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Das Böse kommt - in "Captive's Sound" ist es schon ganz nah … Dieser Ort ist böse: Dank ihrer Hexenmagie spürt Nadia es sofort, als sie mit ihrer Familie nach Captive’s Sound zieht. Aber wer steckt dahinter? Verlaine, das seltsame Mädchen mit den silberweißen Haaren, das ihr am ersten Schultag ihre Freundschaft anbietet? Hoffentlich ist es nicht Mateo, dieser faszinierende Junge, der ihr Herz höher schlagen lässt. Mateos Visionen bringen ihn fast an den Rand des Wahnsinns. Es ist ein dunkler Familienfluch, der seine Mutter in den Tod getrieben hat und nun auch ihm zum Verhängnis werden könnte. Immer wieder sieht er in seinen Träumen ein schönes, sterbendes Mädchen … und jetzt ist dieses Mädchen wirklich da! Mit ihrem Vater und ihrem Bruder ist Nadia nach Captive’s Sound gezogen. Mateo ahnt, was kommen wird: Auf magische Weise sind er und Nadia füreinander bestimmt. Doch ihr Ende ist ungewiss … Ein Junge, der von dunklen Visionen gequält wird. Ein Mädchen mit der magischen Gabe, ihn zu retten. Das Böse, das sie beide vernichten will.
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Seitenzahl: 499
Claudia Gray
Spellcaster – Düstere Träume
Roman
Aus dem Amerikanischen von Ira Panic
HarperCollins YA!®
HarperCollins YA!® Bücher erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2015 by HarperCollins YA! in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Spellcaster
Copyright © 2013 by Amy Vincent Erschienen bei:HarperTeen, New York
Published by arrangement with HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Thinkstock
Autorenfoto: © Keith Claunch
ISBN eBook 978-3-95967-988-6
www.harpercollins.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten
Als Erstes spürte Nadia die Kälte.
Sie konnte sich nicht erklären, woher dieses Gefühl kam. Das Wetter war zwar grässlich, aber ihr Vater hatte die Autoheizung voll aufgedreht. Und ihr kleiner Bruder Cole war so vertieft in sein Spiel, dass er nicht auf die Idee käme, eins der Fenster zu öffnen. Sie hörte auch nichts Ungewöhnliches – die einzigen Geräusche waren das Schaben der Scheibenwischer, Coles unermüdliches Herumgetippe auf dem Tablet und die klassische Musik ihres Dads. Irgendein Klavierkonzert, dessen Klänge ähnlich wie der Regen draußen über sie hinwegprasselten. Kurz: Alles war so wie in den zahllosen anderen Stunden, die sie heute schon in diesem Wagen verbracht hatten.
Es gab also überhaupt keinen Anlass für die bittere Kälte, die über ihre Haut kroch. Oder für das Schwindelgefühl, das sie ergriff, während alle ihre Sinne in den Alarm-Modus schalteten.
Zumindest keinen normalen Anlass.
Nadia setzte sich auf der Rückbank neben ihrem Bruder aufrechter hin. Der Beifahrersitz blieb immer frei, als würde Mom plötzlich beim nächsten Rastplatz auftauchen und zusteigen. „Dad, wo sind wir?“
„Gleich da.“
„Das hast du vor zwei Stunden auch schon behauptet“, mischte Cole sich ein, ohne von seinem Spiel aufzublicken.
„Diesmal stimmt es aber“, beharrte Dad. „Wir müssten die Stadt eigentlich jeden Moment erreichen. Also haltet durch, Leute.“
„Ich meine ja nur … ich habe Kopfschmerzen.“ Auf keinen Fall durfte sie sagen, was wirklich mit ihr los war. Ihr war klar, dass ihre seltsamen Zustände keine körperlichen oder seelischen Ursachen hatten.
Es waren Anzeichen für Magie.
Dad dämpfte die klassische Musik im Radio zu einem leisen Plätschern. „Ist es sehr schlimm, Schatz? Im Erste-Hilfe-Koffer sind Schmerztabletten, ich kann gleich mal anhalten.“
„Nicht nötig“, wiegelte Nadia ab. „Wenn wir ohnehin fast da sind, sollten wir durchfahren.“
Noch während sie sprach, überfiel sie das Gefühl, einen Fehler zu machen. Es war ihr, als hätte sie besser sagen sollen: Ja, fahr bitte rechtsran, lass uns so schnell wie möglich aus diesem Auto verschwinden. Alle ihre Sinne verrieten ihr, dass sie sich einer Quelle von Magie näherten, die anders war, anders als alles, was sie bislang kennengelernt hatte. Nadia spürte instinktiv, dass diese Magie … ursprünglich war. Mächtig. Und möglicherweise überwältigend.
Unwillkürlich schaute sie auf den leeren Platz neben ihrem Vater. Mom hätte gewusst, was zu tun war …
Aber Mom ist nun mal nicht hier, dachte Nadia wütend. Sie ist daheim in Chicago und trinkt wahrscheinlich Cocktails mit irgendeinem Kerl, den sie erst seit fünf Minuten kennt. Und ich werde mein Training niemals vollenden können. Ich werde nie imstande sein, Magie so zu nutzen wie sie.
Allerdings fahren wir gerade in irgendetwas Gefährliches hinein. Ich muss was unternehmen.
Bloß was?
Nadia warf Cole einen raschen Seitenblick zu. Ihr Bruder war voll auf sein Spiel konzentriert. Er war sich der Kräfte, auf die sie zurasten, ebenso wenig bewusst wie ihr Vater. Die beiden waren magieblind wie alle männlichen Wesen. Sie schloss die Augen, öffnete ihre rechte Hand und legte das linke Handgelenk hinein. Daran befand sich etwas, das Dad für ein gewöhnliches Charms-Armband hielt, auf den ersten Blick sah es auch danach aus.
Nadia trug das Armband jeden Tag, sogar nachdem Mom sie verlassen hatte und damit ihr aller Leben und sämtliche Hoffnungen ihrer Tochter zerstört hatte. Sie brachte es einfach nicht fertig, sich davon zu trennen.
Sie ertastete den kleinen Anhänger aus Elfenbein – das Material, das sie brauchte, um ihren Zauber auszubalancieren.
Schweigend ging sie die Bestandteile durch, die nötig waren, um den magischen Zustand zu erreichen. Die Erinnerung kam schneller, als sie erwartet hatte.
Ein Sonnenaufgang im Winter.
Der Schmerz, verlassen zu werden.
Die Erfahrung von Liebe.
Sie zog sich tief in ihr Inneres zurück und beschwor diese Dinge herauf. Es waren mehr als bloße Erinnerungen; sie empfand alles, als ob sie es noch einmal durchlebte …
Der Sonnenaufgang an einem schneidend kalten Morgen, als so viel Schnee lag, dass man bis zu den Knien darin versank. Die Sonne stieg über dem Horizont auf und tauchte den Himmel in ein blasses Rosa, und sie stand bibbernd auf dem Balkon.
Sie, wie sie völlig verdattert in der Tür zum Elternschlafzimmer stand, als Mom einen Koffer packte und sagte: „Dein Vater und ich haben beschlossen, eine Zeit lang getrennt zu leben.“
Wie sie während eines heftigen Gewitters aufwachte und feststellte, dass Cole, der seinen Füsslipyjama trug, sich neben ihr im Bett zusammengerollt hatte im stummen, absoluten Vertrauen darauf, dass seine große Schwester ihn beschützen würde.
Die Gefühle und Bilder strömten durch sie hindurch, wurden von ihren Kräften zurückgeworfen und prallten vom Elfenbein ab, bis sie schließlich etwas erkannte – eine Barriere. Sie steuerten direkt darauf zu … Was war das bloß? Was bezweckte es? Sollte es alle anderen Formen der Magie aussperren oder jemanden warnen, falls fremde Magie in dieses Territorium eindrang?
Nadia riss erschrocken die Augen auf. Sie selbst würde problemlos durch diese Barriere hindurchgelangen – magische Sperren galten nicht für Nutzer von Magie –, doch das war nicht ihr größtes Problem.
Oh nein, dachte sie. Das Auto.
In ihrer Reisetasche im Kofferraum lag eingewickelt in ein paar Kleidungsstücke ihr „Buch der Schatten“.
„Dad?“ Ihre Stimme klang hoch und gepresst. Die Barriere kam immer näher, sie konnte sie schon fast wie ein elektrisches Knistern auf der Haut spüren. „Dad, kannst du doch mal anhalten?“
Er war zu sehr in Gedanken versunken, um gleich zu reagieren.
„Was hast du gesagt, Schatz?“
Und dann – der Aufprall.
Die Straße schien unter den Wagenrädern zu zucken, als risse ihnen jemand den Boden weg. Nadia knallte gegen das Fenster. Ihr Vater versuchte verzweifelt, das Lenkrad unter Kontrolle zu kriegen – vergeblich. Sie hörte das Quietschen der Reifen und Coles Schrei. Die Welt drehte sich, wieder und wieder, und schleuderte sie in sämtliche Richtungen gleichzeitig. Etwas traf sie am Kopf, und sie konnte nicht mehr richtig sehen und hören. Cole schrie immer noch – oder war sie es selbst? Unmöglich, das zu unterscheiden …
Der Wagen hielt abrupt, so heftig, dass sie erst nach vorn, dann nach hinten geschleudert wurde. Der Sicherheitsgurt fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Baseballschläger auf die Brust geschmettert.
Der Schmerz brachte sie vollends zur Besinnung, doch sie wünschte, es wäre nicht so.
Nadia schrie auf, denn die Fensterscheibe auf ihrer Seite – die sich jetzt unter ihr befand – zersplitterte. Schlamm und Wasser sickerten ins Wageninnere. Über ihr hing Cole halb aus seinem Kindersitz und weinte vor Angst. Sie streckte zitternd eine Hand aus, wollte ihn berühren, ihn beruhigen und sich vergewissern, dass er nicht verletzt war, aber in ihrem Kopf drehte sich alles.
Das „Buch der Schatten“ … Es ist gegen die Barriere geprallt, und es war wie … wie eine Explosion oder so etwas Ähnliches …
„Cole! Nadia!“
Nun war es fast dunkel im Auto; weder die Lampen noch der Motor gaben irgendein Lebenszeichen von sich. Trotzdem konnte sie die Umrisse ihres Vaters erkennen, der versuchte, zu ihnen nach hinten zu klettern. „Seid ihr in Ordnung?“
„Ja, sind wir“, stieß Nadia keuchend hervor.
„Das Wasser …“
„Ich sehe es!“ Der Schlamm stieg an. Oder sank der Wagen womöglich? Sie hatte keine Ahnung.
Dad gab den Versuch, auf den Rücksitz zu gelangen, auf und drückte stattdessen gegen die Beifahrertür, die schließlich aufging. Danach schob er sich nach draußen. Für einen Moment breitete sich wilde Panik in ihr aus – er hat uns verlassen, wo ist Dad, wo ist Dad? –, doch die Tür auf Coles Seite öffnete sich, und Dad streckte Kopf und Arme ins Autoinnere, um ihren kleinen Bruder ins Freie zu ziehen.
„Daddy!“
Cole heulte und schlang beide Ärmchen um den Nacken seines Vaters. Jetzt regnete es in den Wagen herein, harte Tropfen. Nadia schaffte es irgendwie, die Gurte des Kindersitzes zu lösen, sodass Dad ihn anheben konnte.
„Alles gut, Daddy ist ja da. Nadia, ich bringe Cole nur rasch aus diesem Graben hinaus und komme gleich wieder, um dich zu holen. Sofort! Halte durch!“
Nadia nickte, etwas zu schnell für das Schleudertrauma, das sie garantiert davongetragen hatte. Ihr Nacken tat jedenfalls ziemlich weh. Sie fummelte an ihrem eigenen Gurt herum, bis sie sich davon befreit hatte. Inzwischen schwappte das Wasser bereits über eins ihrer Beine. Der Gurt hatte sie aus dem Schlamm herausgehalten; nun rutschte sie ungebremst in den eisigen Matsch. Sofort spürte sie die Kälte bis in die Knochen. Über ihren rechten Unterarm zog sich eine lange tiefe Schramme. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Ihre Bewegungen waren unbeholfen, und sie hatte noch mehr Angst als zuvor. Doch das war egal. Hauptsache, es gelang ihr irgendwie, aus dem Auto herauszukommen.
Sie stemmte die Füße gegen die Armlehne und versuchte aufzustehen. Ihr wurde schwindelig, aber sie schaffte es. Wo war ihr Vater? War er in Ordnung?
Es blitzte, und im plötzlich aufflammenden grellen Licht bemerkte Nadia, dass jemand über ihr stand.
Er war ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Dunkles Haar, dunkle Augen, mehr konnte sie in Dunkelheit und Regen nicht erkennen. Doch selbst in der einen vom Blitz erhellten Sekunde war ihr aufgefallen, dass er schön war. Sogar so schön, dass sie sich fragte, ob sie womöglich eine Gehirnerschütterung hatte, die sie Phantome, Fantasien, Engel sehen ließ. Donner grollte.
„Nimm meine Hand!“, rief er und streckte sie ihr ins Innere des Wagenwracks entgegen.
Nadia ergriff seine Hand. Sein Finger schlossen sich um ihr Handgelenk; die einzige Wärmequelle auf der ganzen Welt, so erschien es ihr jedenfalls. Sie ließ sich nach oben ziehen und half so gut es ging mit, indem sie über die Polster kletterte. Draußen peitschte der Regen ihr ins Gesicht und auf die Finger. Ihr Retter schlang ihr einen Arm um die Taille und zog sie vom Wagen weg und aus dem Graben, in den sie gekracht waren.
Sie ließen sich auf die schlammige Erde fallen. Erneut zuckte ein Blitz über den Himmel und tauchte das Gesicht des Jungen in unheimliches Blau. Offenbar sah er sie jetzt ebenfalls deutlicher, denn er flüsterte: „Oh mein Gott. Du bist es.“
Scharf atmete sie ein. Dieser Typ kannte sie?
Wie konnte er sie kennen, wenn sie ihm noch nie begegnet war?
Dad und Cole kauerten neben ihnen. „Danke“, murmelte ihr Vater. Er hielt sich die Seite, als habe er Schmerzen. Erst jetzt wurde Nadia klar, dass er verletzt war.
„Dad! Bist du in Ordnung?“
„Alles gut“, erwiderte er, obwohl sein Körper wie erstarrt wirkte. „Ich habe die Polizei verständigt, während unser neuer Freund dich … Wie heißt du eigentlich?“
„Mateo.“
Nadia drehte sich zu ihm um, aber Mateo hatte den Blick bereits von ihr abgewandt, als wolle er vermeiden, ihr in die Augen zu schauen. Er rang keuchend nach Luft; die Rettungsaktion schien für ihn ähnlich furchterregend gewesen zu sein wie der Unfall für sie.
Woher konnte er sie kennen? Kannte er sie tatsächlich? Oder bildete sie sich das alles nur ein, weil sie nach dem Aufprall unter Schock stand?
„Während Mateo dir geholfen hat“, fuhr ihr Vater fort, geriet jedoch ins Stottern. „Wir … wir kommen schon in Ordnung.“
„Was war denn bloß los?“, fragte Cole kläglich und zog schniefend Rotz hoch. Er klammerte sich an Dad, als fürchte er, wieder in den Graben zu fallen.
Nadia rutschte näher an die beiden heran und ergriff die Hand ihres Bruders. „Alles okay, Kumpel. Wir hatten einen Unfall, das ist alles.“
„Manchmal gibt es während eines Gewitters Aquaplaning.“ Dad atmete vorsichtig durch die Nase, eine Hand immer gegen seine Rippen gepresst. „Das heißt, dass die Reifen sich auf Wasser bewegen statt auf Asphalt. So etwas kann gefährlich sein. Aber ich dachte wirklich … ich dachte, wir wären langsam genug unterwegs, um dieses Risiko zu vermeiden …“
„Es war nicht dein Fehler.“ Nadia wünschte, sie könnte ihrem Vater sagen, dass er sich keine Vorwürfe machen sollte, doch er würde niemals verstehen, was ihnen gerade zugestoßen war oder warum es passiert war.
Sie drehte sich zu ihrem mysteriösen Retter – Mateo – um, aber der war verschwunden. Nadia spähte suchend in den Regen und die Dunkelheit, allzu weit konnte er noch nicht gekommen sein, entdeckte allerdings keine Spur von ihm. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Ihr Vater war so abgelenkt von seinen Schmerzen und Coles Angst, dass er gar nicht zu bemerken schien, dass Mateo weg war.
„Es geht uns gut“, wiederholte er wieder und wieder und wiegte seinen Sohn vor und zurück. „Wir sind alle in Ordnung, das ist das Einzige, was zählt.“
Von Ferne hörte man Sirenen, und Nadia konnte die blinkenden Lichter eines Polizei- oder Rettungswagens ausmachen. Hilfe war also nah, sie zitterte dennoch vor Kälte und unterdrückter Furcht.
Als sie den Blick hob, stellte sie fest, dass sie bei ihrem Unfall ein Ortseingangsschild gerammt hatten. Es war völlig verbogen. Im stürmischen Wind flatterte ein Plakat, auf dem die Worte prangten: Willkommen in Captive’s Sound.
Sie ist real.
Mateo hatte sich in den Wald zurückgezogen und beobachtete an einen Baum gelehnt, wie die Polizei sich um die Familie kümmerte, der er gerade geholfen hatte. Für den Vater war ein Rettungswagen gerufen worden, aber man schien es nicht besonders eilig zu haben, die Verunglückten ins Krankenhaus zu schaffen. Also war niemand schwer verletzt. Gut.
Obwohl es dunkel war, konnte er sehen, dass das Mädchen auf dem Rücksitz des Streifenwagens saß. Man hatte ihr eine helle Decke um die Schultern gelegt. Es half, sie warm und sicher zu wissen.
Ein weiterer Blitz riss den Nachthimmel auf, und Mateo dachte vage, dass es vielleicht nicht die beste Idee war, ausgerechnet jetzt neben einem hohen Baum zu stehen. Der Schock hatte ihn jedoch derartig betäubt, dass er zu keiner Bewegung fähig war.
Außerdem wusste er ja, dass er in dieser Nacht nicht vom Blitz erschlagen werden würde.
Er wusste es.
Während des Tages hatte er versucht, seinen Traum zu vergessen. Er redete sich ein, dass seine Vision vom Gewitter, dem Unfall und dem schönen, im verunglückten Auto eingeschlossenen Mädchen ein normaler Albtraum gewesen war. Doch als es nach Sonnenuntergang zu regnen anfing, konnte er das Ganze nicht länger ignorieren.
Er war in der Hoffnung hergekommen, sein Traum würde sich als Hirngespinst erweisen. Stundenlang stand er im Regen, wartete und spähte in die Dunkelheit. Er war wütend auf sich selbst, weil er auch nur in Erwägung zog, dass so eine „Vorahnung“ möglich war. Gleichzeitig wurde er immer optimistischer, je mehr Zeit verging, ohne dass etwas passierte.
Und dann, gerade als er tatsächlich zu glauben begann, es wäre nur ein gewöhnlicher Traum gewesen, geschah alles so, wie er gewusst hatte, dass es geschehen würde.
Es gibt sie wirklich, dachte er. Und da der Unfall so abgelaufen ist, wie ich es vorhergesehen habe, wird all das andere, das ich gesehen habe, ebenfalls eintreffen.
Kalte Angst ergriff ihn. Mateo schloss zitternd die Augen, als könnte er so die Gewissheit aussperren, dass er verdammt war.
Sollte das Mädchen aus seinen Träumen sich nicht von ihm fernhalten, wäre auch sie verdammt.
Trotz des Schleudertraumas und eines bandagierten Arms machte sich Nadia sofort ans Auspacken. Dad war von seinen gebrochenen Rippen lahmgelegt, und Cole konnte höchstens ein paar Spielsachen wegräumen, für alles andere war er noch zu klein. Außerdem gab es da einige Dinge, die niemand zu Gesicht bekommen sollte.
Zum Beispiel ihre Hexen-Utensilien.
Bei den Glastiegeln könnte ich mich ja vielleicht herausreden, dachte sie, während sie die zerbrechlichen Gefäße von diversen Schichten Zeitungspapier befreite. Ich würde einfach sagen, sie sind für Make-up oder so etwas. Aber das Knochenpulver? Dad würde vermutlich denken, dass ich Drogen nehme.
Sie kam sich ohnehin dumm vor, weil sie alles aufbewahrte. Ohne Mom gab es keinerlei Aussicht, ihre Ausbildung fortzusetzen. Hexenkunst war ein gut gehütetes Geheimnis, das nur unter weiblichen Verwandten weitergegeben wurde in den seltenen Blutlinien, die über diese Kräfte verfügten. Mom hatte ihr nicht verraten, wer sonst noch zu ihrem Zirkel gehörte – so entsprach es den Gepflogenheiten. Nadia hätte niemals erwartet, die Namen der anderen zu erfahren, bevor sie selbst eine wahre Hexe war, die dem Zirkel als gleichberechtigtes Mitglied beitreten konnte.
Dennoch hatte sie nach der Scheidung gedacht, eine von ihnen würde vielleicht auf sie zukommen und anbieten, sie zu trainieren oder ihr zumindest ein paar Ratschläge zu geben …
Nichts dergleichen war passiert. Mom hatte den anderen vermutlich nicht mal erzählt, dass sie ihre Tochter mangelhaft ausgebildet zurückgelassen hatte, mit gerade mal genug Wissen, um in Schwierigkeiten zu geraten, doch längst nicht ausreichend Kenntnissen, damit sie auch nur eins ihrer Probleme lösen konnte.
Sie war eine gute Schülerin gewesen und hatte immer hart an sich gearbeitet, aber das spielte alles keine Rolle mehr. Sie würde nun niemals eine Hexe werden. Das hatte Mom ihr ebenfalls genommen.
Obwohl ihre Kehle vor unterdrückten Schluchzern brannte, versuchte Nadia, sich aus ihrer trüben Stimmung zu reißen. Du weißt genug, um einige Dinge hinzukriegen. Das ist doch besser als nichts, oder?
Es hat immerhin gereicht, einen Autounfall zu verursachen. Wenn ich den Tatsachen ins Auge geblickt und mein „Buch der Schatten“ entsorgt hätte …
Nein. Das war keine Option gewesen. Ein „Buch der Schatten“, auch wenn es so neu war wie ihres, besaß Macht. Man durfte es nicht einfach irgendwo herumliegen lassen. Und sie brachte es nicht übers Herz, es zu zerstören.
Genauso wenig, wie sie es übers Herz brachte, der Hexenkunst zu entsagen.
Als sie an den Unfall dachte, rollten die Bilder der Nacht so machtvoll über sie hinweg, als wäre sie wieder in diesem Graben. Sie hörte den Sturm peitschen und den Donner grollen und durchlebte noch einmal die Panik, in den kalten Schlamm abzurutschen und nicht zu wissen, ob sie es aus dem zertrümmerten Wagen schaffen würde.
Mateos Gesicht, das vom Blitz erleuchtet wurde. Sein Arm, der sich nach ihr ausstreckte, um sie zu retten …
Nadia stockte der Atem. Wer war dieser Junge? Und woher kannte er sie?
Das war jedoch nicht das größte Rätsel dieser Nacht. Noch wichtiger war die Frage: Wer hatte die magische Barriere um Captive’s Sound errichtet?
Und warum?
„Mach eine Micky Maus!“
Nadia goss drei Kreise aus Pfannkuchenteig in die Pfanne – zwei kleine für die Ohren und einen großen für das Gesicht. „Wir haben keine Schlagsahne für das Lächeln, aber du isst Micky bestimmt so schnell auf, dass das gar nicht weiter auffällt, stimmt’s Kumpel?“
„Und ob!“
Cole trug sein Milchglas zum Küchentisch. Es war mal wieder viel zu voll, er kleckerte trotzdem nicht.
„Was ist denn hier los?“
Dad kam in die Küche ihres neuen Hauses. Er bewegte sich schmerzfrei, aber unter seinem Hemd war noch immer ein Verband zu erkennen. „Ich wollte euch doch heute das Frühstück machen. Zur Feier des großen Tages.“
„Niemand feiert den ersten Tag in der Schule“, bemerkte Cole und erklomm einen Stuhl.
Seine kleinen, in winzigen Sneakers steckenden Füße baumelten nun mehrere Zentimeter über dem Parkettboden. Er war so gut gelaunt, selbstbewusst und unbekümmert. Nadia wechselte verstohlen einen Blick mit ihrem Vater. Cole schien es endlich wieder gut zu gehen; vielleicht war dieser Neuanfang ja wirklich genau das Richtige für ihn, so, wie sie es gehofft hatten.
„Ich mache gern Frühstück“, sagte sie. „Außerdem kann ich es ohnehin besser als du.“
Dad nickte bestätigend und setzte sich. „Aber wie soll ich es denn sonst lernen?“
Kochen war für Nadia keine lästige Pflicht, es war ein Hobby, man könnte sogar sagen, eine Leidenschaft. Sie hatte etliche der Stunden, die früher für ihre Hexen-Lektionen draufgegangen waren, damit verbracht, Kochbücher zu durchforsten und am Herd zu experimentieren. Aber ihr Vater hatte nicht unrecht: Egal, was passierte, sie würde nach ihrem Schulabschluss gewiss nicht mehr ständig zu Hause sein, daher sollte sie ihm wohl ein paar Grundlagen der Nahrungszubereitung beibringen, um sicherzustellen, dass er und Cole nicht verhungerten. „Kein Problem. Ich gebe dir Unterricht.“
Dad sah zwar aus, als wolle er protestieren, doch sein Blick fiel auf den krossen Frühstücksspeck, den sie vor ihm auf den Tisch stellte. Das Ablenkungsmanöver wirkte, die Diskussion war beendet.
Die Küche gehörte zu den wenigen Dingen in ihrem neuen Heim, die Nadia nicht gefielen. In ihrer geräumigen Wohnung in Chicago hatte es die beste und modernste Ausstattung gegeben, die das stattliche Juristengehalt ihres Vaters ermöglichte, und unendlich viel Arbeitsfläche. Hier war alles eher altmodisch und fast ein bisschen schäbig. Aber was ihr in der Küche missfiel, war genau das, was den Rest des Hauses so wundervoll machte. Es handelte sich um ein altes viktorianisches Gebäude; zwei Stockwerke, dazu ein großes Dachgeschoss, das sie sofort für sich beansprucht hatte – das perfekte Versteck für das „Buch der Schatten“ und ihre magischen Utensilien. Sie hatte beim Einzug eigentlich damit gerechnet, Cole würde ausrasten, weil er keine Etage für sich bekam; ihr kleiner Bruder war jedoch so begeistert darüber, plötzlich einen echten eigenen Garten zu haben, dass er keinerlei Anstalten machte, jemals wieder freiwillig ins Haus zu kommen.
Die Eichendielen auf dem Boden knarzten gemütlich, und durch ein Buntglasfenster fiel cranberryrotes Licht ins Treppenhaus. Alles war ein wenig heruntergekommen, aber eben auch wunderschön – und der größte Kontrast zu ihrem bisherigen luxuriösen Hochhausapartment, den sie sich vorstellen konnte.
Nadia wollte nicht an ihr früheres Leben erinnert werden. Sie wollte ihre Familie an einem sicheren Ort einschließen, einem Ort, an dem nichts sie verletzen konnte – weder Erinnerungen noch ihre Mutter noch irgendeine seltsame Magie, die in dieser Stadt am Werk war. Das neue Haus schien diesbezüglich Potenzial zu haben, und sie war immerhin bewandert genug im Magierhandwerk, um dieses Potenzial zu nutzen.
Sie hatte Zaubersprüche gemurmelt, um ihr Zuhause mit dem bestmöglichen Schutz zu versehen, den sie herstellen konnte. Sie hatte sich nachts vor die Tür geschlichen und Mondsteine neben den Treppenstufen vergraben. Und sie hatte damit begonnen, die Decke des Dachgeschosses blau zu streichen. Weil das freundlicher aussieht, war ihre Begründung Dad gegenüber. Die wahre Macht dieses speziellen Farbtons oder was es für ein Heim bedeutete, von oben beschützt zu werden – das waren Dinge, von denen er besser nie erfuhr.
Na toll. Nadia starrte auf ihre Schule, die Isaac P. Rodman High. Einfach super.
Allein die Tatsache, dass es sich um eine Highschool handelte, war schon schlimm genug. Und dann war es obendrein auch noch eine neue Schule für ihr Abschlussjahr. Sie hatte die Notwendigkeit eines Umzugs akzeptiert, das hieß aber nicht, dass sie sich darauf freute, mit komplett neuen Mitschülern, Lehrern und Cliquen klarzukommen, und das für nur neuneinhalb Monate, bis sie ihren Abschluss hatte und frei war. Diese Schule war viel kleiner als ihre Highschool in Chicago, das war in gewisser Weise noch beängstigender. Hier kannte jeder jeden, und das vermutlich schon sein ganzes Leben lang.
Das machte sie von vornherein zur Außenseiterin.
Und dann war da noch was, das sie beunruhigte. Irgendetwas, das direkt unter der Oberfläche zitterte – und zwar wieder etwas Magisches, das sich von allem unterschied, was sie je kennengelernt hatte. Was genau anders daran war, konnte sie nicht sagen, doch die Energie, die sie spürte, kam ihr gleichzeitig vertraut und fremd vor – sie fühlte, wie sie um sie herum tobte, es war dieser Elektrostatik-Effekt, wie neulich im Auto.
Das war … eine Komplikation.
Was geht hier bloß vor? Es kann nicht nur daran liegen, dass jemand in meiner Nähe Magie benutzt. Selbst wenn ich das spüren könnte, glaube ich nicht, dass es sich so anfühlen würde. Nein, das kommt mir eher vor, als ob hier irgendeine Quelle magischer Energie aufbewahrt wird. Aber abgeschirmt … ummantelt … mit einer Methode, die ich nicht verstehe.
Nadia umklammerte die Gurte ihres Rucksacks fester und machte sich hastig auf den Weg zum Schulsekretariat. Denk jetzt nicht weiter darüber nach. Du musst es später herausfinden. Außerdem gibt es ohnehin nichts, was du tun kannst – schließlich ist Mom nicht mehr da, um zu helfen. Und im Moment gibt es nichts Wichtigeres für dich, als diesen Tag zu überstehen.
Es wurde ihr schon fast zu viel, im Sekretariat auf ihren Stundenplan zu warten.
„Und stell dir vor, Jinnie steht einfach nur da, als ob alles wie immer wäre, obwohl wir doch beide wissen, was abgeht. Also ich so: Hey, Jinnie. Und sie so: Hey, Kendall. Und ich so: Was gibt’s? Und sie so: Nichts. Ich sage dir, sie ist dermaßen falsch.“
Das Mädchen vor ihr schaffte es irgendwie, ohne Atempause in ihr Handy zu plappern, und das mit mindestens einer halben Packung Kaugummi auf einmal im Mund.
„Und sie so: Hattest du einen netten Sommer? Und ich einfach nur so: Ja. Weil ich nämlich absolut keinen Bock habe, das mit ihr zu diskutieren.“
Nadia betete inbrünstig, die uralte Sekretärin im lilafarbenen Polyester-Kostüm, die hinterm Tresen herumwuselte, möge finden, was Kendall wollte, was immer es auch war, damit die Nervensäge endlich verschwand oder wenigstens den Mund hielt.
Hinter ihr wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen. Nadia machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen, das Mädchen vor ihr schon. Kendalls strohblondes Haar schwang über eine Schulter, und binnen einer Sekunde verzog ihr freundliches sommersprossiges Gesicht sich zu einer hässlichen Grimasse, ihr leerer Blick wurde geradezu bösartig.
„Apropos falsche Schlangen“, sagte sie viel zu laut in ihr Handy, „gerade ist diese Schlampe Verlaine reingekommen.“
Jetzt drehte Nadia sich doch um.
Das erste Wort, das ihr durch den Sinn ging, als sie Verlaine sah, war Grufti. Aber das traf es nicht wirklich. Verlaines schwarzes Kleid war weder aus Spitze noch aus Leder; es hatte Puffärmel, einen breiten Gürtel in der Taille und wirkte wie aus einem Fünfzigerjahre-Film. Dazu trug sie leuchtend gelbgrüne Converse Sneakers. Ihr Teint war so weiß, dass Nadia zunächst annahm, sie benutzte dieses Zeug, mit dem Gruftis sich den Anstrich von Porzellanpuppen oder Geistern gaben, aber Verlaine war tatsächlich so hellhäutig, und zwar überall. Und ihr langes Haar war ganz gewiss keine Perücke und auch nicht aufwendig gefärbt, es sei denn, sie hatte ihre Augenbrauen gleich mitbehandelt. Es war wirklich und wahrhaftig komplett silbergrau, obwohl Verlaine nicht älter zu sein schien als sie.
Doch das Auffälligste an ihr war … ihre Ausstrahlung von Hoffnungslosigkeit. Sie wirkte, als wären alle Menschen grundsätzlich so gemein zu ihr, dass sie nicht mal mehr zu träumen wagte, die Dinge könnten sich zum Besseren wenden.
Auch jetzt rollte sie nur mit den Augen und sagte: „Lass gut sein, Kendall.“
„Ich muss aufhören“, ließ Kendall ihre Gesprächspartnerin – und den Rest im Raum – wissen. „Wenn ich nicht gleich hier rauskomme, sterbe ich noch an einer Schlampen-Überdosis.“
Sie steckte ihr Handy ein und warf Verlaine einen weiteren vernichtenden Blick zu. Von ihrem überschäumend fröhlichen Wesen war nichts mehr zu spüren – binnen Sekunden hatte sie eine komplette Persönlichkeitswandlung vollzogen.
„Man sollte ja meinen, dass jemand mit zwei Schwuchteln als Väter zumindest hin und wieder einen Tipp kriegen würde, wie man sich anständig kleidet.“
Nadia konnte sich nicht länger beherrschen. „Man sollte auch meinen, dass jemand, der solche Schuhe trägt, weiß, dass er alles Recht verwirkt hat, den Stil anderer Leute zu kritisieren.“
Kendall, offenbar kalt erwischt, starrte verblüfft auf ihre Schuhe, als versuche sie herauszufinden, was damit nicht stimmte. Die Dinger waren völlig in Ordnung, soweit Nadia das beurteilen konnte, aber wenn es um Mode ging, war überzeugtes Auftreten die halbe Miete. Verlaines Miene hellte sich auf; ihr Lächeln wirkte ein bisschen verrutscht, als käme es nicht besonders oft zum Einsatz.
„Bitte sehr, Ms Bender.“
Die Sekretärin kam schlurfend hinter ihrem Tresen hervor und hielt Kendall eine Aktenmappe hin. Kendall riss sie ihr aus der Hand und stampfte davon.
„Und Sie sind?“
„Nadia Caldani. Ich bin neu. Sie müssten meine Unterlagen aus Chicago bekommen haben.“
„Ach ja. Wir haben Ihren Stundenplan … ich hole ihn mal eben.“ Die Sekretärin ging gemächlichen Schrittes ins Hinterzimmer.
„Danke“, flüsterte Verlaine. „Kendall ist eine fiese Hexe.“
Nadia schluckte ihren Unmut herunter. „Ich ziehe ehrlich gesagt den Ausdruck Schlampe vor. Die meisten Hexen sind total nette Leute. Tut mir leid, da bin ich etwas eigen.“
„Kein Problem. Höchste Zeit, dass noch jemand mit ein paar Ecken und Kanten herkommt. Ansonsten ist man hier in Captive’s Sound nämlich lebendig begraben.“
„Das klingt ja Furcht einflößend.“
„Ich übertreibe ein bisschen. In Wahrheit geht es auf jedem Friedhof aufregender zu.“
Nadia lächelte, doch die Unterhaltung kam ihr … seltsam vor. Sie wollte keine Freundschaften schließen. Nachdem in Chicago plötzlich alle angefangen hatten, sie zu meiden, als wäre ihr persönliches Pech ansteckend, war sie zu dem Schluss gekommen, dass es mit dem Prinzip „Freundschaft“ offenbar nicht so weit her war, wie sie dachte. Und Verlaine hatte irgendetwas an sich, das sie nicht genau ausmachen konnte. Aber sie spürte, dass es da war.
Es blieb jedoch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Als die Sekretärin endlich mit ihrem Stundenplan heranwatschelte, war es schon fast zu spät für den ersten Kurs. Nadia winkte Verlaine zu, die nur nickte, und rannte zu dem Gebäude, das sie für das richtige hielt. Ihren Spind würde sie später suchen, sie hatte schließlich bisher keine Bücher. Auf dem Gang war allerhand los.
„Da ist er“, flüsterte ein Mädchen aufgeregt. „Oh mein Gott, er ist den Sommer über tatsächlich noch heißer geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich ist.“
„Er sieht gut aus“, wisperte eine andere. „Aber er bringt Unglück. Das weißt du doch.“
„Das ist Blödsinn, nichts als das Gewäsch ein paar tratschender Greise.“
„Ach ja? Und warum redest du dann nie mit ihm?“
„Halt die Klappe!“
Nadia konnte nicht widerstehen, sie drehte sich um, um zu sehen, über wen die beiden da flüsterten, und ihre Augen weiteten sich.
Mateo. Er war hier, in ihrer Schule, die Baseballjacke lässig über eine Schulter geworfen, das dunkle Haar zurückgekämmt – und bei Tageslicht noch attraktiver als neulich in der Dunkelheit. In jenen ersten panischen Momenten hatte sie angenommen, er sei ein paar Jahre älter als sie, aber offenbar ging er ebenfalls zur Rodman High.
Als ihre Blicke sich trafen, erstarrte er förmlich. Beinahe so, als mache ihr Anblick ihm Angst.
Das konnte nicht sein. Er hatte sie schließlich aus dem verunglückten Auto gerettet, was die tapferste Aktion gewesen war, die sie je miterlebt hatte. Warum sollte er also vor ihr Angst haben?
„Hey, Mateo“, sagte sie. „Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist.“ Was für eine blöde Bemerkung. Es war ja nicht so, dass sie sich länger über die Schule oder irgendwas anderes unterhalten hätten.
„Ja. Hey“, erwiderte er nur. „Geht es dir gut? Und deiner Familie?“
Sie wurden jetzt ganz offen angestarrt: die Neue und Mateo, der aus irgendeinem Grund „Unglück“ brachte.
„Alles gut“, sagte sie rasch. „Dad hat sich ein paar Rippen gebrochen, aber es ist nicht schlimm, und es geht ihm schon wieder besser. Heute hat er angefangen zu arbeiten.“ Als ob er sich um den Job ihres Vaters scherte. Der Wortschwall schien völlig sinnlos aus ihrem Mund zu sprudeln.
„Gut. Das freut mich.“
Mateo strich sich unsicher durch sein dunkles Haar. Jetzt, bei Tageslicht, sah Nadia, dass es nicht schwarz war wie ihres, sondern von dunkelstem Dunkelbraun, genau wie seine Augen. Sein Teint war so gebräunt wie ihrer, vielleicht sogar noch mehr. Er war kein Riese, aber doch mehrere Zentimeter größer als sie – was natürlich perfekt war für …
„Ja. Also. Man sieht sich.“ Sie war im Begriff, weiterzugehen, da fiel ihr ein, dass sie versäumt hatte, etwas zu erwähnen. „Ich bin übrigens Nadia.“
„Nadia“, wiederholte er leise.
Seine Augen schienen aufzuleuchten, und Nadia hatte keinen Zweifel daran, dass er sich schon länger gefragt hatte, wie sie hieß.
Er kennt mich … Das habe ich mir nicht eingebildet. Aber wie kann das sein?
Mateo drehte sich auf dem Absatz um und schob sich durch das Getümmel im Foyer. Das Raunen, das ihm folgte, war fast so laut wie das Knallen der Spindtüren.
Sie müsste jetzt eigentlich schleunigst in die entgegengesetzte Richtung aufbrechen, trotzdem schaute Nadia ihm nach, bis er die breite Doppeltür am Ende des Korridors aufstieß und vom Licht draußen verschluckt wurde.
Mateo schritt schnell über das Schulgelände, dann noch schneller, schließlich fing er an zu rennen. Er musste weg von ihr, mehr um ihretwillen als um seinetwillen. Und doch ging ihm ihr Name nicht aus dem Kopf. Nadia.
„Hey!“
Er blieb schlitternd stehen – und konnte in letzter Sekunde einen Zusammenstoß mit Gage Calloway vermeiden, der ihm zehn Zentimeter Körpergröße und zwanzig Pfund Muskelmasse voraushatte. Das hätte wehgetan. Offenbar hatte sein Hirn sich zwischenzeitlich abgeschaltet. „Entschuldige.“
„Gibt es irgendeinen speziellen Grund, dass du hier herumsprintest wie der sprichwörtliche geölte Blitz?“ Gage grinste. „Nicht, dass ich nicht auch liebend gern von hier abhauen würde, aber ich fürchte, wir müssen wohl erst unseren Abschluss machen, damit das auf Dauer funktioniert.“
Mateo seufzte und strich sich durchs Haar. „Ich brauche eine kleine Auszeit.“
„Okay. Ich leiste dir für eine kleine Auszeit Gesellschaft.“
Mateo hatte nichts dagegen. Sie waren zwar nicht eng befreundet, er hatte Gage erst kennengelernt, nachdem der im vergangenen Jahr auf die Rodman High gewechselt war, aber Gage behandelte ihn immerhin wie einen normalen Menschen. Er wusste es nicht besser, jedenfalls noch nicht.
Er sah, dass Gage sich während des Sommers nicht etwa von seinen Dreadlocks getrennt hatte, wie einige der Lehrer ihm vor den Ferien nahelegten, sondern sie zu einem ordentlichen Nackenknoten zusammengesteckt trug – was gerade so eben noch den Schulregeln entsprach. Obwohl Gage gut aussah, sportlich war und keine Bedenken hatte, sich im geradezu besessen konformistischen Captive’s Sound so zu geben, wie er war, gehörte er nicht zu den beliebteren Cliquen. Vermutlich war er für die zu unabhängig, außerdem hatte er zu gute Menschenkenntnis, um sich mit Arschlöchern wie Jinnie und Jeremy abzugeben. Er hielt sich lieber abseits und zog sein eigenes Ding durch. Mateo war dankbar dafür; nur jemand, der nicht der Herde folgte, kam überhaupt auf den Gedanken, sich mit ihm herumzutreiben.
Plötzlich weiteten sich Gages Augen, und seine normalerweise unbekümmerte Miene wich einem Ausdruck tiefster Ergebenheit.
„Dadurch kriege ich vielleicht die Chance, mit Elizabeth zu reden“, sagte er.
Mateo schaute zum Rand des Campus, wo Elizabeth stand. Ihre kastanienbraunen Locken und ihr schlichtes weißes Kleid wehten im Wind. Mit ihrem ungeschminkten Gesicht und ihren alles andere als modischen Klamotten war sie anders als die anderen Mädchen an der Schule; dennoch konnte keiner übersehen, wie schön sie war.
Sie war seine älteste Freundin und gleichzeitig sein bester Freund. Keinem anderen Menschen könnte er jemals von Nadia erzählen. Und bis zu diesem Augenblick war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie dringend sein Bedürfnis war, über sie zu sprechen.
Elizabeth kam auf ihn zu, und obwohl sie leise sprach, hörte er jedes Wort klar und deutlich.
„Mateo. Du siehst bedrückt aus.“
„Ich habe keinen besonders tollen Tag.“
Gage versuchte, sich in das Gespräch einzumischen: „Seit wann ist der erste Schultag nach den Ferien toll? Stimmt’s, oder habe ich recht?“
Gage lachte ein bisschen zu laut und warf ihm einen verzweifelten Blick zu, aus dem deutlich zu lesen war: Warum plappere ich drauflos wie ein Trottel? Der arme Kerl war derart verknallt, dass es sein Hirn aufweichte. Manchmal dachte Mateo, dass Gage durchaus eine Chance bei Elizabeth haben könnte, wenn er es fertigbrächte, hin und wieder mal den Mund zu halten. Im Moment schien sie seine Anwesenheit jedoch nicht mal zu bemerken. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihm.
„Willst du darüber reden?“
„Schon. Aber ich möchte nicht, dass du meinetwegen zu spät zum Unterricht kommst.“
„Du kommst auch zu spät“, mahnte Gage. „Denk an das Konzept: Flucht durch Schulabschluss!“
„Meine erste Stunde ist eine Freistunde – das haben sie so gelegt, für den Fall, dass ‚La Catrina‘ erst spät schließt“, sagte Mateo mehr zu Elizabeth als zu Gage. „Und falls ihr nicht auch gerade eine Freistunde habt …“
„Ich kann schwänzen“, beharrte Elizabeth. Ihre sanfte Stimme konnte mitunter sehr energisch klingen. „Das hier ist wichtig.“
Gage bemühte sich offensichtlich, einen Grund zu finden, ebenfalls dem Unterricht fernzubleiben, doch ihm fiel nichts ein.
„Okay. Treffen wir uns später?“
„Auf jeden Fall.“ Mateo sah Gage nach, der mit ausgreifenden Schritten über den Campus eilte. Er war wirklich froh, dass es einen Typ an der Schule gab, mit dem er etwas unternehmen konnte, aber er hatte nur einen echten Freund: Elizabeth. Sie allein verstand ihn; sie kannte seine Seele.
Während sie gemeinsam zur großen Ulme gingen, die am äußersten Rand des Schulgeländes aufragte, fragte Mateo sich wieder einmal, warum er nicht in Elizabeth verliebt war. Das wäre das Naheliegende, stattdessen war sie für ihn wie eine Schwester. Die anderen Kinder hatten ihn früher stets gemieden, weil er Lauren Cabots Sohn war, aber Elizabeth hatte mit ihm gespielt. Sie waren zusammen auf Bäume geklettert, hatten Kekse gebacken und Fernsehen geguckt. Sie war die Einzige, die zu ihm hielt, die ihn bedingungslos akzeptierte.
Nebeneinander saßen sie da, den Rücken an den Baumstamm gelehnt, als die Schulglocke schrillte. Sobald sie verstummte, fragte Elizabeth: „Hast du wieder diese Träume gehabt?“
„Ja. Aber es sind nicht nur Träume, Elizabeth. Sie sind echt.“
„Das kannst du nicht wissen.“
„Doch.“ Seine nächsten Worte würden unglaublich klingen, denn es gab einen lebenden Beweis hier an der Rodman High in Gestalt eines Mädchens, das so schön war, dass es ihm den Atem raubte. „Ich habe sie gesehen. Das Mädchen aus dem Traum, von dem ich dir erzählt habe.“
„Das hätte jeder sein können in dem Unfallauto. Es war dunkel und hat geregnet. Du hattest bestimmt einen Schock …“
„Das hast du schon so oft gesagt, und ich habe versucht, dir zu glauben, aber sie ist hier an unserer Schule. Ich habe sie gesehen. Heute. Sie heißt Nadia.“
„Nadia. Kennst du ihren Nachnamen?“
„Nein.“ Fast hätte er gesagt: Noch nicht.
Elizabeth nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Offenbar brauchte sie einen Moment, um die Neuigkeit zu verdauen.
„Bist du sicher, dass es sich um dieselbe Person handelt?“
„Ganz sicher. Sie ist es. Wie sonst hätte ich vorher wissen sollen, wo der Unfall passiert?“
„Zufall.“
„Vor heute hätte ich das vielleicht glauben können, aber jetzt nicht mehr.“ Mateo trat gegen den weichen Boden. „Ich kann in die Zukunft blicken. Genau wie Mom und all die anderen Cabots.“
„Sie dachten nur, dass sie in die Zukunft schauen konnten.“
„Das ist das, was alle immer glaubten. Ich habe es auch geglaubt. Jetzt weiß ich, dass es stimmt.“
Und das konnte nur bedeuten, dass der Rest des Cabot-Fluchs ebenfalls den Tatsachen entsprach.
Er reichte weit zurück, wurde in der Familie seiner Mutter von Generation zu Generation weitergegeben, seit Hunderten von Jahren; seit die ersten Cabots nach Rhode Island kamen, das damals noch Kolonie gewesen war. Vielleicht hatten sie den Fluch sogar schon aus England mitgebracht, das wusste keiner so genau. Fest stand jedoch, dass es in jeder Generation ein Familienmitglied gab, das plötzlich behauptete, in die Zukunft schauen zu können. So fing es jedes Mal an. Und es endete immer wie … wie bei Mom.
Anfangs hatte sie nur ein bisschen geistesabwesend gewirkt. Sie blieb abends lange auf und saß dann mit dunklen Ringen unter den Augen beim Frühstück und murmelte vor sich hin. Doch nach und nach war seine Mutter … zerfallen. Es gab kein anderes Wort dafür. Sie fuhr rasch aus der Haut und sagte Dinge, die keinen Sinn ergaben. Sie verwahrloste zusehends, gab sich keine Mühe mehr mit ihrer Kleidung und hörte auf, sich zu kämmen. Wenn sie ihn von der Schule abholte, schämte er sich für sie. Heute hasste er sich dafür, dass er so empfunden hatte. Sie war seine Mutter, und es hätte ihm egal sein müssen, was andere von ihr dachten.
Irgendwann holte sie ihn nicht mal mehr ab, sie vergaß es einfach. Dad versuchte, mit ihr zu reden, sie davon zu überzeugen, Hilfe bei einem Experten zu suchen, aber sie schluchzte nur herzzerreißend und sagte, sie wüssten doch beide, dass man ihr nicht helfen könne. Sie hätten es schließlich von Anfang an gewusst.
Sie war mit einem Ruderboot aufs Meer hinausgefahren. Man konnte nicht sicher sagen, ob es ein Unfall war. Mateo dachte, dass sie das wohl so geplant hatte, vielleicht, um ihn nicht mit der schrecklichen Gewissheit zu belasten, aber er wusste trotzdem, was sie getan hatte.
„Konzentrier dich.“ Elizabeth klang jetzt bestimmter als zuvor. „Das ist wichtig. Was genau hast du gesehen, als du dieses Mädchens sahst? Hast du sonst jemanden gesehen, den du kennst? Hast du mich gesehen?“
„Nein, dich nicht. Nicht seit dem Traum vor ein paar Wochen.“ Es war ein merkwürdiger Traum gewesen, irgendwas mit einem Spukhaus, durch das sie liefen. Er war nicht mal sicher, dass es sich um eine seiner Visionen gehandelt hatte, es konnte genauso gut ein gewöhnlicher Traum gewesen sein. Mateo legte den Kopf an den Baumstamm und schaute nach oben. Schwächliches Sonnenlicht bahnte sich einen Weg zwischen den schütteren Ästen hindurch. „Ich sehe vieles, das ich nicht verstehe. Unwetter, die offenbar wochenlang andauern. Jede Menge Krankenhauszimmer. Und Jeremy Prasad, der versucht, ein ernsthaftes Gespräch mit mir zu führen, was auf keinen Fall eine Zukunftsvision sein kann, denn das wird garantiert nie passieren. Dann dieses Mädchen mit den grauen Haaren, wie heißt sie gleich? Ich glaube, sie leuchtete irgendwie – vermutlich war das aber auch nur so ein verrückter Traum, der nichts weiter bedeutet. Doch Nadia, die habe ich definitiv gesehen, mehr als einmal. In einem dieser Träume liegt sie nach einer gewaltigen Feuersbrunst zu meinen Füßen. In einem anderen sehe ich, wie sie versinkt … im Schlamm oder vielleicht im Treibsand, ich weiß nicht mal, was es genau ist, nur, dass es sie gepackt hat. Ich sehe sie kämpfen, gegen etwas Unmenschliches. In vielen Träumen ist sie in Gefahr. Elizabeth … manchmal sehe ich sie sterben. Und wenn sie stirbt, bin ich bei ihr.“ Er sah direkt in Elizabeths blaue Augen. „Was ist, wenn ich die Ursache ihres Todes bin?“
Sie schüttelte traurig den Kopf, und er legte seinen auf ihre Schulter. Beide schwiegen sie, was sollte man auch dazu sagen? Die Zukunft raste auf ihn zu. Seine Zukunft – und sein Fluch. Nichts, was Elizabeth oder sonst jemand tun konnte, würde diesen aufhalten.
Aber vielleicht … vielleicht, wenn er sich von Nadia fernhielt, hatte er womöglich eine Chance, sie zu retten.
Eine riesige Krähe landete neben ihnen im Gras und legte den Kopf schräg. Dann flog sie wieder davon, so schnell, dass Mateo verwirrt war. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als hätte sie anstelle der Augen milchige Spinnweben.
Verrückt, dachte er. Du wirst verrückt. Es hat schon begonnen.
„Wen haben wir denn da … Nadia Caldani.“ Die Vertrauenslehrerin blätterte rasch durch die Akte. „Aus Chicago an die Rodman High gekommen. Nur fürs Abschlussjahr?“
„Ja, es sei denn, ich falle durch.“
Die Vertrauenslehrerin – auf ihrem Namensschild stand Faye Walsh – warf ihr einen beredten Blick zu. Die Botschaft war klar: Nichts gegen Scherze, aber bitte nicht jetzt.
„Ich meine, es ist ungewöhnlich, für das letzte Jahr auf eine neue Schule zu wechseln. Hatten Ihre Eltern berufliche Gründe für den Umzug?“
„Mein Dad wollte nicht länger für eine große Anwaltskanzlei arbeiten. Er hatte die Nase voll von den absurden Jobzeiten und dem ganzen kommerziellen Scheiß.“ Würde sie nun zurechtgewiesen werden, weil sie das Wort Scheiß benutzt hatte? Offenbar nicht. Ms Walsh wirkte völlig ungerührt. Sie war ungewöhnlich schick für eine Vertrauenslehrerin – oder überhaupt für jemanden aus Captive’s Sound, soweit Nadia das bislang beurteilen konnte: kurz geschnittenes Haar, auffallender Silberschmuck und ein weißes Etuikleid, das ihre dunkle Haut elegant betonte. Für diese Frau gibt es ganz klar ein Leben jenseits von Rodman High, dachte Nadia anerkennend. „Er hat einen Job hier in Captive’s Sound angenommen“, fuhr sie fort. „Er vertritt als Sozialanwalt Leute mit geringem Einkommen, die mit ihren Arbeitgebern wegen zurückgehaltener Zahlungen oder Arbeitsunfällen und dergleichen im Rechtsstreit liegen.“ Dad hatte immer behauptet, im tiefsten Herzen ein Gutmensch zu sein, aber sie war doch etwas verblüfft gewesen, als er den Worten schließlich Taten folgen ließ. „Und sie lassen ihn ab und zu von zu Hause aus arbeiten, sodass er für meinen Bruder und mich da sein kann.“
„Das ist ein großer Vorteil“, bemerkte Ms Walsh. Sie strich mit einem perfekt manikürten Fingernagel am Rand der Papiere entlang, die vor ihr ausgebreitet waren. „Ich sehe, dass Ihr Dad alle Formulare und Einwilligungserklärungen unterzeichnet hat.“
Na toll, sie gehörte zu den Vertrauenslehrerinnen, die tatsächlich erwarteten, dass man sich ihnen anvertraute, statt dass sie einem einfach nur ein paar College-Broschüren in die Hand drückten. Nadia kam zu dem Schluss, dass sie wohl am schnellsten rauskäme, wenn sie gleich sämtliche Karten auf einmal auf den Tisch legte. „Meine Mutter hat meinen Vater vor einigen Monaten verlassen. Sie hat weder Sorgerecht noch Unterhaltszahlungen beantragt. Damit ist sie eindeutig aus dem Rennen.“
„Wie oft sehen Sie sie?“
„Nie“, erwiderte Nadia. „Ich sehe sie nie. Sie will keine Besuche. Sie geht nicht ans Telefon, wenn wir anrufen. Ich bin ziemlich sicher, dass sie auch unsere Mitteilungen nicht abhört. Anfangs habe ich ihr ab und zu eine E-Mail geschickt, ich glaube, mein kleiner Bruder macht das immer noch. Aber sie antwortet nie. Mom ist … weg. Sie ist Vergangenheit. Also ist Dad derjenige, der sich um den ganzen Collegekram kümmert.“ Hoffentlich war das genug, um Ms Walsh von weiteren Erkundigungen abzuhalten.
Normalerweise war es nicht genug. Andere Leute, denen sie diese Geschichte erzählt hatte, beispielsweise ihre früheren Freundinnen in Chicago, löcherten sie danach erst recht mit Fragen: Ach wirklich? Niemals? Das ist ja furchtbar. Und seltsam. Hatte sie einen Nervenzusammenbruch? Hat dein Vater sie im Zorn geschlagen? Oder gab es, du weißt schon, jemand anderen? Sie hätte dann am liebsten nur noch geschrien. Sie hatte keine Antworten auf diese Fragen, und sie sah auch nicht ein, dass es ausgerechnet ihre Aufgabe sein sollte, zu erklären, warum ihre Mutter so eine Versagerin war.
Ms Walsh hatte keine weiteren Fragen. Sie nickte nur. „Sie haben in Ihrem Lebenslauf nicht besonders viele außerschulische Interessen und Aktivitäten angegeben“, stellte sie fest.
Nadia hatte mehr außerschulische Interessen als die meisten anderen Schüler, aber Hexenkunst gehörte eher nicht zu den Dingen, die man in seine Bewerbungsunterlagen fürs College schrieb. Sie hatte genug damit zu tun gehabt, an ihren magischen Kräften zu arbeiten und die alten Bücher zu lesen, die ihre Mutter ihr gab – da blieb nicht viel Zeit für den Musical-Chor oder Diskussionsgruppen. „Ich bin wohl nicht so wild auf Gemeinschaftsaktionen.“
„Wir sollten trotzdem versuchen, Sie in diesem Jahr für irgendetwas zu begeistern. Vielseitige Interessen machen sich gut in der College-Bewerbung.“
„Ich bin mir noch gar nicht so sicher, ob ich überhaupt aufs College gehen will. Ich würde mich lieber auf Kochschulen konzentrieren.“
„Ach, Sie wollen wohl Chefköchin werden? Das hätten Sie vorher erwähnen sollen. Wenn ich gewusst hätte, dass leckere Backwaren im Spiel sind, wäre ich die Sache hier ganz anders angegangen.“
Das war beinahe lustig. Nadia verkniff sich ein Lächeln. „Jedenfalls legen Kochschulen keinen Wert auf soziale Interessen. Denen geht es um knusprige Pasteten und eine perfekte Sauce béarnaise.“
„Sie könnten ja erst aufs College gehen und dann auf eine Kochschule.“
„Na super. Damit die Ausbildung noch länger dauert.“
Ms Walsh neigte den Kopf zur Seite und musterte sie prüfend. „Mir ist klar, wie das für Sie klingt, aber ich schätze Sie als junge Frau mit großem Potenzial ein. Wenn Sie nur zur Kochschule gehen und auf jede andere Form der Weiterbildung verzichten, verschenken Sie viele Möglichkeiten für Ihre Zukunft. Man sollte sich niemals selbst so beschränken.“
„Ist das jetzt der Punkt, an dem Sie mir sagen, dass es für meine Lebensträume keine Grenzen gibt?“ Würg.
Ms Walsh fing an zu lachen. „Oh nein, Nadia. Es gibt jede Menge Grenzen. Und glauben Sie mir, die Welt wird sie Ihnen schon noch früh genug aufzeigen, aber überlassen Sie das der Welt. Tun Sie es sich nicht selbst an.“ Sie klappte die Akte zu. „Das reicht für heute. Kommen Sie demnächst mal wieder vorbei. Und lassen Sie mich wissen, was ich tun muss, um diese knusprige Pastete probieren zu dürfen.“
Bestechung durch Pastete – nun ja, es gab schlechtere Methoden, dem Musical-Chor zu entrinnen.
Der Rest des Tages verlief mehr oder weniger ereignislos. Wie sich herausstellte, war Mateo in ihrem Chemiekurs direkt vor der Mittagspause. Da er aber auf der entgegengesetzten Seite des Raums saß und sie keines Blickes würdigte – es kam ihr sogar vor, als ob er sie absichtlich ignorierte –, erfuhr sie in der ganzen Zeit nur zwei Dinge über ihn.
Erstens: Sein Nachname war Perez. Zweitens: Er hatte offenbar eine Freundin.
Das wäre auch dann enttäuschend gewesen, wenn sie nicht beabsichtigt hätte, ihm nachzustellen. Es ist nicht weiter überraschend, sagte sie sich. Mateo sieht blendend aus, wirkt superathletisch – und verbringt seine Freizeit anscheinend damit, Menschen aus gefährlichen Situationen zu retten. Er könnte wirklich jede haben, die er will. Ist doch klar, dass er schon mit jemandem zusammen ist.
Elizabeth Pike sah aus wie eine, die er wählen würde. Sie war schön, nicht auf diese oberflächliche Art, die die meisten Mädchen mit stylishen Klamotten und gutem Make-up hinbekamen, sondern auf eine tiefere, innere Art. Ihre Schönheit leuchtete förmlich aus ihr heraus, obwohl Elizabeth völlig ungeschminkt war und ein unscheinbares Baumwollkleid trug. Unter der grellen Beleuchtung, die alle anderen im Raum wie Zombies wirken ließ, strahlte ihr perfekter Pfirsichteint, und ihre rotbraunen Locken glänzten wie in einer Shampoo-Werbung. Sie teilte einen Labortisch mit Mateo und schenkte ihrem Sitznachbarn ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Fast ununterbrochen sah sie ihn an. Es war ziemlich offensichtlich, dass zwischen den beiden etwas lief.
Anders als Mateo schaute Elizabeth immerhin einmal zu ihr herüber. Deren blaue Augen suchten ihren Blick. Nadia verspürte keinerlei „Hände weg von meinem Freund“-Schwingungen; das Mädchen schien sich einfach nur für die neue Mitschülerin zu interessieren. Vielleicht hatte Mateo ihr von dem Unfall erzählt.
Und dabei anscheinend nichts erwähnt, das Elizabeth auch nur ansatzweise Grund zur Eifersucht gab. Nun gut. Zumindest wusste sie jetzt, woran sie war.
Das Rätsel, woher Mateo sie kannte, musste wohl ungelöst bleiben. Vermutlich habe ich das ohnehin nur geträumt oder halluziniert, während ich total schockiert in den Trümmern feststeckte. Oder so was Ähnliches.
Ihr Herz sagte ihr jedoch, dass mehr an der Sache dran war. Andererseits sagte es ihr in letzter Zeit ziemlich viele dumme Dinge. Zum Beispiel: Mom wird sich schon melden. Oder: Irgendwie findest du bestimmt eine neue Lehrerin in der Hexenkunst. Da brauchte sie die Liste wirklich nicht noch um Mateo wird sich für dich von seiner wunderschönen Freundin trennen zu ergänzen.
Abgesehen davon spürte sie wieder dieses Prickeln – eine elektrostatische Aufladung, die darauf hindeutete, dass machtvolle Magie in der Nähe war –, und zwar sehr, sehr nahe.
Nadia ertappte sich dabei, wie sie auf den Boden des Chemiesaals starrte, als könnte sie diese magische Kraft dort sehen. Was natürlich lächerlich war – Magie leuchtete nicht grün oder war anderweitig sichtbar, es sei denn für eine Adjutantin, was sie aber nicht war. Und doch spürte sie diese Macht so nah, so intensiv. Als wäre sie direkt unter ihren Füßen.
Unter dem Chemiesaal? Jetzt reiß dich mal zusammen. Du bist so von der Rolle, weil du keine Magie-Lehrerin mehr hast, dass du dir sonst was einbildest. Du versuchst, eine Krisensituation zu schaffen, wo keine ist, damit du Mom etwas erzählen kannst, das sie dazu bewegt zurückzukommen.
Trotzdem, sie spürte es. Was auch immer diese seltsame Macht war, die direkt unter der Oberfläche köchelte, sie konnte sie nicht ignorieren. Oder wegwünschen.
Nach der Schule parkte Mateo sein Motorrad am Fuß des Hügels, den die Einwohner von Captive’s Sound nur ehrfürchtig der Hügel nannten. Hier wohnten die Reichen und Privilegierten in großen Häusern hinter gusseisernen Toren. Direkt auf dem Gipfel des Hügels erstrahlte Cabot House so weiß, als wäre es aus Marmor gebaut.
Eines Tages gehört es dir, sagte sein Vater immer wieder, als ob das ein Grund zur Freude wäre. Er, Mateo, fand Cabot House einfach nur unheimlich und kam so selten wie möglich her.
Seiner Großmutter war das ganz recht. Mateo fragte sich manchmal, ob während der letzten fünf Jahre überhaupt irgendein anderer Besucher das Haus betreten hatte. Vermutlich war seit Moms Beerdigung keiner mehr da gewesen, und sogar damals kamen die Leute eher, um zu gaffen, als um ihr Beileid zu bekunden. Er selbst hatte nicht ein einziges Mal ohne Voranmeldung vorbeigeschaut.
Bis heute. Er brauchte Informationen über das, was gerade mit ihm passierte, und es gab niemand anderen, den er fragen konnte.
Er ging den Hügel hinauf. Wenn sie keine Motorengeräusche hörte, würde sie nicht mitbekommen, dass er auf dem Weg zu ihr war, und hätte keine Zeit, den Butler zu instruieren, ihren Enkel abzuwimmeln. Das Viertel war eigenartig still, als würden die Anwohner nicht nur den ärmeren Teil der Bevölkerung von sich fernhalten, sondern auch alle lauten Geräusche. In den Auffahrten glänzten die neuesten Jaguar- und Mercedes-Modelle, und auf etlichen Grundstücken sah man seltsam geformte Hecken. Wer, um alles in der Welt, bezahlte jemanden dafür, dass er aus einem Busch einen Kegel schnippelte? Etwas derartig Sinnloses würde mir nicht mal dann einfallen, wenn ich unendlich reich wäre.
Als er vor der gigantischen schwarzen Eingangstür stand, holte Mateo tief Luft. Schließlich schwang er den schweren Türklopfer aus Messing, einmal, zweimal, dreimal. Nach einer gefühlten Ewigkeit bequemte der Butler sich dazu, ihm zu öffnen.
„Der junge Mr Perez“, schnarrte er. „Was verschafft uns diese Ehre?“
„Ich möchte zu Grandma.“ Mateo trat ein, ohne eine Aufforderung – oder Abweisung – abzuwarten. Der Butler zögerte, aber letztlich wollte er es sich wohl nicht mit dem sogenannten Cabot-Erben verscherzen.
„Sie ist im Musikzimmer“, sagte er schließlich. „Folgen Sie mir.“
Der Mann hat einen beschissenen Job, dachte Mateo. Immer einen muffigen Anzug tragen, Grandma als Boss und nichts Gescheites zu tun. Streng genommen war er kein Butler, sondern jemand, der dafür entlohnt wurde, den ganzen Tag steif herumzustehen und darauf zu warten, dass Grandma endlich das Zeitliche segnete. Dann würde er den Bestattungsunternehmer anrufen, und das war’s. Vermutlich hoffte er, dass sie ihn in ihrem Testament bedachte. Mateo hatte nicht übel Lust, ihm das Cabot House komplett zu überschreiben, wenn es einmal so weit war. So bräuchte er selbst wenigstens nicht hier einzuziehen.
Das Musikzimmer war genauso trostlos wie der Rest des Hauses. Unter der sechs Meter hohen Decke baumelten trübe, verstaubte Kronleuchter. An sämtlichen Wänden und Decken machte sich welliges schwarzes Gebälk breit, wie eine Art Amok laufender Schimmel. Der riesige Flügel war noch staubiger als die Kronleuchter, und in einer Ecke lehnten ein paar vergessene Notenständer aus Messing. In diesem Raum war schon lange keine Musik mehr gespielt worden.
Seine Großmutter saß am Fenster und starrte in ihren Garten hinaus.
„Ihr Enkel ist da, Mrs Cabot“, sagte der Butler.
Ohne den Kopf zu wenden, warf sie ihm einen finsteren Blick zu, die Temperatur im Zimmer schien spontan um zehn Grad zu sinken. Der Butler zog sich schweigend zurück und überließ ihn seinem Schicksal. Vielleicht würde er ihm das Haus doch nicht überschreiben.
„Mateo.“ Sie klang heiser, als wäre ihre Stimme eingerostet, weil sie sie so selten benutzte. „Was verschafft mir die Ehre? Dein Geburtstag kann es ja wohl nicht schon wieder sein. Jedenfalls habe ich keinen Sparbrief für dich.“
„Der ist erst im Januar“, erwiderte Mateo. Sie inspizierte ihn normalerweise einmal im Jahr an seinem Geburtstag, und dabei beließen sie es. „Ich … äh … ich wollte reden.“
„Mit mir?“
Offenbar fand sie die Vorstellung amüsant, aber ihre Reaktion war nicht freundlich gemeint. Noch immer zeigte sie ihm nur ihr perfektes weißes Profil. Ihr Lächeln war kalt.
„Das wäre das erste Mal. Sag bloß nicht, dass das Restaurant deines Vaters nicht mehr genug abwirft, um dir das College zu finanzieren.“
Mateo ballte die Hände in seinen Jackentaschen zu Fäusten. Später. Er konnte später die Beherrschung verlieren. „Es läuft großartig.“ Nun ja, großartig war wohl etwas übertrieben – das Sommergeschäft in Captive’s Sound blieb immer unter den Erwartungen –, aber sie schafften es locker, ihre Rechnungen zu bezahlen. Seit vergangenem Jahr half er bei der Buchhaltung.
„Warum bist du dann hier? Um in das Vergnügen meiner Gesellschaft zu kommen?“
Ihr ätzender Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie genau wusste, wie unangenehm sie war – und wie sehr ihr das behagte.
Das Ganze ließ sich schwieriger an, als er erwartet hatte. Er schluckte schwer, trat von einem Fuß auf den anderen und schluckte noch einmal. „Ich … ich möchte mit dir über … über den Fluch reden.“
Grandma setzte sich sehr aufrecht hin. „Hat er dich etwa ereilt?“
„Nein!“, log Mateo. Sie würde ihn sofort rauswerfen, wenn er die Wahrheit sagte. „Auf keinen Fall. Ich glaube ja nicht mal daran, das weißt du doch.“
Bis er in jener Gewitternacht Nadia sah, hatte er tatsächlich nicht daran geglaubt.
„Warum willst du dann darüber reden, da es angeblich nur eine dumme Geschichte ist?“
„Weil ich es verstehen will. Weil meine Mitschüler sich mir gegenüber benehmen, als ob ich eine tödliche, ansteckende Krankheit hätte.“ Nur Elizabeth und Gage behandelten ihn wie einen normalen Menschen, und bei Gage war das nur der Fall, weil er zu spät nach Captive’s Sound gezogen war, um mit all den Anekdoten über die verrückten, gefährlichen Cabots aufzuwachsen.
„Die Kinder haben die Geschichten von ihren Eltern gehört, die sie wiederum von ihren Eltern gehört haben und so weiter. Der Ablauf ist immer derselbe.“ Sie lachte freudlos auf. „Erst haben sie Angst vor den Cabots. Wenn sie älter werden, kommen sie jedoch zu dem Schluss, dass alles nur Ammenmärchen sind, abergläubisches Geschwätz. Und dann wird der nächste Cabot verrückt, und sie sehen mit eigenen Augen, dass es wahr ist. Sie haben gesehen, wie deine Mutter plötzlich zerfiel – und schließlich ins Wasser ging. Und sie haben gesehen, wie dein Großvater mir das hier angetan hat.“
Sie drehte sich zu ihm, damit er ihr ganzes Gesicht betrachten konnte. Die linke Seite war bleich und normal, der Teint glatt für eine Frau ihres Alters, vielleicht weil sie nie nach draußen ging. Die rechte Gesichtshälfte war völlig ruiniert. Tiefe gerötete Rinnen schnitten in ihre Haut wie Bruchlinien, Falten aus Narbengewebe umgaben Furchen im Fleisch, die niemals richtig zusammengewachsen waren. Ihr blindes rechtes Auge war milchig weiß mit einem zuckenden roten Blutpunkt, der nie verschwand.
„Du bist ja ganz blass geworden.“ Grandma lächelte. Es war ein grässliches Lächeln. „Man sollte eigentlich meinen, dass du dich inzwischen an den Anblick gewöhnt hast. Aber ich kann es dir wohl kaum verübeln – ich habe mich selbst noch nicht an dieses Gesicht gewöhnt.“
„Was ist damals passiert?“ Mateo versuchte, bei der Sache zu bleiben. „Was hat ihn dazu getrieben?“ Er hatte seinen Großvater nie kennengelernt. Nach Moms Erzählungen war er ein liebevoller Vater gewesen, jedenfalls bis zu jenem letzten Jahr.
„Der Fluch, das ist passiert, da kannst du noch so sehr spotten. Habe ich früher ebenfalls. Franklin Cabot war attraktiv, reich, freundlich, zuvorkommend – alles, was ein junger Mann sein sollte. Also ignorierte ich die Geschichten, mit denen ich aufgewachsen war, schlug die Warnungen meiner Eltern in den Wind und heiratete ihn. Bekam ein Kind von ihm. Die ersten zehn Jahre war alles in Ordnung.“ Für einen Moment wurde ihre Stimme sanfter, als erinnerte sie sich daran, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein. „Dann fingen die Träume bei ihm an.“
Mateo wünschte sich, der Butler hätte einen zweiten Stuhl hereingebracht, auf den er sich setzen könnte. „Träume?“
„Er glaubte, dass sie ihm die Zukunft zeigten, zumindest behauptete er das. Mir fiel allerdings auf, dass er diese Vorahnungen nie erwähnte, bevor irgendetwas eingetreten war. Zunächst dachte ich, dass es nur eine fixe Idee war, genährt von der Angst, so zu werden wie seine Mutter, über die er hinwegkommen würde. Ich versicherte ihm, dass alles gut werden würde. Aber er war immer besessener von diesen Träumen. Manchmal blieb er tagelang wach, um sich vom Träumen abzuhalten.“