Soziale Arbeit -  - E-Book

Soziale Arbeit E-Book

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Beschreibung

Zu Beginn des Studiums ist vor allem eins gefragt: Orientierung. Was ist Soziale Arbeit? Was sind ihre gesellschaftlichen Funktionen? Mit welchen professionstypischen Methoden arbeitet sie? Auf diese und viele weitere Fragen gibt dieses Buch präzise Antworten. Es bereitet die Geschichte und die Professionalisierung der Sozialen Arbeit auf und stellt Soziale Arbeit als Wissenschaft vor. Zudem liefert es einen Überblick über die zentralen Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit. Eigene Kapitel sind den rechtlichen und sozialpolitischen Fundamenten der Sozialen Arbeit sowie den Beschäftigungsbedingungen der Fachkräfte gewidmet. Das Buch eignet sich zur selbstständigen Einarbeitung in die zentralen Gegenstandsbereiche der Sozialen Arbeit, zur Prüfungsvorbereitung und als Basislektüre für einführende Lehrveranstaltungen.

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Grundwissen Soziale Arbeit

Herausgegeben von Rudolf Bieker

Das gesamte Grundwissen der Sozialen Arbeit in einer Reihe: theoretisch fundiert, immer mit Blick auf die Arbeitspraxis, verständlich dargestellt und lernfreundlich gestaltet – für mehr Wissen im Studium und mehr Können im Beruf.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 https://shop.kohlhammer.de/grundwissen-soziale-arbeit

Carola KuhlmannHeiko LöwensteinHeike NiemeyerRudolf Bieker (Hrsg.)

Soziale Arbeit

Das Lehr- und Studienbuch für den Einstieg

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039266-3

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039267-0

epub:        ISBN 978-3-17-039268-7

Vorwort des Herausgebers der Reihe

 

 

Mit dem sog. »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor*innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

 

 

Soziale Arbeit ist heute ein in vielen Ländern der Welt ausgeübter Beruf, entstanden häufig aus sozialen Bewegungen und staatlicher Armutspolitik. In Deutschland hat sie sich im 19. Jahrhundert aus privater Wohltätigkeit heraus entfaltet und ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine der zentralen Säulen des im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzips. Soziale Arbeit ist immer dann gefragt, wenn andere Mittel der gesellschaftlichen Teilhabesicherung wie Geld- oder Sachleistungen nicht geeignet oder alleine nicht ausreichend sind, um nachteilige Lebenslagen zu überwinden, um Fähigkeiten zur autonomen Lebensbewältigung zu entwickeln oder wiederzugewinnen, um vor Übergriffen durch andere geschützt zu werden und Konflikte zwischen dem*der Einzelnen und der Gesellschaft in Grenzen zu halten. Wie die Soziale Arbeit die Idee der gleichberechtigten Teilhabe aller Mitglieder der Gesellschaft in ihren wissenschaftlichen Konzeptionen, in ihren Methoden und rechtlichen und sozialpolitischen Fundamenten aufgreift, ist Gegenstand dieses einführenden Bands.

Zu den Beiträgen des Bandes

Im Beitrag von Rudolf Bieker (Kap. 1) geht es um eine grundlegende Einführung in den Gegenstand und die Funktionen Sozialer Arbeit. Soziale Arbeit wird als eine gesellschaftlich gewollte, sozialstaatlich institutionalisierte Dienstleistung markiert, die sich auf der Grundlage theoretischer Konzepte und professionstypischer Methoden um individuelle und zwischenmenschliche Probleme und Lebenslagen kümmert, für deren Bearbeitung eine öffentliche (Mit-)Verantwortung anerkannt ist oder begründet werden kann. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Strukturmerkmale die Dienstleistung Soziale Arbeit charakterisieren und ob sie neben den ihr staatlicherseits zugedachten Funktionen der Hilfe und der sozialen Kontrolle nicht auch ein weitergehendes sozialpolitisches Mandat übernehmen muss, um soziale Benachteiligungen zu vermeiden und soziale Gerechtigkeit zu fördern.

Im Anschluss an diese Einführung rekonstruiert Carola Kuhlmann die Geschichte der Ausbildung und des Berufs der Sozialen Arbeit von der zunächst ehrenamtlich ausgeübten »Liebesthätigkeit« und Armenpflege bis heute (Kap. 2). Der Beitrag führt zunächst über die Etablierung von Fürsorger*innen im Weimarer Wohlfahrtsstaat zur Mittäterschaft an menschenverachtenden Fürsorgepraxen der »Volkspflege« nach 1933 bis zur Sozialfürsorge der DDR. Anschließend werden die Demokratisierung durch verschiedene soziale Bewegungen nach 1968, die Akademisierung des Berufs sowie die Ökonomisierung der Praxis nach 1990 ausgeführt und heutige Perspektiven der Entwicklung vorgestellt. Dabei werden in diesen Phasen die theoretischen (z. B. von der Lebenswelt- zur Dienstleistungsorientierung) und die praktischen Entwicklungen sowie die sich ändernde Sicht auf die Klient*innen herausgearbeitet. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte soll dabei zu einem vertieften Verständnis von sich wandelnden Interpretationen von Armut und Hilfsbedürftigkeit verhelfen wie auch dazu, ›klassische‹ Probleme zu erkennen, mit denen die Soziale Arbeit konfrontiert wurde und wird: Armut, häusliche Gewalt, Kindesvernachlässigung, Sucht, Behinderung, soziale Isolation usw.

Als Profession stützt sich die Soziale Arbeit notwendigerweise auf wissenschaftliches Wissen, um ihre anspruchsvollen Problemstellungen systematisch analysieren und bearbeiten zu können. Vor diesem Hintergrund skizziert Heiko Löwenstein in seinem Beitrag über »Wissenschaftliche Grundlagen der Sozialen Arbeit« (Kap. 3) den aktuellen Stand der Diskussion um Soziale Arbeit als Profession und als wissenschaftliche Disziplin, um davon ausgehend in Theoriediskurse Sozialer Arbeit einzuführen. Allgemein lässt sich von einer Theorie sprechen, wenn einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse logisch zueinander in Bezug gesetzt und verdichtet werden können. Anhand spezifischerer Kriterien lassen sich explizite Theorien Sozialer Arbeit von Theorien anderer wissenschaftlicher Disziplinen wiederum unterscheiden. Aktuell existiert in der Sozialen Arbeit eine kaum mehr zu überblickende Zahl an unterschiedlichen Fachkonzepten und Theorien. Um diese Vielfalt zu strukturieren, übersichtlicher zu gestalten und eine erste Orientierung zu geben, wird eine Typologie entwickelt, die fallorientierte, lebensweltorientierte, feldorientierte und systemorientierte Ansätze voneinander unterscheidet. Indem in die jeweiligen theoretischen Grundannahmen entlang der zentralen theoretischen Anschlussstellen eingeführt wird, soll ein erstes Fundament für eine tiefergehende Auseinandersetzung im Laufe des Studiums gelegt werden. Soweit es das Verständnis unterstützt, werden theoriegeschichtliche Einordnungen vorgenommen. Um dafür zu sensibilisieren, dass aus verschiedenen theoretischen Orientierungen auch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in der Praxis Sozialer Arbeit resultieren, werden erste Hinweise gegeben, welche Konsequenzen sich für das methodische Handeln am Fall, in der Lebenswelt, im Feld und mit Systemen ergeben können.

Der Beitrag leitet damit zu den Methoden der Sozialen Arbeit über (Kap. 4). Wie schon zuvor von Heiko Löwenstein postuliert weisen auch Anne van Rießen und Michael Fehlau eingangs auf die Theoriebezüge methodischen Handels in der Sozialen Arbeit hin. Am Beispiel der Jugendberufshilfe verdeutlichen sie sodann die Relevanz eines integrierten und zugleich partizipatorisch ausgerichteten Methodenverständnisses, das den Einsatz von Methoden als spezifische Handlungsformen an den jeweiligen Kontext des Handelns bindet und damit Offenheit verlangt. Nach diesen Vorklärungen führen die Autor*innen in elf ausgewählte Methoden ein, die das Repertoire der Vorgehensweisen Sozialer Arbeit heute weithin bestimmen. Sie folgen dabei einem eigenen Ordnungsversuch, der die überkommene Dreiteilung der Methoden in Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit – ergänzt um professions- und organisationsbezogene Methoden – als strukturbildenden Ausgangspunkt nutzt. Präsentiert werden u. a. die Methoden Soziale Diagnostik, Beratung, Soziale Netzwerkarbeit, Supervision und kollegiale Beratung sowie (Selbst-)Evaluation. Die Verfasser*innen zeigen auf, wie die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende Digitalisierung auch das methodische Handeln in der Sozialen Arbeit immer stärker verändert. Welche Ergebnisse dieser hochdynamische Prozess zeitigen wird, ist gegenwärtig noch kaum abschätzbar. Methodisches Handeln muss auf Seiten der Adressat*innen jedenfalls neben den Inklusionschancen auch die Exklusionsrisiken der Digitalisierung bedenken.

Professionelle Soziale Arbeit ist heute keine freiwillige und ehrenamtliche »Liebesthätigkeit« mehr, sondern trägt, eingebunden in gesetzliche Regelungen, wesentlich zur Umsetzung des in Deutschland verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaatsprinzips bei. Hiervon ausgehend legen Heike Niemeyer und Timo Schwarzwälder die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für Soziale Arbeit dar (Kap. 5). Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen werden politische Entscheidungen getroffen, die ihren Ausdruck in Gesetzen, Gesetzesänderungen und -reformen finden. Somit stehen Sozialpolitik und Sozialrecht in enger Wechselbeziehung zueinander und haben entscheidenden Einfluss auf die konkreten Voraussetzungen vor Ort, unter denen Soziale Arbeit stattfindet.

Überwiegend wird Soziale Arbeit heute in einem Beschäftigungsverhältnis ausgeübt, für das neben dem allgemeinen Arbeitsrecht meist tarifvertragliche oder ähnliche Regelungen gelten. Diese können sich je nach Trägerschaft der Arbeitgeber*innen und Organisation der Arbeitnehmer*innen unterscheiden. Welche Sicherheiten, Besonderheiten, aber auch Lücken diese Regelungssysteme aufweisen, wie demzufolge die Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit beschaffen sind, beschreiben Heike Niemeyer und Rudolf Bieker in ihrem abschließenden Beitrag (Kap. 6).

 

Köln und Bochum, im September 2021

Die Herausgeber*innen

Inhalt

 

 

Vorwort des Herausgebers der Reihe

Zu diesem Buch

1   Was ist Soziale Arbeit? – Eine Einführung in Gegenstand und Funktionen

Rudolf Bieker

1.1   Soziale Arbeit als personenbezogene soziale Dienstleistung

1.1.1   Begriffliche Klärungen

1.1.2   Besonderheiten der personenbezogenen Dienstleistung »Soziale Arbeit«

1.1.3   Dienstleistungsorientierung im Sozialrecht

1.2   Gegenstand »Soziale Probleme«

1.2.1   Was sind »Soziale Probleme«?

1.2.2   Bearbeitung sozialer Probleme

1.3   Strukturelle Merkmale Sozialer Arbeit

1.3.1   Einbindung in sozialstaatliche Programme

1.3.2   Allzuständigkeit

1.3.3   Einzelfallorientierung und Technologiedefizit

1.3.4   Machtungleichgewicht

1.3.5   Ethisch-moralische Bindung

1.3.6   Trägervorgaben

1.4   Funktionen Sozialer Arbeit

1.4.1   Soziale Arbeit als Hilfeleistung

1.4.2   Soziale Arbeit als soziale Kontrolle

1.5   Mandatserweiterungen

1.5.1   Vom Doppelzum Dreifachmandat

1.5.2   Politische Einmischung

Literatur

2   Ausbildungs- und Berufsgeschichte Sozialer Arbeit

Carola Kuhlmann

2.1   Übersicht

2.2   Von der Almosengabe zur Armenpflege (19. Jahrhundert)

2.2.1   Industrialisierung und freie Lohnarbeit

2.2.2   Kommunale Armenpflege

2.2.3   Die Sicht auf die Klient*innen

2.2.4   Private Armenpflege

2.2.5   Die Relevanz der Sozialversicherung und anderer Sozialgesetze für den sozialen Beruf

2.2.6   Staatliche Anstaltsfürsorge: Versorgung und Disziplinierung Hilfsbedürftiger

2.3   Christliche Liebesthätigkeit – Fürsorge für Menschen in Beziehungsarmut (19. Jahrhundert)

2.3.1   Johann Heinrich Wichern und die Vereinsdiakonie

2.3.2   Die Sicht auf die Klient*innen

2.3.3   Theodor Fliedner und die Lehr- bzw. Erziehungsdiakonie

2.3.4   Blick über den Tellerrand nach Italien: Die Gründung der Salesianer und anderer caritativer Ordensgemeinschaften

2.3.5   Ein zweiter Blick ins Ausland: Die Ursprünge der Gemeinwesenarbeit – Toynbee Hall

2.3.6   Geschichte als Geschichte großer Gründerväter

2.4   Frauen gestalten die Ausbildung zum sozialen Beruf um 1900

2.4.1   Die soziale Lage von Frauen: viele Pflichten, wenig Rechte

2.4.2   Die Sicht der Klient*innen

2.4.3   Alice Salomon und die Ausbildung zum sozialen Beruf

2.4.4   Blick über den Tellerrand: Jane Addams und andere Pionierinnen

2.4.5   Erste Prüfungsordnung, Lehrpläne und Berufsverbände des sozialen Berufs

2.4.6   Fachliche Reformen in der Weimarer Republik: Familienfürsorge, soziale Diagnose und sozialpädagogische Bewegung

2.5   Die Zeit des Nationalsozialismus: Von der Wohlfahrtspflege zur Volkspflege

2.5.1   Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit

2.5.2   Das Konzept und die Praxis der Volkspflege

2.5.3   Die Ausbildung zur Volkspfleger*in

2.5.4   Die Sicht auf die Klient*innen

2.6   Die Nachkriegszeit und die 1950er/1960er Jahre in der Bundesrepublik

2.6.1   Reeducation und Casework

2.6.2   Aus Wohlfahrtsschulen werden »Höhere Fachschulen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik«

2.7   Sozialfürsorge in der Deutschen Demokratischen Republik

2.7.1   Aufbau des Sozialismus

2.7.2   Das Konzept der Betriebsfürsorge und der Volksbildung

2.7.3   Die Sicht auf die Klient*innen

2.8   Politisierung und Demokratisierung Sozialer Arbeit in den 1970er/1980er Jahren

2.8.1   Demokratisierung der Generationen- und Geschlechterverhältnisse

2.8.2   Die Sicht auf die Klient*innen

2.8.3   Die Akademisierung der sozialen Profession

2.9   Herausforderungen seit der Jahrtausendwende

2.9.1   Neoliberalismus und aktivierender Sozialstaat

2.9.2   Von der Adressat*in zur Kund*in – Von der Lebenswelt- zur Dienstleistungsorientierung

2.9.3   Quantitative Entwicklung der Profession

2.9.4   Digitalisierung

2.9.5   Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge

2.10 Perspektiven

2.10.1 »Restoring Justice« – Aufarbeitung der Geschichte als Beitrag zur Professionalisierung

2.10.2 Die fachspezifische Sicht auf Klient*innen – auf dem Weg zu einer ressourcenorientierten und inklusiven Fachsprache

Literatur

3   Wissenschaftliche Grundlagen der Sozialen Arbeit

Heiko Löwenstein

3.1   Soziale Arbeit und Wissenschaft – Soziale Arbeit als Wissenschaft

3.1.1   Profession und wissenschaftliche Disziplin

3.1.2   Die Wissenschaft(en) der Sozialen Arbeit

3.2   Theorien Sozialer Arbeit – eine erste Orientierung

3.2.1   Theorie im Allgemeinen – Theorie Sozialer Arbeit im Besonderen

3.2.2   Fall-, Lebenswelt-, Feld- und Systemorientierung: ein Ordnungsversuch

3.3   Fallorientierte Theorien und Konzepte

3.4   Lebensweltorientierte Theorien und Konzepte

3.4.1   Erste Einordnungen und Abgrenzungen lebensweltorientierter Theoriediskurse

3.4.2   Lebensweltorientierung nach Thiersch

3.4.3   Lebensbewältigung und Akteur*innenorientierung

3.5   Feldorientierte Theorien und Konzepte

3.6   Systemorientierte Theorien und Konzepte

3.6.1   Erste Einordnungen und Abgrenzungen systemorientierter Theoriediskurse

3.6.2   Systemismus

3.6.3   Funktionalismus

Literatur

4   Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit

Anne van Rießen & Michael Fehlau

4.1   Methoden oder ›How to Do Social Work‹ in historischer und systematisierender Betrachtung

4.2   Einzelfallhilfebezogene Methoden

4.2.1   Soziale Diagnostik

4.2.2   Beratung

4.2.3   Case Management

4.3   Gruppenbezogene Methoden

4.4   Sozialraumbezogene Methoden oder sozialräumliches methodisches Handeln

4.4.1   Gemeinwesenarbeit

4.4.2   Quartiersmanagement

4.4.3   Soziale Netzwerkarbeit

4.4.4   Sozialraumbezogene aufsuchende Arbeit

4.5   Professions- und organisationsbezogene Methoden

4.5.1   Reflexive Praxis: Supervision, Coaching und kollegiale Beratung

4.5.2   Sozialmanagement

4.5.3   Sozialplanung

4.5.4   (Selbst-)Evaluation

4.6   Querschnittsthemen am Beispiel Digitalisierung

Literatur

5   Rechtliche und sozialpolitische Fundamente

Heike Niemeyer & Timo Schwarzwälder

5.1   Rechtliche Grundlagen

5.1.1   Gegenstand und Bedeutung von Recht

5.1.2   Verfassungsrechtliche Grundlagen

5.1.3   Rechtsanwendung

5.1.4   Rechtssicherheit vs. Einzelfallgerechtigkeit

5.2   Sozialpolitische Grundlagen

5.2.1   Sozialpolitik als gesellschaftliches Konstrukt

5.2.2   Historische Entwicklung der Sozialpolitik

5.2.3   Aktuelle Beispiele für sozialpolitische Diskussionen

5.3   Ausgestaltung der Sozialen Sicherung in Deutschland

5.3.1   Prinzipien der Sozialen Sicherung in Deutschland

5.3.2   Finanzierung sozialer Leistungen

5.3.3   Die Rolle der Kommunen

5.4   Sozialpolitik und Soziale Arbeit

Literatur

6   Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen

Heike Niemeyer & Rudolf Bieker

6.1   Einstieg

6.2   Gestaltung von Arbeitsbedingungen

6.2.1   Tarifverträge (»Zweiter Weg«)

6.2.2   Betriebliche Mitbestimmung

6.3   Kirchliches Recht

6.3.1   Der »Dritte Weg«

6.3.2   Innerbetriebliche Mitbestimmung

6.3.3   Loyalitätsanforderungen

6.4   Arbeitsbedingungen

6.4.1   Typische und atypische Beschäftigung

6.4.2   Gehalt und Arbeitsperspektiven

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Herausgeber*innen

Autor*innenverzeichnis

1          Was ist Soziale Arbeit? – Eine Einführung in Gegenstand und Funktionen

Rudolf Bieker

Was Sie in diesem Kapitel lernen können

In diesem ersten Beitrag geht es um eine scheinbar schlichte Frage: Was ist eigentlich Soziale Arbeit? Doch worauf zielt diese Frage? Geht es um die Praxis Sozialer Arbeit (das »Ist«) oder geht es darum, was Soziale Arbeit ihrem Anspruch nach sein will, also das »Soll«? Wie immer man bei der Antwort auch ansetzt, ergibt sich am Ende kein Bild, das von dem Standpunkt der antwortenden Person gänzlich unabhängig wäre. Das ist unmittelbar evident, wenn es um konzeptionelle Vorstellungen (das »Soll«) geht, bei denen mit Einheitlichkeit kaum zu rechnen ist. Doch auch Praxis kann sich aus dem Blickwinkel verschiedener Betrachter*innen sehr unterschiedlich darstellen. Kurzum: Die Frage »Was ist Soziale Arbeit?« erlaubt unterschiedliche Antworten.

Der Beitrag versucht das hier angedeutete Problem einer objektiven, vom Betrachter oder der Betrachterin unabhängigen Antwort auf die Ausgangsfrage pragmatisch zu lösen. Er greift auf theoretisch-konzeptionelle, beobachtungsgestützte und ethische Elemente zurück, die bei aller Unterschiedlichkeit von Aussagen und Sichtweisen zur Ausgangsfrage zumindest weitgehend einem Common Sense in der wissenschaftlichen Befassung mit Sozialer Arbeit entsprechen.

Der Beitrag beginnt mit einer begrifflichen Einordnung Sozialer Arbeit als Dienstleistung und arbeitet heraus, was diese auszeichnet und von kommerziellen Dienstleistungen unterscheidet. Sodann geht es um den Gegenstand Sozialer Arbeit. Dieser ist eng mit der Bearbeitung Sozialer Probleme verbunden, die sich in Lebenslagen von Menschen ausdrücken. Danach werden wir die Frage »Was ist Soziale Arbeit?« anhand ihres gesellschaftlichen, in sich keineswegs spannungsfreien Auftrags (Mandat) weiterführen. Schlussendlich wird uns die Forderung beschäftigen, dieses Mandat um ein professionelles bzw. politisches Mandat zu erweitern.

1.1       Soziale Arbeit als personenbezogene soziale Dienstleistung

1.1.1     Begriffliche Klärungen

Aus volkswirtschaftlicher Sicht gehört die Soziale Arbeit zum Dienstleistungssektor. Dienstleistungen produzieren immaterielle Güter. Anders als einen Ziegelstein oder einen Stuhl kann man sie nicht anfassen, stapeln, vorproduzieren, lagern, vor Auslieferung einer Qualitätskontrolle unterwerfen und bei Untauglichkeit wieder zurückschicken (vgl. Badura & Groß 1976, S. 68).

Im Unterschied etwa zu handwerklichen Dienstleistungen werden Dienstleistungen der Sozialen Arbeit nicht auf einem Markt angeboten, der sich durch Angebot und Nachfrage mehr oder weniger selbst reguliert. Die Dienstleistungen der Sozialen Arbeit sind vielmehr staatlich reguliert und finanziert.

Soziale Dienstleistungen

Zu sozialen Dienstleistungen werden Dienstleistungen dann, wenn sie als eigenständiges Element oder als integrierter Teil eines gesetzlich geregelten Leistungsversprechens gewährt werden.

Beispiel

»Mütter und Väter, die allein für ein Kind oder einen Jugendlichen zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung« (§ 18 Abs. 1 SGB VIII).

Zu den sozialen Dienstleistungen im weiteren Sinne lassen sich auch solche Leistungen zählen, die aus einer sozialstaatsähnlichen Idee (Nächstenliebe, bürgerschaftliche Solidarität etc.) von nicht-staatlichen, aber gemeinnützigen Akteur*innen (Wohlfahrtsverbände, Stiftungen etc.) freiwillig angeboten werden. Diese Leistungen ergänzen das staatliche Programm. Weil sie im öffentlichen Interesse liegen, werden sie regelmäßig durch finanzielle Mittel des Staates (Bund, Länder, Kommunen) bezuschusst.

Beispiel

Professionell betreute Ferienprojekte für Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien; offene Angebote für ältere Menschen.

Soziale Dienstleistungen stellen eine Teilmenge personenbezogener Dienstleistungen dar (Dunkel 2011, S. 190).

Personenbezogene Dienstleistungen

Soziale Arbeit ist eine Dienstleistung, die sich unmittelbar auf die Person der Nutzer*innen und ihre Lebenslage richtet, einschließlich aller damit verbundenen Tätigkeiten (z. B. Erstellung von Diagnosen und Gutachten, vgl. Olk, Otto & Backhaus-Maul 2003, S. XII).

Adressat*innen personenbezogener Dienstleistungen können Individuen, Gruppen oder auch größere soziale Einheiten sein, wie z. B. die Bewohner*innen eines Stadtquartiers. Nicht alle personenbezogenen Dienstleistungen weisen aber ein Spezifikum auf, wie es für die Soziale Arbeit gilt. Die Besonderheit der Sozialen Arbeit liegt in der Notwendigkeit der aktiven Mitwirkung der Adressat*innen bei der ›Erstellung‹ der Dienstleistung Soziale Arbeit.

1.1.2     Besonderheiten der personenbezogenen Dienstleistung »Soziale Arbeit«

Aktive Mitwirkung der Adressat*innen

Wenn Menschen Dienstleistungen vom Typ der Sozialen Arbeit erhalten, geht es in der Regel um Veränderungen, die sich auf die existenziellen und sozialen Verhältnisse von Menschen beziehen, auf die Ressourcen, die ihnen zur Bewältigung des Lebens zur Verfügung stehen (z. B. Wissen, Problemlösungskompetenzen, Veränderungsmotivation) und/oder auf das soziale Verhalten von Menschen (z. B. Gewalt, Vernachlässigung der elterlichen Sorge). Veränderungen kommen hier durchweg nur zustande, wenn die Adressat*innen sich auf die Zusammenarbeit mit den Sozialfachkräften einlassen (Badura & Gross 1976, S. 68; Bieker 1989, S. 7). Eine Veränderung der Lebenslage oder von Verhaltensweisen ist nicht über den Kopf der Personen hinweg möglich. Im Unterschied zu personenbezogenen Dienstleistungen, die an Menschen vollzogen werden (z. B. Körperpflege, Haarschnitt, Maßnehmen der Schneiderin) kann Soziale Arbeit nur mit den ›Kund*innen‹ erbracht werden, nicht an ihnen. Es reicht hier nicht aus, dass sich Adressat*innen – ähnlich Patient*innen bei der Wundpflege im Altenheim – ruhig verhalten oder wie Kund*innen im Supermarkt das Scannen der ausgewählten Lebensmittel abwarten, damit die Dienstleistung erfolgreich abgeschlossen werden kann. In der Sozialen Arbeit geht es darum, Adressat*innen zur Offenheit für Veränderungen zu bewegen. Die Adressat*innen müssen die Leistungen grundsätzlich wollen, sich mit Widerständen und Ängsten vor Veränderungen auseinandersetzen, bisherige Verhaltensweisen hinterfragen, Informationen über sich preisgeben, Lösungen untereinander und gegen ein ›Weiter so‹ abwägen etc. Um eine Veränderung zu bewirken, ist jedenfalls die unbeteiligte Entgegennahme des Dienstleistungsangebots nicht aussichtsreich.

Die gelingende Kommunikation zwischen Sozialfachkräften und Adressat*innen ist die conditio sine qua non in der Sozialen Arbeit.

Für den Erfolg der Dienstleistung ist von erheblicher Bedeutung, ob es zu einem produktiven Arbeitsbündnis zwischen Sozialarbeiter*innen und Adressat*innen kommt, in dem sich die Adressat*innen akzeptiert fühlen, weder eine offene noch eine latente Entwertung als ›Lebensversager*innen‹, ›krank‹ oder ›unfähig‹ erfahren und weder bei der Problemdeutung noch bei der möglichen Problemlösung von den Sozialfachkräften übergangen werden. In einer respektvollen, auf grundsätzlicher Akzeptanz des Gegenübers als Person aufbauenden Gestaltung der Beziehung gilt es zu versuchen, Adressat*innen für notwendige Veränderungen aufzuschließen.

Akzeptanz

»Die erforderliche Akzeptanz ist nicht bloß ein passives Hinnehmen, sondern ein aktives Bejahen. Sie bezieht sich nicht auf einzelne Handlungen, die für gut oder schlecht, gut oder böse gehalten werden mögen, sondern besteht in der Annahme und Anerkennung des Anderen als Person in seiner prinzipiellen Fähigkeit und Berechtigung zur Selbstbestimmung. Mit personeller Selbstbestimmung ist nicht eine beliebige, zufällige Entscheidung für oder gegen etwas gemeint, sondern die Fähigkeit eines Subjekts, über seine grundlegenden Wertsetzungen zu entscheiden« (Schmid Noerr 2021, S. 71).

Da Veränderungen sich sowohl auf das soziale Verhalten von Menschen (Lebensführung) als auch auf ihre sozialen Lebensverhältnisse (materielle Lebenslage, soziale Integration) beziehen und beides in Wechselwirkung miteinander steht, lässt sich Soziale Arbeit begrifflich als ganzheitlich angelegte psychosoziale Dienstleistung einordnen. Psychosoziale Dienstleistungen setzen am Alltag von Menschen an. Es geht um dessen Bewältigung, um Entwicklungsförderung, Kompetenzentwicklung und Prävention (vgl. Wälte & Lübeck 2021, S. 26). Die Persönlichkeit der Adressat*innen ist in diese Veränderung immer involviert.

Soziale Arbeit als Ko-Produktion

Weil Soziale Arbeit nur mit, und nicht ohne oder gegen ihre Adressat*innen aussichtsreich ist, wird sie in der Fachliteratur als Ko-Produktion beschrieben. Sozialfachkräfte und Adressat*innen müssen im ›Produktionsprozess‹ erfolgreich zusammenwirken. Der Handlungserfolg im Sinne einer diskursiven Verständigung und der Umsetzung ihrer Ergebnisse in aktives Handeln entsteht in der Interaktion als das gemeinsame Ergebnis beider Akteur*innen. Sozialfachkräfte gelten hierbei in der Regel als die Produzent*innen, die Adressat*innen als Ko-Produzent*innen (Badura & Gross 1976, S. 69; Gartner & Riessman 1978, S. 21ff.).

Adressat*innen als Ko-Produzent*innen zu sehen, folgt – zunächst – keiner moralischen Grundhaltung, die der Unterwerfung von Menschen unter die Anweisungsmacht von kommunalen und staatlichen Behörden und ihren Mitarbeiter*innen entgegenwirken soll; sie ist eine Notwendigkeit, die sich nüchtern aus der Tatsache ergibt, dass ein direkter Zugriff Dritter auf die Dispositionen von Individuen (Sichtweisen, Motivation, Selbstreflexion, Handlungsbereitschaften etc.) nicht möglich ist. Menschen sind immer auch eigensinnige, durch ihre Biografie und ihre soziale Umwelt geprägte Subjekte, die über eigene Präferenzen, Überzeugungen, Alltagstheorien, Deutungsmuster und Gewohnheiten verfügen (Oelerich & Schaarschuch 2005, S. 80). Wenn Adressat*innen der Sozialen Arbeit demzufolge als Subjekte und nicht als Objekte ihnen zugedachter Angebote und Maßnahmen betrachtet werden müssen, liegt darin zugleich aber auch die moralische Verpflichtung, sie entsprechend zu behandeln, d. h. sie ihres Subjektstatus nicht durch fürsorgliche Bevormundung und ungerechtfertigte Gängelung und Eingriffe zu berauben. Damit dient das Subjektkonzept zugleich der kritischen Analyse von Verhältnissen, in denen Adressat*innen das Recht auf Eigensinnigkeit und Selbstbestimmung genommen wird, ohne dass hierfür zwingende Gründe (z. B. Selbst- oder Fremdgefährdung) vorliegen (Kap. 1.4.2; zu ethischen Fragen des Umgangs mit anderen Menschen bei eingeschränkter Selbstbestimmung: Schmid Noerr 2021, S. 163ff.).

Schaarschuch (1999 und 2003) hat den Subjektstatus der Adressat*innen – die bei ihm Nutzer*innen genannt werden (dazu: Schaarschuch 2008) – theoretisch noch weiter zugespitzt. In dieser radikaleren Sichtweise kommt es zu einer Rollenumkehr: Die Nutzer*innen sind für Schaarschuch die Produzent*innen, Sozialfachkräfte nur Ko-Produzent*innen. Indem Nutzer*innen sich die Sichtweisen ihres Gegenübers aneignen, bewirken sie eine Veränderung ihrer Person. Die Tätigkeit der Dienstleistenden wird somit zu einem Mittel, das erst durch die aktive Anerkennung/Aneignung durch die Nutzer*innen seinen Zweck erfüllen kann (ebd., S. 156). Damit sind Nutzer*innen nicht nur Konsument*innen einer Dienstleistung, sondern auch Produzent*innen ihres Ergebnisses; Sozialfachkräfte werden zu Ko-Produzent*innen, die den Prozess der Selbstveränderung anleiten, unterstützen, begleiten und der »Produktion des Subjektes« zuarbeiten. Dadurch leisten sie einen Dienst (Oelerich & Schaarschuch 2005, S. 81).

Konsequenzen für die Beziehungsgestaltung

Wenn Soziale Arbeit hinsichtlich Verlauf (Prozess) und Ergebnis (Outcome) als Ko-Produktion zu verstehen ist, müssen Sozialfachkräfte die Perspektive ihrer jeweiligen Adressat*innen aktiv erkunden und versuchen, diese vor dem Hintergrund von Biografie und gegenwärtiger Lebenswelt (Kap. 3.4) zu verstehen.

Verstehen

Verstehen bedeutet nachzuvollziehen, welche Bedürfnisse und Interessen die Sichtweise des Anderen zum Ausdruck bringt und zu prüfen, ob diese gesellschaftlich anerkennungsfähig sind. Bedürfnisse können legitim sein, auch wenn die Mittel zu ihrer Verwirklichung nicht anerkennungsfähig sind. Verstehen bedeutet nicht billigen. Verstehen kann aber bedeuten, Adressat*innen Zeit für Veränderungen zuzugestehen.

Auch wenn das Verhältnis zwischen Sozialfachkräften und Adressat*innen strukturell asymmetrisch ist (z. B. durch den fachlichen Kompetenzvorsprung der Sozialfachkräfte, durch die Abhängigkeit von Hilfen, Kap. 1.3), erfordert der Subjektstatus der Adressat*innen, diesen ohne Helfer- bzw. Überlegenheitsattitüde zu begegnen und die Kommunikation so weit wie möglich auf Augenhöhe zu führen. Selbstbestimmungsrechte sind hier nicht deshalb suspendiert, weil Menschen Adressat*innen sozialstaatlicher Leistungen sind. Adressat*innen dürfen demzufolge Angebote auch ablehnen, und zwar auch dann, wenn dies aus Sicht der Sozialfachkräfte nicht ›zielführend‹ ist. Ob etwas veränderungsbedürftig ist, wo genau der Bedarf liegt und wie er zu befriedigen ist, ist nach dem Dienstleistungsverständnis nicht der exklusiven Beurteilung der Fachkraft als ›Expertin‹ überlassen, sondern Gegenstand einer diskursiven Verständigung. Bei dieser geht es weder darum, Veränderungsbedürftigkeit unwidersprochen der Selbstdefinition der Betroffenen zu überlassen noch Veränderungsbedürftigkeit aus einer Haltung fachlicher Überlegenheit für nicht verhandelbar zu halten. Die Zustimmung der Adressat*innen zu einer gemeinsamen Definition von Hilfebedürftigkeit kann hierbei als »Kriterium für eine gelungene Kommunikation« (Hamburger 2016, S. 178) gelten. Diese kann aber nicht erzwungen werden. Am Ende ist es – zumindest vorläufig – hinzunehmen, dass Adressat*innen die Deutungsangebote der Sozialfachkraft und die damit korrespondierenden Hilfsangebote ablehnen (Müller 2015, S. 54) oder noch nicht annehmen können. Allerdings kann sich die Soziale Arbeit bei auftretenden Meinungsverschiedenheiten in bestimmten Fällen nicht aus der Interaktion mit ihren Adressat*innen zurückziehen (z. B. bei Personen, die wegen einer psychischen Behinderung nicht für sich selber sorgen können und deshalb in einem gesetzlichen Betreuungsverhältnis stehen, Kap. 1.4.2).

In der Praxis sind die Fähigkeit und Bereitschaft zu einer diskursiven Verständigung auf Seiten der Adressat*innen oft nicht gegeben. Es gehört daher zum Handlungsauftrag einer subjektorientierten Sozialen Arbeit, sich um die Erweiterung dieser Fähigkeit zu bemühen. Darin steckt das Dilemma, das Recht auf Selbstbestimmung trotz der individuell eingeschränkten Handlungsautonomie zu respektieren und dieses Ziel nicht vorschnell aufzugeben (Brumlik 2020; zur praxisorientierten Auflösung dieser ethischen Antinomie: Schmid Noerr 2021, S. 163ff.).

Abgrenzung zu marktförmigen Dienstleistungen

Sich am Subjekt bzw. den Adressat*innen zu orientieren (ihren Sichtweisen, Bedürfnissen, Prioritäten) ist nicht nur eine Notwendigkeit und ein ethisches Postulat moderner Sozialer Arbeit, sondern – bekannt unter dem Begriff Kundenorientierung – auch ein zentrales Leitprinzip des Wirtschaftslebens. Während Soziale Dienste und Einrichtungen durch mangelnde Adressat*innenorientierung mangelhafte Wirksamkeit und vermeidbare Folgekosten produzieren, gefährdet fehlende Kundenorientierung von Wirtschaftsunternehmen im Extremfall sogar ihren Fortbestand. Kunden- bzw. Marktorientierung sind deshalb das A und O jeder kommerziellen Wirtschaftstätigkeit. Wenngleich die Grundperspektive vergleichbar ist – Angebote müssen sich am Bedarf der Kunden/Adressat*innen ausrichten –, sind die Dienstleistungskonzepte zwischen markttätigen Unternehmen und Sozialer Arbeit nicht gleichzusetzen (Oechler 2009, S. 73). Versuche Mitte der 1990er Jahre, die kommunalen Verwaltungen (und damit auch die Ämter der Sozialverwaltung) in einem kommerziellen Verständnis zu »kundenorientierten Dienstleistungsunternehmen« umzubauen, konnten daher nicht überzeugen (KGSt 1994; Bieker 2004).

Kommerzielle Dienstleister bedienen ihr Eigeninteresse an einem Geschäftsabschluss. Dienstleistungen der Sozialen Arbeit haben ihren Erfolgsmaßstab dagegen in der Fremdnützigkeit des Handelns. Zwar könnte Sozialarbeiter*innen grundsätzlich gleichgültig sein, ob es ihnen gelingt, Adressat*innen von der Notwendigkeit einer Therapie oder dergleichen zu überzeugen, dagegen stehen aber der sozialstaatliche Auftrag sowie professionstypische ethische Bindungen. Diese richten sich hier auf das Wohl der*des Einzelnen und/oder das Wohl der Allgemeinheit und nicht darauf, durch bedingungslose Wunscherfüllung sich selbst einen (wirtschaftlichen) Vorteil zu verschaffen. Deshalb werden Sozialfachkräfte den Wunsch überforderter Eltern, das auffällige Kind ›ins Heim zu stecken‹, aus der Situation der Eltern heraus zu verstehen versuchen, aber nicht ohne weiteres zur Ausführung entgegennehmen. Der Auftrag der Sozialen Arbeit lautet nicht, Adressat*innen möglichst nicht zu irritieren, sie nicht auf die Unsinnigkeit und Unstimmigkeit ihres Handelns aufmerksam zu machen oder sie davor zu bewahren, Ausflüchte und Ausreden als Hindernisse einer notwendigen Veränderung zu erkennen. In der Sozialen Arbeit geht es in einem oft längerfristig angelegten Prozess der kooperativen Problembearbeitung um

•  das Klären uneindeutiger und komplexer Situationen,

•  das respektvolle Hinterfragen der Adressat*innensicht,

•  das behutsame Einbringen alternativer Handlungsoptionen und deren Begründung,

•  die Ermutigung, unbekannte Wege zu gehen,

•  die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen,

•  das Erschließen von lebensweltlichen und anderen Ressourcen,

•  das begründete Eingrenzen nicht erfüllbarer Ansprüche.

Solche Handlungsziele sind dem Wirtschaftsleben ebenso fremd wie Zielsetzungen, die auf die Erweiterung individueller Handlungskompetenzen oder die sozialpädagogische Förderung der Persönlichkeit gerichtet sind.

Soziale Arbeit als Dienstleistung wird zentrale wirtschaftliche Handlungsimperative zurückweisen. Sie wird ihre Leistungen vor dem Hintergrund ihrer sozialstaatlichen Beauftragung und ihrer ethischen Grundlagen auch dann erbringen, wenn diese aus wirtschaftlicher Sicht ›unrentabel‹ sind.

Die Frage z. B., ob sich Soziale Arbeit hochbetagten Menschen überhaupt zuwenden sollte, wo doch der Mitteleinsatz im Kinder- und Jugendbereich angesichts der größeren Lebenserwartung einen höheren Kosten-Nutzen-Quotienten verspricht, wäre betriebswirtschaftlich zwar konsequent, ethisch aber verwerflich.

Adressat*innen sind auch keine Kund*innen. Die Metapher »Kunde« kann zwar hilfreich sein, um Soziale Dienste und Einrichtungen in ihrer Organisationsstruktur, in ihren Angeboten und ihrem Umgang mit Menschen möglichst weitgehend an die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Adressat*innen anzupassen. Angebote sollten z. B. leicht zugänglich und vernetzt sein; sie sollten für potenzielle Nutzer*innen attraktiv sein und in der Lage sein, unbürokratisch zu operieren etc. Im Gegensatz zum kommerziellen Bereich will Soziale Arbeit aber

•  ihre Angebote nicht aus Umsatzgründen soweit wie möglich ausdehnen, weitere Leistungswünsche hervorrufen, laufende Leistungen verlängern und den Kunden binden, damit er bald wiederkommt.

•  nicht jeden Wunsch, für den der Kunde im Wirtschaftsleben bereit ist zu zahlen, erfüllen (ein Alkoholiker wird also keinen Schnaps als Hilfe zur Lebensbewältigung bekommen). Leistungen in der Sozialen Arbeit erfolgen auf der Grundlage rechtlicher Bestimmungen und fachlicher Beurteilungen und nicht nach Zahlungsfähigkeit. Fachlich geht es nicht darum, Adressat*innen möglichst perfekt zu bedienen, sondern um die Befähigung zur Lebensbewältigung und um Hilfe zur Selbsthilfe unter Mitwirkung/Partizipation des »Kunden«.

•  den »Kunden« möglichst nicht von Eigenleistungen abhalten.

Im Wirtschaftsleben ist der Status eines Kunden im Allgemeinen durch die folgenden Merkmale charakterisiert (Bieker 2004, S. 35):

•  Der Kunde tritt aktiv als Nachfrager auf den Markt; dementsprechend erfolgt ohne Nachfrage keine Lieferung. Im Rahmen seiner Möglichkeiten kann er zumeist zwischen verschiedenen Anbietern frei wählen.

•  Für das zu erwerbende Produkt/die Dienstleistung erbringt der Kunde eine Gegenleistung in Form des zu entrichtenden Preises. Auf diesen kann er grundsätzlich einwirken.

•  Beginn und Ende einer Geschäftsbeziehung legt der Kunde fest.

•  Mit der Wahl des Angebotes übt der Kunde einen Einfluss auf Inhalt und Qualität des Angebots aus.

•  Der Kunde ist von existenzieller Bedeutung für den Anbieter einer Leistung und wird daher umworben.

Einzelne Merkmale können in der Praxis zwar erfüllt sein, z. B. können Wahlmöglichkeiten bestehen, z. T. werden Adressat*innen umworben, um die Finanzierung der Einrichtung zu sichern, z. T. entscheiden die Adressat*innen darüber, ob und wie lange sie psychosoziale Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Insgesamt lassen sich die genannten Kundeneigenschaften aber nicht bruchlos auf Adressat*innen der Sozialen Arbeit übertragen. Dies liegt wesentlich in der Tatsache begründet, dass sich der Dienstleistungsauftrag der Sozialen Arbeit nicht darauf beschränkt, den Bedarf ihrer Adressat*innen zu befriedigen, sondern dass sie gegenüber ihren Adressat*innen zugleich gesellschaftliche Erwartungen erfüllen muss. Soziale Arbeit ist auch Dienstleisterin für die Gesellschaft (Kap. 1.4.2).

1.1.3     Dienstleistungsorientierung im Sozialrecht

Paradigmenwechsel

Die subjekt- bzw. adressat*innenorientierte Ausrichtung Sozialer Arbeit gehört heute zu den Grundlagen des Sozialrechts. So wurde das autoritative und eingriffsorientierte Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) zu Beginn der 1990er Jahre durch ein dienstleistungsorientiertes Kinder- und Jugendhilfegesetz abgelöst und in das Sozialgesetzbuch als Leistungsrecht eingeordnet.

Erziehungsberechtigte sollen seitdem durch Bereitstellung psychosozialer Dienstleistungen in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt werden; dadurch soll staatlichen Eingriffen vorgebeugt werden (vgl. Schimke 2003). Erziehungshilfen sollen nicht nur den Interessen von Eltern und Kindern dienen, sondern auch dem Interesse der Gesellschaft am Schutz ihrer Mitglieder und deren erfolgreicher Sozialisation (zum Begriff Sozialisation: Kap. 1.2.1). Eltern, Kindern und Jugendlichen werden zudem Beteiligungsrechte eingeräumt. Damit soll u. a. gewährleistet werden, dass Angebote und Bedarf nicht einseitig aus der Perspektive der Sozialverwaltung bestimmt werden, sondern unter aktiver Mitwirkung der Adressat*innen.

Auch Datenschutz spielt seitdem eine wichtige Rolle. Eine Verpflichtung zur Jugendhilfeplanung soll außerdem die Passung zwischen Bedarf und Angebot »unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten« (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII) gewährleisten.

Als herausragendes Element einer subjekt- oder adressat*innenorientierten Perspektive und dem mit ihr korrespondierenden Verständnis von Sozialer Arbeit als Dienstleistung kann die Hilfeplanung im SGB VIII gelten. Ein partizipatorisches Handlungsmodell dieser Art war bis zum Inkrafttreten des SGB VIII im Jahr 1990 nicht vorgesehen. Die laufende Reform des Jugendhilferechts soll den Subjektstatus von Eltern und Kindern noch weiter stärken (Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen 2021).

§ 36 SGB VIII Mitwirkung, Hilfeplan

»Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen (Hervorh. R. B.) einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.«

Anstatt die Adressat*innen (Personensorgeberechtigte, Kinder und Jugendliche)

»zu einem Objekt von Vorgängen der Anamnese, der Diagnose, der ›Behandlung‹ zu machen, soll Erziehungshilfe sich vollziehen in einem gemeinsamen Prozeß der Hilfeplanung, in dem die Adressaten einen eigenständigen Subjektstatus als zentrale Teilnehmer in einem Aushandlungsprozeß einnehmen« (Merchel 1994, S. 4).

Dementsprechend wurde auch mit der jüngsten Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen die durchgängige und aktive Beteiligung der Adressat*innen im Gesamtplanverfahren deutlich gestärkt (BTHG v. 23.12.2016).

Grenzen

Die Vorstellung, dass sich Soziale Arbeit als ein durch und durch partnerschaftlicher Aushandlungsprozess über das Gegebene (»Welches Problem liegt vor?«) und das Erforderliche (»Was ist zu tun?«) verstehen lässt, wie sie mit dem Verständnis Sozialer Arbeit als personenbezogener Dienstleistung verbunden ist, stellt ein zentrales, aber auch ein idealtypisches Konstrukt dar, das sich an der Praxis allzu oft bricht.

Die Grenzen des Aushandlungsmodells treten dann zutage, wenn alles Reden und Überzeugen im Ergebnislosen endet, die Verhältnisse aber nicht so bleiben können, wie sie sind, z. B. wenn es nicht gelingt, häusliche Gewalt abzustellen oder Kinder vor der Vernachlässigung durch ihre drogenabhängigen Eltern zu schützen. Das bedeutet: Das Leitkonzept dienstleistungs- bzw. adressat*innenorientierte Soziale Arbeit stößt in der Praxis immer wieder an Grenzen (Kap. 1.4.2).

1.2       Gegenstand »Soziale Probleme«

1.2.1     Was sind »Soziale Probleme«?

Zur Markierung des Gegenstands Sozialer Arbeit wird heute weitgehend auf den soziologischen Begriff »Soziale Probleme« zurückgegriffen. Er gilt als Klammerbegriff, der die enorme inhaltliche Spannweite des Gegenstands unter eine gemeinsame Formel stellt. Silvia Staub-Bernasconi (2018, S. 195) zufolge sind Soziale Probleme die »Domain« der Profession Soziale Arbeit, d. h. ihr ureigenes Operationsgelände. Mit Sozialen Problemen befassen sich zwar auch andere Berufsgruppen (z. B. Soziolog*innen, Politiker*innen auf unterschiedlichen staatlichen Ebenen, Volkswirt*innen, Psychiater*innen), sie haben jedoch andere professionelle Bezugspunkte als die Soziale Arbeit.

»Betroffenheiten von sozialen Problemen stellen die Handlungsanlässe, Begründungen und Legitimationen für Soziale Arbeit dar und bestimmen ihre Diskurse, Programmatiken und Methoden genauso wie ihre Finanzierung und öffentliche bzw. politische Anerkennung; sie sind die Grundlage und das ›Material‹ für professionelle Interventionen und ihre Institutionalisierung in Beratungs- und Jugendhilfeeinrichtungen, in sozialpolitisch relevanten Gesetzestexten, in Betreuungs- und Resozialisierungsmaßnahmen oder anderen sozialen Diensten« (Groenemeyer 2018, S. 1492).

In der soziologischen Diskussion ist allerdings umstritten, was Soziale Probleme sind bzw. wie sie bestimmt werden können: Handelt es sich um objektiv feststellbare, unmittelbar evidente Gegebenheiten (die man erfassen und in einer Liste zusammenstellen kann) oder existieren sie – so nach radikal-konstruktivistischer Auffassung – erst, wenn sie zur Sprache kommen, d. h. als soziale Wirklichkeit ›konstruiert‹ worden sind (ausführlich: Groenemeyer 2018; Staub-Bernasconi 2018, S. 209). Nach hier vertretener Auffassung haben sie eine doppelseitige Bindung: Sie sind zwar objektiv existent (d. h., sie werden nicht beliebig ›konstruiert‹), aber ohne Anerkennung sind sie nicht als gesellschaftliche und politische Wirklichkeit relevant und folglich weder Zielpunkt gesellschaftlichen Drängens nach einer ›Lösung‹ noch staatlicher Aktivitäten zu ihrer Eindämmung.

Soziale Probleme

Soziale Probleme lassen sich allgemein definieren als Gegebenheiten innerhalb einer Gesellschaft, die in einem gesellschaftlichen Thematisierungsprozess als bedeutsame negative Abweichung von einem erwünschten Sollzustand gewertet werden, daher als veränderungsbedürftig gelten und aufgrund der ihnen zuerkannten öffentlichen Bedeutung zum Gegenstand staatlicher Handlungsprogramme, Maßnahmen und Gesetze gemacht werden. Von den Problemen können Individuen, bestimmte Gruppen der Gesellschaft oder die Gesellschaft als Ganzes betroffen sein. Die politisch gewollten Reaktionen können darauf gerichtet sein, das Auftreten der Probleme zu vermeiden (Prävention) oder diese Probleme, wenn sie aufgetreten sind, zu verringern oder zu beseitigen (wie Probleme zu ›Problemen‹ werden: Herriger 2000; Schetsche 2014).

Soziale Probleme markieren zwar das Hauptfeld der Zuständigkeiten der Sozialen Arbeit, leuchten ihren Gegenstand aber nicht vollständig aus. Denn die Soziale Arbeit erbringt über die präventive und reaktive Bearbeitung von sozialen Problemen hinaus auch wichtige sozialisatorische Leistungen (s. das nachfolgende Textfeld) im Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen, ohne dass diesem Prozess ›Probleme‹ zugrunde liegen oder solche hier mit Sicherheit prognostiziert werden müssten. Unter dem Begriff Soziale Arbeit firmiert heute nicht allein die aus der Armenfürsorge entstandene Sozialarbeit und die Mitte des 19. Jahrhunderts aus der sozialen Frage der Industrialisierung hervorgegangene Sozialpädagogik, die sich um arme, verwaiste und gefährdete Kinder kümmerte (Kap. 2); Adressat*innen sind auch Kinder und Jugendliche außerhalb belasteter Biografien und kritischer Lebenslagen.

Sozialisation

Sozialisation bezeichnet im engeren Sinne den Prozess, in dem das Individuum im Laufe seines Lebens mehr und mehr lernt, sich in sozialen Situationen angemessen zu verhalten, also bestimmten Verhaltenserwartungen zu entsprechen (z. B. als Schüler*in, Konsument*in, Arbeitnehmer*in, Gast). Es lernt Werte, Normen und die in (s)einer Gesellschaft dominanten Einstellungen, Regeln und Sichtweisen kennen. Erfolgreiche Sozialisation führt einerseits zu einer Übernahme gesellschaftlicher Erwartungen und Denkweisen (Aneignung), andererseits befähigt sie das Individuum, sich in einem bestimmten Rahmen, z. B. ohne andere Menschen zu schädigen, von gesellschaftlichen Normalitätsstandards zu distanzieren (Grendel 2019).

Überwiegend stehen in der Sozialen Arbeit aber nicht öffentliche Sozialisationsangebote im Vordergrund, sondern Zustände, die eindeutig als Problem und damit negativ codiert sind.

Was im Einzelnen als öffentlich relevantes Soziales Problem gilt, unterliegt gesellschaftlich und historisch veränderlichen Definitionen. So war Pflegebedürftigkeit bis in die 1990er Jahre kein Soziales Problem, sondern eine private Angelegenheit. Gewalt gegen Frauen gelangte erst durch die Frauenbewegung auf die staatliche Agenda der Bearbeitungsbedürftigkeit. Die Schwere eines Problems bzw. die Belastungen, die von ihm ausgehen, sind kein Gradmesser für seine staatliche Relevanz (Gesetzgebung, öffentliche Verwaltung), wie Graßhoff (2015, S. 89) am Beispiel von geflüchteten Menschen zeigt. Moralische Veränderungen in der Gesellschaft können auch zur Rücknahme von Problemzuschreibungen führen (z. B. in Bezug auf gleichgeschlechtliche Beziehungen).

Die Anerkennung eines Sachverhalts als gesellschaftlich relevantes soziales Problem führt nicht automatisch oder exklusiv zu einer Aktivierung sozialpolitischer Handlungsformen, etwa Sozialer Arbeit. Grundsätzlich kommen auch repressive Reaktionen durch Polizei, Justiz und Ordnungsbehörden in Betracht (im Falle von geflüchteten Menschen z. B. Kasernierung, Abschiebung). Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat diese divergenten Reaktionen einmal als »linke« und »rechte Hand« des Staates bezeichnet (Kuhlmann, Mogge-Grotjahn & Balz 2018, S. 68).

Geht man von dem »Handbuch soziale Probleme« (Albrecht & Groenemeyer 2012) aus, lassen sich gegenwärtig – ungeachtet aller grundlagentheoretischen Differenzen über ihre Identifizierbarkeit – u. a. die folgenden Probleme als »Soziale Probleme« bestimmen:

Soziale Probleme (Beispiele)

Aids; Alkohol, Alkoholkonsum; Alter und Altern; Arbeitslosigkeit; Armut, Deprivation und Exklusion; Drogen, Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit; ethnische Diskriminierung, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit; Frauendiskriminierung; Freizeit; geistige Behinderung und Teilhabe an der Gesellschaft; Gesundheit und Krankheit; Gewalt gegen Frauen und Gewalt im Geschlechterverhältnis; Jugend; (Körper-)Behinderung; Korruption und Wirtschaftskriminalität; Kriminalität und Delinquenz; Makrogewalt: Rebellion, Revolution, Krieg, Genozid; Pornografie; Prostitution; psychische Krankheit; sexuelle Auffälligkeit; Suizid; Wohnungslosigkeit.

Für die Soziale Arbeit bedeutet die Bezugnahme auf Soziale Probleme, dass sie ihren Arbeitsauftrag überwiegend aus staatlicher Hand erhält. Sie ist damit abhängig von vorgängigen gesellschaftlichen Problemdefinitionen und davon, ob sich diese in gesetzlich verankerten Leistungen und Maßnahmen als Handlungsaufträge niederschlagen. »Soziale Arbeit handelt eben nicht, wie alltagsweltlich angenommen, aufgrund gegebener Probleme, sondern aufgrund durchgesetzter Definitionen, was als Problem zu betrachten sei« (Bitzan & Bolay 2017, S. 19). Ein Selbstbeauftragungsrecht hat die Soziale Arbeit nicht, soweit sie jedenfalls von kommunalen oder staatlichen Institutionen betrieben oder finanziert wird. Allerdings kann die Soziale Arbeit auf gesellschaftlich-staatliche Problemdefinitionen einzuwirken versuchen. Das setzt voraus, dass die Soziale Arbeit ›im eigenen Haus‹ (Wissenschaft und Profession) klärt, welche Probleme aus welchen Gründen öffentliche Aufmerksamkeit verdienen und durch die Soziale Arbeit bearbeitet werden sollen (Kap. 1.5.2).

Tab. 1.1: Beispiele für Angebote der Sozialen Arbeit, die auf »Soziale Probleme« bezogen sind

Soziales ProblemAngebote der Sozialen Arbeit

Fragt man danach, wie ein Soziales Problem überhaupt zu einem Gegenstand für die Soziale Arbeit wird, lassen sich drei politische Prozessschritte identifizieren:

•  Ein gesellschaftliches Phänomen ist im Vorfeld als (sozial-)politisch und damit öffentlich relevant bestimmt worden.

•  Für die Bearbeitung werden öffentliche Mittel bereitgestellt.

•  Soziale Arbeit erscheint als das oder als ein »Mittel der Wahl«, das eine erfolgreiche Problembearbeitung verspricht.

Für eine öffentliche Zuständigkeit und Finanzierung der Problembearbeitung spricht, dass

•  die Problembetroffenen (z. B. psychisch erkrankte Menschen) aus finanziellen oder anderen Gründen nicht in der Lage wären, die benötigten Leistungen aus eigenen Mitteln zu beschaffen;

•  die Problembetroffenen eine selbstfinanzierte Inanspruchnahme von Dienstleistungen ablehnen (fehlende Veränderungsmotivation);

•  Akteur*innen von vorneherein nicht zur Zahlung bereit sind (z. B. der gewalttätige Ehemann ist nicht bereit, für den Aufenthalt seiner Ehefrau im Frauenhaus zu zahlen);

•  das Problem als Beeinträchtigung des Gemeinwohls gedeutet werden kann (z. B. strafbares Verhalten);

•  sich das Problem als Ausdruck sozialer Benachteiligungen und sozialer Ungleichheit verstehen lässt (z. B. biografisch nicht erworbenes Bildungskapital, prekäre Beschäftigungs-, Einkommens- und Wohnverhältnisse, gesundheitliche Belastungen, soziale Ausgrenzung und verwehrte soziale Teilhabe, misslungene Übergänge z. B. zwischen Schule und Arbeitswelt, konflikthafte Familienbeziehungen, mangelnde Förderung durch die primären Bezugspersonen).

Der Einsatz von Sozialarbeiter*innen zur Problembearbeitung kann Ausschließlichkeitscharakter haben oder Teil eines komplexeren Lösungskonzepts sein, zu dem auch Geld- oder Sachleistungen oder andere personenbezogene Dienstleistungen gehören, z. B. Bildung und Qualifizierung, um Jugendliche mit Lernschwierigkeiten erfolgreich in eine Berufsausbildung zu integrieren. Soziale Arbeit stellt daher oft nur einen Beitrag zu einer umfassenderen Problemlösung dar, die je nach Problemlage ergänzt werden muss um

•  lebenslagen- und teilhabebezogene Maßnahmen (Unterhaltssicherung, Wohngeld, Entschuldung; Teilhabeleistungen nach dem SGB II),

•  Dienstleistungen anderer Professionen (Medizin/Psychiatrie, Psychotherapie, Schuldenberatung).

Das Soziale Problem Drogenabhängigkeit ist ein Beispiel dafür, wie weit die Spannweite einer umfassenden Problemlösung ggf. ausfallen muss.

Beispiel

Erforderlich sind z. B. Abkommen mit den Anbau- bzw. Herstellungsländern, Grenzkontrollen, polizeiliche Fahndungsmaßnahmen im Inland, Kontrolle von Finanzströmen, Präventionskonzepte, klinische Entzugsmaßnahmen für Abhängige, Substitutionsangebote, stationäre Therapieangebote und psychosoziale Hilfen durch Sozialarbeiter*innen.

Rückblende

Die Verschränkung von »persönlichen und sachlichen« Problemen zu verstehen und zu bearbeiten, wurde schon zu Beginn der Sozialen Arbeit als Beruf (damals unter dem Begriff der »Fürsorge«) formuliert: »Immer richtet sich die Fürsorge auf beides, den Menschen und seine Umgebung. Fast niemals genügt es, daß sie sich ausschließlich dem einen Faktor zuwendet« (Salomon 1926, S. 105; vgl. Kuhlmann 2000, S. 306).

1.2.2     Bearbeitung sozialer Probleme

Soziale Arbeit kann dazu beitragen, dass soziale Probleme nicht (wieder neu) entstehen oder sich verschlimmern oder zu Folgeproblemen führen, sie kann sie aber insgesamt nicht verhindern. Gewalt in Familien, soziale Benachteiligung im Bildungssystem, die Auswirkungen von Globalisierung und technologischem Fortschritt (Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit), Bezahlbarkeit von bedarfsgerechtem Wohnraum, die Auflösung von gesellschaftlichen Bindungen, zunehmende Trennungs- und Scheidungsraten etc. – all diese tief in der Gesellschaft und im Wirtschaftssystem verwurzelten Probleme lassen sich nicht durch Soziale Arbeit vermeiden.

Soziale Arbeit befasst sich an der Stelle mit Sozialen Problemen, wo sie den*die Einzelne*n oder Gruppen von Menschen konkret betreffen oder bedrohen und sich in Überlastung, Überforderung, in Zumutungen für Dritte, Benachteiligungen, sozialer Desintegration/Exklusion und unerfüllten Grundbedürfnissen präsentieren. Soziale Arbeit kann Menschen unterstützen, mit der Erfahrung des Ausgegrenztseins (z. B. Nichtteilhabe an Arbeit, Armut, Diskriminierung) so umzugehen, dass sich bietende Chancen genutzt werden können und Folgeprobleme unwahrscheinlicher werden.

Soziale Arbeit wirft – im Unterschied zu anderen Professionen – stets einen Blick auf die gesamte Situation eines Menschen: die Biografie als Folie für das Verständnis des Hier und Jetzt, die aktuell bestehenden Probleme und deren Verwobenheit, die vorhandenen und die fehlenden Ressourcen, z. B. die Tragfähigkeit des sozialen Netzes. Auf dieser diagnostischen Grundlage, die nur in intensivem Austausch mit den Adressat*innen erarbeitet werden kann, gilt es einen Handlungsplan zu entwerfen, der nicht starr sein darf, sondern immer wieder neu an die (oft fragile) Fallentwicklung anzupassen ist. Die Interventionsplanung erfolgt ganzheitlich, auch wenn nicht alle Probleme gleichzeitig angegangen werden können. Der ganzheitliche Blick auf den »Fall« verbietet aber, sich lediglich Teilproblemen zuzuwenden, wie es fachlich spezialisierte Helfer*innen tun, z. B. Psychiater*innen, die sich ausschließlich um psychische Störungen kümmern, aber nicht um die verschimmelte Wohnung, den fehlenden Kindergartenplatz oder die Konflikte von Betroffenen mit der Sozialbürokratie. Eine ganzheitliche Sicht bedeutet allerdings keine Exklusivzuständigkeit für die Umsetzung eines mehrdimensionalen Hilfekonzeptes (Kap. 1.3).

Soziale Probleme, die durch die Soziale Arbeit bearbeitet werden, treten in unterschiedlicher Form auf, als

•  belastende Lebensbedingungen (materielle Situation: Armut, Arbeits- und Ausbildungslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse; soziale Situation: fehlende oder konflikthafte Beziehungen zu anderen Menschen, soziale Ausgrenzung, fehlende lebensweltliche Unterstützung; Gesundheit: kognitive, psychische und körperliche Krankheit oder Behinderung). Auf den ersten Blick vergleichbare Lebensbedingungen können sich im Einzelfall als sehr unterschiedlich darstellen. Hinzu kommt, dass belastende Lebensbedingungen individuell sehr unterschiedlich erlebt werden können.

Beispiel

Wie Arbeitslosigkeit individuell erlebt wird, hängt von einer Vielzahl von Umständen ab, die individuell sehr verschieden sein können (finanzielle Rücklagen, soziale Einbindung, Dauer, Reaktion des sozialen Umfelds, individuelles Lebenskonzept etc.).

•  Schwierigkeiten der Bewältigung von belastenden Lebensbedingungen. Schwierigkeiten ergeben sich aus der Diskrepanz zwischen den Menschen zur Verfügung stehenden individuellen, sozialen und materiellen Ressourcen (Wissen/Bildung/Erfahrung, Motivation, Selbstvertrauen, Durchsetzungskraft, soziales Netz, Einkommen, Gesundheit) und den zur Problembewältigung erforderlichen Ressourcen. Ein wichtiger Teil der Ressourcen wird im Laufe des Lebens erworben und angesammelt. Mangelnde Ressourcen führen zu Überforderungen, z. B. in der Erziehung und Versorgung von Kindern, im Umgang mit Geld und Konsumwünschen, bei der Regelung behördlicher Angelegenheiten, bei der Alltagsstrukturierung, bei der Konfliktbewältigung etc.

•  abweichendes bzw. regelverletzendes Verhalten (z. B. Gewalt gegen Dritte, Straffälligkeit, diskriminierende und demokratiefeindliche Haltungen). Abweichendes Verhalten fällt erst dann in die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit, wenn sein (Wieder-)Auftreten als Ausdruck unzulänglicher Sozialisation, biografisch erworbener Ressourcendefizite oder aktuell prekärer Lebensverhältnisse gedeutet werden kann, bei deren Bewältigung Soziale Arbeit aus Sicht des Gesetzgebers oder der Behörden ›angezeigt‹ erscheint.

Beispiele

Der ungelernte, arbeitslose Herr P. erhält eine Strafaussetzung zur Bewährung. Er wird einer Bewährungshelferin unterstellt.

Der wegen Anlagebetrugs verurteilte Diplom-Kaufmann Herr D. erhält ebenfalls eine Strafaussetzung zur Bewährung. Sein Arbeitgeber hat sich zwar von Herrn D. getrennt, Herr D. hat aber keinen persönlichen Unterstützungsbedarf. Er wird keiner Bewährungshelferin unterstellt.

Lebenslage

Die materiellen/finanziellen Lebensbedingungen und die Ausstattung von Menschen mit Ressourcen wie Bildung, soziale Beziehungen und Gesundheit werden in der Soziologie unter dem Begriff Lebenslage zusammengefasst. Die Lebenslage ist ein Gradmesser für die Teilhabe von Menschen an der Gesellschaft und damit ihrer Lebensqualität (vgl. Engels 2013, S. 615ff.)

Soziale Arbeit setzt auf allen drei Ebenen an: Es geht ebenso um die Verhältnisse wie um das Verhalten der Adressat*innen. Soziale Arbeit nimmt hierbei den Blickwinkel ihrer Adressat*innen ein; sie versucht zu verstehen, welche objektive und subjektive Bedeutung ihre Lebenslage für sie hat; sie erkundet, wie sich die Menschen in ihren Lebensbedingungen bewegen, wie sie mit ihren Herausforderungen und Schwierigkeiten umgehen, nach Lösungen suchen oder Lösungen blockieren etc. Sie versucht das Verhalten der Betroffenen im Lichte von Biografie und Gegenwart als individuelle Antworten auf Belastungen, Benachteiligungen und Entbehrungen zu verstehen. Grundlegend ist die Akzeptanz der Person, nicht des jeweiligen Verhaltens. Davon ausgehend hofft sie auf ein Arbeitsbündnis, in dem unter Beachtung des Rechts auf Selbstbestimmung – zu dem auch das Recht gehört, Fehlentscheidungen zu treffen – eine Änderung der Verhältnisse und des Verhaltens erreicht werden können. Ein direkter Zugriff auf die Situationsdefinitionen und Handlungsbereitschaften von Adressat*innen ist nicht möglich. Soziale Arbeit stellt Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten bereit; ob Adressat*innen sich diese zu eigen machen, ›entscheiden‹ diese am Ende selbst (Kap. 1.1).

Für ihre Problembearbeitung nutzt die Soziale Arbeit eine Vielzahl von Methoden. Neben

•  der Information (z. B. über Leistungen anderer Stellen, Rechtsansprüche, Rechtsmittel, administrative Zuständigkeiten),

•  der alltagspraktischen Unterstützung (z. B. beim Ausfüllen eines Antrags, beim Finden einer Ausbildungsstelle, Begleitung zu einer Klinik)

•  der Vermittlung an spezialisierte Dienste (z. B. Drogenambulanz, stationäre Einrichtung der Jugendhilfe, Erziehungsberatung)

dürfte in der Einzelfall- und Familienhilfe vor allem

•  die Beratung die dominante Rolle spielen (z. B. Jugendliche bei der Berufswahl, Adoptiv-, Pflege- und andere Eltern in Erziehungsfragen, alte Menschen, die unschlüssig sind, ob sie in eine Wohneinrichtung ziehen sollen, schwangere Mädchen in Fragen von Elternschaft und Abtreibung).

Beratung

»Als Beratung bezeichnet man ein kommunikatives Geschehen, bei dem Fragen, Irritationen oder Probleme der einen (an der Kommunikation beteiligten) Seite geklärt und einer Lösung zugeführt werden, ohne deren Entscheidungsautonomie zu verletzen. (…) [Beratung] belehrt nicht, sondern orientiert sich am Anliegen, am Problemerleben und den Verarbeitungsstrukturen der Klient/innen. (…) Ein Beratungsgespräch ist ergebnisoffen und muss Vertraulichkeit hinsichtlich der thematisierten Inhalte herstellen« (Großmaß 2017, S. 93ff.; Kap. 4.2.2; Stimmer 2020; Stimmer & Ansen 2016; Wälte & Borg-Laufs 2021).

Soziale Arbeit kann zur Lösung sozialer Probleme nur innerhalb des ihr von außen gesetzten Handlungsrahmens beitragen. Dieser Rahmen wird durch gesetzliche Bindungen, Personalstellen, Sachmittel, Fortbildungsgelder etc. aufgeschlossen und gleichzeitig begrenzt. Sozialarbeitende haben in der Regel keinen direkten Zugriff auf Dinge wie Geld, eine Schultüte, einen Rollator, einen neuen Wintermantel oder gar einen Arbeitsplatz. Das zentrale ›betriebstypische‹ Mittel der Sozialen Arbeit ist die mündliche und schriftliche Kommunikation. Kommunikation ist nicht nur im unmittelbaren vis à vis-Verhältnis von größter Bedeutung, sondern auch die entscheidende Kraft für Kooperationen mit Dritten und den Aufbau von Hilfenetzwerken. Die Beschaffung von Mitteln, z. B. Ausstattung für einen Nachbarschaftstreff, Notebooks für die Medienarbeit in einem Jugendzentrum, Bewilligung von Musikunterricht als SGB-II-Leistung, hat immer Kommunikation zur Voraussetzung in Form von Beraten, Nachfragen, Überzeugen, Mailen etc.

1.3       Strukturelle Merkmale Sozialer Arbeit

Soziale Arbeit ist durch eine Reihe struktureller, d. h. von dem Handeln der jeweiligen Sozialfachkraft unabhängige Eigenheiten gekennzeichnet. Zur Beantwortung der Ausgangsfrage »Was ist Soziale Arbeit?« sollen diese Eigenheiten, Besonderheiten und Merkmale im Folgenden herausgearbeitet werden. Die Strukturmerkmale Sozialer Arbeit stellen zentrale Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer sich das berufliche Handeln von Sozialfachkräften abspielt. Welchen Einfluss diese Strukturmerkmale auf das berufliche Handeln der Sozialarbeiter*innen haben, hängt z. T. auch von den Akteur*innen selbst ab (Nutzung von Spielräumen).

1.3.1     Einbindung in sozialstaatliche Programme

Soziale Arbeit befriedigt nicht jedweden Hilfebedarf von Menschen, sondern nur den in sozialrechtliche Leistungsaufträge gegossenen, staatlich anerkannten und finanzierten Hilfebedarf (vgl. Herrmann & Müller 2019, S. 48). Entscheidend dafür sind gesellschaftliche Vorstellungen, »inwiefern das individuelle Wohlbefinden auch im allgemeinen Interesse liegt, der sozialen Gerechtigkeit entspricht und so die Bereitstellung von kostspieligen Ressourcen rechtfertigt« (Schmid Noerr 2021, S. 148).

Auf Leistungen der Sozialen Arbeit kann daher nicht frei zugegriffen werden. Die Leistungsinteressierten zahlen schließlich nicht für die gewünschten (oder geduldeten) Sozialleistungen, sondern nehmen bedingte Rechte wahr (an Bedingungen geknüpfte Rechte). Hilfebedarf ist ein sozialstaatliches Konstrukt, das im Ergebnis zwar nicht beliebig ausfällt, aber auch nicht von der ihm zugrundeliegenden Definitionstätigkeit abgelöst werden kann (Kap. 1.2.1; Kap. 5). Bei welchen Bedarfen Hilfe in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen geleistet wird, ist sozialpolitisch diskussionsbedürftig, prinzipiell streitbar und politisch fast immer umstritten. Im Hintergrund geht es um die Frage, wieweit der Sozialstaat ausgebaut werden soll. Dabei spielen finanzwirtschaftliche Erwägungen ebenso wie Theorien über die Verteilung von Eigen- und Staatsverantwortung eine wichtige Rolle. Da die Leistungsgewährung Steuermittel verbraucht und Behörden zu wirtschaftlicher und sparsamer Aufgabenerledigung verpflichtet sind, werden personenbezogene Dienstleistungen nur auf Zeit vergeben und erst nach erneuter Bedarfsprüfung ggf. verlängert.

Ökonomisierung

Zunehmend wird heute im Leistungsprozess die Frage gestellt, ob sich im Hinblick auf die zu erwartenden Effekte ein weiterer Mitteleinsatz ›lohnt‹, ob das erzielte Ergebnis nicht bereits ausreicht oder das vereinbarte Ziel nicht mit geringerem Mitteleinsatz verfolgt werden kann. Derartige Erörterungen setzen Sozialarbeiter*innen immer häufiger einem von ökonomischen Motiven getriebenen Rechtfertigungsdruck aus.

Die Abhängigkeit Sozialer Arbeit von staatlichen Maßgaben betrifft auch die Zielsetzungen, unter denen die Problembearbeitung erfolgt. Münchmeier (2013) zeigt dies am (Negativ-)Beispiel des SGB II, das die Arbeitsmarktpolitik ab 2005 neu ausgerichtet hat. Unter der Devise »Fördern und Fordern« haben sich Münchmeier zufolge

»neue Zielstellungen, Aufgaben und Funktionen für die Soziale Arbeit ergeben. Sie hat ihre Interventionen und Leistungen ebenfalls am Ziel der Erhaltung oder Wiederherstellung von Beschäftigungsfähigkeit (employability) auszurichten (…). Ist diese Hilfe (zur Wiedereingliederung in die Arbeitswelt, R. B.) nicht erfolgversprechend, soll sie nicht angeboten, sondern Arbeitsgelegenheiten nachgewiesen werden. (…). Soziale Arbeit wird nunmehr für die Zwecke einer auf arbeitsmarktliche Vermittlungsfähigkeit ausgerichteten Verhaltenskontrolle in den Dienst genommen. Eigenverantwortlichkeit, persönliche und örtliche Flexibilitätsbereitschaft, aktive Selbsthilfeanstrengungen sind die neuen Sozialisations- und Erziehungsziele und – das ist das Wesentliche – sie können mit repressiven Mitteln (bis hin zur Kürzung des Transfereinkommens) erzwungen werden« (Münchmeier 2013, S. 49).

Das Zitat zeigt: Soziale Arbeit wird über sozialstaatliche Handlungsprogramme in politische Zielsetzungen eingebunden, die potenziell in Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis treten können (vgl. auch Bitzan & Bolay 2017, S. 24f.). Ob es ein einheitliches Selbstverständnis gibt, ist allerdings fraglich. Berührt werden aber professionsethische Fragen (Kap. 1.5.1).

Sofern Sozialleistungen (z. B. Hilfen für wohnungslose Menschen) durch privat-gemeinnützige oder privat-gewerbliche Träger als »Leistungserbringer« ausgeführt werden, führen sie diese Aufgabe nicht nur unter Beachtung gesetzlicher Zielvorgaben durch, sondern auch auf der Grundlage umfangreicher vertraglicher Regulierungen, die ab Mitte der 1990er Jahre sukzessive durch das Leistungsrecht vorgeschrieben wurden.

Die Einbindung Sozialer Arbeit in den Sozialstaat kommt auch darin zum Ausdruck, dass Soziale Arbeit nicht nur dem Bedarf der*des Einzelnen an Beratung und Unterstützung gegenüber verpflichtet ist, sondern im Interesse der Allgemeinheit auch Kontrollfunktionen gegenüber Individuen und Gruppen ausübt (Kap. 1.4.2).

1.3.2     Allzuständigkeit

Soziale Arbeit verfügt Galuske (2013, S. 40) zufolge auf der Makroebene über keinen Aufgabenbereich, der sie eindeutig von anderen gesellschaftlichen Institutionen wie der Familie oder der Schule abgrenzt. Soziale Arbeit sei stattdessen mehr und mehr in diese Institutionen vorgedrungen. Es falle schwer, noch Problembereiche zu benennen, in denen heute keine Sozialarbeiter*innen tätig seien. Diese offensichtliche Allzuständigkeit wiederhole sich auf der Mikroebene des alltäglichen Handelns. Augenscheinlich befasst sich Soziale Arbeit in ihrer tagtäglichen Praxis mit der ganzen Bandbreite von Anforderungen und Problemstellungen, die das Leben von Menschen hergibt. In der Zusammenarbeit mit stärker spezialisierten Professionen (Lehrer*innen, Psycholog*innen, Ärzt*innen, Pfarrer*innen, Heilpädagog*innen, Therapeut*innen) könne es für die Soziale Arbeit schwer sein, deutlich zu machen, worin genau ihr Kompetenzprofil – auch in Abgrenzung zu engagierter Laientätigkeit – liegt. Aus einem klaren Kompetenzprofil könnte sie viel leichter berufliches Ansehen und den Anspruch auf eine vergleichbare Bezahlung ableiten (z. B. in der Schulsozialarbeit gegenüber Lehrer*innen). Aus Sicht anderer, meist statushöherer Professionen ist die Soziale Arbeit lediglich negativ bestimmt: Sie ist für den ›Rest‹ an Aufgaben zuständig, die nach Abzug der jeweiligen Expert*innenleistungen verbleiben, z. B. für den gewöhnlichen Alltag der Jugendlichen in der Heimerziehung. Dabei ist es – so Galuske (2013, S. 43) – »gerade dieser Alltag (…), für den und in dem gelernt werden soll und muss.«

Die Bewältigung der Anforderungen des Alltags ist keine ›Restgröße‹ sozialer Interventionen, sondern das Haupt- und Zielfeld, dessen Wirkungspotenzial im Bedarfsfalle durch die Zuarbeit der ›Spezialist*innen‹ unterstützt und erweitert werden muss.

In komplexen Handlungssituationen mit multipler Problemstruktur und hoher wechselseitiger Abhängigkeit der Einzelprobleme kann die Offenheit der Zuständigkeiten allerdings zu überhöhten Erwartungen an sich selbst und damit zu individueller Überforderung führen (»Burnout«, vgl. Kitze 2021). Diese Gefahr wird dann forciert, wenn Sozialarbeiter*innen die Zuständigkeit für das Erkennen von Problemen mit deren Bearbeitung gleichsetzen, anstatt letztere dafür ausgebildeten Spezialist*innen zu überlassen und sich selbst in die Rolle einer fallzuständigen Koordinatorin zu begeben (vgl. Heiner 2010, S. 476f.).

Auf der Positivseite erlaubt der geringe Spezialisierungsgrad Sozialer Arbeit (Allzuständigkeit) eine ganzheitliche Sicht auf die Problemlagen der Adressat*innen (