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Endlich kann Nadia aufatmen: In der Nacht von Halloween ist die dunkle Zauberin Elizabeth in den Flammen umgekommen. Und in Mateo hat sie nicht nur ihre große Liebe gefunden, sondern auch einen treuen Verbündeten. Mit ihm verbindet sie ein magisches Band, das ihr neue Kräfte verleiht. Aber es gibt noch so viel, was sie über die Hexenkunst lernen muss. Und plötzlich kehrt auch noch Elizabeth zurück! Sie hat nicht nur einen Dämonen mitgebracht, sondern verfolgt einen höllischen Plan, der die ganze Stadt in ewige Dunkelheit stürzen soll. "Der Kampf zwischen Gut und Böse geht weiter. Atemberaubend spannend - dranbleiben!" Kirkus Review "Dieses Buch erfüllt alle Erwartungen. Ein hochspannendes, unterhaltsames Lesevergnügen." New York Times-Bestsellerautorin Kiersten White
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Seitenzahl: 424
Claudia Gray
Spellcaster – Dunkler Bann
Roman
Aus dem Amerikanischen von Ira Panic
HarperCollins YA!®
HarperCollins YA!® Bücher erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by HarperCollins YA! in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Steadfast
Copyright © 2014 by Amy Vincent erschienen bei: Harper Teen, New York
Published by arrangement with
HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Laura Oehlke
Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München / Ugreen / ranmaru_/ binkski; HarperCollins
ISBN eBook 978-3-95967-968-8
www.harpercollins.de
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
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Fast jeder Grabstein auf dem Friedhof von Captive’s Sound versprach ewiges Gedenken.
Da standen Dinge wie „Auf ewig unvergessen“ oder „Für immer in unseren Herzen“. Doch trotz dieser Schwüre ließ sich kaum jemals jemand hier blicken.
Heute waren allerdings gleich drei Besucher gekommen.
Nadia Caldani stand direkt vor dem schmiedeeisernen Tor, das nach oben hin in Nachbildungen von Blättern, Rosen und Dornen auslief. Nichts an ihrer Aufmachung – weinroter Pulli und dunkelblaue Jeans – ließ auf ihr größtes Geheimnis schließen: Nadia war eine Hexe – zwar eine junge, und ohne abgeschlossene Ausbildung, aber machtvoller, als sie selbst es je für möglich gehalten hätte.
Ihr dickes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass der Bluterguss an ihrer Schläfe und die kleinen Schnittwunden auf einer Wange deutlich zu erkennen waren. Erst vor knapp sechsunddreißig Stunden hatte sie gegen die dunkelste Magie antreten müssen, die sie kannte, gewirkt von Elizabeth, einer Zauberin, die Jenem dort unten diente. Irgendwie und gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte Nadia gewonnen. Eigentlich sollte sie sich dadurch ermutigt, ja geradezu euphorisch fühlen, doch stattdessen flackerte noch immer die Angst in ihr, wie ein Feuer, das nicht vollständig erloschen war.
Ich hatte einfach Glück, dachte sie. Aber zumindest ist Elizabeth weg, und wir können anfangen, hinter ihr aufzuräumen.
Neben ihr stand Mateo Perez, der unter seiner Baseballjacke bereits die Arbeitskleidung für seine Spätschicht im Restaurant trug: schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans. Nadia wusste, dass er sich hier in Captive’s Sound stets als Außenseiter gefühlt hatte, gezeichnet von dem Fluch, der seit Generationen über seiner Familie lag. Lange Zeit hatte er geglaubt, wenigstens eine wahre Freundin zu haben, doch Elizabeth hatte ihm nur etwas vorge-macht. Sie hatte ihn – und den Fluch – für ihre eigenen Zwecke benutzt.
Es war Nadia gelungen, Mateo die Augen über Elizabeth zu öffnen. Und sie hatte erkannt, wer er wirklich war. Jemand, der stark genug war, mit dem Fluch zu leben. Jemand, der ihr Adjutant sein und dadurch ihre Kräfte verstärken konnte. Inzwischen konnte er die Magie sehen, die in der Welt am Werke war, sowohl die gute als auch die dunkle. Binnen Wochen hatte sie gewusst, dass sie ihn an ihrer Seite brauchte, immer. Vor ein paar Tagen erst hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, und sie glaubte, diesen Kuss noch immer schmecken, seine Lippen noch immer auf ihren spüren zu können.
Wir haben jetzt Zeit, dachte sie, als sie seinen Blick auf sich spürte. Alle Zeit der Welt. Aber heute geht es nicht um uns. Heute geht es um Verlaine.
Verlaine Laughton lehnte sich gegen das Tor und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihre bleiche Hand umklammerte die eisernen Blätter; an ihrem Handgelenk baumelte noch immer das weiße Plastikarmband, das sie im Krankenhaus getragen und noch nicht abgeschnitten hatte. Ihre Dads wollten erst nicht erlauben, dass sie so kurz nach ihrer Entlassung mit ihren Freunden loszog, aber sie hatte die beiden davon überzeugt, dass es ihr guttun würde. „Sonne“, hatte sie gesagt. „Frische Luft.“ Das klang doch gesund, oder?
Und jetzt würde sie das Grab ihrer Eltern besuchen, zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit. Durch Nadias Magie und vielleicht mit Hilfe von Mateos Fähigkeiten als Adjutant würde sie herausfinden, ob ihre Mutter und ihr Vater durch dunkle Magie getötet worden waren. Und ob demzufolge jeder Kummer in Verlaines einsamem Leben – vom Verlust ihrer Eltern als Baby bis zu ihren silbergrauen Haaren mit gerade mal siebzehn Jahren – auf einen Zauber zurückzuführen war, den Elizabeth damals gewirkt hatte.
Aber Elizabeth ist Geschichte, erinnerte sie sich. Egal, was ich gleich erfahre, ich kann es ihr nicht mehr heimzahlen. Und dasie tot ist, gibt es auch keine Möglichkeit, ihren Zauber zu brechen. Was nützt es mir also, die Wahrheit zu kennen?
Nadia legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Alles in Ordnung?“
„Ja.“ Verlaine richtete sich zu ihrer vollen Größe auf – sie überragte Nadia um ziemlich viele und Mateo immerhin noch um einige Zentimeter. „Mir geht’s gut.“
„Wir müssen das nicht jetzt tun“, sagte Mateo. „Wir können genauso gut in ein paar Tagen wiederkommen. Es besteht überhaupt kein Grund zur Eile.“
„Ich weiß, dass wir es nicht jetzt machen müssen.“ Die Worte sprudelten nur so aus Verlaine heraus, zu schnell und zu zittrig, aber entschlossen. „Wir müssen es überhaupt nicht tun. Aber ich will es wissen. Also los, bringen wir es hinter uns.“
„Okay. Komm mit.“ Nadia legte einen Arm um Verlaine, und dieser zwischenmenschliche Kontakt sorgte dafür, dass es ihr ein bisschen besser ging.
Nadia hatte gesagt, dass der magische Nachhall, der Verlaine umgab, alt war – sein Ursprung musste so ziemlich am Beginn ihres Lebens liegen. Wenn Elizabeth wirklich dafür verantwortlich war, dann gab es nichts, was sie dagegen tun konnten, jetzt, wo Elizabeth tot war.
Der Zauber, der über Verlaine lag, war grausam. Er verhinderte, dass andere Menschen sie wirklich wahrnahmen oder gar schätzten. Er sorgte dafür, dass sie nicht geliebt wurde.
Diese magische Mauer war nicht völlig undurchdringlich. Ihre Verwandten, die sie von Geburt an, also schon vor dem Zauber, geliebt hatten, liebten sie auch weiterhin. Und während der vergangenen Wochen hatte es Momente gegeben, in denen andere, stärkere magische Kräfte das, was man Verlaine angetan hatte, zwischenzeitlich aushebelten, und da war es ihr so vorgekommen, als ob ihre Freunde sie wirklich mochten.
Doch diese Momente waren flüchtig gewesen. Verlaine wusste, dass Nadia heute vor allem aus Pflichtgefühl mit ihr hergekommen war, und wenn sie Mateo anschaute, dann konnte sie an seinem Blick erkennen, dass er ihr gegenüber ebenfalls ein schlechtes Gewissen hatte. Sie konnten nichts dafür, genauso wenig wie Verlaine. Die Magie war schuld.
Selbst wenn ich für immer verflucht sein sollte, ich will Klarheit. Dann weiß ich wenigstens, womit ich es zu tun habe, statt mich immer zu fragen, woran es liegt.
Sie gingen langsam über den steinigen Weg, der um die Gräber herumführte. Captive’s Sound klammerte sich seit der Kolonialzeit an diesen schroffen, tristen Abschnitt der Küste Rhode Islands; manche Grabsteine waren Jahrhunderte alt, schwarz verfärbt mit der Zeit, die einst tief eingemeißelten Buchstaben durch den Einfluss von Wind und Wetter kaum noch zu entziffern. Die kalte Novemberbrise wehte goldenes Laub vor ihre Füße und verfing sich in Verlaines langem grauen Haar.
Captive’s Sound war krank, von Grund auf verdorben durch all die schwarze Magie, die Elizabeth Pike hier im Laufe der Jahrhunderte gewirkt hatte. Nadia hoffte, dass die Stadt nun, nach Elizabeths Tod, langsam heilen würde. Doch die Bäume waren immer noch kahl und kümmerlich, das Tageslicht wirkte eher schummrig als hell.
Aber es war ja auch erst der zweite November, versuchte Nadia sich zu beruhigen. So ein Heilprozess braucht seine Zeit.
Verlaine blieb abrupt stehen. Um ihre Converse-Sneakers herum stieg feiner Staub auf. „Dort. Meine Eltern liegen da drüben.“
Sie deutete auf einen noch glatten Granitblock, es war einer dieser breiten Steine, die ein Doppelgrab säumen. Nadia führte sie mit sanftem Druck dorthin. Sie sah aus dem Augenwinkel, dass Mateo sich große Mühe gab, nicht dorthin zu treten, wo ein Toter liegen könnte. Manche Leute handelten aus Aberglauben so, doch Nadia wusste, dass es für Mateo ein Zeichen von Respekt war.
Schließlich standen sie vor den Gräbern und blickten auf die Inschrift.
Richard und Maisie Laughton, geliebte Kinder, geliebte Eltern. Viel zu früh von uns gegangen.
„Sie haben keine Blumen“, sagte Verlaine leise. „Als ich klein war, wollte ich ihnen immer welche bringen, aber sobald ich davon anfing, musste Onkel Dave weinen. Er stand meiner Mom sehr nahe, sie war seine beste Freundin. Hierherzukommen tat ihm so weh, dass ich irgendwann aufhörte zu fragen. Aber sie haben so lange keine Blumen gehabt.“
„Das macht nichts“, erwiderte Mateo. „Sie wissen trotzdem, dass du sie liebst.“
„Tun sie das? Wir haben zwar bewiesen, dass es Magie gibt und Hexen und auch durchgeknallte Zauberinnen, die im Chemiekurs neben einem sitzen, aber wir wissen nichts über ein Leben nach dem Tod.“ Verlaine fuhr sich mit einer Hand über die Augen, aber sie weinte nicht. Es sieht aus, als ob sie versucht, sich zusammenzureißen, dachte Nadia. „Oder steht darüber etwas in deinem ‚Buch der Schatten‘, Nadia? Irgendein Beleg dafür, dass es ein Jenseits gibt?“
„Nein. Das ist für mich genauso ein großes Rätsel wie für dich.“ Nadia kam zu dem Schluss, dass sie Verlaine im Moment am besten helfen konnte, wenn sie bei der Sache blieb. „Stell dich bitte zwischen die beiden Gräber.“
Ihre Aufforderung hatte den gewünschten Effekt. Die Aussicht, etwas Konstruktives zu tun, brachte Verlaine sofort auf andere Gedanken. „Direkt am Grabstein? Oder ist das egal?“
„Das spielt keine Rolle, aber es könnte zu, äh, physischen Reaktionen kommen, daher ist es wohl besser, wenn du etwas weiter weg stehst.“ Sie schaute über ihre Schulter. „Du solltest lieber auch etwas auf Abstand gehen, Mateo.“
Er lächelte ihr zu, und wieder konnte sie es kaum fassen, dass dieser wundervolle Typ genau in dem Augenblick in ihrem Leben aufgetaucht war, als sie gerade versuchte, alles und jeden daraus auszuschließen. Doch Mateo hatte sämtliche Tore eingetreten, alle Zäune niedergebrannt und das Schloss der Eingangstür geknackt. „Abstand“, sagte er. „Verstanden. Brauchst du keinen Adjutanten für das hier?“
„Ich brauche meinen Adjutanten immer“, versicherte Nadia ihm sanft. „Aber du bist dann immer noch nah genug.“
Verlaine stellte sich zwischen die Gräber ihrer Eltern und schaute mit unlesbarer Miene auf die letzte Ruhestätte ihrer Mutter herab. Ihr üblicher Vintage-Look war heute nicht ganz so ausgeklügelt wie sonst, ihre Stonewashed-Jeans und ihr bauschiger weißer Pullover schrien dennoch geradezu nach Achtzigerjahre. Wie blass und dünn sie ist, dachte Nadia. Wie ein Geist zwischen den Gräbern. „Hier?“
„Ja, das müsste funktionieren.“ Nadia hob ihre rechte Hand und berührte den Quarz-Anhänger, der an ihrem linken Handgelenk baumelte. Sie trug dieses Charms-Armband nicht nur als Schmuck; es war ihre Methode, die Materialien, die sie für ihre Hexenkunst brauchte, stets griffbereit zu halten.
Doch diese Elemente allein machten noch keine Magie. Sie erdeten Nadia nur, bereiteten sie vor. Für die Magie selbst benötigte sie den entsprechenden Zauber.
Um Magie aufzudecken, die vor so langer Zeit gewirkt worden war, brauchte sie:
Besiegte Angst.
Betrogene Liebe.
Aufgedeckte Geheimnisse.
Das waren die Zutaten. Jetzt musste sie ihnen noch Macht verleihen. Nadia schloss die Augen und beschwor die intensivsten, emotionalsten Erinnerungen zu diesen Zutaten herauf.
Sie stand mit Mateo in dem Feuer auf der Halloween--Kirmes. Wissend, dass das Haus jede Sekunde um sie herum zusammenbrechen würde, stellte sie sich Elizabeths Magie und schlug mit ihrer eigenen zurück.
„Es ist besser so“, sagte Mom, schon in der Tür stehend, den Koffer in der Hand. Nicht ein einziges Mal schaute sie Nadiains Gesicht, bevor sie ihre Tochter für immer verließ.
Sie fing Elizabeths Blick auf, nachdem im Chemiekurs einer von Nadias Zaubern schiefgegangen war, und das spöttische, wissende Lächeln der anderen offenbarte, dass sie ebenfalls eine Hexe war – eine Zauberin sogar, wie Nadia entsetzt feststellen musste.
Als Nadia die Augen wieder öffnete, sah sie um sich herum einen flaschengrünen Nebel wabern, der sich um die Gräber legte – und um Verlaine. Ein leises Geräusch erfüllte die Luft, es klang wie Seide, die über Seide strich. Verlaines langes silbriges Haar trieb um sie herum, als ob sie unter Wasser wäre.
„Es ist kalt“, flüsterte sie.
„Beweg dich nicht.“ Nadia hob warnend eine Hand. Verlaines Augen weiteten sich, aber sie rührte sich nicht. Der Nebel verwandelte sich in grünliche Eiskristalle, die auf sie herabprasselten. Verlaine zuckte zusammen und hielt sich die Hände vors Gesicht. Das Eis schmolz sofort, grün schillernde Flüssigkeit rann über die gemeißelten Buchstaben des Grabsteins und versickerte im bräunlichen Gras.
Verlaine spähte durch ihre gespreizten Finger. „War’s das?“
Nadia nickte. Mateo kam wieder näher, und als sie sich zu ihm umdrehte, bestätigte sein Blick, was sie bereits vermutet hatte.
„Wie hat es für dich ausgesehen?“, fragte sie. Als ihr Adjutant hatte Mateo Einblicke in die Magie, die selbst ihr verwehrt blieben.
„Dunkelrote … Streifen.“ Er hatte offenbar Mühe, die richtigen Worte zu finden. „Es kam mir vor, als ob sie in diesen grünlichen Nebel hineinregnen.“
„Den Nebel haben wir auch gesehen. Den gab’s umsonst für alle.“ Verlaine schien nicht ganz sicher auf den Beinen zu sein, als sie auf sie zuging. Nadia wusste nicht, ob das noch die Nachwirkungen des Zaubers waren, mit dem Elizabeth letzte Woche versucht hatte sie auszuschalten, oder ob es an den Gefühlen lag, die jetzt in ihr toben mussten. „Dunkelrot. Das ist alte Magie, nicht wahr? Wie deutest du das Ganze, Nadia?“
Am besten machte sie es kurz und schmerzlos. „Es ist nicht einfach nur der Nachhall eines alten Zaubers. Welcher Zauber auch immer es war, wurde zwar vor langer Zeit gewirkt – aber er ist immer noch am Werk, und er hat mit dem Tod deiner Eltern zu tun. Es ist ohne jeden Zweifel dunkle Magie. Und …“ Was jetzt kam, war nur ihre persönliche Schlussfolgerung, aber sie war ganz sicher. „… ja, Elizabeth ist dafür verantwortlich.“
Verlaine reagierte nicht sofort. Ihr blasses Gesicht blieb fast ausdruckslos, und abgesehen von ihren wehenden Haaren schien sie völlig erstarrt.
Mateo machte einen Schritt auf sie zu. „Verlaine? Ist alles okay?“
„Ich hätte wenigstens ein paar Blumen mitbringen können.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ließ den Kopf hängen und zog sich in sich zurück.
Verlaine hatte ihnen vom Tod ihrer Eltern erzählt – der auch für sie nur eine Geschichte war, die man ihr erzählt hatte, denn als es passierte, war sie noch ein Baby gewesen. Man hatte sie weinend in ihrem Bettchen gefunden – im Schlafzimmer ihrer Eltern, die tot im Bett lagen. Offenbar waren beide so plötzlich und so schwer erkrankt, dass sie nicht mehr um Hilfe rufen konnten, bevor sie starben. Doch nun wussten sie, dass Elizabeth ihre Hände im Spiel hatte. Elizabeth war an jenem Tag dort gewesen und hatte das Schreien des Babys ignoriert, während sie auf ihre beiden Opfer herabblickte.
Aber warum hatte sie das getan? War Verlaines Mutter womöglich eine Hexe gewesen, die sich gegen Elizabeth aufgelehnt hatte und deshalb von ihr vernichtet wurde? Aber falls Elizabeth aus reiner Bösartigkeit auch ihren Vater getötet hatte, warum hätte sie dann Verlaine am Leben lassen sollen? Hatte sie den Zauber gewirkt, der dafür verantwortlich war, dass niemand Verlaine mochte, um zu verhindern, dass der Tod ihrer Eltern näher untersucht wurde?
Nichts davon ergab Sinn. Als Nächstes würde Nadia ein paar Zauber ausprobieren, die eventuell helfen konnten, herauszufinden, was genau Verlaine zugefügt worden war. Zumindest das würde ihr vielleicht gelingen. Aber sie würde Verlaine niemals sagen können, warum Elizabeth es getan hatte. Diese Antwort war mit Elizabeth gestorben.
Wieder musste sie daran denken, wie ihre Mom einfach gegangen war, um ihre Familie für immer hinter sich zu lassen. Manchmal kam es ihr so vor, als sei das Schlimmste an der ganzen Situation die Ungewissheit. Nicht zu wissen, warum sie gegangen war.
Mateo nahm ihre Hand, als sie beide sich Verlaine näherten. Diese Art der Berührung war noch so neu für Nadia, dass sie ihr einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. „Hey“, sagte Mateo leise zu Verlaine. „Alles in Ordnung?“
„Das nächste Mal gehe ich vorher zu Jasmine.“ Verlaine schob sich ihr silbernes Haar aus der Stirn. Auf dem Handrücken hatte sie noch immer einen blauen Fleck vom intravenösen Zugang. „Das ist die Blumenhändlerin im Ort, Nadia. Ich vergesse immer, dass du noch nicht lange hier wohnst und solche Sachen vielleicht nicht weißt. Ich könnte schnell zu ihr gehen und ein Dutzend Rosen holen. Zwei Dutzend. Oder … was meinst du, wie viele Rosen wären wohl unter diesen Umständen angemessen?“
Am liebsten hätte Nadia ihrer Freundin versichert, dass alles gut werden würde, aber sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken. „Ich möchte gern noch etwas ausprobieren.“
„Einen anderen Zauber?“
„Ja. Ich will herausfinden, was genau damals mit dir gemacht wurde. Und ob es einen Weg gibt, es wieder rückgängig zu machen.“
Verlaine blickte auf. „Kannst du es rückgängig machen?“
„Vielleicht. Wir wissen es erst, wenn wir es versucht haben.“ Nadia lächelte ermutigend. Solange sie sich in der Nähe des Grabes ihrer Eltern aufhielten – die als erste Opfer des Zaubers am stärksten davon gezeichnet waren –, könnten sie tatsächlich eine Chance haben.
Sie streckte die Hand nach ihrem Armband aus, bereit, den nächsten Zauber zu wirken …
Verlaine fing an zu schreien. Mateo packte Nadia und zog sie zurück. Vor ihnen stieg eine Feuersäule auf, die sich mit ohrenbetäubendem Getöse wand und krümmte. Nadia taumelte in Mateos Arme.
„Meine Eltern!“, rief Verlaine. Die Flammen tanzten auf ihren Gräbern. Nein, sie tanzten nicht, sie verzehrten. Unter Nadias entsetztem Blick sanken die Gräber ein und der Boden verschlang die Särge samt der sterblichen Überreste darin.
Das Feuer erlosch so schnell, wie es entstanden war. Eine Weile standen sie einfach nur da und starrten auf die versengte Erde. Außer ihren schnellen Atemzügen war kein Laut zu hören.
„Was …“ Verlaine musste erst einmal tief Luft holen, bevor sie weitersprechen konnte. „Nadia, was hast du getan?“
„Das war ich nicht“, sagte Nadia.
Hinter ihnen ertönte eine Stimme: „Nein. Das war ich.“
Alle drei fuhren gleichzeitig herum. Neben einem steinernen Engel stand Elizabeth.
Quicklebendig und wohlauf.
Sie lächelte. „Genau euch habe ich gesucht.“
Die drei schienen von ihrem Erscheinen vollkommen geplättet zu sein. Eigentlich hatte Elizabeth ja angenommen, dass ihnen das volle Ausmaß ihrer Macht inzwischen klar wäre, aber offenbar lag sie da falsch.
„Du bist tot.“ Mateos Augen verengten sich zu Schlitzen, und mit jedem Wort wurde sein Ton harscher. „Du bist bei dem Kirmesbrand umgekommen. Du warst im Feuer gefangen. Ich habe dich gesehen.“
„Ich habe dich bei dem Kirmesbrand ebenfalls gesehen“, hielt Elizabeth ihm entgegen. „Und du bist ganz offensichtlich wohlauf. Warum sollte es mir anders gehen? Nadia ist ja auch heil davongekommen, wie ich sehe.“
Mateo mochte früher immens wichtig für sie gewesen sein, doch heute war Elizabeth nicht seinetwegen hier. Sie interessierte sich ausschließlich für Nadia Caldani.
Die anscheinend ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Wir haben dich aufgehalten. Halloween war die einzige Nacht, in der du deinen Plan hättest durchziehen können. Das bedeutet, dass du gescheitert bist.“
Wie naiv sie doch waren. „Glaubst du wirklich, mein Plan war die Zerstörung von Captive’s Sound? Das wäre nur Kollateralschaden gewesen. Es war sehr clever von dir, einen Weg zu finden, das zu vermeiden, Nadia.“
Und ich bin dadurch am Leben geblieben, um Jenem dort unten bei seinem Übergang ins Reich der Sterblichen zu helfen, um die Kluft zwischen seiner und dieser Welt für alle Ewigkeit zu überbrücken.
„Der Tod von Hunderten, vielleicht Tausenden von Menschen soll nur Kollateralschaden sein?“ Nadia starrte sie ungläubig an, auch wenn Elizabeth nicht verstand, warum. Aber es spielte keine Rolle.
„Ich bin dir wirklich sehr dankbar.“ Elizabeth sah keinen Grund zu lügen. „Du bist eine talentierte Hexe. Aber völlig un-trainiert in den höheren Formen der Kunst, und du hast keine Lehrerin.“
Nadia zuckte zurück, als ob man sie geschlagen hätte. Scheinbar hatte Elizabeth mit ihrer Anspielung auf das nachlässige Verhalten ihrer Mutter einen wunden Punkt getroffen.
„Du brauchst jemanden, der dich anleitet, während du deine Ausbildung vollendest“, fuhr sie fort. „Ohne richtigen Unterricht wirst du immer unter deinen Möglichkeiten bleiben, was geradezu ein Verbrechen wäre. Findest du nicht auch?“
„Das geht dich nichts an“, knurrte Mateo und stellte sich zwischen sie und Nadia.
„Oh doch, das tut es“, erwiderte Elizabeth. „Wenn ich ihre Lehrerin werde.“
Das hatte den erwarteten Effekt: totale Fassungslosigkeit. Für einen Moment verschlug es ihnen die Sprache. „Das kann nicht dein Ernst sein“, stieß Nadia schließlich hervor.
„Zählt das nicht zu den wichtigsten Regeln der Zunft? Einander zu unterweisen und zu fördern?“
„Du bist kein Mitglied der Zunft. Nicht mehr!“, zischte Nadia. Diese Prellungen in ihrem Gesicht mussten ziemlich wehgetan haben; sie ließen ihre Wut hässlich erscheinen, fast schon verzweifelt. „Du hast Jenem dort unten Treue geschworen!“
„Du meinst, ich habe eins der Ersten Gesetze gebrochen?“ Elizabeth warf Mateo einen vielsagenden Blick zu. „Die auch besagen, dass man keinem Mann von der Magie erzählen darf?“
Nadia schüttelte den Kopf. „Das ist was anderes.“ „Tatsächlich? Ein Zirkel würde das anders sehen. Sie würden uns beide ausstoßen, nicht nur mich. Wir sind beide Außenseiter, du und ich. Du hast es bloß noch nicht verstanden.“ Der Wind zerrte an Elizabeths Locken, und unter ihrem dünnen Baumwollkleid bildete sich eine Gänsehaut. Nun, da sie nicht mehr unsterblich war, konnte sie die Kälte spüren. Es war eine merkwürdige Erfahrung, noch so ungewohnt, dass sie sie trotz des damit einhergehenden Unbehagens als angenehm empfand.
Die Welt war plötzlich wieder neu und frisch. Nach Jahrhunderten der Langeweile war das für Elizabeth ein schier unerschöpflicher Quell der Freude.
„Denk drüber nach“, sagte sie zu Nadia. „Ich habe länger gelebt als jede andere Hexe. Ich kenne Magie, die anderen für immer verschlossen bleiben wird. Und ich bin bereit, all das an dich weiterzugeben. Was hast du denn zu verlieren?“
„Meine Seele zum Beispiel.“ Nadia schlang die Arme um ihren Oberkörper und trat näher zu Mateo, der sie umarmte. „Jenem dort unten zu dienen ist böse. Das würde ich niemals tun. Niemals.“
Menschen, die nie unsterblich gewesen waren, hatten so selt-same Vorstellungen von niemals. Elizabeth überlegte, ob sie darauf hinweisen sollte, doch in diesem Moment ergriff das grauhaarige Mädchen das Wort.
„Du hast meine Eltern umgebracht.“ Ihre Stimme zitterte. „Und sogar ihre Leichen zerstört. Das war alles, was mir von ihnen geblieben ist.“
„Das hast du deiner Freundin hier zu verdanken“, gab Elizabeth zurück. „Ich kann schließlich nicht zulassen, dass ihr meine ganze harte Arbeit zunichtemacht.“
„Das hier passiert nicht wirklich.“ Jetzt war die Stimme des grauhaarigen Mädchens kaum mehr ein Flüstern, als hätte es nicht genug Luft, um lauter zu sprechen. Und es atmete schnell – viel zu schnell. „Ich sehe dich nicht. Das alles ist ein Traum. Ein Albtraum. Nicht mehr. Es ist nicht echt.“
Elizabeth legte den Kopf schräg. „Wie kommst du denn darauf, dass Albträume nicht echt sind?“
Das Mädchen brach ohnmächtig zusammen, sein silbrig graues Haar bildete einen harten Kontrast zur dunklen Erde.
„Verlaine!“ Nadia kniete sich hastig neben sie, Mateo tat es ihr gleich. „Was hast du mit ihr gemacht?“
„Nichts. Das ist sicher der Schock.“
„Verschwinde. Lass uns in Ruhe.“ Mateo sah aus, als ob er am liebsten aufgesprungen wäre und ihr ins Gesicht geschlagen hätte, was wirklich ziemlich dumm von ihm gewesen wäre. „Du bist durch und durch böse.“
Elizabeth zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Sie hörte noch, wie Nadia und Mateo auf ihre bewusstlose Freundin einredeten. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem Rascheln des Laubs unter ihren Füßen. Was sie sagten, spielte jedoch keine Rolle, genauso wenig wie die Tatsache, dass Nadia sie zurückgewiesen hatte. Elizabeth hatte beim ersten Versuch keine andere Antwort erwartet.
Aber Jener dort unten hatte Nadia gesehen. Und ihr Potenzial wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Und was Jener dort unten begehrte, das bekam er.
Dafür würde Elizabeth sorgen.
Warum zum Teufel lebt Elizabeth noch?“, fragte Mateo. Er steuerte den Wagen und blickte ab und zu nach hinten auf den Rücksitz, wo Nadia neben Verlaine saß, deren Kopf an ihrer Schulter lag. „Das ist doch eigentlich gar nicht möglich.“
„Es ist nicht unmöglich.“ Nadia fächelte Verlaine weiter Luft zu. Obwohl ihre Freundin mittlerweile wieder wach war, schien sie immer noch benommen zu sein. Ich hätte wissen müssen, dass sie für so was noch zu schwach ist! „Schließlich war das, was ich angenommen hatte, auch gar nicht ihr Plan. Sondern nur eine Nebenwirkung ihres Plans. Offenbar habe ich von Anfang an nicht kapiert, was sie eigentlich vorhatte.“
Wieder wandte Mateo sich zu ihr um. „Aber du hast sie daran gehindert.“
„Ich habe sie daran gehindert, die Stadt zu zerstören. Aber nicht an dem, was sie tatsächlich tun wollte.“ Ihre Unwissenheit schmerzte fast noch mehr als ihr Scheitern, doch Nadia verdrängte das Gefühl. Dieses Mal war Elizabeth ihr durch die Lappen gegangen. Beim nächsten Mal jedoch würde das nicht wieder passieren.
„Und wie finden wir heraus, was sie tatsächlich vorhat?“
„Ich werde jede Quelle anzapfen, die ich habe, gleich heute Abend fange ich mit … Mein Gott, Mateo, guck auf die Straße! Wir hätten fast diesen Pick-up gerammt.“
„Schon gut, schon gut.“ Mateo schaute gehorsam nach vorn. Nadia vermutete, dass Verlaines riesiger Klapperkasten von einem Auto deutlich schwerfälliger zu fahren war als das Motorrad, mit dem Mateo normalerweise unterwegs war, und einen Unfall konnten sie jetzt wirklich nicht auch noch gebrauchen.
Das galt vor allem für Verlaine.
„Verlaine?“ Sie tätschelte die Wange ihrer Freundin. „Geht es dir gut?“
Verlaine nickte erschöpft. „Klar. Bestens. Von meinen Selbstmordgedanken abgesehen, geht es mir super.“
„Darüber macht man keine Scherze.“ Mateo klang schroff, zweifellos mit Absicht. Seine Mutter hatte sich unter Einfluss des Familienfluchs das Leben genommen.
„Tut mir leid“, sagte Verlaine. „Ehrlich. Aber Elizabeth zu sehen und zu wissen, dass sie meine Eltern getötet hat … Ich wollte, dass alles nur ein böser Traum war. Und ich dachte, wenn ich es nur entschieden genug will, dann könnte ich es hinkriegen, dass sie einfach nicht da ist. Was absolut null Sinn ergibt, aber mein Gehirn hat einfach ausgesetzt. Und funktioniert bis jetzt immer noch nicht richtig. Es könnte übrigens passieren, dass ich mich gleich übergebe.“
„Nur zu. Es ist dein Auto.“ Aber Nadia brachte vorsichtshalber ihre Beine in Sicherheit.
Ihre Gedanken überschlugen sich die ganze Zeit, während sie Verlaine nach Hause brachten, sich überschwänglich dafür entschuldigten, sie überfordert zu haben, und ihrem Onkel Gary dabei halfen, sie ins Bett zu stecken. Seit der Halloween-Kirmes hatte Nadia kaum eine Chance gehabt, durchzuatmen, geschweige denn genug Zeit, um zu analysieren, was dort passiert war. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Elizabeth ein anderes Ziel haben könnte als Tod und Zerstörung.
Als sie Verlaines Haus verließen, blickte sie zu Mateo. Sie hatten zusammen zahllose Menschen gerettet, auch wenn keiner je davon erfahren würde. Nur das zählte.
Ihr letzter Sieg war nur ein Teilsieg gewesen. Na schön. Aber es war eben auch nur ihr erster Sieg gewesen. Irgendwie würden sie Elizabeths Pläne schon vereiteln.
„Am liebsten würde ich jetzt gleich mit einer Axt zu Elizabeths Haus gehen“, bekannte Mateo. „Aber das ist wohl keine so gute Idee, oder?“
„Das ist eine ganz schlechte Idee.“ Nadia erinnerte sich schaudernd an das eine Mal, als sie dort eingebrochen war. Elizabeth war nicht mal zu Hause gewesen, das war aber auch gar nicht nötig gewesen. Denn ihr „Buch der Schatten“ war da – das Zaubertagebuch, das jede Hexe ein Leben lang führte. Mit jedem Zauber, der hinzukam, wuchs die magische Macht des Buchs, aus dem so im Laufe der Zeit eine sehr lebendige Energiequelle wurde. Elizabeth war ungefähr vierhundert Jahre alt, was bedeutete, dass ihr „Buch der Schatten“ so mächtig war, dass es praktisch schon eine eigene Persönlichkeit hatte. Das Buch hatte Nadia in Spinnweben gefangen und versucht, sie dort bis zu Elizabeths Rückkehr festzuhalten. Ihre Haut begann zu jucken, als sie an die Spinnen dachte, und sie schlug sich unwillkürlich gegen ihr Bein, als wolle sie die unsichtbaren Quälgeister abstreifen. „Ein Mord mit der Axt? Geht fast immer nach hinten los.“
„Okay, kein Axtmord – aber was wollen wir stattdessen machen? Wir können Elizabeth nicht einfach davonkommen lassen!“ Wütend drehte Mateo sich zu ihr um, doch als ihre Blicke sich trafen, wurde seine Miene sanfter. Er schlang einen Arm um ihre Taille und zog Nadia an sich.
Die Geste überraschte sie mehr, als sie sollte. Aber das mit ihr und Mateo war immer noch so … frisch. Sie musste sich ständig ins Gedächtnis rufen, dass er ihre Gefühle erwiderte, dass sie beide tatsächlich zusammen sein konnten. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, war dieses Wissen noch so ungewohnt. Aber offenbar lief in ihrem verkorksten Leben ausnahmsweise einmal etwas richtig. Liebe war schwindelerregend, wundervoll und auch ein bisschen beängstigend …
„Tut mir leid“, sagte er. „Elizabeth treibt mich in den Wahnsinn.“
„Das ist doch verständlich.“ Die vielleicht grausamste von Elizabeths Taten war ihre vorgetäuschte Nähe zu Mateo. Wie sie ihn davon überzeugt hatte, seine beste, sogar seine einzige Freundin zu sein. Er hatte Elizabeth geliebt wie eine Schwester, bis zu dem Augenblick, in dem er herausfand, das all seine liebevollen Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit falsch waren, eine in sein Gehirn implantierte Lüge, um sein Vertrauen zu gewinnen und ihn besser ausnutzen zu können. „Natürlich hasst du sie. Und dazu hast du auch alles Recht der Welt. Aber wir sollten sie nicht herausfordern, bis wir wissen, wie wir sie aufhalten können.“
„Ich weiß. Es ist nur schwer, an irgendwas anderes zu denken.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht; obwohl er vorsichtig war und seine Berührung sanft, kam er einer ihrer Schnittwunden zu nah. Die empfindliche Haut prickelte unangenehm unter seinen Fingern, und Nadia atmete scharf ein. Mateos Augen wurden dunkler, und er zog sie noch enger an sich. „Dad ist noch ein paar Stunden im La Catrina. Wollen wir solange zu mir gehen?“ Sein Lächeln war neckend, warm, hoffnungsvoll. „Damit wir beide auf andere Gedanken kommen?“
„Ich kann nicht. Dads und Coles Flieger ist vor Kurzem gelandet. Sie werden bald hier sein.“
Die Vorstellung, für eine Weile mit zu Mateo zu gehen, in seinen Armen zu liegen und ihre Ängste wegküssen zu lassen, wärmte sie von innen.
Aber im Moment sehnte sie sich noch mehr nach ihrem Vater und ihrem Bruder. Schließlich hatte sie, als die beiden am Tag vor Halloween nach New York aufgebrochen waren, nicht gewusst, ob sie sie je wiedersehen würde.
Mateo nickte lächelnd, und sie wusste, dass er sie auch ohne lange Erklärungen verstand. „Dann gib mir wenigstens einen Abschiedskuss“, flüsterte er.
Ihre Lippen trafen sich erst in einem zärtlichen Kuss, doch dann öffneten sie sich leicht, und die Wärme und der Geschmack seines Mundes waren das Einzige, was in diesem Moment noch auf der Welt existierte. Nadia ließ sich in Mateos Umarmung fallen und klammerte sich an ihn. Der Kuss wurde intensiver, doch dann wirbelte eine Sturmbö über sie hinweg, schnitt mit eisiger Kälte durch ihre Kleidung und rüttelte an den Ästen. Laub wirbelte um sie herum, so schnell und dicht, dass Nadia eine Sekunde lang dachte, sie wären von einem Vogelschwarm eingekreist. Überrascht fuhren Nadia und Mateo auseinander, mussten dann aber über die merkwürdige Episode lachen.
Und ich dachte, die Winter in Chicago wären seltsam.
Mateo küsste sie noch einmal, kurz und zärtlich. „Los, sehen wir zu, dass du nach Hause kommst.“
Wir waren an den Chelsea Piers!“ Cole zog seinen kleinen Rucksack die Treppe hoch, Nadia ging neben ihm. „Wir waren Schlittschuhlaufen und an der Kletterwand!“
„Ist ja toll!“ Sie zerzauste seine Haare. „Dann hattet ihr wohl richtig Spaß, was?“
„Und ob!“
Ihr Vater war gerade dabei, seinen Koffer ins Schlafzimmer zu hieven. „Ist Velma wieder gesund?“, rief er aus dem Flur.
Er konnte sich Verlaines Namen nie richtig merken. Dabei war Dad alles andere als zerstreut. Nadia fragte sich, ob seine Unfähigkeit, sich an die beste Freundin seiner Tochter zu erinnern, etwas mit dem seltsamen Zauber zu tun hatte, der Verlaine umgab.
Aber sie sagte nur: „Verlaine geht es gut. Die Ärzte haben gesagt, dass sie keine bleibenden Schäden davongetragen hat. Sie ist allerdings noch ziemlich schwach.“
„Gott sei Dank ist sie aufgewacht. Schreckliche Geschichte.“ Er blieb in der Tür zu Coles Zimmer stehen, während Cole sich daranmachte, „auszupacken“, indem er seine Sachen aus dem Rucksack nahm und auf den Boden warf.
Nadia fand, dass ihr Dad total fertig aussah; kein Wunder nach ein paar Tagen allein mit Cole. Sie lachte. „Hattest du überhaupt mal eine Minute für dich?“
„Hm. Na ja.“ Er errötete leicht. „Erinnerst du dich an die Paulsons, die nach New York gezogen sind, kurz bevor wir hierherkamen? Ich, äh, habe Ethans Mom angerufen, als wir in der Stadt waren. Ich dachte, es wäre schön für Cole, einen seiner alten Freunde wiederzusehen.“
„Wir waren Pizza essen“, warf Cole ein, während er das Chaos um sich herum unverdrossen weiter vergrößerte.
Nadia verstand die Verlegenheit ihres Vaters nicht, bis ihr plötzlich einfiel, dass Mrs. Paulson seit ein paar Jahren verwitwet war. „Moment mal. Du hattest ein Date?“
Dad warf ihr einen Blick zu, der unmissverständlich sagte: Nicht vor Cole! Aber da ihr kleiner Bruder nicht weiter auf sie achtete, antwortete er doch. „Nein, es war kein Date“, erklärte er leise. „Aber nachdem wir dort waren, ging mir auf, dass Gretchen womöglich dachte, es sei eins, und … ich glaube, sie fühlte sich zurückgewiesen, und das hat dem Abend irgendwie einen Dämpfer versetzt.“ Er runzelte die Stirn. „Das war jetzt zu viel Information, oder?“
„Nein“, murmelte Nadia, obwohl sie sich wünschte, nie ein Wort darüber gehört zu haben. Dad war zwar nicht an Mrs. Paulson interessiert gewesen, aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er tatsächlich anfing, sich mit jemandem zu verabreden.
Obwohl Mom schon lange weg war und auch nicht den leisesten Zweifel daran ließ, dass sie sich scheiden lassen wollte, konnte Nadia sich ihren Dad nicht mit einer anderen Frau vorstellen.
Dad, der offenbar ahnte, was in ihr vorging, wechselte dankenswerterweise das Thema. „Wie war die Halloween-Kirmes? Du warst doch dort, oder?“
„Hast du es gar nicht mitgekriegt?“ Nadia hatte gedacht, dass es vielleicht in den Nachrichten laufen würde, aber das war wohl ziemlich dumm von ihr gewesen. Als ob der Rest der Welt sich für irgendwas interessieren würde, das in Captive’s Sound passierte. „Das Spukhaus ist abgebrannt.“
„Was?“
„Bis auf die Grundmauern. Keiner weiß, was passiert ist. Demnächst soll es deshalb eine große Bürgerversammlung geben.“
Dad schüttelte ungläubig den Kopf. „Na, dann ist ja gut, dass wir nicht hingegangen sind. Du hattest völlig recht, als du sagtest, dass die Sicherheitsvorkehrungen zu wünschen übrig lassen.“
Nadia nickte. Bevor sie vorhin nach Hause gekommen war, hatte sie ihren Pferdeschwanz gelöst, sodass ihr dickes schwarzes Haar ihr lose ums Gesicht fiel und die kleinen Schnittwunden und Blutergüsse verdeckte. „Zum Glück war Cole nicht da.“
„Wenigstens ist niemand dabei umgekommen.“ Dad ging zu Cole und dem Berg schmutziger Klamotten, den dieser um sich herum aufgeschichtet hatte. „Hey, Kumpel, weißt du nicht mehr, was wir über den Wäschekorb gesagt haben?“
Sie wandte sich ab und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Jemand war gestorben, nicht bei dem Kirmes-Feuer, aber durch Elizabeths Hand – ein Junge aus ihrem Jahrgang, Jeremy Prasad. Elizabeth hatte ihn umgebracht, und Mateo hatte es mit ansehen müssen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können, da er zu diesem Zeitpunkt unter Elizabeths Bann stand. Komisch, dass in der Stadt gar nicht darüber geredet wurde. Auch in der kleinen Lokalzeitung, dem Guardian, die sich immerhin dazu aufgerafft hatte, über den Brand im Spukhaus zu berichten, stand keine einzige Zeile über den schrecklichen Tod eines Siebzehnjährigen.
Vielleicht war die Leiche noch nicht entdeckt worden. Es war am Strand passiert; vielleicht war Jeremys Körper ja von der Flut ins Meer hinausgetragen worden.
Nadia schloss die Augen, überwältigt von der Vorstellung. Sie hatte Jeremy nicht besonders gemocht. Niemand hatte das. Er war grausam und ein sexistischer Snob gewesen. Aber er hatte es nicht verdient zu sterben.
Mateo hatte erzählt, dass Elizabeth sich Jeremys Augen genommen hatte.
Warum die Augen? Für welche Magie braucht man so was? Gehört es zu ihrem wirklichen Plan für Halloween, oder plant sie noch etwas ganz anderes?
Sie wusste es nicht und hatte auch keine Vermutung. Wieder mal rächte es sich, dass sie ihre Ausbildung nie hatte beenden können. Da ihre Mutter sie verlassen und auch jeden Kontakt abgebrochen hatte, waren Nadias Möglichkeiten, mehr über die Hexenkunst zu lernen, äußerst beschränkt. Dank der Geheimhaltung, zu der die Zunft sich verpflichtet fühlte, kannte sie nicht mal eine andere erwachsene Hexe, die sie unterrichten konnte.
Außer Elizabeth.
Wenn ich die Chance hätte, mit Mom zu sprechen, was würde ich sagen? Sie fragen, warum sie gegangen ist? Sie beschimpfen, weil sie weggelaufen ist? Sie auffordern, mir eine andere Lehrerin zu suchen? Herausfinden, warum sie Dad nicht mehr liebt? Mir von ihr Elizabeths wahren Plan erklären lassen? Ihr erzählen, dass Cole Albträume hat, seit sie weg ist?
Ich möchte ihr all das sagen. Aber ich werde ihr nichts davon sagen können.
Nadia massierte sich die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen.
Doch in dieser Nacht, nachdem ihr Vater und ihr Bruder schlafen gegangen waren, schlich sie sich in ihr Zimmer auf dem Dachboden. Gestärkt von etwas Schokolade machte sie sich einmal mehr daran, ihre magischen Quellen zu durchforsten. Die bestanden bislang zwar nur aus ihrem eigenen „Buch der Schatten“ sowie einem zweiten, das vor Jahrhunderten Prudence Hale gehört hatte, einer Hexe aus Captive’s Sound. Aber immerhin: Es war ein Anfang.
Vor Halloween hatte Nadia sich vor allem darauf konzentriert, Elizabeth davon abzuhalten, Captive’s Sound zu zerstören. Aber das würde sich nun ändern. Von jetzt an ging es ausschließlich darum, Elizabeth komplett unschädlich zu machen.
Wenn es doch bloß einen Zauber gäbe, mit dem man einer anderen Hexe ihre magischen Kräfte rauben könnte oder ihr jede böse Absicht austreiben oder … Nadia rief sich innerlich zur Ordnung. Dieser Gedankengang würde zu nichts führen. Zauber-Schöpfung war die höchste Stufe der Hexenkunst; es bedeutete, dass eine Hexe ihre eigenen Zauber schuf, anstatt sich jener zu bedienen, die seit Menschengedenken weitergegeben wurden. Aber nur den allerwenigsten gelang dies. Mom hatte gesagt, dass nur ungefähr zwei Hexen pro Jahrhundert die Magie so vollkommen beherrschten.
Als Nadia klein war, hatte sie eingewandt, dass sie es zumindest versuchen sollte, wenn es grundsätzlich möglich war. Mom hatte gelacht und gesagt, dass sie sich darüber noch Gedanken machen konnte, wenn sie groß genug war, um sich ohne Extra-Aufforderung die Zähne zu putzen.
Es hatte keinen Sinn, von etwas zu träumen, das höchstwahrscheinlich nie eintreten würde. Nadia brauchte jetzt eine wirkungsvolle Waffe gegen Elizabeth.
Und wenn sie diese Waffe fand, würde sie sie auch einsetzen.
Am Montag war die Schule wegen des Kirmes-Brands ausgefallen. Nadia sah zwar keinen Grund dafür, aber offenbar versuchten die Bewohner von Captive’s Sound, so lange wie möglich von jedem aufregenden Ereignis zu zehren. Doch heute herrschte wieder Hochbetrieb an der Rodman High, und die Gerüchteküche kochte.
„Ich habe gehört, dass ein paar Typen da drin geraucht haben sollen“, verkündete Kendall Bender, die, umgeben von andächtigen Zuhörern, im Flur Hof hielt. „Und anscheinend gibt es auch Verdacht auf Brandstiftung, und vielleicht gab es auch noch einen technischen Defekt. Und ein paar Leute wollen sogar Blitze gesehen haben. Es hat zwar nicht geregnet, aber vielleicht waren es ja Hitzeblitze oder so, falls Hitzeblitze überhaupt Brände verursachen können.“
Nun ja, zumindest ahnte niemand, was wirklich passiert war.
Bei all dem Trubel auf den Fluren entdeckte sie Mateo erst kurz vor Unterrichtsbeginn und kurz danach auch Verlaine. Mateo reichte Verlaine den Arm, eine altmodische Kavaliersgeste, die Nadia zum Lächeln brachte.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal freuen würde, die Rodman High wiederzusehen“, sagte Verlaine. Heute trug sie Sachen aus den Vierzigerjahren – einen dunkelbraunen Rock zu einer seidigen roten Bluse mit Schleife am Kragen. „Aber ich bin gerade für jedes bisschen Normalität dankbar.“
Sie bogen um die nächste Ecke – und stießen fast mit Jeremy Prasad zusammen.
„Lange nicht mehr gesehen“, begrüßte der tote Typ sie lächelnd, bevor er weiterging.
Verlaine klemmte ihr Handy zwischen ihr Exemplar von „Große Erwartungen“ und die Tischkante. Sie stellte es rasch noch auf lautlos und schrieb dann eine SMS. Wieso lebt Jeremy?
Vielleicht ist es ja gar nicht wirklich passiert, schrieb Nadia zurück. Vielleicht hatte Mateo eine Art … albtraumhafte Vision, weil er mein Adjutant ist. Immerhin hat Elizabeth in dieser Nacht extrem starke Magie gewirkt. Wer weiß?
Das klang einleuchtend. Etwas beruhigter spähte Verlaine über ihr Buch hinweg zu Jeremy, der eine Reihe vor ihr saß.
Sie hatte in diesem Literaturkurs schon viel Zeit damit verbracht, Jeremy Prasad zu beobachten. Was teilweise darauf zurückzuführen war, dass der Unterricht für jeden, der tatsächlich Spaß am Lesen hatte, ein Kinderspiel war; Verlaine hatte die besprochenen Bücher meist schon drei bis vier Mal durch, bevor die anderen überhaupt beim zweiten Kapitel angekommen waren.
Aber hauptsächlich lag es daran, dass sie ihn gerne ansah.
Trotz seines widerwärtigen Charakters fühlte sie sich schon lange zu Jeremy Prasad hingezogen, und Verlaine hasste sich dafür. Theoretisch war ihr völlig klar, dass er arrogant, anmaßend und niederträchtig war, und sie verabscheute ihn deswegen. Außer für seinen Ruf als Playboy, denn jemanden seiner sexuellen Umtriebigkeit wegen zu missachten war typisch für ein überkommenes patriarchalisches Weltbild, selbst dann, wenn es sich auf Männer bezog. Ihr Kopf machte sich definitiv keine Illusionen über Jeremys Fehler.
Doch ihr Körper nahm nur allzu deutlich zur Kenntnis, dass der Typ unglaublich heiß war. Ob es nun an den markanten Wangenknochen lag, dem olivfarbenen Teint, den vollen, glänzenden schwarzen Locken, die er ein klein bisschen zu lang trug, oder an seinem schlanken, muskulösen Körper – jedenfalls hatte Jeremy etwas an sich, das Verlaines Hormone völlig außer Kontrolle geraten ließ.
Ich bin nicht verantwortlich für … unfreiwillige hormonelle Tsunamis. Das war ihre übliche Rechtfertigung. Außerdem, so wie Jeremy sich verhält, vor allem mir gegenüber, ist er mir zumindest eine hübsche Aussicht schuldig.
Heute erfüllte er seine Pflicht wieder mal perfekt, mit seinem eng anliegenden schwarzen Pullover …
„Hier lernen wir also Miss Havisham kennen“, sagte Mrs. Bristow. „Was fällt einem als Erstes an ihr auf?“
„Dass sie verrückt ist?“, antwortete jemand aus der letzten Reihe, und die meisten Schüler kicherten.
„Meinetwegen.“ Mrs. Bristow schrieb „Wahnsinn“ an die Tafel. „Aber sie ist nicht komplett geistesgestört oder hat so etwas wie Wahnvorstellungen, oder?“
„Ich würde schon sagen, dass sie das ist“, bemerkte Jeremy.
Verlaine riss sich aus ihren Träumereien. Jeremy hatte noch nie unaufgefordert einen Beitrag zum Unterricht geleistet. Weder im Literaturkurs noch in irgendeinem anderen Fach.
Mrs. Bristow sah genauso überrascht aus, wie Verlaine sich fühlte, erholte sich aber rasch wieder. „Und warum würden Sie das sagen, Jeremy?“
Er setzte noch eins drauf, indem er keine Klugscheißer-Antwort gab. „Nun ja, sie schiebt dem Mann, der sie sitzen gelassen hat, die Schuld an ihrem ruinierten Leben in die Schuhe. Natürlich hat er sie verletzt, keine Frage, aber er hat keineswegs ihr Leben zerstört. Sie hätte leicht jemand anderen finden oder etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen können. Stattdessen schließt sie die Welt aus und vergräbt sich in Erinnerungen an das Unrecht, das ihr zugefügt wurde. Miss Havisham hat sich selbst keine Chance gegeben, glücklich zu werden. Daher glaube ich, dass es eine Wahnvorstellung von ihr ist, anderen die Schuld an ihrem Unglück zu geben. Sie hat ihr eigenes Leben zerstört.“
„Das ist … sehr gut.“ Mrs. Bristow blinzelte. „Ausgezeichnete Interpretation.“
Für Verlaine war es der erste Hinweis überhaupt, dass Jeremy so etwas wie ein Gehirn im Kopf haben könnte. An Beweisen des Gegenteils hingegen herrschte bei ihr kein Mangel. Und er hatte so höflich, sogar freundlich gesprochen …
Schnell schnappte sie sich ihr Handy und tippte eine SMS. Es ist VÖLLIG AUSGESCHLOSSEN, dass das wirklich Jeremy Prasad ist.
Verlaine hat recht“, sagte Mateo, während er mit Nadia zum Chemiekurs ging. „Ich weiß, was ich gesehen habe, Nadia. Es war kein Traum, auch keine Vision oder so etwas. Es war absolut real. Jeremy Prasad ist tot.“
„Und er kommt direkt auf uns zu“, stellte Nadia fest.
Mateo schaute auf und stellte fest, dass sie recht hatte. Jeremy schlenderte wie immer völlig gelassen Richtung Chemiesaal, das Einzige, was fehlte, war seine übliche selbstgefällige Miene.
Und doch sah Mateo immer noch vor sich, wie Jeremy in den nassen Sand gefallen war, völlig leblos. Als Jeremy an ihnen vorbeikam, nickte er ihnen zu, wie jeder andere Typ das getan hätte – jeder, außer Jeremy, der normalerweise für jede Gelegenheit eine bösartige Bemerkung parat hatte.
Mateo zog Nadia näher zu sich. Zwar war es eher unwahrscheinlich, dass Jeremy-oder-was-auch-immer sie hier angreifen würde, aber er fühlte sich besser, wenn er versuchte, sie zu beschützen. Erst vor ein paar Nächten hatte sie bewusstlos zu seinen Füßen gelegen, und er hatte gedacht, sie wäre tot. Er hatte einen kurzen Eindruck von seinem Leben ohne Nadia bekommen, und er hatte nicht vor, diese Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen.
„Kann Magie Tote zum Leben erwecken?“, fragte er.
„Nein. Jedenfalls nicht so, wie man es sich wünschen würde. Ich bin sämtliche Möglichkeiten durchgegangen, die ich kenne, aber sie sind alle … sehr, sehr schlimm.“ Nadia wurde blass, und ihr Griff um Mateos Seite wurde stärker. „Und gerade ist es noch schlimmer geworden.“
Mateo folgte ihrem Blick und sah, wie Elizabeth im Chemiesaal verschwand.
Niemand sonst schien ihre Anwesenheit auch nur ansatzweise überraschend zu finden. Warum auch? Sie besuchte die Rodman High, als wäre sie eine ganz normale Schülerin. Sie war zwar oft nicht da, aber sie konnte dafür sorgen, dass die Lehrer und Schüler ihr Fehlen überhaupt nicht wahrnahmen. Umso merkwürdiger war es, dass sie beschlossen hatte, heute hier aufzutauchen.
Und leider war sie immer noch seine Laborpartnerin.
„Ach, junge Liebe“, sagte Mrs. Purdhy, die sich ihnen unbemerkt genähert hatte, während sie abgelenkt waren. Mateo und Nadia lösten sich voneinander. „Was für ein schöner Anblick. Allerdings ein ziemlich schlechter Grund, um zu spät zu kommen. Sie beide wollen doch sicher zum Unterricht?“
„Oh, ja, klar.“ Nadia schaute resigniert zu Mateo. Sie saßen fest.
Jeremy war bereits dabei, die Sachen für das heutige Experiment ordentlich auf dem Labortisch zu arrangieren, den er mit Nadia teilte. Verdammt, wie hatte er vergessen können, dass Jeremy Nadias Laborpartner war? Elizabeth ging ruhig zu ihrem Tisch und wartete auf Mateo. Sie starrte ihn unverwandt an, während er sich ihr näherte. Jeremy beachtete sie gar nicht.
Erinnerungen stiegen in ihm auf: Wie er und Elizabeth als Achtjährige zusammen Kekse gebacken und dabei gekichert hatten. Wie sie an einem heißen Sommernachmittag gemeinsam in die Fluten sprangen. Wie sie vor zwei Jahren um den Break-heart Pond gewandert waren, an einem so kühlen, sonnigen Herbsttag wie heute.
Es waren einige der glücklichsten Erinnerungen in Mateos Leben – und jede einzelne davon war eine Lüge.
„Was zum Teufel machst du hier?“, murmelte er, als er den Tisch erreichte.
„Etwas lernen über …“ Sie schaute an die Tafel und kniff die Augen zusammen. „Verbrennung.“
„Hör auf, mich anzulügen!“, forderte er. Wohl etwas zu laut, denn ein paar Köpfe drehten sich in seine Richtung.
Elizabeth lächelte nur und krempelte die Ärmel ihres Pullovers hoch. Ihr Haar war ein bisschen zerzaust, der Pulli ein wenig zu groß. Sonst hatte sie immer so perfekt gewirkt. „Ich bezweifle, dass dir die Wahrheit besser gefällt. Aber mach dir keine Sorgen, Mateo. Ich bin heute nicht deinetwegen hier; ich bin nicht mal ihretwegen hier.“ Sie nickte zu Nadia herüber, die gerade beobachtete, wie der Nicht-Jeremy pflichtbewusst das heutige Arbeitsblatt ausfüllte. „Ich habe meine eigenen Gründe.“
Vorne im Saal begann Mrs. Purdhy mit dem Unterricht. „Okay, Leute. Wir alle haben am Wochenende eine unvorhergesehene Lektion über Verbrennung gelernt.“ Die Schüler stöhnten über den schlechten Scherz, und sie nickte. „Ja, ja, ich weiß. Gönnt mir einfach diese Überleitung. Die heutige Lektion wird sehr viel kontrollierter ablaufen und hoffentlich auch sehr viel mehr Spaß machen.“
Dank Elizabeth, die neben ihm stand, als sei alles in bester Ordnung, und dem toten Typen neben Nadia konnte Mateo sich nicht weiter auf die Worte der Lehrerin konzentrieren … aber dann merkte er, dass sie aufgehört hatte zu reden.
Er schaute nach vorn. Mrs. Purdhy stand ganz still, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Sie sah nicht zu Elizabeth oder zu Nicht-Jeremy; ihr Blick war auf nichts Bestimmtes gerichtet, und unverhohlene Furcht stand darin geschrieben.
Die Schüler warfen einander verstohlene Blicke zu, um sich Bestätigung zu holen, dass das hier definitiv seltsam war. Dann hob Kendall Bender die Hand. „Äh, Mrs. Purdhy, ist Ihnen bewusst, dass Sie sich irgendwie komisch benehmen?“
Keine Antwort. Langsam hob Mrs. Purdhy eine Hand zu ihrem Hals.
„Ma’am?“ Kendalls Stimme wurde leiser. „Geht es Ihnen gut?“
Mrs. Purdhy öffnete den Mund. In ihrem Mundwinkel bildete sich ein Tropfen Flüssigkeit und lief über ihr Kinn – pechschwarz.
Rufe wurden laut. Ein paar Schüler, die in der ersten Reihe saßen, schoben ihre Tische zurück oder hasteten in den hinteren Teil des Saals. Ein Typ fing an, das Ganze mit seinem Handy zu filmen. Jemand stürzte auf den Flur hinaus und schrie nach der Schulschwester. Nadia schob sich nach vorne durch und eilte an Mrs. Purdhys Seite. „Ist alles in Ordnung? Können Sie reden?“
Mrs. Purdhy zeigte keinerlei Reaktion, die darauf schließen ließ, dass sie irgendetwas wahrnahm außer dem, was ihr gerade widerfuhr. Immer mehr Flüssigkeit lief aus ihrem Mund, ein langsamer Strom, dick wie Schokoladensirup und von Sekunde zu Sekunde dicker werdend. Schwarze Streifen rannen über ihre Bluse. Als die ersten Tropfen auf dem Linoleumboden auftrafen, ertönte ein grässlich zischendes Geräusch.
Mateo drehte sich zu Elizabeth um. „Was zum Teufel machst du da?“
Elizabeth sah ihn nicht mal an. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht deinetwegen hier bin.“
Mrs. Purdhy stieß einen gurgelnden Schrei aus, umklammerte ihren Hals und kippte um. Nadia fing sie auf und ließ sie sanft zu Boden gleiten.
Zur Hölle mit Elizabeth. Mateo lief zu Nadia nach vorn; jemand musste ihr helfen. Als er sich neben sie hockte, sorgfältig vermeidend, mit der Flüssigkeit – was auch immer das für ein Zeug sein mochte – in Berührung zu kommen, sah er, dass Nadia Mrs. Purdhys Kopf auf ihre Knie gebettet hatte. Sie fasste nach ihrem Armband, um einen Zauber zu wirken. Mateo legte seine Arme um ihre Taille. Je näher er ihr war, desto mehr konnte sie von der verstärkten Kraft zehren, die er ihr als ihr Adjutant verlieh.
Doch einen Augenblick später flüsterte sie: „Ich kann es nicht bekämpfen. Was immer es ist, es ist zu stark.“
Mateo schaute auf Mrs. Purdhy herab, die begann, sich in Krämpfen zu winden. Er presste ihre Arme auf den Boden, damit sie sich nicht selbst verletzte, und dachte einen Moment, dass dieses teerartige Zeug, das aus ihr herausgekommen war, sich über ihr Gesicht und ihre Hände verteilt hätte. Doch dann begriff er, dass die schwarzen Streifen sich unter ihrer Haut befanden, wo sie immer dunkler wurden und sich ausbreiteten wie groteske Adern.
Was passiert mit ihr? Er sah Nadia an, die nur verzweifelt den Kopf schüttelte.