Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Genderlekt? Dialekt? Soziolekt? – Eine Einführung in die Vielfalt der deutschen Sprache Dieser Band bietet einen Überblick über Geschichte, Theorien und Richtungen sowie Forschungsmethoden der Soziolinguistik der deutschen Sprache. Dabei werden zentrale soziale Faktoren (u.a. soziale und regionale Herkunft, Gender, Generation, soziale Gruppe) und Prozesse (v.a. Migration, Mehrsprachigkeit, Sprachwandel) in ihrem Einfluss auf den Sprachgebrauch im Deutschen, vor allem der Gegenwart, berücksichtigt. Auch subjektive Faktoren von Sprachbewertungen und Spracheinstellungen sowie die Einflüsse der Soziolinguistik auf Schule und Sprachunterricht werden einbezogen. Der Band ist genau auf ein zentrales Thema germanistischer Prüfungs- und Studienordnungen zugeschnitten und eignet sich hervorragend zur selbstständigen Erschließung dieses spannenden Forschungsgebietes.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 502
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Eva Neuland
Soziolinguistik der deutschen Sprache
Eine Einführung
Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen
Umschlagabbildung: Gesichter (frimages) © istock 2022
DOI: https://doi.org/10.36198/9783838544557
© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.
Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung
utb-Nr. 4455
ISBN 978-3-8252-4455-2 (Print)
ISBN 978-3-8463-4455-2 (ePub)
Die Soziolinguistik hatte in Deutschland Hochkonjunktur in den 1970er Jahren; Einführungen, Handbücher und Bibliographien erschienen (v. a. Dittmar 1973, 1997, Simon 1974, Löffler 1985, Veith 2002, Ammon/Dittmar/Mattheier 1987/88). Grundgedanken der Soziolinguistik wurden in Lehrveranstaltungen vermittelt und fanden Eingang in Module zur Sprachvariation im Inland und Ausland im Rahmen von Studiengängen der Germanistik und von Deutsch als Fremdsprache.
Wenn heute eine neue Einführung vorgelegt wird, muss sich die Frage stellen: War die Soziolinguistik doch nur eine Modeerscheinung? Ist sie vielleicht nie in der Mitte der germanistischen Sprachwissenschaft angekommen? Allein die neuesten Auflagen von Löffler (2016), des internationalen Handbuchs (2004/05) und von Veith (2005) sowie die Einführungen in die Varietätenlinguistik von Sinner (2014) und Felder (2016) und die erst nach Manuskriptabschluss erschienene Einführung von Spitzmüller (2022) deuten auf ein nicht nachlassendes Interesse an der Thematik.
Die vorgelegte Einführung will die fortdauernde Aktualität von Fragestellungen und Gegenstandsfeldern der Soziolinguistik aufzeigen, wie auch deren Veränderungen im gesellschaftlichen Wandel. Neue Fragestellungen und Gegenstandsfelder sind mit soziokulturellen Entwicklungen und Veränderungen im Variationsgefüge im heutigen Deutsch hinzugetreten (v. a. deutsch-deutsche Sprachentwicklungen, Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt, Sprachgebrauch und Generationsbeziehungen, Sprachgebrauch in neuen Medien, postmoderne Vergemeinschaftungs- und Kommunikationsformen und Formen der Stilisierung, Umgang mit Political Correctness), neue Beschreibungsverfahren, v. a. der Interaktionslinguistik wie der Analyse gruppenspezifischer Formen von Schriftlichkeit, sind vorgelegt und eröffnen Perspektiven für Studium und Lehre und Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Forschungsentwicklungen. Damit wurden auch die in Löfflers Schlussbemerkung angeführten ›neuen Aufgabenfelder‹ für die germanistische Soziolinguistik (Sprachgebrauch während und nach der Wende, das ›Mischdeutsch‹ von Flüchtlingen, Auswirkungen des Sprachgebrauchs in sozialen Medien; Löffler 2016: 174) in diesem Band berücksichtigt.
Die Einführung knüpft an die Geschichte der germanistischen Soziolinguistik in Deutschland an und gibt einen Überblick über Forschungsparadigmen, Theorieansätze und Forschungsmethoden (Kap. I). Dies erscheint besonders im Hinblick auf die Verwendung des Bandes im fortgeschrittenen Masterbereich sinnvoll, sodass neben der theoretischen Erarbeitung auch praktisch-empirische Anknüpfungs- und Umsetzungsmöglichkeiten geboten werden. Neun ausgewählte, für die Soziolinguistik zentrale klassische wie neue Gegenstandsfelder werden im Spiegel aktueller Forschungsliteratur genauer vorgestellt (Kap. II) und können auch je einzeln bearbeitet werden. Ein Einblick in aktuelle Anwendungsfelder von Schule, Sprachberatung und Sprachkritik sowie Sprachwandel (Kap. III) rundet die Darstellung ab.
Zur Bestimmung des engeren Gegenstandsfelds der Soziolinguistik werden sechs zentrale Aspekte zur Diskussion gestellt, die der Abgrenzung gegenüber anderen Teildisziplinen der Variationsforschung dienen und, wenn möglich, in allen ausgewählten Gegenstandsfeldern wieder erkennbar sind und zu deren Kohärenz beitragen. Im Gegensatz zu einem nahezu unbegrenzten Ansatz der Variationslinguistik, der Probleme einer klaren Ein- und Abgrenzung mit sich bringt (»Was ist eigentlich keine Variation?«), bietet der doppelte Zuschnitt mit seiner Fokussierung a) auf die soziolektal bedingte Variation und b) auf soziolinguistische Phänomene innerhalb der deutschen Sprache eine gut begründbare und nachvollziehbare Auswahl an Themen. Vieles kann allerdings nur kurz angerissen werden und zu vertieften Auseinandersetzungen anregen. Dazu werden in jedem Kapitel weiterführende und allgemeine Literaturhinweise gegeben. Das verwendete generische Maskulinum soll sich ausdrücklich auf männliche wie auf weibliche Referenten beziehen.
Der Band eignet sich daher als Seminargrundlage und Überblickslektüre, der auch die Zusammenhänge der Themen herausstellen und nicht Variationen beliebiger Provenienz und Ausprägung unverbunden nebeneinanderstellen will. Teile des Bandes wurden in Seminarveranstaltungen im Inland und im Ausland erprobt; den Studierenden sei dafür herzlich gedankt.
Die einzelnen Kapitel orientieren sich, soweit möglich und sachdienlich, an der chronologischen Folge der Forschungsentwicklung, bemühen sich um ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Empirie in der gebotenen komprimierten Form und präsentieren weiterführende Literaturhinweise zur Vertiefung und zum Selbststudium. Gleichwohl stellen die überblicksartig vorgestellten Gegenstandsfelder eine selektive Auswahl dar, die eine Ergänzung v. a. durch das internationale Handbuch unter Berücksichtigung von Aktualität sowie durch einschlägige Fachzeitschriften nicht ersetzen.
Einzelne Kapitel wurden von einschlägig ausgewiesenen Fachkolleginnen und Fachkollegen gegengelesen und kommentiert. Ihnen allen: Peter Colliander (†), Norbert Dittmar, Claus Ehrhardt, Joachim Gerdes, Birte Kellermeier-Rehbein, Benjamin Könning, Helga Kotthoff, Corinna Peschel danke ich von Herzen. Christian Efing hat die Kapitel II.7, III.1.2 und III.3.2 beigetragen. Florian Volkhausen und Thien Ngo haben mich bei der Herstellung des Manuskripts unterstützt. Auch Ihnen sei herzlich gedankt. Der Manuskriptabschluss erfolgte im Juni 2022.
Eva Neuland
Die Soziolinguistik hat sich als ein Teilgebiet der Linguistik seit der Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt. Von der ersten Erwähnung der Bezeichnung durch Haver C. Currie (1952) bis zur Entwicklung einer eigenständigen Teildisziplin vergingen einige Jahrzehnte. Dazu trugen wichtige Forschungsparadigmen bei, die im folgenden Kapitel (I.2) ausführlicher vorgestellt werden.
Der soziale Aspekt von Sprache wurde aber in der Entwicklung der Sprachwissenschaft des Deutschen schon zuvor verschiedentlich thematisiert, und zwar insbesondere von Sprachwissenschaftlern des 19. (v. a. Humboldt, H. Paul) und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (v. a. Saussure, Sapir, Whorf). Zwar stand, wie Löffler (2016: 26ff.) die vorlinguistischen Traditionenvorlinguistische Tradition resümiert, die Konsolidierung der Schriftsprache einerseits und der »echten« Dialekte andererseits weiterhin im Fokus der Betrachtungen. Doch mangelte es an einer entsprechenden empirischen Forschung, während strukturimmanente Sprachbeschreibungen dominierten (so Dittmar 1997: 25). Gleichwohl existierte bereits eine dialektologische Tradition (u. a. mit InformantenbefragungInformantenbefragungen und zum LautwandelLautwandel) im Rahmen der Arbeiten zu Sprachatlanten des Deutschen (Wegener 1880, Wenker 1881, Wrede 1903). Die Entwicklung der Soziolinguistik orientierte sich in Deutschland hingegen stark an angloamerikanischen Forschungen.
Die Konstitution der Soziolinguistik fand in den 1950er Jahren in den Vereinigten Staaten statt und ist verbunden mit den Namen und Forschungsrichtungen der SprachsoziologieSprachsoziologie, besonders mit Fishman, mit der Sozialen DialektologieSoziale Dialektologie oder VariationslinguistikVariationslinguistik, besonders Labov, mit der Ethnographie der KommunikationKommunikationEthnographie der, besonders Hymes, sowie mit interaktionslinguistischen Fragestellungen, besonders Gumperz (→ Kap. I.2). Die empirischen Forschungen im Zwischenbereich von Sprache und Gesellschaft wurden mit ca. zehnjähriger Verspätung im deutschen Sprachraum aufgegriffen und mit Studien zum schichtspezifischen SprachgebrauchSprachgebrauchschichtspezifischer im Deutschen weitergeführt (→ Kap. II.1). Dabei spielte der Gesichtspunkt der sozialen Ungleichheit eine zentrale Rolle und führte in der frühen Soziolinguistik im Kontext von fach- und bildungspolitischen Reformen zur sog. SprachbarrierenSprachbarriereforschung. In späteren Entwicklungsphasen weitete sich das Gegenstandsfeld und das Methodenspektrum der germanistischen Soziolinguistik aus.
Sieht man von früheren Traditionen wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft, v. a. in der Dialektologie, ab, so gelten die 1960er Jahre als ›Geburtsstunde‹ der Soziolinguistik in Deutschland, namentlich in Westdeutschland. Vor allem zwei wichtige Komplexe haben als Auslösefaktoren zu dieser Entwicklung beigetragen:
Fachpolitische Faktoren
Die auf den GermanistentagGermanistentagen 1966 in München und 1968 in Berlin diskutierte Krise des Faches mit der Kritik an seiner unaufgearbeiteten Vergangenheit und geisteswissenschaftlich-ideengeschichtlicher Ausrichtung spielte bei der euphorischen Rezeption der frühen Soziolinguistik eine entscheidende Rolle. Rufe nach einer Neubestimmung der GermanistikGermanistikNeubestimmung der wurden im Band: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft von Lämmert, Killy, Conrady und von Polenz 1967 laut und in der von Kolbe 1969 herausgegebenen Sammlung: Ansichten einer künftigen Germanistik konkretisiert. H.-W. Jäger hob die gesellschaftskritischen Aspekte der Germanistik, besonders das Sprachbarrierenproblem hervor (S. 66), Lämmert (S. 87) und von Polenz (S. 180f.) plädierten für eine stärkere Berücksichtigung der GegenwartsspracheGegenwartssprache und eine Reform des SprachunterrichtsSprachunterrichtReform des -s. Forderungen nach einem Gegenwarts- und Gesellschaftsbezug des Faches und nach seiner empirischen Fundierung und Praxisrelevanz wurden laut. Dies schien die Soziolinguistik mit ihrer Kritik an HomogenitätsvorstellungHomogenitätsvorstellungen des Sprachgebrauchs und der SprachgemeinschaftSprachgemeinschaft einzulösen.
Bildungspolitische Faktoren
Im Bildungsbereich und in den Erziehungswissenschaften wurde in den 1960er Jahren ein BildungsnotstandBildungsnotstand diagnostiziert, der die bundesdeutsche Wirtschaft und Demokratie gefährde (vgl. Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe 1964, Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht 1965, Gutachtenband des Deutschen Bildungsrats, hg. v.H. Roth 1969). Die sog. BildungskatastropheBildungskatastrophe hatte in Westdeutschland Forschungen zu Bildungshindernissen ausgelöst; eine Erschließung von BegabungsreservenBegabungsreserven wurde gefordert. Dieser Prozess verlief analog zu den einige Jahre zuvor initiierten Entwicklungen in den USA: Als Reaktion auf den technologischen Vorsprung der UdSSR, bekannt unter dem Stichwort vom sog. Sputnik-SchockSputnik-Schock (1957), wurden Forschungen zu Ursachen und Wirkungen sozialer Deprivationsoziale Deprivation und einem vorherrschenden middle class biasmiddle class bias im schulischen Sprachgebrauch veranlasst. Auch zur Bearbeitung solcher Probleme im Anwendungsbereich von Schule und Erziehung sollte die Soziolinguistik mit Forschungen zum Zusammenhang von sozialer Schicht und Sprachgebrauch Lösungsvorschläge anbieten (→ Kap. II.1 und Kap. III.1).
Soziale Ungleichheitsoziale Ungleichheit erschien somit als zentrales Thema und verbindendes Erkenntnisinteresse der frühen bundesdeutschen Soziolinguistik. Studierende der Sozial-, Erziehungs- und Sprachwissenschaften und die kritische Studentenbewegung nahmen solche Thesen gegen Ende der 1960er Jahre mit großem Engagement auf und trugen Ideen der BildungsBildungsreform- und WissenschaftsreformBildungs- und Wissenschaftsreform (u. a. dynamische Begabungskonzepte, alternative Begabungsformen wie die Kreativität und das divergente Denken, die Bedeutung der Sozialisation, der Plastizität und Variabilität menschlicher Eigenschaften), z.T. in selbstverantworteten studentischen Seminaren, in die Fachdiskussionen (vgl. die Broschüre Sprachbarrieren. Beiträge zum Thema Sprache und Schichten, Bochum WS 1969/70).
Die Themen und die damit verbundenen Erkenntnisinteressen lösten einen großen Zuwachs an entsprechenden Publikationen in der Germanistik aus: Das Institut für deutsche Sprache stellte mit dem Band Sprache und Gesellschaft einer größeren Fachgemeinschaft Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache (Moser 1971) vor. Klein und Wunderlich (1971) präsentierten grundlegende empirische und theoretische Ansätze der internationalen Soziolinguistik; Wunderlich diskutierte darin den Status der Soziolinguistik in der Struktur des Wissenschaftsbetriebs und benannte als wissenschaftspraktische Zielsetzungen der Soziolinguistik in Deutschland u. a. die Antizipation herrschaftsfreier KommunikationsformenKommunikationherrschaftsfreie, GesellschaftsveränderungGesellschaftsveränderung durch Sprachveränderung sowie Einflussnahme auf die Sozialisationsphase (1971: 297ff.). Hager et al. (1973) bemängelten in ihrem Band über Soziologie und Linguistik:Die schlechte Aufhebung sozialer Ungleichheit durch Sprache. Dittmars verdienstvolle Bände zur Soziolinguistik (1973, 1997) machten einschlägige Studien aus den Vereinigten Staaten bekannt; zu seiner kommentierten trat die (geschätzt) mehrere tausend Einträge umfassende Bibliographie von Simon (1974) hinzu.
Neben den fach- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen haben aber erst wesentliche fachgeschichtliche Entwicklungen die Bearbeitung der o. g. Fragestellungen ermöglicht. Dazu gehörten in der damaligen Zeit vor allem die Vorstellungen zur gesprochenen SpracheSprachegesprochene und zur mündlichen KommunikationKommunikationmündliche sowie die Entwicklungen der linguistischen Pragmatiklinguistische Pragmatik undKommunikationsforschung (→ Kap. I.2). Interdisziplinäre Bezüge, wie der Einbezug von Aspekten der Sozialisationsforschung,Sozialisationsforschung namentlich der RollentheorieRollentheorie sowie der Schulforschung traten hinzu.
Thematische Schwerpunkte in den frühen 1970er Jahren bildeten sich in der germanistischen Sprachwissenschaft im Kontext von Norm, Variation und SprachwandelSprachwandel heraus, wie sich insbesondere an der Kritik an den Vorstellungen der sogenannten HochspracheHochsprache und einer homogenen SprachgemeinschaftSprachgemeinschaft zeigte (dazu u. a. Braun 1987). Soll die Schule SprachnormenSprachnormen als fest, wandelbar oder veränderbar lehren? formulierte Augst programmatisch im Sammelband: Schulen für einen guten Sprachgebrauch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Mogge/Radtke 1982). Einen zentralen Stellenwert nahm weiterhin die Differenzierung von sozialen und regionalen Einflüssen auf den Sprachgebrauch ein, auch in Verbindung mit den empirischen Studien zum Sprachgebrauch von Kindern und Jugendlichen (→ Kap. II.1).
Es ist aufschlussreich, dass beide Themenschwerpunkte, die ja auch in engem Zusammenhang stehen, zugleich in ihrer Auswirkung auf Bildungsprozesse und gesellschaftlichen Aufstieg diskutiert wurden (vgl. auch Roeder et al. 1965, Rolff 1969). Ob und inwiefern ein Ausgleich oder gar eine Aufhebung sozialer Ungleichheiten durch eine Form der Sprachförderung erzielt werden könne, bildete einen zentralen und kontroversen Diskussionspunkt der damaligen Zeit (vgl. u. a. Hager et al. 1973).
Auch in der DDR wurden im Zeitraum von ca. 1970 bis 1989 einige Studien betrieben, die man als soziolinguistische werten kann (dazu Schönfeld 1983). Dittmar bezeichnete sie als »Soziolinguistik eigenen Typs« (so Dittmar 2004: 716). Wichtige Studien beschäftigten sich mit dem Rückgang von Dialekten zugunsten einer standardnahen UmgangsspracheUmgangssprache, wie Rosenkranz/Spangenberg in Thüringen (1963) zeigten, und mit den Veränderungen der gesprochenen SpracheSprachegesprochene, wie Herrmann-Winter in Norddeutschland (1979) und die Studie von Donath/Schönfeld zur Sprache im sozialistischen Industriebetrieb (1978). Kontexte von Sprachnorm (v. a. Hartung 1977) und SprachkulturSprachkultur/SprachpflegeSprachpflege bildeten wichtige Diskussionspunkte in der damaligen Zeit. In den 1980er und 1990er Jahren unterlagen Untersuchungen zur JugendspracheSpracheJugend- in der DDR (Beneke 1986, Heinemann 1989) allerdings der Zensur, da sie nicht mit der vorherrschenden ideologischen Meinung über eine sozialistische Einheitssprache vereinbar waren.
In aktuellen Einführungen und Übersichtsbeiträgen zur Soziolinguistik, v. a. von Löffler (2016), Dittmar (2004), Auer (2015), finden sich wissenschaftsgeschichtliche Phasierungsvorschläge, die sich in formaler Hinsicht ähneln und etwa das folgende Bild ergeben:
Vorsoziolinguistische Phase
Diese bezog sich auf die Tradition der frühen Sprachforschung in Deutschland, insbesondere zur DialektgeographieDialektgeographie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, auch zur sozialen Schichtung von Mundarten (der Nationalsozialist A. Bach 1950/1934) und zu sprachpolitischen Fragen (Kloss 1978/1952) mit der Hinwendung zur gesprochenen SpracheSprachegesprochene und mit Anfängen der FeldforschungFeldforschung und wissenschaftlich fundierter Befragungsmethoden. Schlieben-Lange diagnostiziert allerdings eine »Askese« d. h. eine Ausklammerung soziologischer Gesichtspunkte als dominantes Paradigma der damals vorherrschenden Sprachwissenschaft (1973: 25). Sie bezieht sich dabei auf Steger (1971: 9f.), demzufolge die Askese gekennzeichnet ist »durch extreme Eingrenzung des empirischen wie theoretischen Erkenntnisinteresses«. Die Idealisierungen der Homogenität und Statik des Sprachsystems wurden von der strukturalistischen wie von der transformationellen Sprachwissenschaft übernommen. Schlieben-Lange konstatiert für die Mitte der 1960er Jahre folgende Tendenzen:
Untersucht wurden homogene Sprachsysteme, nicht das Zusammenleben verschiedener Systeme. Untersucht wurde das Funktionieren der autonomen Sprache, nicht ihre Einbettung in Handlungszusammenhänge. (Schlieben-Lange 1973: 28)
Konstitutionsphase
In der Bundesrepublik um 1965, in den Vereinigten Staaten bereits seit den 1950er Jahren in den Gebieten der Ethnographie der Kommunikation (Hymes 1962, Gumperz 1972), der Soziologie der Sprache (Fishmann 1968, Ferguson 1965), und der VariationslinguistikVariationslinguistik (Labov 1968) (→ Kap. I.2.2).
Konsolidierungsphase
Ab ca. 1980 mit einer Ausweitung der Forschungsfelder (v. a. Sprachgebrauch und Geschlecht, Sprachgebrauch und MigrationMigration, Sprachgebrauch in der Stadt, Sprachgebrauch in West- und Ostdeutschland), des Methodenspektrums (korrelative und funktionale Studien, Einzelfallanalysen) und wichtigen Formen wissenschaftlicher Institutionalisierung vor allem im Bereich der Veröffentlichungen von Einführungen, Zeitschriften und Jahrbüchern.
Aktuelle und künftige Entwicklungen nach der Konsolidierungsphase zeigen sich v. a. im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung, Sozialdialektologie, Spracheinstellungsforschung, Jugendsprachforschung, Höflichkeitsforschung und in medienlinguistischen Fragestellungen. Von diesen Kontexten ist die Soziolinguistik allerdings nicht immer scharf zu unterscheiden. Neben vielen gegenstandsspezifischen spielen allerdings soziolinguistische Perspektiven und Methoden eine wichtige Rolle.
Eine solche formale wissenschaftsgeschichtliche Orientierung soll jedoch um eine prinzipiell kulturgeschichtliche Betrachtungsweise ergänzt werden. Die Themenschwerpunkte in einzelnen Entwicklungsphasen der Soziolinguistik sind ja nicht etwa zufällig oder willkürlich ausgewählt worden; vielmehr stehen sie in Zusammenhang mit gesellschaftlich-historischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland.
In gewissem Maße folgen wesentliche Entwicklungen der germanistischen Soziolinguistik sowie weitere Bereiche der Sozial- und Bildungswissenschaften weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen, Problemlagen und Umbrüchen. Dazu gehören ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts v. a. Bildungskrisen, Protest- und FrauenbewegungenFrauenbewegung, politische Umbrüche, Migrationsbewegungen, Entwicklungen alternativer Szenen und Jugendrevolten. Diese Kontexte werden in späteren Kapiteln wieder aufgegriffen und in ihren sprachlichen Auswirkungen konkretisiert.
Eine solche Sichtweise, die gesellschaftlichen Auslöse- und Anwendungskontexten der Soziolinguistik folgt und innerhalb der verschiedenen Gegenstandsfelder nach vergleichbaren Momenten sucht, unterscheidet sich von den vorgenannten fachgeschichtlichen Darstellungen.
So entwickelt Dittmar ein Mischmodell zwischen formalen (Anfangsphase, Gründerzeit, Konsolidierung) und inhaltlichen Entwicklungsphasen (ideologische Auseinandersetzungen der 1970er Jahre, widersprüchliche Tendenzen ab den 1990er Jahren). Schließlich folgert er für die heutige Zeit ein »Verblassen des Gesamtprofils« der Soziolinguistik (2004: 702).
Auer konstatiert eine wissenschaftsgeschichtliche Selbstinszenierung der bundesdeutschen Soziolinguistik als eine ›neue‹ Wissenschaft und diagnostiziert eine ›Vagheit ‹ ihres Gegenstandsbereichs (2015: 382).
Löffler schließlich entfaltet ein nahezu unbegrenztes Spektrum von Gegenstandsfeldern der Sprachvariation, der Kommunikation und allgemeiner gesellschaftlich-historischer Einflüsse und postuliert: »Eine germanistische Soziolinguistik (…) kann im Grunde mit der Wissenschaft »von der aktuellen Gegenwartssprache Deutsch gleichgesetzt werden«. (52016: 14).
Dem Verdikt der ›Blässe‹ und ›Vagheit‹ wollen wir uns nicht anschließen; eher sehen wir in Löfflers allumfassendem Spektrum eine angemessene Würdigung der vielschichtigen gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf den Sprachgebrauch, wobei für einen soziolinguistischen Zugang im engeren Sinne folgende Momente hinzutreten sollten:
Fokus auf soziale Differenz im Sprachgebrauch /2. Einbezug soziokultureller Bedingungskontexte (Auslösung und Anwendung)
Diese beiden Punkte sind selbsterklärend: Sie bilden das zentrale Gegenstandsfeld der Soziolinguistik, wenn auch die Auswahl und Gewichtung der Bedingungskontexte in einzelnen soziolinguistischen Konzepten unterschiedlich ausfallen mögen (→ Kap. I.2). Auch sei in Rechnung gestellt, dass sich eine gewisse Abhängigkeit von der tagespolitischen Aktualität und von konjunkturellen Schwankungen einstellen kann, der wissenschaftspolitisch entgegenzusteuern ist.
3.Mehrdimensionalität der sprachlichen Variation
Die aktuelle Variationsforschung, auf die sich das linguistische Forschungsinteresse der jüngeren Zeit konzentriert (s.v.a. Barbour/Stevenson 1998, Häcki Buhofer 2000, Eichinger/Kallmeyer 2005) legt nahe, dass die Fixierung auf einen einzelnen außersprachlichen sozialen Faktor, z. B. Raum (›Dialekt‹), Schicht (›Soziolekt‹), Geschlecht (›Genderlekt‹) oder Alter (›jugendsprachliche Varietät‹), wie es in den Bezeichnungen: Dialekt, Genderlekt oder auch Jugendsprache zum Ausdruck kommt, der Komplexität von Sprachvariation nicht gerecht werden kann.
4.Bedeutung subjektiver Faktoren
Zur Mehrdimensionalität sprachlicher Variation sind subjektive Faktoren wie Spracheinstellungen, subjektive Wahrnehmung und Selbstverortung u. a. zuzurechnen, um nicht von einem zu mechanistischen Wirkungsverhältnis sozialer Aspekte auszugehen. Allerdings ist auch in dieser Subjektivität eine sozial-kollektive Dimension eingeschrieben.
5.Einflüsse auf Gegenwartsdeutsch bzw. SprachwandelSprachwandel
Soziolinguistische Einflüsse auf Sprachwandel spielen in einzelnen Konzepten eine unterschiedliche Rolle. Manche beschränken sich auf Auswirkungen bei Individuen oder Familien, andere greifen makrosoziologische Kontexte auf. Solchen Überlegungen werden wir im Teil III des Bandes nachgehen.
6.Empirie, v. a. in interaktionalen Kontexten
Soziolinguistische Beschreibungen und Erklärungen sollten empirisch gestützt erfolgen, ohne von einer Dominanz einzelner Forschungsmethoden auszugehen. Vielmehr erscheinen Methodenkombinationen heute der sicherste Weg, Vorteile und Nachteile einzelner quantitativer und/oder qualitativer Verfahren auszugleichen (→ Kap. I.3).
Die genannten Faktoren sind auch hilfreich bei der Abgrenzung der Soziolinguistik v. a. von der VarietätenlinguistikVarietätenlinguistik: So stehen die ersten beiden Faktoren sowie der vierte Faktor in der VariationslinguistikVariationslinguistik weit weniger im Fokus als in der Soziolinguistik.
Die vorliegende Darstellung folgt generell weitgehend einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise und hebt dabei insbesondere drei wesentliche soziolinguistische Themenschwerpunkte und ›Kerngebiete‹ der Soziolinguistik hervor (vgl. Neuland 2016):
Sprachgebrauch und soziale Schichten
Sprachgebrauch und Geschlecht
Sprachgebrauch und MigrationMigration
Diese entsprechen den jeweiligen soziokulturellen Bedingungskontexten:
BildungskriseBildungskrise und soziale Ungleichheit (ab den 1960er/70er Jahren)
FrauenbewegungenFrauenbewegung und SprachpolitikSprachpolitik (ab den 1970er/80er Jahren)
MigrationMigration und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit (ab den 1980er/90er Jahren)
Weitere Themenschwerpunkte sind in jüngerer Zeit hinzugetreten wie:
Sprachgebrauch der Generationen im Bedingungskontext von JugendbewegungenJugendbewegung und der kulturellen und medialen Inszenierungen von GenerationsbildernGenerationsbilder wird später noch ausführlicher erörtert (→ Kap. II.4)
Ost-West-DifferenzenOst-West-Differenzen im deutschen Sprachgebrauch (→ Kap. II.3)
urbane Sprachformen, die mit Problemen der StadtentwicklungStadtentwicklung verbunden sind (→ Kap. II.2.4)
neuere Entwicklungen im Bereich DigitalisierungDigitalisierung und Sprachgebrauch in sozialen Medien (vgl. v. a. Androutsopoulos 2014; → Kap. II.8)
soziolinguistisch relevante Aspekte sprachlicher Umgangsformen (→ Kap. II.9)
Der Bezug wissenschaftlicher Modelle auf aktuelle soziokulturelle Bedingungskontexte birgt allerdings auch eine Gefahr bzw. demonstriert ein Dilemma, und zwar hinsichtlich einer Dominanz tagespolitischer Moden und konjunktureller Schwankungen zu Ungunsten der wissenschaftlichen Entwicklung und Kontinuität. Dies hat sich in der Soziolinguistik der deutschen Sprache im vergangenen Jahrhundert zumal am Beispiel der Sprachbarrierenthematik, der ›Frauensprache‹ und der ›Jugendsprache‹ gezeigt, worauf noch verwiesen werden wird.
Dabei werden im Verlauf der folgenden Darstellungen viele der soziolinguistischen Grundbegriffe und soziologischen Konzepte erwähnt und erweitert, die in den Kapiteln II und III im internationalen Handbuch Soziolinguistik aufgeführt werden (Ammon et al. 2004/5).
Ein wichtiges Themenfeld, das der historischen Soziolinguistik, können wir in diesem Kontext leider nicht aufgreifen und ausführlicher erörtern. Es sei zumindest darauf hingewiesen, dass die Verbreitung der Schrift und damit der Zugang zu Bildung und gesellschaftlichem Aufstieg sowie die Sprachgeschichte ›von unten‹ zentrale soziolinguistische Momente darstellen, die eine ausführliche Darstellung verdient hätten (vgl. dazu die Forschungen von Maas, z. B. 2003, 2005, Elspaß 2005).
Die frühen Entwicklungen der Soziolinguistik in der Bundesrepublik Deutschland fanden in einem historisch besonderen fach- und bildungspolitischen Kontext statt: Die Krise der geisteswissenschaftlichen Disziplin der Germanistik und der BildungsnotstandBildungsnotstand begünstigten die Entwicklung der Soziolinguistik in Deutschland, ihr frühes auf soziale Ungleichheit gerichtetes Erkenntnisinteresse wie aber auch ihre pädagogische Verwertung. In der Konsolidierungsphase weitete sich ihr Gegenstandsfeld vor allem auf die Bereiche Sprachgebrauch und Geschlecht sowie Sprachgebrauch und Migration Migrationaus; ebenso erweiterte sich das Methodenspektrum. Kulturgeschichtlich lassen sich soziolinguistische Themenschwerpunkte mit soziokulturellen Entwicklungen in Deutschland verbinden. Zur Bestimmung des engeren Gegenstandsfelds der Soziolinguistik werden sechs zentrale Aspekte zur Diskussion gestellt.
Auer, Peter (2015): Die Geschichte der germanistischen Soziolinguistik in Deutschland: eine Skizze. In: Eichinger, Ludwig (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin/Boston, 379–405.
Dittmar, Norbert (2004): Forschungsgeschichte der Soziolinguistik (seit Verwendung dieses Ausdrucks). In: Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J./Trudgill, Peter (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/New York, 698–721.
Neuland, Eva (2016): Dimensionen der germanistischen Soziolinguistik: Rückblick und Ausblick auf den Sprachgebrauch der Generationen. In: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.): Germanistische Soziolinguistik und Jugendsprachforschung. München, 9–35.
Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J. /Trudgill, Peter (Hg.) (2004/05): Soziolinguistik, Ein internationals Handbuch der Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. Aufl.Berlin/Boston.
Androutsopoulos, Jannis (2014): Mediatization and sociolinguistic change. Key concepts, research traditions, open issues. In: ders. (Hg.): Mediatization and sociolinguistic change. Berlin, 3–48.
Auer, Peter (2015): Die Geschichte der germanistischen Soziolinguistik in Deutschland: eine Skizze. In: Eichinger, Ludwig (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin/Boston, 379–405.
Bach, Adolf (1950/1934): Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgabe. 2. Aufl. Heidelberg.
Barbour, Stephen/Stevenson, Patrick (1998): Variation im Deutschen. Soziolinguistische Perspektiven. Berlin.
Beneke, Jürgen (1986): Die jugendspezifische Sprachvarietät – ein Phänomen unserer Gegenwartssprache. In: Linguistische Studien. ZISW/A Berlin H.140, 1–82.
Bielefeld, Hans-Ulrich/Hess-Lüttich, Ernest W.B./Lundt, André (1977): Soziolinguistik und Empirie. Beiträge zu Problemen der Corpusgewinnung und –auswertung. Wiesbaden.
Braun, Peter (1979): Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Sprachvarietäten. Stuttgart.
Currie, Harver C. (1952): A projection of sociolinguistics: the relationship of speech and social status. In: Southern Speech Journal 18:1, 28–37.
Dahrendorf, Ralf (1965): Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg.
Der Deutschunterricht 1/2004: Sprachvariation im heutigen Deutsch, hg. v. Eva Neuland.
Der Deutschunterricht 4/2017: Soziolinguistik, hg. v. Eva Neuland/Peter Schlobinski.
Dittmar, Norbert (1973): Soziolinguistik. Exemplarische und kritische Darstellung der Theorie, Empirie und Anwendung. Frankfurt/M.
Dittmar, Norbert (1997): Grundlagen der Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch mit Aufgaben. Tübingen.
Dittmar, Norbert (2004): Forschungsgeschichte der Soziolinguistik (seit Verwendung dieses Ausdrucks). In: Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J./Trudgill, Peter (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin/New York, 698–721.
Donath, Joachim/Schönfeld, Helmuth (1978): Sprache im sozialistischen Industriebetrieb: Untersuchungen zum Wortschatz bei sozialen Gruppen. Berlin.
Eichinger, Ludwig/Kallmeyer, Werner (Hg.) (2005): Standardvariation. Wieviel Variation verträgt die deutsche Sprache? Berlin.
Elspaß, Stephan (2005): Sprachgeschichte von unten: Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. Tübingen.
Felder, Ekkehard (2016): Einführung in die Varietätenlinguistik. Darmstadt.
Häcki Buhofer, Annelies (2000) (Hg.): Vom Umgang mit sprachlicher Variation. Soziolinguistik, Methoden, Wissenschaftsgeschichte. Tübingen/Basel.
Hager, Friedjof/Haberland, Hartmut/Paris, Rainer (1973): Soziologie und Linguistik. Die schlechte Aufhebung sozialer Ungleichheit durch Sprache. Stuttgart/Hamburg.
Hartung, Wolfdietrich (1977): Sprachkultur als gesellschaftliches Problem und als linguistische Aufgabe. Wiederabdruck in: Wimmer, Rainer (1985) (Hg.): Sprachkultur. Düsseldorf, 70–81.
Heinemann, Margot (1989): Kleines Wörterbuch der Jugendsprache. Leipzig.
Herrmann-Winter, Renate (1979): Studien zur gesprochenen Sprache im Norden der DDR. Soziolinguistische Untersuchungen im Kreis Greifswald. Berlin.
Klein, Wolfgang/Wunderlich, Dieter (Hg.) (1971): Aspekte der Soziolinguistik. Frankfurt/M.
Kloss, Heinz (1978/1952): Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800. 2., erw. Aufl. Düsseldorf.
Kolbe, Jürgen (Hg.) (1969): Ansichten einer künftigen Germanistik. München.
Kursbuch (24/1971): Schule, Schulung, Unterricht.
Lämmert, Eberhard/Killy, Walther/Conrady, Karl Otto/v. Polenz, Peter (1967): Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt/M.
Löffler, Heinrich (2016): Germanistische Soziolinguistik. 5. neu bearb. Aufl. Berlin.
Maas, Utz (2003): Alphabetisierung. Zur Entwicklung der schriftkulturellen Verhältnisse in bildungs- und sozialgeschichtlicher Perspektive. In: W. Besch et al. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Bd. 2, 3. Teilbd. 2. Aufl. Berlin 2003, S. 2403–2418.
Maas, Utz (2005): Übergang von Oralität in Literalität in soziolinguistischer Perspektive. In: Ammon, Ulrich et al. (Hg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch. Bd. 2, Berlin, 2147–2170.
Mogge, Brigitta/Radtke, Ingulf (Hg.) (1982): Schulen für einen guten Sprachgebrauch. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Bd. 3. Stuttgart.
Moser, Hugo (Hg.) (1971): Sprache und Gesellschaft: Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Düsseldorf.
Neuland, Eva (2016): Dimensionen der germanistischen Soziolinguistik: Rückblick und Ausblick auf den Sprachgebrauch der Generationen. In: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.): Germanistische Soziolinguistik und Jugendsprachforschung. München, 9–35.
Picht, Georg (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe, Analyse und Dokumentation. Freiburg.
Roeder, Peter Martin/Pasdzierny, Artur/Wolf, Willi (1965): Sozialstatus und Bildungserfolg. Bericht über empirische Untersuchungen. Heidelberg.
Rolff, Hans G. (1969): Sozialisation und Auslese durch die Schule. Heidelberg.
Rosenkranz, Heinz/Spangenberg, Karl (1963): Sprachsoziologische Studien in Thüringen. Berlin.
Roth, Heinrich (Hg.) (1969): Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen. Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission. Bd. 4. 4. Aufl. Stuttgart.
Schlieben-Lange, Brigitte (1973): Soziolinguistik. Eine Einführung. Stuttgart.
Schönfeld, Helmut (1983): Zur Soziolinguistik in der DDR. Entwicklung, Ergebnisse, Aufgaben. In: Zeitschrift für Germanistik 4:2, 213–222.
Simon, Gerd (Hg.) (1974): Bibliographie zur Soziolinguistik. Tübingen.
Sinner, Carsten (2014): Varietätenlinguistik. Eine Einführung. Tübingen.
Spitzmüller, Jürgen (2022): Soziolinguistik. Eine Einführung. Stuttgart.
Sprachbarrieren. Beiträge zum Thema Sprache und Schichten (1972): Verf. v. Mitgliedern des stud. Seminars Soziolinguistik. Bochum WS 1969/70. 6. korr. u. erw. Aufl. Hamburg.
Steger, Hugo (1971): Soziolinguistik. Grundlagen, Aufgaben und Ergebnisse für das Deutsche. In: Moser, Hugo (Hg.): Sprache und Gesellschaft. Düsseldorf, 9–44.
Veith, Werner H. (2005): Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch. 2. Aufl. Tübingen.
Wegener, Philipp (1880): Über deutsche Dialectforschung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 11, 450–480.
Wenker, Georg (1881): Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland. Auf Grund von systematisch mit Hülfe der Volksschullehrer gesammeltem Material aus circa 30000 Orten. Straßburg/London.
Wrede, Ferdinand (1903): Der Sprachatlas des Deutschen Reichs und die elsässische Dialektforschung. In: Wrede, Ferdinand (1963): Kleine Schriften, hg. v. Berthold, Luise/Bernhard, Martin/Mitzka; Walther. Marburg, 309–324.
Im folgenden Kapitel wollen wir uns grundlegenden Forschungsparadigmen und wesentlichen Theorieansätzen zuwenden, die für die Entwicklung der Soziolinguistik in Deutschland bedeutsam sind. So ist die in den 1960er Jahren einsetzende Entwicklung der Forschungen zur gesprochenen Sprache und zur mündlichen Kommunikation eine wichtige Voraussetzung für die systematische Beschäftigung mit sozialen Einflüssen auf den Sprachgebrauch. In den 1970er Jahren traten verstärkt Forschungen zur linguistischen Pragmatik und Kommunikationsforschung hinzu. An dieser Stelle werden die beiden wesentlichen Forschungskontexte der subjektiven Faktoren (SpracheinstellungenSpracheinstellung) und der soziolinguistische Einfluss auf SprachwandelSprachwandel erörtert. Die linguistische Erfassung der sprachlichen Variation im sozialen KontextKontext soll anhand wesentlicher Theoriekonzepte (Code-Theorie Bernsteins, Variationslinguistik Labovs, Ethnographie der Kommunikation (Hymes) und interaktionale Linguistik (Gumperz), Sprachsoziologie von Fishman) vorgestellt werden. Einige vergleichende Überlegungen schließen das theoretische Kapitel ab.
Die NormspracheNormsprache in der Sprachwissenschaft war, von wenigen, v. a. dialektgeographischen Ausnahmen abgesehen, seit jeher die Schriftsprache (written language biaswritten language bias). Erst in den 1960er Jahren setzte im deutschen Sprachraum eine systematische Erforschung der gesprochenen Sprache ein, da mittlerweile auch die technischen Voraussetzungen zur Aufnahme und Speicherung der mündlichen Sprachdaten gegeben waren. Nach einer Phase der Kontrastierung geschriebener und gesprochener Sprache begann bald auch die TranskriptionTranskription, Dokumentation und Erforschung von sprechsprachlichen Texten in alltäglichen Verwendungszusammenhängen (→ Kap. II.4). In den 1970er Jahren traten verstärkt Forschungen zur linguistischen Pragmatik und Kommunikationsforschung hinzu, die weitere Anregungen für soziolinguistische Fragestellungen boten. Damit war ein fruchtbarer Impuls für die empirische Sprachforschung verbunden.
Die Freiburger Forschungsstelle des Instituts für deutsche Sprache veröffentlichte eine Reihe: Texte zur gesprochenen deutschen Standardsprache I–III, darunter der Band III: Alltagsgespräche (hg. v. Fuchs/Schank 1975). Deren Beschreibung und Klassifikation erfolgte mit Hilfe redekonstellativer Merkmale im Rahmen des RedekonstellationskonzeptRedekonstellationskonzepts (Deutrich/Schank 1973, Schank/Schoenthal 1983). Die Zuordnung eines konstanten Merkmalsinventars erwies sich allerdings als einem dynamischen Prozessverlauf und den variierenden Strukturen und Funktionen von Gesprächen unzulänglich (Neuland 1980). Mit der sich seinerzeit auch in Deutschland verbreitenden Gesprächs-Gesprächsanalyse bzw. KonversationsanalyseKonversationsanalyse (vgl. dazu Wunderlich 1976, Dittmann 1979; → Kap. I.3.4) lagen angemessenere Analysemöglichkeiten vor.
Neuland demonstrierte das an Beispielen aus Gesprächen mit einer Arbeiterfamilie:
Beispiel: »Punkt zwölf muss et Essn auf’m Tisch stehn!«
(nach Neuland 1981)1
Merkmale gesprochener Sprache
Variabilität und MultimodalitätMultimodalität
BedeutungskonstitutionBedeutungskonstitution und BeziehungsdefinitionBeziehungsdefinition im Gespräch
Im Unterschied zu der durch die OrthographieOrthographie weitgehend einheitlich geprägten geschriebenen Sprache hatte sich die SprechspracheSprechsprache kaum durch Vorgaben der HochlautungHochlautung regeln lassen. UmgangsspracheUmgangssprache, soziale und regionale Einflüsse waren vielmehr ausschlaggebend, hinzu traten paraverbale und nonverbale Kommunikationsmittel, für die unterschiedliche NotationsNotation- und Beschreibungssysteme entwickelt wurden. Das angeführte Gesprächsbeispiel lässt z. B. die folgenden soziolektalen und dialektalen Merkmale erkennen:
Regionalsprachliche Lautungen aus dem RuhrgebietsdeutschRuhrgebietsdeutsch:
auslautendes /s/ wird als Verschlusslaut realisiert: watt und datt,
anlautender FrikativFrikativ /j/ wie in jetzt wird als Verschlusslaut /g/ ausgesprochen: gezz,
Vokaldehnung vor silbenauslautendem /r/: auf`e Aabeit
die im Mündlichen übliche Kontraktionen und Verschleifungen: um’e Ecke, in’ne Schule, nämmich
SpirantisierungSpirantisierung auslautendes /g/ wie in fertich
Verwendung sozialer Topik:soziale Topik
’n paar Pfennige nebenbei verdienen, sich de Hörner stumpf laufen, dee eine hat datt un dee andere hat datt
Ersatz der finalen Subordination: damit durch: um datt.
Zu Beginn der transkribierten Gesprächsphase wird sogleich eine Bedeutungsdifferenz zwischen den Eheleuten sichtbar, indem die angesprochene Ehefrau C ihre Arbeitstätigkeit des Putzens anders definiert als ihr Mann W und es dadurch zu kontroversen Antworten auf die Frage von E kommt (W1: ja. C1: nein). In der Fortsetzung von W: (N’bisken nebenbeiputzn) wird dann genauer definiert, dass mit der ›Arbeit‹ kein hauptberufliches Vollzeitarbeitsverhältnis, sondern eine stundenweise Nebentätigkeit gemeint ist. Aus den anschließenden Erläuterungen beider Eheleute wird auch eine positive Selbstdarstellung ersichtlich, dass man die günstigen Gegebenheiten zu nutzen weiss: (un da kann se sich ja da noch’n paar Pfennige nebenbei verdienn (W3)), womit auf ein sozialtypisches kollektives Erfahrungsmuster verwiesen wird.
Aufschlussreich für die Beziehungskonstellation der Eheleute ist die Tatsache, dass W sich für die Beantwortung der Frage an seine Frau zuständig erklärt. Im weiteren Gesprächsverlauf ergreift er immer wieder die Rede als dominanter Gesprächspartner, der Redebeiträge und Beitragsversuche seiner Frau überhört und ein neues Subthema initiieren will, bis es zum Widerstand seiner Frau mit einer anschließenden offenen Eskalation kommt. Diese Dominanz reflektiert zugleich die geschlechtspezifischen Machtverhältnisse zwischen den Eheleuten. Die hier nur unzureichend wiedergegebene starke emotionale Beteiligung der Frau zeigt sich in ihrer erhöhten Lautstärke, in starken Akzentsetzungen, einer zweigipfligen Interjektion (C13: hijaa!) und schließlich auch in einem Stilwechsel zu einer drastischen Lexik:
C23: Hat man’t Essn fertich, watt wird et: kalt! Fressen se’t nich, weil se gesoffn haben, nä? Ja, wofür kocht man dann? … Damit man’t anschließend im Klo schmeißn kann, nä?
Die Linguistik der gesprochenen Sprache und mündlichen Kommunikation hat mittlerweile feinere Möglichkeiten der Widergabe solcher Gesprächsverläufe entwickelt. Nach den anfänglich eher taxonomisch angelegten Übersichten (v. a. Schwitalla 2012, Fiehler et al. 2004) dokumentieren sie inzwischen genauer die interaktiven Prozesse (v. a. das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT von Selting u. a. 2009). Das anfangs als GesprächslinguistikGesprächslinguistik bezeichnete Verfahren (Henne/Rehbock 2001), mittlerweile überwiegt Konversationsanalyse (Erfassung der sprechereigenen emergenten Gestaltung von Redebeiträgen, die in Interaktionsprozessen formale konstruktive Muster bilden, vgl. z. B. Birkner et al. 2020) firmiert mittlerweile unter dem Terminus der InteraktionslinguistikInteraktionslinguistik als pragmatisch fundierte Beschreibung von Interaktionsprozessen in Gesprächen, die von den beobachtenden Teilnehmern rekonstruiert werden (z. B. Deppermann 2008). Auf die Tradition dieses Ansatzes in der Ethnographie der Kommunikation werden wir später noch genauer eingehen. Mit der Wahl unseres Beispiels heben wir jedoch eine genuin soziolinguistische Beschreibungs- und Herangehensweise hervor.
Die Interaktionslinguistik untersucht das Sprechereignis in seiner Situationsbezogenheit entsprechend der gemeinsam hergestellten sequenziellen Struktur des Kommunikationsablaufs (vgl. Selting/Couper-Kuhlen 2000, Imo 2013, Imo/Lanwer 2019). Das obige Gesprächsbeispiel dokumentiert auch einen wichtigen Punkt der Verletzung konditioneller Relevanzenkonditionelle Relevanz zwischen der wiederholten, einen impliziten Vorwurf enthaltenen Äußerung der Ehefrau in C5: Punkt zwölf muss et Essn auf`m Tisch stehn! und der Folgeäußerung des Ehemannes in W7 (Un genau wie wer sachten vorhin schon mit de de Eltern (…). Dieser fehlt dagegen mit dem Rückgriff auf einen schon zuvor erwähnten und gemeinsam abgehandelten Themenbereich jede inhaltliche und pragmatische Bezugnahme auf die Vorgängeräußerung seiner Frau. Damit setzt er zwar lokal eine neue Gesprächsphase mit einem neuen Handlungsschema durch (Erläuterungen über allgemeine Probleme der Hausaufgabenbetreuung abgeben), doch lässt sich die weitere Dynamik des Gesprächsverlaufs bis zur Eskalation global ohne diesen KooperationsverstoßKooperationsverstoß nicht erklären.
Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass der besondere StilStil dieses Gesprächs mit Hilfe der SozialstilistikSozialstilistik beschrieben werden kann. Für einen solchen Zugang eignet sich eine pragmatische Sicht von Stil als Erwartungshaltung und mit zusätzlicher Bedeutung versehen weitaus eher als eine allein nach Förmlichkeitsgraden der Sprechsituation unterscheidende Auffassung von KontextstileKontextstiln im Sinne Labovs. Im Unterschied zu Varietäten, aber auch zu RegisterRegistern, die hauptsächlich grammatisch und lexikalisch bestimmt werden, weisen soziolinguistische Stilesoziolinguistische Stile als Ausdrucksformen sprachlichen wie nichtsprachlichen Handelns überdies auch paralinguistische und nonverbale Merkmale auf. Für einen soziolinguistischen Stilbegriff, der für die Jugendsprachforschung fruchtbar gemacht werden konnte (vgl dazu Neuland 2018; → Kap. II.4), hält Dittmar (1997: 225ff.) die expressive Funktion für wesentlich; Kallmeyer (2000: 266ff.) hebt ihre Funktion als Mittel der sozialen Positionierungsoziale Positionierung von Sprechern hervor. Dies zeigt sich insbesondere bei der Analyse größerer Interaktionseinheiten und kommunikativer Handlungsmusterkommunikative Handlungsmuster wie Erzählen oder Lästern und Frotzeln.
Die subjektive Bewertungsdimension und die SpracheinstellungenSpracheinstellung (language attitudes) haben seit den Anfängen in der Soziolinguistik bei Labov eine bedeutende Rolle gespielt. Methoden und Probleme ihrer Erfassung werden vorgestellt, ebenso ihre Anwendung in verschiedenen soziolinguistischen Forschungsschwerpunkten.
Als ›objektive‹ Daten galten in der Geschichte der modernen Linguistik zwar die sprachlichen Äußerungen der Informanten selbst, nicht aber ihre Äußerungen über Sprache, die von einem positivistischen Wissenschaftsverständnis aus als subjektive Daten verpönt wurden (vgl. dazu Neuland 1993). Obwohl die begriffliche Trennung von ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Sprachdaten methodologisch zunehmend problematischer wurde, sind bislang kaum Beschreibungskategorien und Analysemethoden für den Umgang mit ›subjektiven‹ Faktoren entwickelt worden.
SprachgefühlSprachgefühl, SpracheinstellungenSpracheinstellung und SprachbewusstseinSprachbewusstsein sind Forschungsgegenstände einer Soziolinguistik der Sprache, die die sozialen Bedingungen und Wirkungen des Sprachgebrauchs nicht nur in ihren äußerlich manifesten Erscheinungsweisen erforschen, sondern auch die Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit im Bewusstsein von Sprechern und Hörern berücksichtigen will.
Erkenntnisse über Sprachvariation und SprachwandelSprachwandel sprechen für die Bedeutsamkeit der subjektiven, gleichwohl sozial vermittelten und kollektiv vorhandenen Faktoren der SpracheinstellungenSpracheinstellung für SpracherwerbSpracherwerb und Sprachlernen, Sprachverwendung und SprachkonflikteSprachkonflikt, SpracherhaltSpracherhalt und SprachverlustSprachverlust. So können Sprachgebrauchsweisen subjektive wie gemeinsam geteilte Eindrücke und Stereotypen auslösen und, je nach Situation und KontextKontext, Auswirkungen auf gesellschaftliches Ansehen, Schulerfolg und beruflichen Aufstieg ausüben (vgl. z. B. Neuland 1993; Plewnia/Rothe 2011).
Einstellungen oder Attituden bezeichnen nach Allports frühem Ansatz (1935) eine auf Erfahrung beruhende Verhaltensbereitschaft gegenüber sozialen Objekten, die mit kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Aspekten zusammenhängen. Der MehrkomponentenansatzMehrkomponentenansatz enthält:
kognitive Komponenten
wie auf Sprache bezogene klassifizierende Konzepte und laienlinguistische Kategorien, wie z. B. schwäbeln oder sächseln, wie vom Dorf sprechen, hört sich ungebildet an
affektive Komponenten
wie Gefühlsempfindungen wie Sympathie/Antipathie, z. B. Schauer auf dem Rücken und abwertende Zuschreibungen bei Soziolekten und Dialekten
verhaltensbezogene Komponenten
wie Übernahme oder Ablehnung von Sprechweisen, Kontaktsuche oder Kontaktvermeidung von Sprechern
Einstellungen sind demnach verdeckte, aber erschließbare Größen. Selbst nicht direkt beobachtbar, lassen sich doch ihre einzelnen Komponenten externalisiert als metasprachliche Äußerungen über Meinungen, Gefühle und Verhaltensbereitschaften operationalisieren. Einstellungen stellen keine fixen Persönlichkeitsmerkmale dar; vielmehr sind sie als gesellschaftlich vermittelte Produkte sozialer Lernprozesse veränderbar und in ihrer Aktualisierung von situationsbedingten Faktoren abhängig (Triandis 1975, Bierbrauer 1976, Bohner 2002).
Zu den sprachlichen Auslösefaktoren gehören v. a. Erfahrungen mit unüblichem, von der Sprachnorm abweichendem Verhalten, wie sie im Umgang mit Sprachvarietäten, v. a. Dialekten und Soziolekten, mit MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, beim ZweitspracherwerbSpracherwerb etc. auftreten. Während die strukturalistische Linguistik solche subjektiven Daten nicht ernst genommen und als unwissenschaftlich beiseitegeschoben hat, bilden sie seit Anbeginn ein wichtiges Forschungsfeld der Soziolinguistik. Folgende Schwerpunkte können unterschieden werden:
Labov hatte Tests zur ›subjektiven Bewertung‹ entwickelt, mit denen die Reaktion von Probanden auf bestimmte linguistische Variablen des Nonstandards erfasst werden sollten (→ Kap. I.3). Zur Klassifikation dienten Skalen der Berufseignung (Fernsehansager, Lehrer, Bürovorsteher, Verkäufer, Postbeamter, Vorarbeiter, Fabrikarbeiter), Skalen der Härte/toughness (von knallharter Killer über Durchschnittstyp bis zu Niete und Memme) und FreundschaftsskalenFreundschaftsskalen (von sicher über wahrscheinlich bis nie) sowie Skalen zur kulturellen Selbstzurechnung (von Allah und Bruder über Farbiger bis zum knallharten Schweinefleischfresser) (Labov 1976/1978: 74ff.). Auch die ›Doppelrollen‹-TechnikDoppelrollen-Technik (matched guise-Technikmatched guise-Technik) setzte Labov ein, um subjektive Reaktionen auf kritische Variablen von SprachwandelSprachwandel zu erforschen (Labov 1976/1978: 302ff.). Das wird in Kapitel I.3 näher ausgeführt.
Dabei verweist er auf die Forschungen des kanadischen Psychologen Wallace Lambert (1960, 1969), der die matched guise-Technik zur Beurteilung von Sprachen in multilingualen Gesellschaften wie z. B. Englisch und Französisch in Kanada entwickelt hatte. Für die Sprachsoziologie und die Fragen von Sprachwahl, SpracherhaltSpracherhalt und -verlust sind die sozialen Einstellungen wichtige Bedingungsfaktoren, um Prestige und StigmaStigma von Sprachen und Varietäten genauer bestimmen zu können. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt lässt sich auf den Sozialpsychologen und Linguisten Howard Giles (1970, 1987) zurückführen, der sich mit evaluativen Reaktionen auf Sprachstile beschäftigt hatte.
In der germanistischen Soziolinguistik Deutschlands hat die Spracheinstellungsforschung mit ihren Auswirkungen im pädagogischen KontextKontext leider nur wenig Resonanz gefunden. Allerdings findet sie in der sozialen Dialektologie, insbesondere der Perzeptiven Dialektologie, neue Aufmerksamkeit (→ Kap. II.2).
Subjektive Faktoren wirken zugleich als wesentliche Variablen der Fremd- wie Selbsteinschätzung und beeinflussen auch den eigenen Sprachgebrauch. Sie weisen dem Individuum eine aktive Rolle beim sprachlichen Handeln zu; sie wirken allzu deterministischen Vorstellungen des Einflusses gesellschaftlich-historischer Kontexte auf den Sprachgebrauch entgegen und öffnen das Blickfeld für mehrdimensionale Variation.
Zumal im Bereich der soziolinguistischen Jugendsprachforschung lässt sich sehr nachdrücklich die Wirkung subjektiver Faktoren belegen: So können sich Jugendliche durch die Nutzung von Fachwörtern z. B. als Experten für einen bestimmten Straßensport oder für eine bestimmte Musikrichtung ausweisen, durch den Gebrauch von Regionalismen ihre Ortsgebundenheit demonstrieren, durch provozierende sprachliche Derbheiten und Obszönitäten Härte symbolisieren und sich als Nonkonformist oder Macho stilisieren (vgl. Neuland 2018). Dies verdeutlicht die sozialsymbolische, identifikatorische Funktion von subkulturellen Sprachstilen (→ Kap. II.4).
Die Rolle subjektiver Faktoren wird aber nicht nur in der Jugendsprachforschung deutlich; vielmehr spielen sie eine wichtige Rolle in der soziolinguistischen Genderlinguistik, nimmt man den nicht nur in der feministischen Linguistik geäußerten Wunsch nach dem ›Mitgemeint-sein-wollen‹ ernst. Studien wie die von J.Klein (1987) veranschaulichen die psycholinguistischen Auswirkungen des generischen Sprachgebrauchs (→ Kap. II.3).
Konstitutiv scheinen subjektive Faktoren schließlich für die Wahrnehmungsdialektologie, die die subjektiven Empfindungen und Meinungen der Sprachteilhaber zum Ausgangspunkt ihrer Forschungen nimmt (→ Kap. II.2).
Im KontextKontext von Schule und Sprachunterricht spielt schließlich die kritische Auseinandersetzung mit Stereotypen und Vorurteilen eine zentrale Rolle beim sozialen Lernen und der Reflexion über Sprache (→ Kap. III.1).
Soziolinguistik und Sprachwandelforschung weisen viele Überschneidungsbereiche auf. Sie betreffen vor allem die Ausbreitung von sozialen oder auch regionalen Sprachvarianten in die Gemeinsprache; allerdings sind nicht alle Sprachwandelphänomene soziolinguistisch motiviert. Dazu gehören v. a. Aspekte des syntaktischen Wandels, wie die Unterscheidung des epistemischen vom faktischenweil (Keller 1993) und des korrektiven vom restriktivenobwohl (Günthner 1999) sowie des phonetischen Wandels, wie z. B. die Kürzung und eventuelle Entspannung eigentlich langer, gespannter Vokale, z. B. Omega [o:mega oder Ɔmɛga] (vgl. Colliander 2012). Darauf werden wir in diesem Band nicht weiter eingehen.
In der Sprachwandelforschung wird ›externen‹ Faktoren unterschiedliches Gewicht gegenüber sprachinternen Faktoren beigemessen. Für eine soziolinguistische Betrachtungsweise spielen soziale Faktoren wie Generation, Geschlecht, Migration entscheidende Rollen. Schon von Polenz hatte in seiner Sprachgeschichte ein Kapitel den sozialen oder regionalen Sprachvarianten gewidmet und z. B. Einflüsse der älteren Studentensprache sowie der jüngeren Jugendsprache auf die Gemeinsprache festgestellt (1999: 454ff.). Auch Besch und Wolff spüren dem Einfluss von Varietäten des Deutschen auf die Gemeinsprache in ihrer Sprachgeschichte nach (2009: 107ff.).
Aus soziolinguistischer Sicht hatte sich Labov, wie noch gezeigt werden wird (→ Kap. I.4.2), in mehreren Studien mit sozialen Faktoren von SprachwandelSprachwandel beschäftigt. Dabei berücksichtigte er neben sozialen Schichten und der sozial stratifizierten Bewertung sprachlicher Variablen Faktorenkomplexe wie Alter, Migration und ethnische Gruppen, lokale Identität bzw. Gruppenidentität als ZugehörigkeitskategorienZugehörigkeitskategorien sowie schließlich auch die Rolle der Frauen mit ihrer Sensibilität für Prestigeformen (→ Kap. II.3). Weiterhin unterschied er zwei Typen von Prozessen der Verbreitung sprachlicher Innovationen: und zwar den Druck von oben, der sich hauptsächlich auf sprachpolitische Maßnahmen (v. a. durch neue Normvorschriften) bezieht und bewusst verläuft, sowie den Druck von untenDruck von unten, der sich eher spontan und unbewusst vollzieht. Mittels subjektiver Reaktionstestssubjektive Reaktionstests und der matched guise-Verfahren (→ Kap. I.3.2.2) wurden phonologische Merkmale wie die FrikativformFrikativ des /th/ und das postvokale /r/ als Prestigevarianten der oberen Mittelschicht analysiert. Die These von der HyperkorrektheitHyperkorrektheit der unteren Mittelschicht als Zeichen sprachlicher Unsicherheit und als Faktor von SprachwandelSprachwandel konnte insbesondere für formellere Sprechsituationen bestätigt werden.
Auch im deutschen Sprachraum können sprachliche Einflüsse auf die Gemeinsprache wie Alter bzw. Generation, Geschlecht, Migration und Gruppenidentitäten festgestellt werden (ausführlich → Kap. III.3). Während jedoch der angeblich negative Einfluss Jugendlicher und ihrer informelleren Sprachstile auf die Standardsprache in der Öffentlichkeit oft übergewichtet (→ Kap. II.4) und der Einfluss von Migration als Russendeutsch, Türkendeutsch oder Kanaksprache verunglimpft wird, ist demgegenüber der Einfluss von genderbezogenen Sprachstilen und speziell des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs zweifellos größer als gemeinhin angenommen (→ Kap. II.3).
Die vielfach empfundene soziale Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in der Sprache wurde zum Anlass für sprachpolitische Forderungen genommen, die z. B. in Empfehlungen zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch bzw. zur sprachlichen Gleichstellung mündeten. Diesen Forderungen wird heute durchwegs im öffentlichen und politischen Raum Rechnung getragen. Ein weiterer Einfluss geht von der Digitalisierung aus und wird später noch ausführlich dargestellt (→ Kap. III.3).
Eichinger (2018) hebt in einer Übersicht über Entwicklungen im Deutschen insbesondere Neuerungstendenzen im Wortschatz, Subkultur und neue MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit sowie Veränderungenim grammatischen System hervor. »Die neuen Medien, jugendkulturell Lockeres, an modernen Lebensstilen und nicht autochthonen Kulturen Orientiertes, international Gängiges und in den Medien Präformiertes« zeigen sich in den Veränderungen, weiterhin : »politisch korrekte Reaktionen (Fracking, Inklusionsklasse) und entsprechende Lebensstile (grüner Smoothie, Vöner, Helikoptereltern), neue Elektronik und Medien (Fingerwisch, Selfie) und Aspekte aktuell modernen Lebens (Freistoßspray, Pop-up-Restaurant)« spiegeln sich im Wortschatz des modernen Lebens wider. (2018: 14) Dazu werden die klassischen Wortbildungsmuster der Deutschen verwendet wie vor allem die Komposition, aber auch Kontaminationen und Kurzwörter (GroKo). (vgl. dazu auch das Neologismen-Wörterbuch des IDS (www.owid.de), Steffens/Al-Wadi 2013 sowie Eisenberg 2013).
Das Veränderungspotential mit der Tendenz zunehmender sprachlicher Lockerung bei gleichzeitiger fachlicher Diversifizierung hängt mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen, die Eichinger (2018: 16) wie folgt gruppiert:
Neue, bis dahin als marginal angesehene Sprechergruppen beanspruchen Gehör in der Öffentlichkeit (u. a. Jugendkulturen),
zunehmende BinnenmehrsprachigkeitMehrsprachigkeit als Folge von Arbeitsmigration,
Ausdifferenzierung und Omnipräsenz klassischer und elektronischer Medien.
Die zunehmende InformalisierungInformalisierung des Sprachgebrauchs zeigt sich nicht nur in der Lexik, sondern auch in alltäglichen sprachlichen Umgangsformen, v. a. der Anrede, Begrüßung und Verabschiedung, wie die entsprechende Studie von Neuland (2015) mit dem Passe-partout-Wort: Hallo demonstriert (→ Kap. II.9).
Auf einige soziolinguistisch bedeutsame Aspekte von SprachwandelSprachwandel werden wir am Ende des Bandes genauer eingehen (→ Kap. III.3).
Zu den vier überwiegend aus der US-amerikanischen Forschung stammenden Theorieansätzen, die Dittmar (1997) in den Grundlagen der Soziolinguistik aufzählt:
Soziale Dialektologie oder Variationslinguistik,
Sprachsoziologie,
Ethnographie der Kommunikation,
Interaktionale Soziolinguistik,
wollen wir die Sprachbarrierenforschung hinzurechnen, die sich in Großbritannien entwickelt hat und großen Einfluss auf die Soziolinguistik der deutschen Sprache ausgeübt hat (→ Kap. II.1). Dabei müssen wir uns aus Platzgründen auf jeweilige Hauptvertreter und auf einige Grundgedanken und Grundbegriffe beschränken, wodurch der Aspektreichtum der jeweiligen Ansätze leider nur verkürzt und in Auswahl dargestellt werden kann.
Der britische Soziologe Basil Bernstein (1924–2000) hat sich mit den Sprachfähigkeiten von Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und dem Zusammenhang mit der Schulbildung beschäftigt. In seinen Schriften entwickelte er seit Ende der 1950er Jahre die These, dass der Bildungs- und Aufstiegserfolg von Gesellschaftsmitgliedern entscheidend vom Grad der Wohlorganisiertheit ihrer Sprachverwendung abhängt (Dittmar 1973: 1). In diesem Zusammenhang traf er die Unterscheidung einer ›öffentlichen‹ SpracheSpracheöffentliche der sozialen Unterschicht und einer ›formalen‹ SpracheSpracheformale der Mittelschicht, die er in späteren Schriften als restringierten (RC)Coderestringierter und elaborierten CodeCodeelaborierter (EC) bezeichnete. Die durch die Sprache vermittelte unterschiedliche soziale Erfahrung deutet Bernsteins Orientierung an der Sapir-Whorf-Hypothese an, auf die er selbst mehrfach verweist.
Bereits in den frühen Schriften nimmt er eine Beschreibung der beiden Sprechweisen vor, die starke linguistische Kritik auf sich gezogen hat, wie er auch selbst in der Einleitung zu seinen Schriften konstatiert (z. B. 1972: 42). Besonders die Merkmalslisten des restringierten CodesCoderestringierter gleichen einer Mängelliste (1972: 88). Das hat mit dazu geführt, den Bernstein’schen Theorieansatz als DefizitkonzeptionDefizitkonzeption zu bezeichnen, da die Unterschichtangehörigen über eine geringere sprachliche Variationsbreite zu verfügen scheinen: »Diese zentrale Annahme, daß die Unterschichtsprache unqualifizierter und beschränkter als die Mittelschichtsprache ist, wollen wir im folgenden Defizit-Hypothese nennen.« (Dittmar 1979: 1)
Schon in seinen frühen Schriften präsentiert Bernstein Charakteristika der beiden Codes (Tab. I.2.1).
Es verwundert die unklare Begrifflichkeit, die Vermischung linguistischer und psychologischer Charakterisierungen, die Schlichtheit des Schichtungsmodells, der hohe Allgemeinheitsgrad und Verallgemeinerungsanspruch sowie vor allem die mangelnde empirische Validierung und der offensichtliche Wertungsmaßstab.
Empirische Validierungsversuche stammen eher von späteren Schülern und Mitarbeitern Bernsteins (wie Coulthard, Hawkins, Henderson, Lawton). Bernstein selbst hatte seine Daten auf eine Stichprobe von 61 5–18jährigen Besuchern der Berufsschule (Arbeiterschichtgruppe) und 45 in Alter und Geschlecht gleichgesetzten Besuchern von Public Schools bezogen, die alle eine freie Diskussion zum Thema ›Abschaffung der Todesstrafe‹ durchführten. Untersuchungsvariablen waren u. a. Häufigkeit und Länge von Sprechpausen, Gesamtlänge der Äußerungen, Anzahl und Klassifikation einzelner Wortarten, v. a. von Personalpronomen. Die Anlage der Untersuchung und die Analyse wurden einer detaillierten Kritik unterzogen (vgl. v. a. Dittmar 1973: 58ff., Neuland 1975: 44ff.).
Selbst wenn man bedenkt, dass der Autor nicht auf linguistische Vorbilder oder Traditionen zurückgreifen konnte, kann man der zusammenfassenden Kritik an den Merkmalslisten der linguistischen Codes von Dittmar (1973: 24) nur zustimmen:
Sie geben nur sehr global an, welcher Natur Unterschiede zwischen den zwei Sprechweisen sein können.
Die Trennung zwischen linguistischer Ebene und anderen Ebenen ist nicht geklärt.
Die Charakterisierungen gehen von Normvorstellungen aus, die weder gesellschaftlich hinterfragt noch durch ein explizites wissenschaftliches Modell gerechtfertigt werden.
öffentliche Sprache
formale Sprache
1
Kurze, grammatisch einfache und oft unvollständige Sätze, die das Aktiv betonen.
Genaue grammatische Struktur und Syntax regulieren das Gesagte
2
Einfacher und sich wiederholender Gebrauch von Konjunktionen
Grammatisch komplexe Satzkonstruktionen und der vielfältige Gebrauch von Konjunktionen und Relativsätzen
3
Häufiger Gebrauch kurzer Befehle und Fragen.
Häufige Verwendung von Präpositionen, die auf eine logische Beziehung und auf einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang verweisen.
4
Häufiger Gebrauch von Adjektiven und Adverbien.
Differenzierende Verwendung von Adjektiven und Adverbien.
5
Gelegentlicher Gebrauch von unpersönlichen Fürwörtern als Subjekte von Bedingungs- und Hauptsätzen.
Häufige Verwendung unpersönlicher Fürwörter.
6
Fragen implizierende Feststellungen, die eine »sympathetische Zirkularität« in Gang bringen.
7
Begründungen und Folgerungen werden zu einer kategorischen Behauptung vermengt.
8
Häufig individuelle Auswahl aus einer Gruppe idiomatischer Wendungen.
Ein Sprachgebrauch, der auf die Möglichkeiten verweist, die sich in einer komplexen Begriffshierarchie zur Einordnung von Erfahrungen finden.
9
Angewandte Symbole weisen eine niedrige Allgemeinheitsstufe auf.
Expressive Symbole mit der Funktion, eher das Gesagte zu untermalen, als dessen Inhalt in logischer Hinsicht verständlicher zu machen.
10
Die individuelle Qualifikation liegt implizit in der Satzorganisation: Es ist eine Sprache impliziter Bedeutungen.
Die individuelle Qualifikation wird durch die Struktur und die Beziehungen innerhalb und zwischen den Sätzen vermittelt. Es handelt sich somit um eine explizite Qualifikation
Tab. I.2.1: Bernstein-Thesen zur öffentlichen und formalen Sprache (1972/1959: 88f.) (gekürzt und kontrastiv geordnet v. E.N.)
Auch die später eingeführten Merkmale: universalistisch (EC)universalistisch vs. partikularistisch (RC)partikularistisch sowie geringe (EC) vs. hohe Vorhersagbarkeit Vorhersagbarkeit(RC). tragen nicht zu einer grundlegenden Klärung bei. Umso mehr verwundert die unkritische bis euphorische Rezeption der Begrifflichkeit wie der Thesen Bernsteins zur damaligen Zeit, die sich angesichts der weiter vorn skizzierten wissenschafts- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen (→ Kap. I.1) vielleicht nur aus dem Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Bestätigung offensichtlich schichtspezifischer Differenzierungen des Homogenitätsmodells erklären lassen.
So ist schon der postulierte Zusammenhang sozialer und sprachlicher Aspekte bei Bernstein diffus geblieben. In folgendem Schaubild hatte er versucht, diesen für die Entwicklung der Soziolinguistik wesentlichen Kernpunkt zu klären:
Abb. I.2.1: Auswirkung der Sozialstruktur auf linguistische Codes (Bernstein 1972/1959: 249)
Hier finden sich an den entscheidenden Stellen (von B nach C oben sowie innerhalb von A) Pfeile an Stellen theoretischer Explikationen. Bernsteins Code-Theorie bleibt trotzdem weiterhin eine spannende These und Herausforderung für die Sprachwissenschaft – bei aller Plausibilität seiner Ausführungen zu möglichen Folgen sozial unterschiedlicher Sprechweisen, die sich mit Mitteln der interaktionalen Kommunikationsforschung heute präziser beschreiben lassen. Auf Bernsteins Ausführungen zur sprachlichen Sozialisation werden wir in Kapitel II.1 näher eingehen.
Zur breiten Bernstein-Rezeption in Deutschland haben zweifellos die zahlreichen Studien beigetragen, die Grundgedanken Bernsteins aufgriffen und auf den deutschen Sprachraum übertrugen. Dazu zählt vor allem die Arbeit: Sprache und soziale Herkunft (1970) des Soziologen Ulrich Oevermann. Darin formuliert er als Generalhypothese:
Zwischen Kindern der Mittelschicht und der Unterschicht zeigen sich im Sprachverhalten Unterschiede, die mit der theoretischen Interpretation der linguistischen Merkmale in der Dimension »restringiert« – »elaboriert« übereinstimmen.
Diese Unterschiede zwischen der Unterschicht und der Mittelschicht bestehen unabhängig vom Niveau der gemessenen Intelligenz. (1970: 94)
Diese Hypothesen sollten anhand von Aufsätzen in einer sechsten Realschulklasse mit künstlich gepaarten Unterschicht- und Mittelschichtkindern überprüft werden, und zwar mit einer Liste von insgesamt 89 Variablen, die unter fünf theoretischen Gesichtspunkten subsummiert waren (Komplexität, Differenzierung, Individuierung und Abstraktionsniveau).
Wie die minutiöse Ergebnisdarstellung zeigt, weist nur ein Teil der Variablen signifikante soziale Unterschiede auf, und zwar vor allem im Hinblick auf die syntaktische Komplexitätsyntaktische Komplexität. Im sonstigen KontextKontext genereller Kritikpunkte (wie schriftsprachliches Material aus dem schulischen Kontext, fragwürdige Schichtzuweisungen und Variablenauswahl) rechtfertigt das nicht unbedingt den Schluss einer Bestätigung Bernsteins Theorie, besonders im Hinblick auf das vermeintliche Defizit im Sprachgebrauch von Unterschichtangehörigen.
Die kritische Bernstein-Rezeption wurde in der Bundesrepublik schon bald auf die Polarisierung Defizit- vs. Differenzkonzeption konzentriert, für die der US-amerikanische Soziolinguist William Labov als Kronzeuge galt. Dittmar stellt die beiden unterschiedlichen Konzepte idealtypisch einander gegenüber (1973: 129f.):
Defizitkonzeption
Differenzkonzeption
Normatives Vorgehen
Deskriptives Vorgehen
Einseitige Fixierung auf die Analyse schichtenspezifischen Sprachgebrauchs
Untersuchung von Sprachvariation auf der Mikroebene verbaler Interaktion
Sprache der Mittelschicht (MS) leistet mehr als die Sprache der Unterschicht (US)
Sprachliche Varietäten sind funktional äquivalent
Schwerpunktmäßiger Einbezug kognitiver Aspekte, Anlehnung an Sprachrelativismus
Weitgehende Ausklammerung kognitiver Aspekte
Beschreibung des Sprachgebrauchs in einseitigen formalen Testsituationen, v. a. im schulischen Kontext
Erforschung des formalen-informalen Kontinuums natürlichen Sprachgebrauchs in unterschiedlichen sozialen Kontexten
Rolle des Sprachgebrauchs für den sozialen Erfolg von Sprechern, beschränkte Anzahl sozialer Parameter, gerichtete Hypothesen
Sämtliche durch Intervention sozialer Parameter verursachten sprachlichen Differenzierungen, ungerichtete Hypothesen
Tab. I.2.2: Defizit- vs. Differenzkonzeption (Dittmar 1973: 129f., gekürzt v. E.N.)
Den Defiziteffekt erklären die Anhänger der Differenzkonzeption als Folge eines ›middle class biasmiddle class bias‹ in soziolinguistischen Erhebungs- und Analysemethoden sowie mit unzureichenden linguistischen Analysen der Systematik nonstandardsprachlichen Sprachgebrauchs.
Ein wichtiger Punkt in diesem Modell ist die soziale Bewertung sprachlicher Erscheinungsformen(PrivilegierungPrivilegierung, StigmatisierungStigmatisierung) und deren mögliche Folgen für den SprachwandelSprachwandel, der stärker in den Fokus gerückt wird. Entscheidend bleibt darüber hinaus die These der funktionalen ÄquivalenzÄquivalenzfunktionale von unterschiedlichen Ausdrucksformen.
Dittmar (1973: 131ff.) setzt sich ausführlich mit Grundbegriffen, Traditionen und theoretischen Konzepten zur Beschreibung von Sprachvariation auseinander. Löffler (2016: 30ff.) verfolgt Aspekte der Schichtungstheorie und der Handlungstheorie einschließlich subjektiver Komponenten in der Weiterentwicklung der ursprünglich einfachen ›Code-Theorie‹ zu einer komplexen ›Varietäten-Linguistik‹. Nabrigs (1981: 9) spricht von einer ›Wiederentdeckung‹ der sprachlichen Heterogenität und zeichnet einen Paradigmenwechsel (›variationist paradigm‹, seit Bailey 1971) nach. W. Klein (1976: 30f.) postuliert: »die Variation als wesentlichen Zug einer jeden Sprache, nicht bloß als Störfaktor, zu sehen, sie in die Sprachtheorie einzubeziehen und geeignete Methoden zu ihrer genauen Erfassung zu entwickeln.«
William Labov hat seit den frühen 1960er Jahren bahnbrechende Untersuchungen über Lautwandel und soziale Stratifikation des Englischen durchgeführt. Dabei ging es um die Realisierung des postvokalischen Phonems /r/ in von unterschiedlichen sozialen Schichten besuchten Kaufhäusern in New York City. Seine innovative Methodologie begründet er mit Prinzipien des Studiums der ›Sprache im sozialen KontextKontext‹ (1976/1978). Methodologische Axiome, darunter: Stilwechsel, Aufmerksamkeit, Regionaldialekt, Förmlichkeit führen ihn zur Formulierung des bekannten Beobachterparadoxons (→ Kap. I.3).
Auf methodologische Aspekte werden wir im folgenden Kapitel I.3 zurückkommen; hier soll der konzeptionelle Ansatz der ›Sozialen DialektologieSoziale Dialektologie‹, teilweise auch als ›korrelative Soziolinguistikkorrelative Soziolinguistik‹ bezeichnet, genauer verfolgt werden (vgl. dazu Labov 1976/1978). Seiner Ansicht nach war das Schichtgefüge der New Yorker Stadtsprache nicht mehr mit der traditionellen Dialektologie beschreibbar; vielmehr vertritt er die These, dass »das Englisch von Schwarzen und Weißen ein Kontinuum von Varietäten darstellt, die in den Formen erhebliche Kontraste aufweisen, aber gleichwertigen kommunikativen Funktionen/Normen entsprechen.« (Dittmar 1997: 53). Soziolinguistische VariablenSoziolinguistische Variable