder Parietallappen (Lobus parietalis): Sitz von Körperschema, räumliche Orientierung, Berührung

Schläfen- oder Temporallappen (Lobus temporalis): Sitz von auditorischer Wahrnehmung und Sprache (Hören)

Lateralfurche (Sulcus lateralis):

Hinterhaupt- oder Okzipitallappen (Lobus occipitalis): Sitz der sensorischen Felder (Sehen)

(vgl. Becker-Carus, 2004, S. 65)

 

Diese Gebiete sind für die konkreten Inhalte des Bewusstseins zuständig. Informationen über Geschmack, Geruch und Schmerz werden aus den älteren limbischen Rindengebieten hinzugefügt (siehe Abbildung 2.3). Es gibt in unserem Gehirn Zentren, die zwar am Entstehen des Bewusstseins beteiligt sind, selber aber völlig unbewusst arbeiten. Diese Zentren sind subcortical, sie liegen außerhalb und unterhalb des Cortex. Diese im Hirnstamm liegenden Zentren (das Mittelhirn, Brücke und Verlängertes Mark) steuern den Grad unserer Wachheit und Bewusstheit (vgl. Roth 2007, S. 43)

Abbildung 2.3: Darstellung des limbischen Systems

 

Beschreibung 3 Limbisches System

 

Informationen für die Abbildung 2.3

Limbisches System: besteht aus Hippocampus, Mandelkern, Septum, Gyrus cinguli

Hippocampus: Lernen und Behalten neuer Ereignisse

Mandelkern (Nuclei amygdalae): Steuerung von Aggression und aggressivem Verhalten, Behalten neuer Gedächtnisinhalte

Gyrus cinguli: emotionale Reaktion auf Schmerz, Lösung kognitiver Assoziationsaufgaben

(vgl. Becker-Carus 2004, S. 64)

 

Sie werden als «retikuläre Formation» bezeichnet. Die überwiegend unbewusst arbeitenden Zentren haben ganz unterschiedliche Funktionen, sind aber am unbewussten Entstehen und der Regulation von körperlichen Bedürfnissen, Affekten und Gefühlen beteiligt (vgl. Roth 2007, S. 45)

Dazu gehört der Hypothalamus, die Amygdala und das mesolimbische System.

Der Hypothalamus ist das wichtigste Kontrollzentrum für die biologischen Grundfunktionen (Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Schlaf- und Wachzustand, die Temperatur- und Kreislaufregulation, das Angriffs- und Verteidigungsverhalten, das Sexualverhalten) und liegt im unteren Teil des Zwischenhirns über der Hirnanhangdrüse. Er ist der Entstehungsort von Trieb- und Affektzuständen, die mit diesen biologischen Grundfunktionen in Zusammenhang stehen. Der Hypothalamus ist mit allen verhaltensrelevanten Teilen des Gehirns verbunden. Besonders betrifft das die Hypophyse, das zentrale Höhlengrau im Mittelhirn und die vegetativen Zentren des Hirnstamms. Diese sind mit dem peripheren Nervensystem eng verknüpft. Peripheres Nervensystem und Hypophyse stehen in Wechselwirkung mit den Organen. Es besteht dadurch eine enge Verbindung zwischen Gehirn und den Organen. Hypophyse und peripheres Nervensystem spielen bei Stress und Stressbewältigung eine wichtige Rolle. Darauf werde ich später noch genauer eingehen (vgl. Roth 2007, S. 45, 46).

Die Orte des unbewussten Entstehens von Emotionen sind die Amygdala (der Mandelkern) und das mesolimbische System. Der Mandelkern liegt am inneren unteren Rand des Temporallappens und ist das Zentrum der furcht- und angstgeleiteten Verhaltensbewertung. In ihm werden geruchliche Informationen verarbeitet. Bei Affekten und Stress arbeitet er mit dem Hypothalamus zusammen. Auch wenn es um komplexe emotionale Konditionierung geht ist der Mandelkern beteiligt (vgl. Roth 2007, S. 46).

Der Gegenspieler dieses System ist, was Furcht, Angst und Stress betrifft, das mesolimbische System. Dieses befindet sich im Mittelhirnboden und im Endhirn. Das mesolimbische System stellt das Belohnungszentrum des Gehirns dar, denn hier werden hirneigene Opiate wirksam, die zu positiven Empfindungen führen. Es werden auch die positiven Konsequenzen von Handlungen registriert und der Mensch ist dann motiviert das zu wiederholen, was zu einem positiven Zustand geführt hat. Dabei wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet (vgl. Roth 2007, S. 46, 47).

In den Bereichen des Hypothalamus, des zentralen Höhlengrau, der Amygdala und des mesolimbischen Systems werden die Affekte, die positiven und negativen Gefühle und die psychischen Antriebe produziert. Dies geschieht unbewusst. Über Nervenzellfortsätze wird dann die Großhirnrinde erregt und die Gefühle werden bewusst. Wird die Großhirnrinde nicht genügend aktiviert, dann bleiben die Gefühle unbewusst (vgl. Roth 2007, S. 47).

Der Hippocampus, der auch zum limbischen System gehört, spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Er ist der Träger des Vorbewussten und hat damit eine Zwischenstellung zwischen Neocortex und dem limbischen System. Er legt fest, welche bewusst erfahrenen Ereignisse im deklarativen Gedächtnis abgelegt werden. Der Kern dieses Gedächtnisses ist das Erlebnisgedächtnis. Es enthält alles, was mit uns passiert ist, und dadurch wird unser autobiographisches Gedächtnis geformt. Aus dem Erlebnisgedächtnis entsteht das Wissensgedächtnis, das auch Fakten ohne den Erlebniskontext enthält. Der eigentlichen Ort des deklarativen Gedächtnisses ist die Großhirnrinde, der Hippocampus ist nur der Organisator. Der Hippocampus arbeitet nicht bewusst, wir haben keinen willentlichen Einfluss darauf, aber er ist das Tor zum Bewusstsein. Weiter ist noch die septale Region ein wichtiges Gebiet. Sie bildet zusammen mit den benachbarten Strukturen das basale Vorderhirn. In Zusammenarbeit mit Hippocampus und Großhirnrinde ist es an Lernen, Aufmerksamkeitssteuerung und Gedächtnisbildung beteiligt. Auch wird hier der Neurotransmitter Acetylcholin produziert (vgl. Roth 2007, S. 47-49).

Das Zwischenhirn liegt in der Tiefe des Endhirns. Es besteht aus dem Epithalamus, dem dorsalen Thalamus, den ventralen Thalamus und dem Hypothalamus. Im dorsalen Thalamus enden die sensorischen Bahnen von Auge, Ohr, Gleichgewichtorgan, Haut und Muskeln. Sie werden dort auf Bahnen zur Hirnrinde umgeschaltet. Hier enden auch die motorischen Bahnen der Hirnrinde, die dann zum Verlängerten Mark und zum Rückenmark führen. Dadurch wird der Bewegungsapparat gesteuert. Die Kerne des dorsalen Thalamus haben sensorische und motorische Funktionen. Da sie auch an kognitiven und limbischen Funktionen beteiligt sind und bei der Regulation von Wachheit, Bewusstsein und Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle spielen ist der dorsale Thalamus das Ein- und Ausgangstor des Bewusstseins (vgl. Roth 2007, S. 49, 50).

Mittelhirn, Kleinhirn, Brücke und Verlängertes Mark bilden das Stammhirn.

Das Mittelhirn, das sich an das Zwischenhirn anschließt, spielt eine wichtige Rolle für Bewegungen, Handlungssteuerung und die Handlungsbewertung. Es arbeitet unbewusst. Es ist auch der Entstehungsort des neuronalen Botenstoffes Dopamin. Dieser spielt bei der Motivation eine besondere Rolle. Im Mittelhirn liegt das zentrale Höhlengrau. Es ist der Sitz instinktiver Verhaltensweisen und von Schaltelementen affektiver Reaktionen. Die Brücke stellt die Verbindung von der Großhirnrinde zum Kleinhirn her. Das Kleinhirn, das auf der Brücke aufgesetzt ist, besteht aus drei Teilen. Hier erfolgt die Steuerung des Gleichgewichts und der Augenfolgebewegung. Im zweiten Teil wird der Bewegungsapparat koordiniert. Der dritte Teil ist eng mit der Großhirnrinde verbunden und steuert auch die feine Willkürmotorik. Das Kleinhirn ist damit ein wichtiger Teil des motorischen Lernens, aber es ist auch an anderen kognitiven Leistungen beteiligt. Seine Aufgaben bestehen hauptsächlich im zeitlichen Feinabgleich von Ereignissen, mit denen sich das Gehirn gerade befasst (vgl. Roth 2007, S. 50, 51)

Das Verlängerte Mark ist die Fortsetzung des Rückenmarks. Es spielt eine entscheidende Rolle bei lebenswichtigen Körperfunktionen und bei Erregungs- Aufmerksamkeit- und Bewusstseinszuständen. Hier ist der Produktionsort der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin (vgl. Roth 2007, S. 51, 52).

Das Gehirn hat sechs Hauptfunktionen. Seine erste Funktion ist den Körper und sich selbst am Leben zu erhalten (Steuerung von Organen und Funktionen). Der Körper muss bewegt und mit Nahrung versorgt werden, vor Feinden und Gefahren geschützt werden. Diese Aufgaben erfüllen Teile des limbischen Systems. Weitere Funktionen sind die Wahrnehmung und die Bewegungssteuerung. Diese Funktion wird von den sensorischen und motorischen Gebieten des Gehirns und den entsprechenden Cortex-Arealen geleistet. Andere Funktionen sind die emotionale Bewertung und Verhaltenssteuerung, was durch das limbische System erfolgt. In der Großhirnrinde hauptsächlich in der linken Hemisphäre in Verbindung mit dem Hippocampus und Teilen des Thalamus erfolgt die kognitive Bewertung im Denken, Vorstellen und Erinnern, der entsprechenden Verhaltenssteuerung und die Kommunikation (Sprache). Im sogenannten executiven System erfolgt die Handlungsplanung und —Vorbereitung. Diese Teile sind miteinander eng verbunden. Dies hat alles den Zweck, dass wir am Leben bleiben und uns fortpflanzen (vgl. Roth 2007, S. 52, 53)

2.2 Bausteine des Gehirns

Abbildung 2.4: Schema eines Neurons (vgl. Becker-Carus 2004, S.39)

Das Gehirn besteht aus Nervenzellen. Sie werden Neurone genannt. Es sind 50 bis 100 Milliarden, dazu kommen noch doppelt so viele Stütz-Hilfs- und Ernährungszellen, die Gliazellen genannt werden (vgl. Roth 2007, S. 54).

„Nervenzellen sind umgewandelte Körperzellen, die spezielle Eigenschaften im Dienste der Verarbeitung hirneigener elektrischer und chemischer Signale haben. Diese Signale erhalten die Nervenzellen über Sinnesorgane (Auge, Ohr, Haut usw., aber auch Körperorgane) und geben sie über Muskeln, Haut und Drüsen wieder ab (als Bewegung oder externe Körpersignale, aber auch als Veränderungen von körperinternen Funktionen). Zu diesem Zweck sind die Nervenzellen eine Art von Mini-Batterien und elektrischen Schaltkreisen, die elektrische Signale aufnehmen, verändern und wieder abgeben, sie sind aber auch Produzenten und Verarbeiter von chemischen Kommunikationssignalen, Neurotransmitter, Neuropeptide und Neurohormone genannt. Das Gehirn ist also ein System der miteinander verwobenen elektrischen und chemischen Informationsverarbeitung, wobei die elektrische Informationsverarbeitung die schnelle und einfache, die chemische die langsame und komplexe ist.“ (Roth 2007, S. 54)

Die Nervenfasern sind wie ein elektrisches Kabel isoliert. Sie sind von einer Hülle aus hellem Myelin umgeben. Ist diese Isolierschicht zerstört, erfolgen regelrechte Kurzschlüsse. Zu diesen Kurzschlüssen gehören auch die epileptischen Anfälle, die ich später noch beschreiben möchte (vgl. Vester 2007, S.31, 32).

Die Eingangsstrukturen der Nervenzellen werden als Dendriten bezeichnet. Über sie nehmen sie Erregungen auf. Die Ausgangsstrukturen bestehen aus langen dünnen Nervenfasern, die man Axone nennt. Zwischen den Nervenzellen finden Kontakte über die Synapsen statt. Dies sind kleine Endverdickungen der Axone. Sie setzen an den Dendriten und Zellkörpern oder an Axonen anderer Nervenzellen an. Über diese Synapsen ist jede Nervenzelle mit vielen anderen Nervenzellen verbunden. Die ungefähr 20000 Synapsen in der Großhirnrinde funktionieren entweder rein elektrisch oder kombiniert elektrisch chemisch. Ein von einer Zelle kommendes Signal wird unverändert an die nächsten Zellen weitergegeben. Oft verändern die Synapsen aber die Übertragungseigenschaften. Signale werden dann abgeschwächt oder verstärkt, Signale werden durchgelassen und andere Signale blockiert. Synapsen haben Verstärker- und Filtereigenschaften (vgl. Roth 2007. S. 54-56).

„Unter bestimmten Umständen verändert sich die Verknüpfungsstruktur in denjenigen Netzwerken, die Nervenzellen miteinander bilden, und diese Veränderungen verändern ihre Funktion, sei es bei der Wahrnehmung, beim Denken, bei der Gedächtnisbildung, bei Gefühlen oder bei der Handlungs- und Bewegungssteuerung.

Die chemischen Synapsen sind die wesentliche Grundlage der überaus komplizierten Erregungs- bzw. Informationsverarbeitung im Gehirn. An der chemischen Synapse wird ein einlaufendes elektrisches Signal, das Aktionspotential, oder eine ganze Salve davon in ein chemisches Signal umgewandelt, das dann durch einen winzigen Spalt hin zum nachgeschalteten Neuron wandert. Es erregt auf chemische Weise dieses Neuron, und es entsteht schließlich wieder ein elektrisches Signal, das (falls es erregend ist) über den Zellkörper des Neurons und sein Axon wieder zum nächsten Neuron wandert. Diese chemische Signalübertragung geht sehr schnell, d.h. in weniger als einem Tausendstel einer Sekunde, und wird durch neuronale Botenstoffe, Transmitter bewirkt.“ (Roth 2007, S. 56)

Schnelle Transmitter sind Glutamat, Gamma-Amino-Buttersäure und Glycerin. Die neuromodulatorischen Transmitter arbeiten langsamer und beeinflussen die Arbeit der schnellen Transmitter. Das sind das Noradrenalin, Dopamin, Serotonin und Acetylcholin. Chemische Überträgersubstanzen sind die Neuropeptide und Neurohormone (vgl. Roth 2007, S. 56).

2.3 Die Bedeutung der ersten Lebenseindrücke

Abbildung 2.5: Entwicklungsstufen des Gehirns (vgl. Becker-Carus 2004, S. 60)

 

Beschreibung 4 Entwicklungsstufen des Gehirns

 

Legende für die Abbildung 2.5

Prosencephalon: Vorderhirn

Mesencephalon: Mittelhirn

Rhombencephalon: Rautenhirn

Diencephalon: Zwischenhirn

Metencephalon: Hinterhirn

Myelencephalon: Nachhirn

Telencephalon: Endhirn

Cortex: Großhirnrinde

Cerebellum: Kleinhirn

Colliculus superior: Teil des Mittelhirndachs

Fissura lateralis: Sylvische Furche

Sulcus centralis: Zentralfurche

 

Wenn ein Kind geboren wird, dann ist ein großer Teil seines Gehirns bereits ausgebildet. In den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt entstehen die meisten restlichen Zellen und ihre Verknüpfungen. Die frühen Informationen durch das Tasten, Riechen, Fühlen und Schmecken werden fest gespeichert. Sie sind fester gespeichert als die meisten der bewussten Erinnerungen. (Vester 2007, S. 38)

„Die «Passivität» eines Säuglings täuscht also darüber hinweg, dass sich gerade in den ersten Wochen auch im geistigen Bereich sehr viel tut, nämlich die irreversible Formung eines durch die Sinneseindrücke hervorgerufenen ersten inneren Abbildes der Umwelt, die sich zusammen mit den letzten anatomischen Veränderungen in einem von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Grundmuster im Gehirn verankert.“ (Vester 2007, S. 43)

Diese Feinverdrahtung in der Großhirnrinde findet also hauptsächlich erst nach der Geburt statt (vgl. Roth 2007, S. 61).

Sehen und Hören findet bereits vor der Geburt statt, auch die Grobmotorik und der Gleichgewichtssinn sind weit vor der Geburt vorhanden, wie auch spezifische Arm- und Handbewegungen. Im Alter von vier Monaten nach der Geburt kann das Kind zielgerichtet greifen, die Feinmotorik ist zwischen dem achten und elften Monat entwickelt, ab dem dreizehnten Monat kann das Kind einen ergriffenen Gegenstand auch wieder loslassen. Am Ende des ersten Lebensjahres lernen die Kinder das Laufen (vgl. Roth 2007, S. 62)

„Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres werden die Bereiche des Frontallappens langsam funktionsfähig. Es erhöht sich deutlich die Zahl der Synapsen, und dies geht beim Säugling mit differenzierteren Wahrnehmungen und Gefühlen ab dem 10. Monat einher. Mit zweieinhalb Jahren findet ein weiterer Reifesprung des präfrontalen Cortex hinsichtlich des dendritischen Längenwachstums und der synaptischen Feinverknüpfung statt, insbesondere was den präfrontalen Cortex und das Broca-Areal betrifft. Dies wird als Grundlage für die Ausbildung des bewussten Denkens und anderer höherer kognitiver Leistungen, der syntaktisch-grammatikalischen Sprache (s. unten) und des Ich-Bewusstseins angesehen.“ (Roth 2007, S. 62)

Die Sprachentwicklung beginnt bereits vor der Geburt mit dem Erfassen der affektiven und emotionalen Tönung der Sprache und der Sprachmelodie.

Zusammengefasst kann man also sagen, dass limbisches System und das subcorticale System der Verhaltenssteuerung sich embryonal sehr früh, bereits nach der fünften Embryonalwoche ausbilden. Das corticale System reift nach der Geburt aus, dieser Reifungsprozess ist erst mit Ende der Pubertät abgeschlossen. Wichtigste Phasen sind die vorgeburtliche Entwicklung des Gehirns, der letzte Teil der Schwangerschaftsentwicklung und die ersten Lebensjahre, und schließlich noch die Pubertät. In diesen Perioden ist das Gehirn besonders empfindlich und prägsam gegenüber positiven und negativen Umwelteinflüssen (vgl. Roth 2007, S. 63, 64).

Zurück zu der Zeit nach der Geburt. Dabei betont Vester, dass die Gehirnzellen je nach der vorhandenen Umwelt anders wachsen. Die Monate nach der Geburt sind die einzige Zeit, in der sich äußere Einflüsse in der Ausbildung des Gehirns direkt niederschlagen können, das heißt, es kommt zu anatomischen Veränderungen, zu festen Verknüpfungen zwischen wachsenden Zellen. Die verschiedenen Einflüsse aus der Umwelt können sich direkt in der anatomischen Struktur einprägen (vgl. Vester 2007, S. 39)

So entsteht ein inneres Abbild der Umwelt, in der sich das Kind zurechtfinden muss. Es besteht Vertrautheit und Verständnis zwischen dem Organismus und seiner Umwelt, dies ist die Grundbedingung dafür, dass wir uns in dieser Welt zurechtfinden können (vgl. Vester 2007, S. 39, 40).

Das hat auch eine besondere Bedeutung in Bezug auf die Behinderungen. Wenn zum Beispiel Säuglinge aus irgendwelchen Gründen in ihren ersten Monaten keine visuellen Eindrücke empfangen konnten, sind lebenslange Sehstörungen die Folge (vgl. Vester 2007, S. 41).

Auch ist daran zu denken, und dies ist meine Vermutung, dass eine bereits zum Zeitpunkt der Geburt bestehende Körperbehinderung lebenslange Defizite zur Folge haben kann, was für den Ansatz der defizitorientierten Förderung bei Körperbehinderten Konsequenzen hat. Aber darauf möchte ich noch später eingehen.

Auch spätere hormonelle Reaktionen werden durch diese ersten Gefühlseindrücke festgelegt. Dies betrifft zum Beispiel auch die Stresserfahrungen, denen viele behinderte Kinder bereits in den ersten Lebenswochen ausgesetzt sind, da oft zu diesem Zeitpunkt wegen eines Klinikaufenthaltes Trennungen von Eltern und Kind erforderlich sind und notwendige Behandlungen für das Kind belastend sind (vgl. Vester 2007, S. 42, 43).

Auch Bauer betont, dass der Säugling bereits im Mutterleib begonnen hat sensomotorische Abläufe zu üben und er hört die Körpergeräusche und die Stimme seiner Mutter. Für diese Wahrnehmungen wurden bereits in seinem Gehirn Netzwerke angelegt. Deshalb kann er die Stimme seiner Mutter auch von anderen Stimmen unterscheiden. Im Gehirn des Neugeborenen sind bereits Nervenzell-Netzwerke aktiv, vor allem in den Arealen der Großhirnrinde, die für Tast- und Berührungsempfindungen und Bewegungsmuster der Muskulatur zuständig sind (vgl. Bauer 2008b, S. 63).

Nach der Geburt baut der Säugling zunächst einfache Wahrnehmungsmuster auf. Dabei entstehen die entsprechenden Nervenzell-Netzwerke, um zu registrieren und auch zu repräsentieren, was an Signalen an ihn herangetragen wird. Zunehmend kann damit die äußere Welt wahrgenommen werden. Aber auch die Signale und Wahrnehmungen aus seinem eigenen Körper sind für den Säugling anfangs völlig unspezifisch. Bei Missempfindungen werden seine Alarmsysteme aktiviert und er schreit. Der Säugling muss dann lernen die Signale von innen und von außen langsam zu verstehen. Dies geschieht dadurch, wie sich durch wissenschaftliche Einzeluntersuchungen herausgestellt hat

„dass die aus dem eigenen Körpermilieu kommenden Signale im Gehirn des Säuglings mit Signalen und Handlungen der Mutter bzw. der Bezugsperson verknüpft werden. Deren Reaktionen verleihen, wenn sie angemessen und für den Säugling problemlösend sind, den unspezifischen Empfindungen des Säuglings sozusagen rückwirkend eine «Bedeutung». Erst die der jeweiligen Situation angepassten Reaktionen der Mutter stellen die Empfindungen des Säuglings in einen Verständniszusammenhang. Dieser Zusammenhang wird vom Säugling in Nervenzell-Netzwerken repräsentiert, welche die Signale, die zeitgleich von «innen» (vom Körper) und «außen» (von der Mutter) eingehen, verknüpfen.“ (Bauer 2008b, S. 68)

Eine anregungsreiche Umwelt und zwischenmenschliche Beziehungen sind für die Entwicklung eines Kindes und seines Gehirn von entscheidender Bedeutung. Kinder ohne eine feste, pflegende Bezugsperson in den ersten Lebensmonaten zeigen Auffälligkeiten wie neuropsychologische Entwicklungsstörungen, besonders im Bereich der Motorik, aber auch seelische Beeinträchtigungen und Auffälligkeiten in der Hirnstromkurve, was auf Veränderungen in den neuronalen Netzwerken schließen lässt (vgl. Bauer 2008b, S. 69, 70).

Besonders von Geburt an behinderte Kinder laufen hier Gefahr zu ihrer schon bestehenden Schädigung weitere Beeinträchtigungen mit lebenslangen Folgen zu erleiden. Darauf werde ich später noch eingehen.

2.4 Die Spiegelneurone

Nun möchte ich noch einmal den Kontakt zwischen Mutter und Säugling ansprechen. Wie ist es dem Säugling bereits wenige Tage nach der Geburt möglich in Kontakt mit seiner wichtigsten Bezugsperson zu treten? Dem Säugling steht ein Startset von Spiegelneuronen zur Verfügung. Damit kann er erste Spiegelungsaktionen vornehmen (vgl. Bauer 2006, S. 57).

Aber diese angeborenen Spiegelsysteme des Säuglings entfalten und entwickeln sich nur weiter, wenn es zu einem Beziehungsangebot kommt, das für ihn geeignet und passend ist. Das können in der Regel von Natur aus am besten die Eltern. Wenn die Eltern nicht zur Verfügung stehen, können liebevolle andere Bezugspersonen, die längere Zeit dauerhaft zur Verfügung stehen guten Ersatz bieten (vgl. Bauer 2006, S. 59).

Was sind nun aber Spiegelneurone oder Spiegelnervenzellen? Sie wurden von Rizzolatti entdeckt und sind so etwas wie eine neurobiologische Resonanz. Wenn eine Handlung durch einen anderen vollzogen wird, wird beim Beobachter ein eigenes neurobiologisches Programm aktiviert, und zwar das Programm, das diese Handlung auch beim Beobachter selbst zur Ausführung bringen könnte. Diese Nervenzellen können im eigenen Körper ein Programm realisieren, aber sie werden auch durch Beobachtung aktiv, oder wenn man auf andere Weise miterlebt, wie ein anderer dieses Programm in die Tat umsetzt (vgl. Bauer 2006, S. 23).

„Der Vorgang der Spiegelung passiert simultan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken. Von der wahrgenommenen Handlung wird eine interne neuronale Kopie hergestellt, so, als vollzöge der Beobachter die Handlung selbst. Ob er sie wirklich vollzieht, bleibt ihm freigestellt. Wogegen er sich aber gar nicht wehren kann, ist, dass seine in Resonanz versetzten Spiegelneurone das in ihnen gespeicherte Handlungsprogramm in seine innere Vorstellung heben. Was er beobachtet, wird auf der eigenen neurobiologischen Tastatur in Echtzeit nachgespielt. Eine Beobachtung löst also in einem Menschen eine Art innere Simulation aus.“ (Bauer 2006, S. 26)

Durch diese Spiegelphänomene werden Situationen für uns vorhersehbar. Menschen, die uns umgeben, verhalten sich daher halbwegs vorhersehbar, also innerhalb einer von uns erwarteten Bandbreite. Ein Gefühl der Intuition lässt uns ahnen was kommen könnte. Es ist eine Form der impliziten Gewissheit, die uns in vielen Situationen vor einer heftigen neurobiologischen Stressreaktion, die ich auch noch beschreiben werde, schützt (vgl. Bauer 2006, S. 28, 29).

„Ein kurzer Eindruck, manchmal nur eine Momentaufnahme, genügt, um uns eine intuitive Ahnung zu vermitteln, was gerade vor sich geht und worauf wir uns einzustellen haben.“ (Bauer 2006, S. 31)

Mit Hilfe der Spiegelneurone können wir die beobachteten Teile einer Handlung zur einer Gesamtsequenz ergänzen. Diese Programme sind nicht frei erfunden, sondern sie beruhen auf der Gesamtheit der Erfahrungen, die die entsprechende Person gemacht hat. Da viele dieser Erfahrungen den Erfahrungen aller Mitglieder einer Gemeinschaft entsprechen, deshalb handelt es sich hier um einen gemeinsamen Handlungs- und Bedeutungsraum (vgl. Bauer 2006, S. 31).

Wie schon erwähnt spielen bei den intuitiven Ahnungen die individuellen Vorerfahrungen eine wesentliche Rolle. Auch sind viele Alltagszenen mehrdeutig, daher kann es zu Irrtümern kommen, sodass Situationen oder Handlungen falsch interpretiert werden. Deshalb ist das kritische Nachdenken, die intellektuelle Analyse von Situationen wichtig. Die Wahrscheinlichkeit, eine Situation richtig zu bewerten ist daher am größten, wenn Intuition und kritische Reflexion zu denselben Ergebnissen kommen (vgl. Bauer 2006, S. 33, 34).

Interessant ist auch weiter, dass bei Angst, Anspannung und Stress die Signalrate der Spiegelneurone massiv reduziert wird. Dadurch nimmt das Vermögen sich in andere einzufühlen, andere zu verstehen und Feinheiten wahrzunehmen, ab. Auch die Fähigkeit zu lernen wird dadurch massiv beeinträchtigt. Überall, wo Lernvorgänge eine Rolle spielen, am Arbeitsplatz, in der Schule, aber auch bei Konflikten und Krisen im zwischenmenschlichen Bereich sind Angst und Stress kontraproduktiv (vgl. Bauer 2006, S. 34, 35).

Die Spiegelneurone beeinflussen unser Verhalten. Wenn wir die Handlung eines anderen beobachten, dann reagieren die handlungssteuernden Nervenzellen der prämotorischen Hirnrinde mit Resonanz. Jede Tat beginnt mit einer Aktivierung der Handlungsneurone.