Spaltenzungen - Norman Liebold - E-Book

Spaltenzungen E-Book

Norman Liebold

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Beschreibung

Als der Vater stirbt und sein Rauch gegen die Morgensonne steigt, genügt ein falscher Blick in den Spiegel, um alles in Frage zu stellen, und Anderwelt durch die Ritzen kriechen zu lassen. Hinter der Tür der Abstellkammer lauert Karl, der Wirbelsturm und zerfetzt befreit die gewohnte Welt, in der leerstehenden Nachbarwohnung kauert Karon, der Denkmalstützer, und hindert das Dachgebälk seit Jahren mit letzter Kraft am Zusammensturz - um endlich loszulassen. Der Besitz wirbelsturm-zerrissen, die Heimat eingestürzt, beginnt eine Odyssee in einem altertümlichen Boot, quer durch die Nebel zu seltsamen Ufern mit noch seltsameren Gestalten, eine symbolischer Bilderreigen - mal tiefsinnig schürfend, mal skurill witzig, eine Immrama altirischen Stiles, die bis ins Klebermeer und in den Bauch des Riesenfisches Iascon führt, durch den magnetischen Spiegel dort und schließlich in weitem Kreis zurück in die Wirklichkeit. Ein Abenteuer- und Rätselbuch, das Mythen und Legenden mit modernen Bildern verschmilzt und den Leser auf eine spannende, nachdenkliche und unterhaltsame Reise schickt.

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Norman Liebold

SPALTenzUNGEN

- NeuZeitMärchen - 
mit Illustrationen von
Katharina Theine und Norman Liebold

Dritte, korrigierte Auflage April 2009. [2005, 2008] Amator Veritas Buch Nr. XXXVIII.

Illustrationen von Norman Liebold (Tusche) und Katharina Theine (Graphit).

Copyright © 2008

Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.

Printausgabe: ISBN-13: 978-3-937330-24-0 eBook-Ausgabe: ISBN-13: 978-3-937330-46-4

Meinem Vater.Er liebte Flüsse, Schiffe und große Fische.

Scherben

Noch einmal schlafen, haben wir als Kinder immer gedacht und uns zugeflüstert am Vorweihnachtsabend. An diesem Vorweihnachtsabend klagte Vater über leichte Rückenschmerzen, das war zwei Monate, nachdem sein rechtes Auge erloschen war.

Nach dem einen Mal noch Schlafen ging Vater nicht zum Abort. Er kroch auf allen Vieren, seine Knie waren zu weich zum Stehen. Bis zum Heiligabend saß er auf der Couch vorm Plastik-Weihnachtsbaum, sein Lächeln war gequält. Mutter drückte die Tränen zurück, bewies aber Improvisations-Talent: Um Vater ins Schlafzimmer zu bekommen, wurde ein Stuhl auf doppelt gelegte Decken gestellt, neben die Couch gezogen und Vater drauf gehievt.

Es muss komisch ausgesehen haben: Vater, der Pascha, thronend auf altem Küchenstuhl, Sohn davor, Frau dahinter, ziehend, schiebend, schleifend. Die Konstruktion, sonst bei den unzähligen Umzügen der Familie hilfreich, brachte Vater ins Bett — meine dreizehn Monate Dienst im Altenheim halfen ihm in eine bequeme Schlaflage.

Am ersten Weihnachtsfeiertag war kein Leben mehr in Vater unterhalb des dritten Brustwirbels, sein Unterleib war bleich und aufgebläht. Vielleicht der Ischias, meinte der erste Notarzt. Das gibt sich wieder. Der zweite schaffte ihn mit Blaulicht auf den Venusberg.

Ich war ihm Schwester, an den Feiertagen ist man unterbesetzt in den Unikliniken. Es ist nicht einfach für einen zweiundsechzigjährigen Offizier, vom Sohn ausgezogen und wie ein Kadaver herumgewälzt zu werden. Er war nur Scham, nichts sonst. Ich sah ihn zum ersten Male weinen.

Am Abend sägte man ihm das Rückgrat auf.

Mit dem ICE zehn Minuten vorher war der Bruder noch gekommen, stolz blickten Vaters Augen von der Liege vor dem OP: Das sind meine Söhne, beide Künstler.

Die Operation, wurde gesagt, sei gut verlaufen.

Tumor im Spinalkanal, leider querschnittsgelähmt. Streukrebs sehr wahrscheinlich, die Lunge auch befallen. Der aufgeblähte Bauch — die Leber möglicherweise, genau könnte man das noch nicht sagen.

Ich war jeden Tag dort, er war meistens müde, sein Lächeln gequält auf grauem Gesicht. Es ist nicht einfach für einen zweiundsechzigjährigen Offizier, nie krank gewesen, nie Gefühl gezeigt, wenn er zum Pissen jemanden rufen muss. Er drehte sich weg, damit niemand die Leere sah in seinen Augen.

Am dritten Tag fand ich ihn nicht. Wir haben ihn verlegt, kommen Sie. Im Einzelzimmer, drei Türen weit entfernt, waren Schläuche überall, Piepsen, Schmauchen, Beatmungsmaschinerien. Was ist passiert? — Können wir nicht sagen, er bekam keine Luft mehr, letzte Nacht.

Vater war ein Greis. Eingefallen weißstoppelig die Wangen unter pergamenten überspanntem Jochgebein. Die Lider halboffen, blicklos das Auge. Angesprochen waren seine Worte ohne Zusammenhang. Ein halbgelungenes Lächeln, drückte man ihm die Hand.

Die Angel weit über den Fluss schleudernd. Adlerscharf die wasserblauen Seemannsaugen, unzähl‘ge Fältchen im Augenwinkel. Er hat gern gelacht.

Zwei Stunden, und man brachte ihn in ein andres Krankenhaus.

Man will nicht, dass er hier stirbt, sagte Mutter am Telefon.

Ein klarer Moment im Martinshorn, plötzlich wieder mit Kraft die Hand in meiner, weiß die Knöchel unter Altersflecken, keine drei Tage alt.

Vierzehn Jahre, dass wir aus der Heimat sind, nicht einmal zurückgegangen. Man zerbrach mich da, jetzt bin ich zerbrochen — es ist eine Schande, Sohn, ich würd gern noch einmal die Auen der Mulde seh‘n, die Bilder Deines Bruders.

Die klare Stimme murmelt, brabbelt, das Aug erlischt, ein siecher Körper ohne Geist.

Einmal noch, mit einem Lächeln, im neuen Bett, war das Auge klar, einen Augenblick. Die Frau, über vierzig Jahre neben ihm, an seiner Rechten, ein Händedruck.

Ich weiß, da ließ er los.

Ich dacht — rührselig, ich weiß — ein alter Indianer, der nicht mehr will und lässt.

Man hat ihm sein Leben genommen, vierzehn Jahre ist es her. Gefragt Frau und Kinder oder Rang und Ehre, war seine Stimme fest.

Man zerrte ihm den Boden unter den Füßen weg. Die Schulterklappen, die sein halbes Leben waren, riss man von ihm herunter und spuckte drauf.

Er senkte den Kopf und sagte nichts, als er innen drin zerbrach.

Drei Jahre drauf ging, wer den Schuldlosen auf der Straße angespuckt, in feindlicher Uniform vorbei und grinste feist.

Mein Vater trugs, er trug immer schwer, man kann viel sagen: Er ging, wie er lebte. Leise, anständig, von stillem Stolz. Er klagte nicht, als sein rechtes Auge erlosch aus Ärzte-Dummheit. Er klagte nicht, als man ihn über diesen und jenen Tisch nicht zog, sondern zerrte.

Er lächelte und blieb leise. Nur die feinen Falten an den Augen, sie wurden tief und lachten immer weniger.

Jetzt war er zerbrochen, dass er nicht mehr aufrecht stehen konnt‘, und nichts mehr tragen, und nicht mehr gehen. Um zu pissen, würd er klingeln müssen. Das Buch, dass er mit einem Auge vielleicht lesen wollt‘, er könnt‘s nicht selber vom Nachttisch greifen. Nein, ich weiß: Eh er laut nach Hilfe ruft, geht er lieber, Last zu sein war stets seine größte Last.

Er ist eingeschlafen, hatte keinen Schmerz, sagte man um drei Uhr.

Er ist gegangen, bevor er, mehr als einmal in der Mitte durchgebrochen, noch den Rest verlor. Das sage ich.

Mein Vater ist am Ende gegangen, wie er im Leben ging: Leise, aber mit erhob‘nem Haupt.

Ich ließ ihn in Holland verbrennen. Holland liebte er. Er sagte: Ein schönes, freies Land, und so viel Meer. Der Sarg wäre ganz nach seinem Geschmack gewesen. Ganz schlicht, ganz echt. Helle, frische Kiefer, die stark und würzig nach Harz roch. Mein Vater mochte Kiefern, er mochte den Geruch, wenn wir Angeln fuhren oder in die Pilze gingen. Ich schlug mit Beitel und Holzhammer selbst die Beine vom Sarg. Niemand Fremdes soll die Beine von meines Vaters Sarg schlagen. Wenn schon Krach da drinnen, dann durch mich.

Ich war allein, als mein Vater leise surrend in die Grube fuhr, wo unten die Öfen brennen. Es war ganz früh. Nicht, dass wir in die Rush-Hour kommen, sagte der Mann von Institut.

Durch die Fenster sah man die Welt in Silbergrau, wie Vater sie liebte. Nebel über Wiesen am Fluss, Weiden, Raureifüberzogen wie sein Bart.

Violettstielige Rötelritterlinge, dachte ich, könnte es da geben — als Kind fuhren wir nach Neujahr zu den Hundewiesen, wo sie wuchsen, auch so früh am Morgen: Vaters Lieblingspilz, blanchiert mit Öl und Zwiebeln köstlicher Salat, die Farbe war wunderbar, fast wie der Himmel über dem Nebel, als die Brenner mit leisem Dröhnen Asche zu Asche brannten.

Ich trat nach draußen. Der Rauch, der aus dem Schornstein ging, war Vaters Rauch. Sein Wasser wurde Nebel, Wolke, schaute fliehend zurück auf silbergraue Wiesen, vielleicht mit Rötelritterlingen unter rötelritterlingsfarbenem Morgenhimmel.

Das war der Moment, als die Sonne durch den Nebel brach. Nicht hier unten bei mir, ich stand in Silbergrau mit Raureif am Fuß. Aber da oben, wo dem Loch der Esse Vaters Rauch entstieg, ließ erstes Morgensonnenpurpurrot Vaters Rauch erglüh‘n. Das Feuer am Fluss, neben den Angeln, hatte manchmal so rot geglüht.

Es war ein Morgen, wie er ihn liebte. Ein Morgen, wo man noch vor dem Hahn aus den Federn steigt, Pilzmesser im Korb oder Angel in der Hand durch die Nebel über weite Wiesen geht — der Tau tropft von den Stiefeln, und mit Schaudern dankt man wem auch immer, wenn die erste Morgensonnenwärme die Nebelkälte aus den Gliedern treibt.

Mein Vater ging, wie er stets gegangen ist, still, mit einem Zwinkern neben seeblauem Aug. Er ließ der Welt ihre Wunder und störte sie nicht, er nahm das Kind leise an der Hand, legte den Finger auf die Lippen und zeigte nur mit Blick voraus, wo der Fuchs in den Nebeln schnürt. Er sagte nicht Oh!, er sagte nicht Schau dort!, er lächelte nur still und zeigte. Der Fuchs blickte nur kurz auf, ehe er weiterschnürte. Und die Welt war Wunder und blieb wunderbar.

Kein Priester sprach, keine Tonnen abgeschnitten welkender Blumen umlagerten den Sarg. Für einen Moment durchstrahlte Morgensonne seinen Rauch, vor blauem Himmel über silbergrauen Nebelwiesen. Die Luft roch leise nach Kiefernharz, Raureif glitzerte, und über die Wiese schnürte rötlichgolden ein Fuchs und schaute kurz herüber, als wollt er grüßen.

Mutter putzte die Wohnung, als ich kam, den Pappkarton mit dem Logo des Krematoriums im Arm. Er war nicht schwer, drei, vier Kilo, mehr ist nicht dran am Menschen, und da ist schon harzduftend verbranntes Kiefernholz mit drin. Man hatte, was nicht kleingebrannt war, mit mühlsteinartiger Vorrichtung zu Granulat zerrieben, und in eine schwarze Aschekapsel abgefüllt — blech, mit Aluminium-Deckel und eingestanzten Nummern.

Mutter schwankte, als sie die Kapsel in die Stube brachte, sie hielt sich am Spiegelrahmen fest, im Flur, und er löste sich von der Wand und zerschlug am Boden.

„Ich mach das schon“, sagte ich, meine Stimme war erstickt.

Sie brannte die Kerze an, die ich ihr gab, und stellte die vier Kilo Vater-Granulat auf die Kommode. Ich sammelte die Spiegel-Scherben ein. Das muss an Neujahr gewesen sein. Ich denke immer Neujahr, denk ich daran.

*

Wenn man zwei Spiegel hat, und den Einen im Anderen sieht, schmeckt man einen Scherben Unendlichkeit. Vielleicht ist es auch ein Hinein-Schauen, vielleicht ein Tor, Törchen, Türchen, Schlupfspalt für Ichweißnichtwas.

Zwei Scherben hielt ich, eine in der Rechten, eine in der Linken. Schaute ich in den Scherben, sah ich den anderen, und mich zugleich – im Profil, mit Tränen im Auge. Und in der Spiegelung des Scherbens im Scherben sah ich die Spiegelung, wie sie sich spiegelte — Scherben hinter Scherben, ohne Ende. Und ganz hinten, ganz klein, da, wo es zu klein wird – ein Schatten, der bewegte sich, ich strengte mein Auge an — seeblau mit den ersten Fältchen im Winkel. Der Schatten, er tat etwas, hinten, in der letzten Scherbe. Er hielt zwei Scherben, einen in der Rechten, einen in der Linken. Und schlug den Einen auf den Anderen.

Kann man einen Spiegel im Spiegel zerbrechen? fragte ich mich.

Der Schatten, der Scherben auf Scherben schlug, er war Einbildung, glaube ich, aber das Gefühl der Enge in mir, das war echt. Ich meine, gerade eben hatte ich Vaterasche im Pappkarton herumgetragen, jetzt betrachtete ich in Spiegelscherben mein Profil — und sah doch ihn. Ich bin ihm aus dem Gesicht gesägt, dieselben Augen, dieselbe Nase, selbst der Bart, wenn auch nicht Raureiffarben.

Ich schaute hoch, blickte in den leeren Spiegelrahmen — braune Hartfaserplatte — und sah mich selbst.

Von vorn, als wär noch ein Spiegel drin.

Ich drehte mich, und im Glas der Wohnzimmertür sah ich — mein Spiegelbild. In der Wand, im Boden, in der Decke, überall. Ich war von mir umgeben, und in jedem Spiegel spiegelten sich die Spiegel, bildeten Korridore in jede Richtung, unendlich sich widerspiegelnd, egal, wohin ich auch schaute.

Ich rannte auf die Straße, und Asphalt und Himmel, Bürgersteig und Häuserwand, selbst der rauhe Stein der Stadtmauer — Spiegel.

Ich sah auch Menschen. Sie standen vor seltsamen Rahmen und starrten hinein und bewegten ihre Hände, aber ihre Hände waren leer. Ich trat hinter einen, schaute über die Schulter, und vor ihm, im Rahmen, war ein Spiegel. Er sprach mit ihm, stritt sich mit sich selbst, ich weiß nicht, was er sah — in seinem Spiegel sah ich mich hinter ihm, und sein Gesicht war auch das Meine.

Ich hatte Wochen kaum geschlafen, jetzt war etwas vorbei, die Pflicht erfüllt, Vater war nach Hause gebracht und stand auf der Kommode, der Schlaf forderte sein Recht: Ich kippte einfach zwischen die Spiegelscherben und träumte einen Alp. Mager war er, lederhäutig mit schwarzen Borstenhaaren und Hundeschnauze. Er kauerte ganz hinten in den Korridoren, da, wo die Spiegel-Spiegelung zu klein wurde, ihn richtig zu erkennen. Hockte grinsend da, zwei Scherben in der Hand, schlug die eine auf die Andere und würde sie schlagen, bis sie zerbrächen.

Vor mir, kaum zu erkennen vor Spiegelungen und Korridoren, wo Spiegelrahmen um Spiegelrahmen Tunnel machten mit dem Alp am Ende, stand ein Spiegel wie ein Tor, der hatte keine Spiegelrahmen-Tunnel. Er spiegelte nur die Straße hinter mir, ohne die Rahmen mit den Menschen davor, ohne Korridore, ohne mein Gesicht überall. Ein Fenster in die Wirklichkeit.

Ich trat drauf zu, mein Fuß sträubte sich zu gehen: Unter mir fühlte ich zwar Asphalt fest und körnig, mein Auge aber blickte in Brunnenschächte, senkrechte Tunnel mit Gewölberippen von Spiegelrahmen, jeder Schritt war Schritt über dem Nichts, einen Sturz weit vom Hundeschnauzenalp mit Borstenhaar und Spiegelscherbenmesser.

Der Spiegel vor mir, das Spiegeltor, schien mir weniger Spiegel als die Welt: Er zeigte nur die Straße, schwarzen Asphalt mit Häusern dran und Himmel drüber — keine Gesichter, keine Spiegelkorridore und Hundealpe.

Ich legte meine Hand an das kalte, glatte Glas.

Wenn es kühl ist und Ihre Geliebte sich duscht, wenn die Duschkabiene beschlagen ist, und sie eine Hand aufs Glas stützt — dann sieht man sieht nichts, nur die Handfläche, die winzigen Kringel, Schleifen, Kreise an den Fingerspitzen, die Kissen des Handballens.

So drückte sich von der anderen Seite eine Hand gegen meine. Dunkelbraun, haarig, mit Krallen — eine Hunde-Hand. Sie löste sich von meiner, wischte, wischte den Beschlag weg, wischte die Straße fort. Aus Hundeschnauze blickten mir Augen entgegen, die keine waren: Wie Spiegel waren sie, metallen schimmernd füllten sie den Raum unter den Lidern. Und hinter ihm war etwas, das erfüllte mich mit Grauen. Ein riesiger Raum, eine Insel in einem schwarzen See, unterirdisch, die Höhle ein riesiges, rotfeuchtbebendes Gewölbe, Adern zogen sich baumdick hindurch und pulsten, ich sah eine Wirbelsäule und Rippen, die zogen sich von den Seiten herab — das Innere eines Brustkorbs, in einem seltsam zitterndem Licht. Und über allem war ein Dröhnen, langsam, dumpf und wie ein riesiges Herz.

„Kann man einen Spiegel im Spiegel zerbrechen?“ fragte der Alp, lederhäutig mit Borstenhaar.

Ich taumelte zurück, drehte mich um, er war auch hinter mir, rechts und links. Der eine Spiegel war zur Glocke geworden, rings um mich herum, der Alp schaute von Überall, es schien, als grinste er.

„Ich bin Anderich.“

„Verschwinde!“ schrie ich und erwachte.

Zitternd lag ich zwischen Spiegelscherben. Meine rechte Hand war voll Blut, im Traum hatt‘ ich sie um das scharfe Glas gespannt. Mutter rief meinen Namen und schlug mir ins Gesicht.

Nichts ist so schwer zu finden wie ein Anfang.

Es gibt keine Anfänge.

Unendlich verzweigen unsere Wurzelfäden sich, bis sie zu fein geworden sind, als dass man sie noch sehen könnte — und selbst da knüpft das Myzel des Pilzgeflechtes sich an, ein Netzwerk bildend zwischen allen Bäumen: Kein Baum steht allein.

Ich weiß nur, dass ich an jenem Abend zu einer alten Freundin fuhr, drei Flaschen spanischen Reserva in der Tasche, achtundneunziger.

*

Man sollte niemals einen Besenschrank öffnen, wenn man nicht ganz genau weiß, was man tut.

Das ist ein guter Rat, den man beherzige sollte: Man öffne keine Abstellkammer, wenn Anderich aus dem Spiegel grinst. Man öffne keine Kisten, wenn ein naher Mensch stirbt und man es erst noch verstehen muss. Man mache nicht mal die Türchen im alten Adventskalender auf, wenn die Liebste nach fünf Jahren Glück einfach geht. Und wenn man merkt, wie das Gestern auf Hundepfoten hinter einem drein tapst, dann lasse man sogar die Finger vom Hosenstall: Anderich lauert überall und wartet auf eine Tür.

Ob es einfach an den drei Flaschen Rotwein lag, oder ob es Schicksal war, kann ich nicht sagen, sicher ist jedoch, dass ich am späteren Abend nicht mehr nüchtern war und meinen Rotwein in roter Lache über den Teppichboden goss.

Recht unsicher auf den Beinen ging ich zuerst auf alle Viere, dann in die Knie und schließlich, mich an Wand, Tisch und Stühlen haltend, hinüber zu der kleinen Tür unter der Schräge. Eine dieser winzigen Abstellkämmerchen, wo Eimer und Lappen und Flaschen mit Chemikalien drinnen stehen.

Ich öffnete sie, hatte die Hand schon nach Eimer und Lappen ausgestreckt – aber hinter der Tür war kein Eimer. Auch war kein Lappen. Und Chemikalienflaschen waren auch nicht zu sehen.

Ich blickte mitten in einen Sturm.

Über sattgrünen Weiden und bleifarbenem Fluss spannte sich ein Malstrom aus Violett und Blitz, ein letzter Sonnenfleck schwamm einen Augenblick im Wipfel einer Eiche, dann war ein Brüllen, Fauchen, Brechen und wie ein großes Tier warf der Sturm sich auf mich zu, raste über Weide, Baum und Fluss — ich knallte die Tür zu und sank zu Boden, den Rücken am Holz der Abstellkammer. Vor meinem inneren Auge sah ich das Tier Sturm die Tür wie Blatt im Wind wegfegen, es würde mich verschlingen wie einen Regentropfen, ein Blatt im Fluss, vom Strudel eingesaugt.

„Was ist denn mit Dir los?“ fragte die alte Freundin. „Bist ja ganz blass.“ Sie lachte. „Ist Dir der Wein nicht gut bekommen?“

Ich lächelte ein wenig gequält — was sollt‘ ich sagen? Meine Liebe, wusstest Du: Da ist ein Sturm in Deiner Abstellkammer? Im Rücken spürte ich es rütteln, das Holz zerrte in den Angeln, ich stemmte die Füße in den Teppichboden, krallte die Finger in den Rahmen der Tür — es war mir peinlich, ich wusste nicht wieso.

„Soll ich einen Eimer holen?“

„Neinnein, es geht schon.“ Der Eimer stand hinter mir, im Abstellkämmerchen, und ich wusste doch: Da war kein Abstellkämmerchen mehr, da war nur Fauchen, Brechen, stürmisch Brüllen, bleiern Fluss, windzerrupfte Weiden. Etwas pfiff, ich glaub, im Schlüsselloch — mir blies etwas ins Ohr, ein Windhauch ging über meinen Hals, dann hörte die Türe auf, im Rahmen zu zittern und zu rütteln.

„Lass mich mal da ran“, sagte die alte Freundin, schob mich beiseite und machte die Abstellkammer auf. Ich krümmte mich in der Erwartung, dass laut kreischend ein Sturm ins Zimmer bricht, zersplitternd das Dach abhebt und mich und sie in die Straßenschluchten wirft — aber es klapperte nur, wie Plastikeimer klappern. Die alte Freundin schaute mich abschätzig an, als ich die Hände von den Augen nahm, schüttelte den Kopf, füllte Wasser in den Eimer und kniete sich neben mein umgeworfenes Glas.

Während Meister Propper mit meinem Rotwein stritt, begannen die Bücher, aus den Regalen zu fliegen. Eines traf mich am Kopf, es war der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Neunzehntausend Verse über Liebe — unvollendet — Isolt Tristan, Tristan Isolt. Ewige Verliebtheit kann weh tun, bleibt sie Fragment.

diu süenaerinne Minnediu haete ir beider sinnevon hazze gereinet,mit liebe alsô vereinet,daz ietweder dem anderm was

durchlûter alse ein spiegelglas.1

Das Glas der alten Freundin erzitterte, begann zu schwanken, der Wein warf rote Wellen-Kreise, dann schwappte er auf den Teppichboden. Sie fluchte, aber sie fluchte noch mehr — und mehr und mehr verwirrt –, als der Küchenschrank aufging und Teller spuckte. Ich konnte nichts erkennen, es war ein Spuk, nur ab und an spürte ich etwas, als blies‘ mir einer in den Nacken.

Erst, als sich etwas oben auf dem Küchenbord bewegte, konnt man ihn erkennen: ein kleiner Wirbelwind, zwei Handspannen hoch, eine breit, eine bewegte Staub-Skulptur. Dann kamen die Sammeltassen, sie zerschellten eine nach der anderen auf der Spüle. Ich blieb nicht lange an dem Abend. Der Wirbelwind war schuld, und es war auch besser so. Den Wirbelwind aber, den wurd‘ ich nicht mehr los.

Er folgte mir, als ich aus dem Haus die Straße hinunterging und wirbelte mir Plastiktüten ins Gesicht, er kroch unterm Türspalt durch, als ich nach Hause kam und warf meine Bücher aus den Regalen. Ich versuchte, ihn einfach nicht zu beachten, setzte mich in meinen Lesesessel, drehte ihm den Rücken zu und schaltete auf taub. Ich hörte nicht auf die Bücher, die dumpf dröhnend auf den Boden schlugen. Ich verzog keine Miene, als mein Regal umkippte und mich um ein Haar verfehlte, ja, ich bemühte mich, noch nicht mal hochzuschauen, als der Monitor meines Rechners implodierte. Als mein Sessel sich jedoch einen halben Meter hob, zuunterst sich zuoberst kehrte, ich fiel und der Sessel auf mich drauf, da schaute ich — und erschrak. Da war kein Staubteufelchen mehr, zwei Handspannen hoch, eine breit, da war ein aufgeblähter Bücherdämon, vom Boden bis zur Zimmerdecke. Meine Nietzsche-Werkausgabe in 10 Bänden wirbelte wild im Kreis, von Kant verfolgt und Plato, Shakespeare dichtauf. Walter bildete mit Reinmar ein Kuddelmuddel von Minnesang. Die Deckenlampe wirbelte obenauf am Draht um ihre eigne Achse, riss sich aus der Halterung und zischte, ein Messingbumerang, knapp an meinem Kopf vorbei.

Ich stemmte den Sessel zur Seite, robbte mit eingezogenem Kopf unter kreisenden Bücher-Satelliten zur Tür, griff nach oben, drückte die Klinke nieder und rollte mich nach draußen. Im Innern tobte der Bücherdämon weiter. Ich hörte Glas splittern und Möbel stürzen und konnte nicht das Geringste tun — was hilft gegen einen wildgeword‘nen Wirbelsturm?

Die Nacht verbrachte ich im Treppenhaus, ich konnt‘ nur verlegen die Achseln heben, wenn ein Nachbar kam, die Stirn in Falten und Fragen im Blick. Gegen Morgen wurde es still, Mittag wagte ich hineinzuschau‘n: Es stand nichts mehr, das meiste war zerbrochen, zerfetzt und in Stücke gehauen. Die Bibliothek — über Jahre gesammelt — ein explodierter Zettelkasten. Die Möbel Brennholz, der Rechner ein Blechklumpen voll Kabelsalat. In einer Ecke drehten sich einige zerknitterte Buchseiten zusammen mit den Resten meines besten Anzuges im Kreis, und kein Ton war zu hören.

Vorsichtig, auf Zehenspitzen, schlich ich durch die Reste meiner Welt. Mein Herz klopfte im Hals, aus dem Augenwinkel behielt ich den Wirbelwind im Blick — bei einer abrupten Bewegung mocht‘ er zum Bücherdämon anschwellen und mich verschlingen. Im Moment schien er verspielt aufgelegt zu sein, drehte sich mal hier, mal dort in einer Ecke, zerrupfte spielerisch meine Erstausgabe des Baal, schlüpfte unter eine umgestürzte Kommode, kam als Unterhosen-Strudel aus der Schublade hervor gewirbelt, verlor schnell die Lust daran und beschäftigte sich damit, die Wolle aus dem Bauch des Plüsch-Frosches zu graben, den mir meine Ex genäht.

Der Wirbelwind hatte nicht mehr übrig gelassen, als in den Rucksack passt, vor einigen Dingen schien er Respekt zu haben: Meine Klarinette hatte keinen Kratzer, die Füllfederhalter hatte er ebenso am Stück gelassen wie mein handgebundenes Manuskript- und Zeichenbuch. Dagegen mochte er anderes wohl gar nicht oder besonders gern: Meine Papiere, Pässe und Unterlagen waren in winzige Schnipsel zerlegt, ebenso alte Briefe, Tagebücher und Photographien. Was blieb, war mein Rucksack, noch nicht einmal prall gefüllt, und ein Raum, voll mit Müll. Ich schloss die Tür leise, ein letzter Blick zeigte, wie der Wirbelwind genüsslich Seite um Seite aus Kants Kritik der Reinen Vernunft herauslöste, um sie fein säuberlich in der Luft zu zerreißen. Dann stand ich auf der Straße und wusste nicht, wohin.

Eine ganze Zeit stand ich so — wenn man nichts mehr hat, sind alle Wege gleich, und wenn nichts irgendwohin zieht oder schiebt, bleibt man auf der Stelle steh‘n.

Ein Rascheln war hinter mir, ich blickte zurück und mein Herz sprang mir in die Kehle. Drei Vorjahrsplatanenblätter und ein rotes Bonbonpapier drehten sich überm Gehsteig in Spiralen. Ich ging los, weg davon, und in Schrittgeschwindigkeit kam‘s raschelnd hinterdrein.

Ich ging schneller, Platanenblatt und Bonbonpapier wirbelten in engerem Kreis und blieben mir hart am Fuß. Ich verfiel in Trab, dann in gestreckten Lauf, schließlich rannte ich, als wär der Teufel hinter mir. Das Staubteufelchen war wie ein Hund, den man zum Spielen reizt: Es tanzte in weiten und engen Kreisen um mich herum, stupste mich von rechts und links, fiel von hinten über mich her und brachte mich zu Fall.

Wo kann man hin, wenn man einen Staubteufel auf dem Halse hat? Ein Ding, das sich von einem auf den anderen Augenblick in einen Tornado wandelt und dein Heim zerfetzt? Was wollte es von mir, was hatt‘ ich ihm getan? Was kriecht es aus einem Abstellkammerschlüsselloch und erklärt mir den Krieg?