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Die langersehnte Fortsetzung der beliebten Urban-Fantasy-Reihe! Ab Band 16 im Second Chances Verlag (Bände 1-15: Piper). Pure Ironie – die Spinne hat sich im Netz eines anderen verfangen … Gin ist den Mitgliedern des Kreises, Ashlands geheimer Unterweltorganisation, weiter dicht auf den Fersen, doch zuvor braucht ein anderer Fall dringend ihre Aufmerksamkeit: Eine junge Frau ist verschwunden. Als eine Leiche gefunden wird, befürchtet Gin das Schlimmste. Doch als sie sieht, dass das Opfer ausgerechnet ihre Runen trägt, wird ihr klar, dass das verschwundene Mädchen nur ein Faden in diesem Netz des Bösen ist. Wie es scheint, ist sie selbst tiefer in den Fall verwoben als anfangs gedacht. Denn der Mörder schlägt aus dem Schatten zu und ist entschlossen, sie zu seinem nächsten Opfer zu machen …
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Seitenzahl: 456
JENNIFER ESTEP
SPINNENNETZ
ELEMENTAL ASSASSIN 16
Aus dem Amerikanischen von Corinna Wieja
Über das Buch
Pure Ironie – die Spinne hat sich im Netz eines anderen verfangen …
Gin ist den Mitgliedern des Kreises, Ashlands geheimer Unterweltorganisation, weiter dicht auf der Spur, doch zuvor braucht ein anderer Fall dringend ihre Aufmerksamkeit: Eine junge Frau ist verschwunden. Als eine Leiche gefunden wird, befürchtet Gin das Schlimmste. Doch als sie sieht, dass das Opfer ausgerechnet ihre Runen trägt, wird ihr klar, dass das verschwundene Mädchen nur ein Faden in diesem Netz des Bösen ist. Wie es scheint, ist sie selbst tiefer in den Fall verwoben als anfangs gedacht. Denn der Mörder schlägt aus dem Schatten zu und ist entschlossen, sie zu seinem nächsten Opfer zu machen …
Über die Autorin
Jennifer Estep ist eine internationale Bestsellerautorin von mehr als vierzig Büchern, die für ihre Romane gern in die Welten ihrer Fantasie eintaucht. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit Familie und Freunden, mit Yoga oder dem Lesen von Fantasy- und Liebesromanen. Sie schaut gerne und viel zu viel fernsehen und hat eine Vorliebe für Superhelden.
Die englische Ausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Snared« bei Pocket Books.
Deutsche Erstausgabe November 2024
© der Originalausgabe 2017: Jennifer Estep
Published by Arrangement with Jennifer Estep
© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2024:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,
Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Die Nutzung des Inhalts für Text und Data Mining
im Sinne von § 44b UrhG ist ausdrücklich verboten.
Das Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Umschlaggestaltung: Zero Media
Lektorat: Julia Funcke
Schlussredaktion: Daniela Dreuth
Satz & Layout: Second Chances Verlag
ISBN E-Book: 978-3-98906-057-9
ISBN Taschenbuch: 978-3-98906-056-2
www.second-chances-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Titel
Über die Autorin
Impressum
Widmung
Danksagung
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Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für eure Liebe, Geduld und alles andere, was ihr mir über die Jahre geschenkt habt
Erneut geht mein herzlicher Dank an all die Menschen, die mir dabei geholfen haben, aus meinen Worten ein Buch zu machen.
Danke an meine Agentin Annelise Robey und den Lektor des Originalmanuskripts, Adam Wilson, für den hilfreichen Rat, die Unterstützung und Ermutigung. Ebenso danke an Melissa Bendixen.
Ein Dankeschön an Tony Mauro für ein weiteres wunderbares Cover und an Louise Burke, Lisa Litwack und alle anderen bei Pocket Books und Simon & Schuster für die Arbeit am Cover, am Buch und an der Serie.
Und schließlich ein großes Dankeschön an alle Leserinnen und Leser. Zu wissen, dass ihr meine Bücher lest und sie euch unterhalten, ist wirklich eine Ehre, und ich bin froh, dass ihr Freude an Gin und ihren Abenteuern habt.
Das und euch weiß ich mehr zu schätzen, als ich in Worte fassen kann.
Viel Spaß beim Lesen!
Als Profikillerin musste man wissen, wann man töten sollte – und wann nicht.
Leider.
Ich wurde von dunklen Schatten eingehüllt, meine Stiefel, die Jeans, der Rollkragenpullover und die Fleece-Jacke waren so dunkel wie die Nacht um mich herum. Die braunen Haare hatte ich unter einer Mütze versteckt und mir schwarze Theaterschminke auf die Wangen geschmiert, damit mein blasses Gesicht nicht so hervorstach. Der einzige helle Fleck an mir war das Steinsilber-Messer, das in meiner rechten Hand aufblitzte. Ich atmete durch die Nase ein und aus, um zu verhindern, dass mein Atem in der kühlen Januarluft deutlich sichtbare Wölkchen bildete und meine Position verriet.
Nicht dass jemand nach mir Ausschau hielt.
Oh, ein Zwerg patrouillierte auf dem riesigen Gelände. Eigentlich sollte er die Augen offen halten und dafür sorgen, dass sich niemand aus dem Wald heranschlich, über den Rasen hetzte und in die Villa einbrach. Allerdings machte er seinen Job echt miserabel. Seit drei Minuten beobachtete ich nun schon, wie er ausgesprochen langsam diesen Teil des Gartens umkreiste.
Hin und wieder hob der Zwerg den Kopf, sah sich um und betrachtete die verzerrten Schatten der Bäume und Ziersträucher, die auf dem hügeligen Rasen verteilt waren. Angesichts der Pieptöne aus seinem Handy schien er sich jedoch die meiste Zeit mehr für sein Spiel zu interessieren. Er hatte nicht mal den Ton ausgeschaltet – oder seine Waffe gezogen.
Ich schüttelte den Kopf. Heutzutage war gutes Personal wirklich schwer zu finden.
Trotzdem versteifte ich mich, als der Wachmann sich meiner Position näherte. Ich stand an der Ecke eines grauen Steinhauses im hinteren Teil des Gartens, das vom Hauptgebäude noch ein ziemlich weites Stück entfernt lag. Die Äste der Bäume ringsum ragten über das schwarze Schieferdach, und ihre Schatten boten mir das perfekte Versteck, um die Wache zu beobachten und zu warten, bis die Luft rein war.
Zweifellos bezeichnete der Mann, der in der Villa lebte, dieses Haus herablassend als Verwalter-Cottage oder etwas ähnlich Abschätziges, auch wenn es fast groß genug war, um selbst als Villa durchzugehen. Selbst mein Ziehbruder Finnegan Lane wäre von den geräumigen Zimmern und den teuren antiken Möbeln beeindruckt, die ich durchs Fenster gesehen hatte, als ich um das Haus herumgeschlichen war, um mich in Stellung zu bringen …
»Also, wirst du nun endlich in die Villa einbrechen, oder bleiben wir die ganze Nacht hier im Dunkeln stehen?«, murmelte eine Stimme spöttisch in mein Ohr.
Wenn man vom Teufel spricht … Finn konnte eine ziemliche Nervensäge sein.
Ich schaute nach rechts. Etwa fünfzehn Meter entfernt lungerte ein Schatten von der Größe eines Mannes am Rand der Baumgrenze herum. Wie ich war Finn komplett in Schwarz gekleidet, allerdings funkelten seine Augen katzengleich.
»Ich warte darauf, dass der Wachmann wieder umdreht und in die andere Richtung verschwindet«, zischte ich. »Wie du unschwer selbst sehen kannst, steht er im Moment noch im Weg.«
Finn schnaubte so laut, dass der Sender in meinem Ohr knisterte. »Mr Handy-Videospiel?« Er prustete. »Ich bitte dich. Du könntest nackt vor ihm Rad schlagen, und er würde es nicht bemerken.«
Wahrscheinlich hatte er recht, aber da die Wache mittlerweile auf ungefähr neun Meter an mich herangekommen war, konnte ich es nicht riskieren, ihm zu antworten. Stattdessen glitt ich etwas tiefer in die Schatten und drückte mich seitlich ans Haus. Mein Körper berührte die Wand, und ich streckte meine elementare Steinmagie aus und lauschte den grauen Felsblöcken, aus denen das Gebäude errichtet worden war.
Dunkles, boshaftes Flüstern schlug mir entgegen, unterbrochen von hohen, schrillen Tönen der Angst und der Qual. Die Steine erzählten leise von all dem Blut und der Gewalt, die sie im Laufe der Jahre miterlebt hatten, und all den Menschen, die innerhalb dieser Mauern gestorben waren.
Das Murmeln überraschte mich angesichts des Ortes nicht, aber die heftige, schroffe Intensität brachte mich ins Grübeln. Ich hätte nicht gedacht, dass der Mann in der Villa einen solchen Einfluss auf das Cottage hatte, immerhin lagen die Gebäude weit auseinander.
Andererseits, wenn es um den Kreis ging, war alles möglich.
Ich blendete das Raunen der Steine gedanklich aus und konzentrierte mich auf den Wachmann. Wie die meisten Zwerge war er klein und untersetzt, mit kräftigen Oberarmen, die die Ärmel seines Jacketts zu sprengen drohten. Der typische Vollstrecker, abgesehen von den spärlichen dunklen Härchen auf seiner Oberlippe. Da versuchte jemand mit wenig Erfolg, sich einen Schnauzer wachsen zu lassen.
Etwa drei Meter vor mir blieb er stehen, sah von seinem Handy auf und betrachtete die Vorderseite des Hauses. Er legte den Kopf schräg und lauschte dem Pfeifen des Winterwindes, der die Äste der Bäume wie trockene, brüchige Knochen aneinanderrieb.
Ich umfasste mein Messer fester, sodass sich das in den Griff eingestanzte Symbol in die größere, dazu passende Narbe in meiner Handfläche drückte – eine Spinnenrune, dargestellt durch einen Kreis, der von acht dünnen Strahlen umgeben war. Das Symbol für Geduld.
Davon hatte der Wachmann nicht viel. Fünf Sekunden später richtete er seine Aufmerksamkeit schon wieder auf das Handy und schlurfte langsam direkt an meinem Versteck vorbei. Ich hätte problemlos aus den Schatten greifen, den Kopf des Zwerges an den Haaren nach hinten reißen und ihm die Kehle aufschlitzen können. Er wäre tot, bevor ihm überhaupt klar wurde, was passiert war. Aber ich durfte heute Abend weder ihn noch sonst irgendjemanden töten.
Leider.
Sobald sich die Leichen stapelten, würden die Mitglieder des Kreises – einer Geheimgesellschaft, die für den Großteil der Verbrechen und der Korruption in Ashland verantwortlich war – wissen, dass ich ihnen auf der Spur war. Sie würden die Reihen schließen, ihre Sicherheitsmaßnahmen verstärken und Jagd auf mich machen. Oder schlimmer noch: meine Freunde ins Visier nehmen. Dazu war ich nicht bereit.
Obwohl es also ein Leichtes gewesen wäre, den Wachmann zu töten, ließ ich ihn davonschlendern, ohne dass er auch nur ansatzweise ahnte, wie knapp er davor gewesen war, sein letztes Videospiel zu spielen.
Sobald der Zwerg weit genug weg war, entspannte ich mich und sah zu Finn, der einen Daumen nach oben reckte und mit der anderen Hand die Waffe hob, um mir damit zu salutieren. Erneut erklang seine Stimme knackend in meinem Ohr. »Nur für den Fall, dass die Kavallerie zu deiner Rettung herbeieilen muss, werde ich hier kampieren, aber nicht mit einer Gulaschkanone, sondern mit der Waffe im Anschlag.«
Ich verdrehte die Augen. »Bitte. Ich bin Gin Blanco, gefürchtete Profikillerin und Unterweltkönigin, schon vergessen? Ich muss höchstens vor dir und deinen schlechten Witzen gerettet werden.«
Finn grinste, seine Zähne blitzten weiß in der Dunkelheit auf. »Hey, du liebst mich und meine schlechten Witze.«
»Oh ja. Genau. So sehr wie eine Zahnwurzelbehandlung.«
»So bin ich, Baby. Finnegan Lane, verdorben bis ins Mark.«
Erneut salutierte er mir mit seiner Waffe, stolz darauf, das letzte Wort zu haben. Ich verdrehte wieder die Augen.
Aber ich lächelte, als ich mich abwandte, die Schatten hinter mir ließ und auf die Villa zueilte.
*
Da wir Januar hatten, waren die Feiertage offiziell vorbei, doch hier schien es niemand eilig damit zu haben, die Dekorationen zu entfernen. Weiße Lichterketten und Schnüre mit beleuchteten blassblauen Schneeflocken schlangen sich noch immer um die dicken Säulen des gewaltigen, zweigeschossigen grauen Hauses. Weitere Lichtergirlanden und Schneeflocken zierten die steinernen Torbögen und Fenster, an denen obendrein noch weiße Samtschleifen hingen.
Neues Jahr, neue Ziele für die Spinne.
Ich überquerte den weitläufigen Rasen, betrat eine Terrasse und duckte mich hinter die Liegen am beheizten Pool, wobei ich mich so gut wie möglich vom fröhlichen Schein der Festtagsbeleuchtung fernhielt. Dann spähte ich um die Liegen herum zur Villa.
Es war nach zehn, und im Erdgeschoss brannte überall Licht. Ich entdeckte mehrere umherhuschende Bedienstete, die aufräumten und die letzten Aufgaben des Tages erledigten. Durch das Fenster, das mir am nächsten war, verfolgte ich, wie zwei Frauen rote und grüne Glaskugeln von einem gewaltigen Weihnachtsbaum entfernten, der den Großteil des Raumes einnahm.
Ich beobachtete die Angestellten noch eine Weile, doch niemand schaute nach draußen. Keiner hatte mich kommen sehen, also konzentrierte ich mich auf ein bestimmtes Fenster im ersten Stock. Auch dort brannte Licht, aber ich konnte keine Bewegung dahinter erkennen. Hervorragend.
Ich warf einen Blick über die Schulter. Der Wachmann war inzwischen am hinteren Ende des Gartens angekommen und spielte noch immer sein Spiel. Eine bessere Chance würde sich nicht bieten. Ich schob das Messer in meinen Ärmel, damit ich beide Hände frei hatte. Dann sprintete ich los, sprang und klammerte mich an eins der Spaliere an der Seite des Hauses.
Das Holz ächzte und knarzte unter meinem Gewicht, immerhin hatte es bisher nur hübsche Rosen und keine tödliche Profikillerin tragen müssen. Es brach allerdings nicht, und ich fühlte mich sicher genug, um daran hinaufzuklettern. Ich brauchte nur zehn Sekunden bis nach oben, dann schwang ich ein Bein aufs Vordach und zog mich hoch. Einen Wimpernschlag lang blieb ich flach auf dem Bauch liegen und lauschte, hörte jedoch keine überraschten Schreie oder Warnrufe. Noch einmal sah ich hinüber zur Wache, doch der Zwerg war nur ein undeutlicher Schemen in der Nacht. Niemand hatte meinen spinnengleichen Aufstieg bemerkt.
Obwohl ich auf dem kalten Dach fröstelte, blieb ich flach liegen und streckte erneut meine Magie aus. Genau wie die Steine des Cottages flüsterten die der Villa von dunklen, boshaften Absichten, Blut, Gewalt, Schmerz und Tod. Das Murmeln war hier viel schwächer und eher ein verwaschenes Lallen als klare, verständliche Töne. Fast so, als wären die Steine selbst gründlich mit all dem Alkohol getränkt worden, den ihr Besitzer sich bekanntlich allzu gern einverleibte. Trotzdem konnte ich die zurückgebliebenen emotionalen Vibrationen der grausamen Taten wahrnehmen, die hier über die Jahre begangen worden waren. Genau das, was ich im Haus eines Mitglieds des Kreises erwartet hatte.
Leider kannte ich jedoch viele Orte, an denen das Murmeln der Steine noch verstörender gewesen war als hier, und das Geräusch würde mich ganz sicher nicht davon abhalten, meine Mission zu beenden. Deshalb stand ich auf und huschte zu dem Fenster, das ich eben von unten betrachtet hatte. Nach einem kurzen Blick nach drinnen, um sicherzugehen, dass das Zimmer noch immer leer war, drückte ich gegen das Fenster. Es ließ sich mühelos öffnen.
Ich wartete einen Augenblick, hörte aber keinen Alarm. Ich schüttelte den Kopf. Man hätte meinen sollen, jemand, der Teil einer jahrzehntealten kriminellen Verschwörung war, hätte genug Verstand, um die Fenster seiner schicken Villa zu verriegeln oder zumindest seinen Angestellten aufzutragen, es für ihn zu tun. Doch der Eigentümer der Villa hielt sich für gut geschützt, anonym und unantastbar, genau wie der Rest des Kreises.
Tja, das waren sie nicht. Nicht mehr. Nicht für mich.
Ich schob die weiße Samtschleife zur Seite, bückte mich und schlüpfte durch das offene Fenster, wobei ich darauf achtete, es hinter mir wieder zu schließen. Dann sah ich mich im Zimmer um.
Das Büro war das Allerheiligste von Damian Rivera, dem ersten Mitglied des Kreises auf meiner Abschussliste. Vor vielen Generationen hatten die Vorfahren von Damians Mutter, Maria Rivera, mit Kohle ein Vermögen gemacht, bevor sie ihre Minen verkauften und sich anderen Bereichen widmeten. Maria selbst war eine Größe in der Immobilienbranche gewesen, mit einem Portfolio, das Objekte in ganz Ashland umfasste. Sie hatte verfallene alte Gebäude renoviert, sie mit antiken Möbeln und Familienerbstücken geschmückt, die sie zu Spottpreisen bei Haushaltsauflösungen erstand, und sie dann wieder verkauft.
Damian hatte das Gespür seiner Mutter für Inneneinrichtung und spektakuläre Räume definitiv geerbt. Das Büro war riesig und nahm die gesamte Seite der Villa ein. Dunkelbraune Ledersessel und -sofas waren in dem ausgesprochen maskulin wirkenden Zimmer verteilt. Auf den Tischen stand teurer Schnickschnack herum. Porzellanvasen, Kristallfiguren, Holzschnitzereien, Steinstatuen. Alles perfekt platziert und von den drei vergoldeten Kronleuchtern an der Decke makellos in Szene gesetzt.
Das Herzstück des Büros war jedoch eine kunstvolle Bar, die sich über die ganze Wand erstreckte. Es gab sogar rot gepolsterte Hocker. Eine große Auswahl an Schnapsflaschen und unzählige glänzende Gläser waren hübsch auf den Holzregalen hinter dem mit Messing eingefassten Tresen aufgereiht. Die Flaschen lagen weit außerhalb meiner Preisklasse, passten aber zum Rest der luxuriösen Einrichtung. Die Luft stank nach einem exklusiven, blumigen Duftwasser und kostspieligen Zigarren, was den Eindruck eines Herrenclubs verstärkte. Ich rümpfte die Nase, um nicht zu niesen.
Aber ich war nicht hier, um die teure Einrichtung zu bestaunen, deshalb ging ich zum Schreibtisch im hinteren Teil des Raumes, in der Nähe des Fensters, durch das ich gerade gekommen war. Zu meiner Enttäuschung glänzte das goldene Holz so makellos, als wäre es nie berührt, geschweige denn benutzt worden, und nicht mal ein Stift oder eine Büroklammer lag auf der glatten, schimmernden Oberfläche. Andererseits war das auch wenig überraschend. Damian Rivera musste sich mit so banalen Tätigkeiten wie Arbeiten nicht abgeben. Nach allem, was ich über ihn wusste, gehörten Trinken, Rauchen, Antiquitätenkauf und der Verschleiß von Frauen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Nicht zwingend in dieser Reihenfolge.
Dennoch hoffte ich, Informationen über den Kreis zu finden, also öffnete ich alle Schubladen und klopfte den Schreibtisch ab, um eventuelle Geheimfächer aufzuspüren. Doch bis auf einige Cocktailservietten und Pappuntersetzer waren die Schubladen leer, und es gab auch keine Geheimverstecke im Holz.
Erster Fehlschlag.
Da der Tisch nichts hergab, ging ich zur Bar und untersuchte die Regale darunter und dahinter. Aber hier fand ich nur mehr Servietten und Untersetzer, zusammen mit ein paar Martini-Shakern aus Sterlingsilber und anderem altmodischen Barzubehör.
Zweiter Strike.
Frust erfasste mich, doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben und mir den Rest des Büros vorzunehmen. Auf der Suche nach Geheimfächern tastete ich alle Oberflächen ab. Alle Vasen, Schnitzereien und Statuen wurden auf doppelte Böden überprüft. An den Wänden suchte ich nach versteckten Türen. Ich rollte sogar die dicken Teppiche zurück und lauschte mit meiner Magie den Steinplatten, nur für den Fall, dass im Boden ein Safe versteckt war.
Doch da war nichts. Keine Geheimfächer, keine versteckten Türen, kein Bodensafe.
Dritter Strike, und ich war raus.
Mein Frust mischte sich mit Enttäuschung, und beides brannte wie ätzende Säure in meinen Adern. Vor ein paar Wochen hatte ich mehrere Schließfächer voller Informationen über den Kreis gefunden, die mein Mentor Fletcher Lane gesammelt hatte. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstand, hatte Flechter nur Fotos von den Gruppenmitgliedern gehabt, aber es war kein Problem gewesen, die Gesichter mit Namen zu verknüpfen, vor allem, da viele von ihnen wohlhabende und prominente Bürger von Ashland waren.
Nachdem ich einige Mitglieder ausfindig gemacht hatte, hatte sich Damian Rivera als leichtestes Ziel mit den geringsten Sicherheitsmaßnahmen herausgestellt. Deshalb war ich heute Nacht hier eingebrochen, um hoffentlich mehr über die Gruppe und die Identität des mysteriösen Mannes zu erfahren, der die Organisation leitete. Der Mistkerl, der den Mord an meiner Mutter in Auftrag gegeben hatte. Womöglich gab es jedoch einen Grund für Riveras lasche Security. Vielleicht war er nicht so bedeutend oder nicht so tief in die Angelegenheiten des Kreises verstrickt, wie ich gedacht hatte.
Noch immer frustriert wandte ich mich dem Kamin zu, der den Großteil der Wand gegenüber der Bar einnahm. Da jeder Schnipsel Information wichtig sein konnte, fotografierte ich mit meinem Handy alle gerahmten Fotos auf dem Kaminsims, in der Hoffnung, auf einem von ihnen einen kleinen Hinweis zu finden.
Damian Rivera liebte offenbar nicht nur die schönen Dinge des Lebens, sondern auch sich selbst, denn auf den meisten Bildern waren seine welligen schwarzen Haare, die dunkelbraunen Augen, die bronzefarbene Haut und seine blendend weißen Zähne professionell in Szene gesetzt. Rivera war Anfang dreißig und damit in seiner Blütezeit, ein ausgesprochen attraktiver Mann – und ein durch und durch widerliches Individuum, selbst nach den zugegebenermaßen sehr niedrigen Standards von Ashland. Er war nicht nur mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden und lebte vom Vermögen seiner Familie, weshalb er an keinem einzigen Tag in seinem Leben hatte arbeiten müssen, sondern hatte sich auch noch nie den Konsequenzen seiner verabscheuungswürdigen Taten stellen müssen.
Und davon gab es reichlich.
Silvio Sanchez, mein persönlicher Assistent, hatte nur ein paar Tage lang zu Rivera recherchiert und war trotzdem schon auf mehrere Verhaftungen – hauptsächlich wegen Trunkenheit am Steuer – gestoßen, die bis in Riveras Teenagerzeit zurückreichten. Außerdem war er gewalttätig und hatte ernsthafte Aggressionsprobleme. Im Laufe der Jahre hatte er mehr als nur eine seiner Freundinnen und auch Angestellte verprügelt. Einige von ihnen waren sogar wegen Knochenbrüchen und anderer schwerer Verletzungen im Krankenhaus behandelt worden.
All das war allerdings nichts im Vergleich dazu, dass er eine Frau umgebracht hatte.
Auf dem College hatte er eines Nachts entschieden, herauszufinden, wie schnell er seinen SUV in betrunkenem Zustand über die Bergstraßen von Ashland fahren konnte. In einer Kurve war er auf die gegenüberliegende Fahrbahn abgekommen und frontal mit dem Auto einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern zusammengestoßen. Die Frau war sofort tot gewesen, doch Rivera hatte nur leichte Verletzungen davongetragen. Er war im Fall des Todes der Frau nie angeklagt worden, da seine Mutter ihre Beziehungen genutzt und die richtigen Leute bestochen hatte, um die Sache unter den Teppich zu kehren.
Doch Damian hatte seine Lektion nicht gelernt. Er hatte überhaupt nichts gelernt und war in den Jahren danach immer wieder wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen worden – wie vor ein paar Tagen an Silvester. Nicht dass er sich vor den Konsequenzen fürchten müsste. Seine Mama war schon lange tot, aber Damian hatte noch jemanden, der hinter ihm aufräumte: Bruce Porter, einen Zwerg, der seit Jahren Sicherheitschef der Rivera-Familie war.
Ich blieb vor einem Bild von Maria Rivera stehen. Sie war eine wunderschöne Frau mit langen, goldenen Haaren, braunen Augen und roten Lippen gewesen. Auf dem Foto stand sie lächelnd zwischen Damian und seinem Vater Richard Rivera. Bruce Porter war mürrisch dreinblickend im Hintergrund zu erkennen. Ich hob mein Handy und fotografierte das Bild …
»Du bist schon eine ganze Weile da drin«, erklang Finns Stimme in meinem Ohr. »Heißt das, dass du endlich was Gutes gefunden hast?«
»Nein«, murmelte ich. »Nur eine Menge Alkohol, Antiquitäten und Fotos.«
»Was für Alkohol?«, trällerte er, offensichtlich interessiert. »Irgendwas für mich?«
Ich schob das Handy in meine Jackentasche und schaute mir die glänzenden Flaschen hinter der Bar genauer an. »Oh, ich glaube, dass du alles trinken würdest, vor allem, da Riveras Geschmack sogar noch kostspieliger ist als deiner. Oh Mann, du würdest vor Begeisterung gackern, wenn du sehen könntest, was er hier hat.«
»Na ja, wieso bringst du mir nicht ein oder zwei Flaschen mit, damit ich in echt gackern kann?« Er trällerte wieder. »Wenn ich schon hier in der Kälte stehe, will ich auch was davon haben.«
Obwohl er draußen im Wald war und mich nicht sehen konnte, verdrehte ich die Augen. »Ich bin wegen Informationen über den Kreis hier. Nicht, um wie ein alberner Teenager Daddys Schnaps zu klauen.«
»Für dich ist es Arbeit, für mich eine Chance.«
Ich wollte gerade antworten, als ich ein dumpfes Knarzen draußen im Flur hörte, als liefe jemand über die Dielen. Ich erstarrte. Das Knarzen erklang erneut, dieses Mal lauter und näher, gefolgt von etwas noch viel, viel Schlimmerem: dem unverwechselbaren Klick eines Schlüssels, der ins Schloss geschoben wurde.
»Trinken wir etwas«, sagte eine gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Tür.
Ich rannte zum Fenster, um mich aus dem Staub zu machen, denn wenn ich erwischt wurde, wäre die gewissenhafte Überwachung von Damian Rivera und den anderen Mitgliedern des Kreises umsonst gewesen.
Ich hatte jedoch die weiße Samtschleife vergessen, die am Fensterrahmen hing, und lief geradewegs hinein. Schlimmer noch, der Stoff klebte an mir wie eine Klette oder ein Oktopus, der mit seinen Tentakeln an meinen Klamotten zerrte.
»Mist!«, zischte ich, während ich versuchte, den anhänglichen Stoff von mir zu schälen und gleichzeitig das Fenster zu öffnen. »Mist, Mist, Mist!«
»Gin?« Finns Stimme ertönte in meinem Ohr, ziemlich besorgt. »Stimmt was nicht?«
Endlich konnte ich mich von dem Schleifenband befreien und hielt mich am Rahmen fest. »Ich dachte, du hättest gesagt, Rivera sei heute Abend bei einer Wohltätigkeitsgala.«
»Ist er auch. Laut meinen Quellen hat er seine Teilnahme vor einigen Wochen bestätigt. Das Dinner hat erst um acht angefangen, es sollte also noch lange nicht vorbei sein.«
»Tja, erzähl das mal Rivera«, murmelte ich. »Denn der steht gerade vor der Tür.«
»Sieh zu, dass du da rauskommst, Gin.« Finns Stimme klang nun noch besorgter. »Sofort!«
Ich hievte mich auf den Fenstersims und zuckte zusammen, weil es leise ächzte. »Bin schon dabei.«
Sobald die Scheibe aus dem Weg war, stieg ich raus und trat auf das Dach.
Zumindest wollte ich das.
Mein Fuß verfing sich jedoch erneut in der dämlichen Schleife, und mein Bein hing in der Luft wie bei einer komplizierten Yogapose. Ich knirschte mit den Zähnen, während ich meinen Fuß aus dem Stoff losriss. Die plötzliche heftige Bewegung gab mir einen Ruck nach vorn, aber ich schaffte es, mich wieder zu fangen, bevor ich noch kopfüber aufs Vordach stürzte oder – schlimmer – ganz runterfiel.
Sobald ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, drehte ich mich zum Fenster, um es zu schließen.
Ich bemerkte, dass sich der antike Kristallknauf der Tür drehte und der Rahmen knarzte, als würde sich jemand dagegenstemmen.
»Die dämliche Tür klemmt immer«, sagte eine tiefe männliche Stimme.
Wieder bewegte sich der Knauf, und schließlich schwang die Tür auf. Ich schob das Fenster so schnell wie möglich nach unten, aber ich hatte nicht den besten Griff und bekam es nicht ganz zu. Genervt drückte ich von oben auf das Holz, um den letzten Zentimeter zu überbrücken, obwohl bereits ein Mann ins Zimmer trat.
Wenn ich ihn sah, konnte er auch mich entdecken, also ließ ich das Fenster in Ruhe und duckte mich schnell außer Sichtweite. Mein Herz hämmerte wie wild und schlug mir bis zum Hals. Ich griff nach einem Messer und wartete auf die unvermeidlichen überraschten Rufe, die mir signalisieren würden, dass ich aufgeflogen war.
Eins … zwei … drei … vier … fünf …
Zehn … zwanzig … dreißig …
Fünfundvierzig … sechzig … neunzig …
Ich zählte in Gedanken weiter, aber mehr als eine Minute verging, ohne dass eine Sirene losschrillte. Stattdessen drang durch das leicht geöffnete Fenster ein anderes Geräusch aus dem Arbeitszimmer.
Klirr-klonk.
Das Geräusch von Eiswürfeln, die in ein Glas fielen, gefolgt vom Ploppen einer geöffneten Flasche und dem rhythmischen Gluck-gluck-gluck von Flüssigkeit. Das beruhigte mich ein wenig. Das Messer immer noch in der Hand, ging ich in die Hocke und spähte durch die Scheibe.
Damian Rivera hatte die Wohltätigkeitsgala tatsächlich vorzeitig verlassen. Er sah genauso aus wie auf den glamourösen Fotos auf dem Kaminsims – schwarzes Haar, perfekte Zähne, durchtrainierte Figur in einem teuren grauen Anzug. Das Einzige, was in den aufpolierten Fotos fehlte, waren die leichte Röte auf seinen bronzefarbenen Wangen und die übertrieben langsamen Bewegungen. Da hatte jemand eindeutig schon ein paar Gläser zu viel intus.
Und er war offenbar entschlossen, sich ein paar weitere zu gönnen. Rivera kippte seinen Whiskey und schenkte sich das Glas gleich noch mal voll bis zum Rand, als wäre er kurz vorm Verdursten. Er nahm noch einen großen Schluck und leerte dabei das Glas bis zur Hälfte, bevor er sich umdrehte und jemanden heranwinkte.
»Steh da nicht rum«, sagte er mit seidigem Schnurren. »Komm rein, und trink was mit mir.«
Ein tiefes Seufzen, dann trat ein anderer Mann ins Zimmer. Mit dem schwarzen Haar und dem teuren Mantel hätte er eine ältere, Mitte-fünfzig-Ausgabe von Damian Rivera sein können, wären da nicht der schwarze Ziegenbart und die missbilligend verzogenen Lippen gewesen. Im Gegensatz zu den Augen des beschwipsten Rivera blickten seine scharfsichtig und kalt umher, ein Blick, der mir nur allzu gut bekannt war.
Hugh Tucker, der Ober-Vampirvollstrecker des Kreises und meine Nemesis.
Ich holte tief Luft und umschloss das Messer noch fester.
»Gin?«, meldete sich Finns Stimme in meinem Ohr. »Was ist los? Bist du in Ordnung?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich leise. »Ich bin rechtzeitig aufs Dach geflüchtet. Rivera ist jetzt im Arbeitszimmer. Tucker ist bei ihm.«
»Sei vorsichtig«, warnte Finn. »Wenn Tucker dich sieht …«
»Weiß ich doch. Sei still. Ich will hören, worüber sie sich unterhalten.«
Ein Räuspern kam über den Sender, als ob Finn mir eine Predigt halten wollte, es sich dann aber anders überlegte. Ich rutschte näher zum Fenster und neigte den Kopf, damit ich die beiden Männer besser belauschen konnte.
Tucker gesellte sich an der Bar zu Rivera, setzte sich jedoch nicht auf einen der Hocker, sondern schaute zu, wie sein Gastgeber ein weiteres Glas mit Eiswürfeln und Whiskey füllte. Rivera schob es ihm zu, doch der Vampir beachtete es nicht.
Rivera grinste, die offensichtliche Feindseligkeit des anderen schien ihn überhaupt nicht zu kümmern. Er hob seinen Tumbler zu einem wortlosen, spöttischen Toast und kippte die ganze Flüssigkeit in sich hinein. Dann schmatzte er. »Du solltest den Whiskey wirklich kosten. Es ist Brightons Bester, direkt aus Bigtime, New York. Kostet ein Vermögen, aber das ist er wert.«
Tucker ließ sich zu einem unverbindlichen »Mmmm« herab. Rivera schenkte sich noch mal ein und entfernte sich von der Bar. Er wankte durchs Zimmer und fläzte sich auf ein braunes Ledersofa, das unter seinem Gewicht ächzte.
»Also, Hugh«, sagte Rivera. Seine Stimme klang nur ein wenig verwaschen. »Was ist so wichtig, dass ich mein Dinner und meine liebreizende Lady stehen lassen musste, um dich zu treffen?«
Statt zu antworten, trat Tucker zum Kamin und betrachtete jedes der Fotos auf dem Sims, so wie ich vorher. Beim Anblick der Glamourbilder blähte er missbilligend die Nasenflügel, doch er ließ sie schnell links liegen und blieb vor dem Bild von Richard und Maria Rivera mit ihrem Sohn stehen. Wieder hoben sich seine Nasenflügel, als fände er etwas an dem Foto abstoßend, und er tippte mit dem Zeigefinger gegen den Rahmen, sodass sich das Bild aus der Reihe nach hinten verschob.
»Du weißt genau, warum ich hier bin.« Tucker verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich zu Rivera um. »Es geht um dasselbe Problem, mit dem ich dich schon vor ein paar Wochen konfrontiert habe. Bisher hast du absolut nichts getan, um es zu lösen.«
Rivera zuckte mit den Schultern. »Das liegt daran, dass ich kein Problem darin sehe.«
»Nun, das solltest du aber«, giftete Tucker. »Denn du allein bist dafür verantwortlich.«
Rivera lehnte sich zurück und versank noch ein wenig tiefer in dem üppigen Leder. Er zog sich die schwarzen Schuhe aus und legte seine Füße in Socken auf einen dick gepolsterten Hocker, der die gleiche Farbe hatte wie das Sofa.
»Und wenn schon. Niemand weiß davon, was bedeutet, dass niemand etwas deswegen unternehmen wird. Und das bedeutet, es gibt eigentlich kein Problem.«
Tucker kniff bei Riveras leichtfertigem Ton die Augen zusammen, aber der war zu betrunken, um zu bemerken, dass der Vampir mit den Zähnen knirschte und ungeduldig mit einem Zeigefinger auf seinen Ellbogen trommelte. Ich gewann den Eindruck, dass Hugh Tucker nur einen sorglosen Kommentar davon entfernt war, sich Damian Rivera zu schnappen und ihn zu würgen.
Von mir aus konnte er das gerne tun. Mir war es egal, wie die Mitglieder des Kreises starben. Ich wollte nur, dass ihre Terrorherrschaft endete und sie dafür bezahlten, dass sie den Tod meiner Mutter in Auftrag gegeben hatten. Ausnahmsweise fieberte ich mit Tucker mit und hoffte, er würde seiner Wut nachgeben und Rivera ein für alle Mal die Lichter ausblasen.
Natürlich passierte das nicht.
Tucker löste die verschränkten Arme und strich sich glättend über seine graue Krawatte und das gleichfarbige Jackett, um seine Wut zu kontrollieren. Seine Stimme war so kalt wie der Winterwind, der an meinen Haaren riss, als er erneut das Wort ergriff. »Nun, ich weiß davon, was bedeutet, dass er auch Bescheid weiß. Dir ist genauso klar wie mir, dass er Komplikationen verabscheut und sie ganz gewiss nicht gebrauchen kann, vor allem jetzt nicht.«
Meine Augen verengten sich. Er? Tucker redete vermutlich über seinen Boss, den mysteriösen Anführer des Kreises, der die Strippen des Bösen in der Gruppe zog. Vielleicht war dieser Abend doch nicht ganz für die Tonne.
Komm schon, Tuck. Sprich seinen Namen aus. Mehr will ich gar nicht von dir. Sag seinen Namen, sag seinen Namen, sag seinen Namen …
Rivera schnaubte. »Wirklich? Er will keine Komplikationen? Meinst du solche wie die, die du uns eingebrockt hast, weil du es nicht geschafft hast, Gin Blanco umzubringen?«
Tucker versteifte sich bei der Beleidigung.
Rivera lächelte selbstzufrieden, weil er wusste, dass er ihn getroffen hatte. »Dir ist ja bekannt, wie gern unsere kleine Gruppe tratscht. Ich hab alles darüber gehört. Dass du gedacht hast, du hättest Blanco dazu gebracht, die Juwelen in Deirdres Touristenfallen-Freizeitpark zu suchen und dir auszuhändigen. Aber Blanco hat dich reingelegt, nicht wahr? Sie hat dir einen Beutel voll falscher Steine angedreht, und du hast das in deiner Unfähigkeit nicht bemerkt. Wie ich gehört habe, sollst du diese Imitate sogar voller Stolz unserem furchtlosen Anführer übergeben haben – und er war so wütend, dass er sie mit bloßen Händen zerdrückt hat, direkt vor deinen Augen, und du musstest danach die Sauerei wegmachen.«
Tucker presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, antwortete jedoch nicht darauf.
»Sieh den Tatsachen ins Auge, Hugh.« Riveras Stimme triefte vor Hohn. »Du arbeitest vielleicht für ihn, aber du wirst nie einer von uns sein. Niemals richtig dazugehören. Nie wieder. Dein Vater hat nicht nur das Familienvermögen verschleudert, er hat auch deine Stellung in der Gruppe untergraben. Du wirst nie wieder solches Ansehen genießen, solchen Respekt, ganz egal, wie sehr du dich anstrengst.«
Tuckers Miene blieb ausdruckslos und verschlossen, aber die leichte Röte an seinem Hals konnte er nicht verbergen. Es war fast so, als wären ihm Riveras Enthüllungen peinlich.
Ich runzelte die Stirn. Ich hatte angenommen, dass Hugh Tucker der Zweite in der Hierarchie des Kreises war, direkt unter dem mysteriösen Er. Bei Rivera klang es jedoch so, als wäre Tucker ein verstoßener Außenseiter, so was wie ein armer Cousin vom Land, dem das Schicksal übel mitgespielt hatte. Ein Dienstbote, den die Mitglieder des Kreises aus lauter Güte ihre schmutzige Arbeit erledigen ließen, als Gegenleistung für das Privileg, sich in ihrer erlauchten Gesellschaft aufzuhalten. Fast bekam ich Mitleid mit dem Vampir.
Aber nur fast.
»Und natürlich hast du dir damals unglücklicherweise die falsche Frau ausgesucht, was deine vielen Fehler mit Blanco umso schlimmer macht.« Rivera verzog den Mund zu einem bösen Lächeln. »Sag mir, Hugh, brennst du nach all diesen Jahren immer noch für Eira Snow?«
Ich schnappte nach Luft, der Schreck durchzuckte mich wie ein Blitz. Ich lehnte mich vom Fenster zurück und rutschte aus. Die Füße knickten mir weg, und eine Sekunde später traf mein Hintern auf das Vordach.
Rums.
Einen Moment lang blieb ich sitzen, die Augen weit aufgerissen, ebenso wie den Mund, das Messer locker in den Fingern, als ob mir jemand ins Herz geschossen hätte und ich einfach umgekippt wäre. Mein Verstand versuchte, Riveras Bemerkung zu verarbeiten, als müsste er eine fremde Sprache übersetzen, die ich noch nie gehört hatte.
Hugh Tucker und meine Mutter?
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein.
Sobald sich dieser grausame Gedanke in meinem Hirn formte, schob ich ihn auch schon weg. Niemals konnte Tucker meine Mutter geliebt haben. Sonst hätte er doch nicht zugelassen, dass Mab Monroe sie ermordete. Meine Gedanken rasten, und eine weitere schreckliche Vorstellung schoss mir durch den Kopf.
Meine Mutter konnte doch niemals Tucker geliebt haben, oder?
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein.
Die Galle kam mir hoch, und ich fürchtete, dass ich mich aufs Dach übergeben musste …
Leise Geräusche drangen an mein Ohr, sickerten durch mein Entsetzen, und ich stellte fest, dass ein Schatten neben mir immer größer wurde, so als würde jemand zum Fenster laufen und das Licht aus dem Arbeitszimmer verdecken. Ich war bei meinem Ausrutscher nicht sehr laut gewesen, aber Tucker war ein Vampir, und das Blut, das er trank, reichte, um seine Sinne zu schärfen, einschließlich eines Supergehörs.
Die Jahre von Fletchers Training zahlten sich aus und drängten meinen Schock beiseite. Ich rappelte mich auf, sprang nach vorn und drückte mich an die Hauswand, wobei ich den Kopf nur so weit vorbeugte, dass ich weiterhin das Fenster im Blick hatte.
Gerade noch rechtzeitig.
Tucker stand am Fenster. Der Vampir schob die weiße Samtschleife aus dem Weg und presste fast die Nase an die Scheibe, um in die Dunkelheit zu spähen. Bestimmt war seine Sicht genauso scharf wie sein Gehör, und ich bewegte nicht mal einen Muskel, aus Sorge, dass er mich sonst aus dem Augenwinkel bemerken könnte. Mein Herz hämmerte wie wild, doch ich zwang mich, tief durch die Nase ein- und auszuatmen, um nicht lauter zu sein als unbedingt nötig.
Nach einigen langen, angespannten Sekunden zog sich Tucker zurück, obwohl sein Blick am Fenster haften blieb, das immer noch leicht geöffnet war. Er zog die Augenbrauen zusammen, als ob er sich wunderte, dass an einem so kalten Abend das Fenster offen war.
»Also?«, rief Rivera in gehässigem Ton. »Du hast meine Frage zu Eira nicht beantwortet. Vermisst du dein Turteltäubchen immer noch? Wie ich gehört habe, wart ihr zwei damals ein wirklich hübsches Paar.«
Ein Paar?
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein.
Wieder stieg das Leugnen in mir auf, so wie die Galle in meinem Hals, aber ich zwang mich, beides runterzuschlucken. Das hier war kein geeigneter Zeitpunkt dafür, mich von meinen Emotionen überwältigen zu lassen.
Tucker verzog das Gesicht, und seine dunklen Augen glühten förmlich vor blutrünstiger Mordlust. Was auch immer zwischen ihm und meiner Mutter vorgegangen war, was für Gefühle er auch für sie gehegt hatte, das war eine Delle in seiner Rüstung, und Rivera hatte erneut einen wunden Punkt getroffen.
Wieder dachte ich, dass Tucker seiner Wut nachgeben würde, dass er sich umdrehen und den anderen Mann angreifen würde, aber er neigte nur den Kopf und musterte das offene Fenster, als sei es ein großes Geheimnis, das es zu lösen galt. Eine Sekunde später glättete sich sein Gesicht, und er hob die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln, als hätte er etwas Erfreuliches entdeckt. Ich rührte mich nicht und wagte kaum, zu atmen oder zu denken, aus Angst, dass der Vampir mich doch noch bemerkt hatte und gleich losbrüllen würde, dass ein Eindringling auf dem Dach saß.
Tucker ließ das Fenster offen, drehte sich um und entschwand aus meiner Sicht. »Ich bin nicht hergekommen, um über die Vergangenheit zu reden. Nur über die Zukunft, Damian. Die ziemlich kurz und unerfreulich ausfallen wird, wenn du dich nicht endlich um dieses Problem kümmerst, so wie er sich das wünscht.«
Rivera schnaubte, und erneut klirrte das Eis in seinem Glas, während er den restlichen Whiskey darin austrank.
Ich wartete mehrere Sekunden, um sicherzugehen, dass Tucker sich weit genug vom Fenster entfernt hatte, dann lehnte ich mich vor und lugte durch die Scheibe. Der Vampir stand wieder am Kamin, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick auf Rivera geheftet. Der hatte sein leeres Glas abgestellt und riss nun an seinem Krawattenknoten, völlig unbeeindruckt von Tuckers Drohungen.
Tock-tock-tock.
Es klopfte leise an der Tür, dann trat ein dritter Mann ins Zimmer. Bruce Porter, Riveras Sicherheitschef.
Porter war ein Zwerg, eins fünfzig groß, mit einem stämmigen, muskulösen Körper, der so hart war wie die Steine, die den Kamin formten. Auch er trug einen Anzug, der allerdings nicht annähernd so teuer aussah wie der von seinem Boss. Seine Augen waren hellblau, sein metallgraues Haar zu kurzen Stoppeln geschnitten. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, die gerötete Haut war vom Wetter gegerbt wie bei jemandem, der seit Jahren in der Sonne stand, um auf die Befehle von anderen zu warten.
Porter bewegte sich mit steifer, militärischer Präzision und baute sich neben Riveras Ellbogen auf. »Sir«, sagte er mit tiefer, leiser Stimme. »Wie gewünscht habe ich Ihre Freundin zum Anwesen begleitet. Sie wartet in Ihrem Schlafzimmer.«
Rivera fletschte die Zähne zu einem raubtierhaften Grinsen. »Guter Mann, Porter.«
Der Zwerg nickte Rivera zu, dann neigte er auch in Tuckers Richtung höflich den Kopf. Für einen Moment flackerte der Blick des Vampirs von Porter zu den Fotos auf dem Kaminsims. Dann schaute er wieder den Zwerg an und nickte ihm zu, ehe er seine Aufmerksamkeit erneut auf Rivera richtete.
»Du hast genau eine Woche, um dein Problem zu beseitigen«, erklärte Tucker. »Keine Sekunde länger.«
Rivera lachte, fläzte sich in die Polster und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Womöglich würde ich Angst bekommen, wenn mir jemand anders als du drohen würde. Sieh den Tatsachen ins Auge, Hugh. Wir beide wissen, dass du nur ein bellender Hund an der Leine bist. Du hast absolut keinen Biss.«
Wieder umspielte dieses leichte, erfreute Lächeln Tuckers Mund, als wäre der Spott seines Gesprächspartners genau das, was er hören wollte. »Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Mit dieser letzten Drohung stolzierte der Vampir aus dem Arbeitszimmer.
Einen unvernünftigen Augenblick lang war ich versucht, Tucker hinterherzurennen.
Einfach vom Dach zu springen, zur Vorderseite der Villa zu laufen und den Vampir anzugreifen, bevor er in sein Auto steigen und wegfahren konnte. Oder ihm wenigstens bis zu seinem Schlupfwinkel zu folgen, um dort zu entscheiden, was ich als Nächstes tun würde. Bei passender Gelegenheit könnte ich ihn mir sogar schnappen, ihn verhören und töten.
Damian Rivera würde mir nicht weglaufen, aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wo sich Tucker für gewöhnlich aufhielt, wenn er nicht gerade in Ashland herumstolzierte und Leute bedrohte. Und sollte ich ihn zu fassen kriegen, könnte ich ihn womöglich dazu bringen, mir zu sagen, was da mit Rivera lief und wer der Anführer des Kreises war.
Und in welcher Beziehung, wenn überhaupt einer, er zu meiner Mutter gestanden hatte.
Hugh Tucker und meine Mutter. Zusammen. Ein Paar. Der Gedanke war mir zuvor nie in den Sinn gekommen.
Niemals. Riveras spöttische Bemerkung hatte es jedoch so wirken lassen, als hätten die beiden eine Romanze gehabt. Ebenso wie Tuckers Reaktion auf Riveras Sticheleien. Es musste eine andere Erklärung geben – oh bitte, mach, dass es eine andere Erklärung gibt –, aber sosehr ich mich auch anstrengte, mir fiel keine ein. Keiner der beiden Männer hatte einen Grund, in dieser Sache zu lügen.
Hugh Tucker und meine Mutter.
Die Worte kreisten in meinem Kopf wie ein ziemlich schlechter Ohrwurm, den ich nicht mehr loswurde. Allein der Gedanke, dass sie ein Paar gewesen sein könnten, ging über meine Vorstellungskraft. Nein, es war schlimmer als das. Es war so, als wäre in meinem Herzen eine Bombe aus elementarem Feuer explodiert, die alles ausgelöscht hatte, was ich kannte. Die alle Hinweise, Puzzlestücke und zerrissenen Fäden, die ich so mühsam in so langer Zeit und mit so viel Energie aufgedeckt, zusammengesetzt und in eine Reihenfolge gebracht hatte, völlig verbrannt hatte. Jedes Mal, wenn ich ein paar Antworten zum Kreis bekam, tauchten gleichzeitig noch mehr Fragen zu den zwielichtigen Mitgliedern der Gruppe auf, zu ihren schrägen Motiven und dem Grund dafür, dass sie meine Mutter umgebracht hatten.
Doch sosehr ich mich nach Antworten sehnte, sosehr ich sie brauchte, um nicht durchzudrehen, ich konnte Tucker nicht folgen. Weitere Wachleute waren vor der Villa postiert, und wenn ich ihn hier angriff, wüsste der Kreis, dass ich Rivera als Mitglied identifiziert hatte. Das würde meinen hauchdünnen Vorteil zunichtemachen.
Deshalb musste ich Tucker gehen lassen.
Leider.
Verflucht!
»Worum ging es denn?«, fragte Porter, der immer noch neben seinem Boss stand.
Rivera beäugte den Zwerg mit leichter Verärgerung in den dunklen Augen und winkte ab. »Nichts. Hugh versucht nur, ein wenig mit dem bisschen Macht zu spielen, das er zu haben glaubt. Ich hab ihn bereits vergessen.«
Er stand auf, schnappte sich sein leeres Glas und schob es Porter zu wie ein Kind, das den Vater bittet, sein Lieblingsspielzeug wegzuräumen. Der Zwerg nahm den Tumbler mit einer geschmeidigen Bewegung entgegen, als hätte er Ähnliches schon Hunderte Male zuvor gemacht. Was zweifellos auch so war.
»Schick wie immer ein paar Flaschen Champagner in mein Schlafzimmer«, befahl Rivera und steuerte auf die Tür zu. Dabei schwankte er wie ein Schiff auf den Wellen.
Ich hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, nach all dem Whiskey, den er getrunken hatte, überhaupt noch zu stehen – ganz zu schweigen von anderen Spirituosen, die er vorher gekippt haben mochte. Vermutlich hatte er sich eine beträchtliche Resilienz angetrunken. Damian Rivera konnte wohl zehn Männer unter den Tisch saufen und immer noch Durst haben.
Porter nickte. »Selbstverständlich.«
Rivera taumelte durch die offene Tür, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Porter blieb im Arbeitszimmer, stellte das Glas weg, hob Riveras abgelegte Sachen auf und machte Ordnung. Das einzig Interessante, was er tat, war ein Spaziergang entlang der Fotos auf dem Kaminsims, wobei er jeden Rahmen ein paar Zentimeter nach links oder rechts rückte, obwohl sie alle schon ordentlich aufgereiht waren. Da hatte jemand wohl einen kleinen Zwang zum Perfektionismus. Oder Porter wusste, dass Damian ihn seinen Zorn spüren lassen würde, wenn etwas im Arbeitszimmer auch nur ansatzweise unaufgeräumt wirkte.
Vor dem Familienfoto der Riveras runzelte Porter die Stirn, vermutlich weil Tucker es verschoben hatte, und verbrachte einige Zeit damit, es nach vorn und wieder zurückzuschieben, bis es so stand, wie er es haben wollte.
Endlich zufrieden nickte er und schaute sich im Arbeitszimmer um, wie um sich zu vergewissern, dass er sich um nichts mehr kümmern musste. Sein Blick glitt über das Fenster, hielt inne und kehrte zum Rahmen zurück, als ob ihm letztlich aufgefallen wäre, dass es offen stand.
Zeit, zu gehen.
Während Porter zum Fenster herüberkam, entfernte ich mich davon, schob mein Messer zurück in den Ärmel und schlich über das Dach zum Spalier. Schnell kletterte ich daran nach unten.
Der Wachmann, der die Rückseite der Villa im Auge behalten sollte, war immer noch in sein Spiel vertieft. Das machte es mir leichter, ungesehen über den Rasen zu rennen und im angrenzenden Wald zu verschwinden, wo Finn auf mich wartete. Dem platt getrampelten Pfad im Gebüsch nach zu schließen, hatte er die vergangenen Minuten mit Herumtigern verbracht.
»Wo bleibst du so lange?«, schimpfte er und steckte seine Waffe ins Holster. »Ich hab mir allmählich Sorgen gemacht.«
Ich hob die Augenbrauen. »Du hast dir um mich Sorgen gemacht? Oooh, ich fühle mich geschmeichelt.«
»Das solltest du auch«, grollte er und schob sich die schwarze Strickmütze aus der Stirn, damit er sich die Schläfen massieren konnte. »Du hast mir gerade ein paar neue Falten beschert.«
»Armer Kleiner«, schnurrte ich. »Aber du wirst nun mal auch nicht jünger. Vielleicht solltest du dir von Jo-Jo ein paar Luftelementar-Gesichtsbehandlungen geben lassen, bevor diese Falten und die üblen Krähenfüße noch schlimmer werden, als sie schon sind.«
»Krähenfüße!«, zischte Finn und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe keine Krähenfüße!«
Ich lächelte nur und lief los, in dem Wissen, dass ich unser kleines verbales Duell diesmal gewonnen hatte.
*
Finn und ich verließen Damian Riveras Anwesen und wanderten durch den Wald. Unser Atem bildete geisterhafte Wölkchen in der Luft. Als die Lichter der Villa nicht mehr zu erkennen waren, holten wir kleine Taschenlampen hervor und schalteten sie ein. Wir waren das Einzige, was sich in der Dunkelheit bewegte, wenn man vom träge plätschernden Fluss einmal absah. Die Rückseite von Riveras Anwesen lag am Aneirin, und der Wald grenzte an hohe, felsige Klippen, die das Gewässer überblickten.
Finn blieb stehen, leuchtete mit der Lampe über die Klippen und stieß einen leisen Pfiff aus. »Hier möchte ich nicht runterfallen.«
Ich wollte gerade erwidern, dass er sich dann besser nicht so nah am Rand aufhalten sollte, als ein Raunen an meine Ohren drang. Einen Moment lang glaubte ich, dass da unten an den steilen Klippen jemand um Hilfe rief, aber aus dem Augenwinkel bemerkte ich das Schimmern von Glas. Ich drehte mich um und richtete den Strahl der Taschenlampe in die Dunkelheit. In der Ferne entdeckte ich ein kleines, heruntergekommenes Cottage.
Es schmiegte sich zwischen die Bäume und war von dicken Strängen abgestorbener Kudzu-Pflanzen überwuchert, sodass es gut verborgen war. Ich musterte das Gebäude und fragte mich, ob ein Obdachloser dort drinnen Schutz gesucht hatte, aber hinter den Fensterscheiben flackerte kein Licht, und es kam auch kein Rauch aus dem Schornstein.
Obwohl das Cottage ganz offensichtlich schon seit längerer Zeit verlassen war, murmelten die Mauern von Blut, Gewalt, Qual und Tod. Seltsam. Ich hätte nicht gedacht, dass sich hier genug Leute herumtrieben, um irgendwelche emotionalen Vibrationen in den Steinen zu hinterlassen. Vermutlich war jedoch mehr als nur ein unachtsamer Wanderer auf den Klippen ausgerutscht und auf dem felsigen Ufer zu Tode gestürzt. Vielleicht waren diese Laute zum Cottage hinübergedriftet und im Lauf der Jahre in die Steinmauern eingesickert.
»Was ist los?«, fragte Finn. Auch er ließ den Schein seiner Taschenlampe durch den Wald gleiten, die Hand auf die Waffe an seiner Hüfte gelegt. »Stimmt was nicht?«
Ich schüttelte den Kopf, um das störende Gemurmel zu vertreiben. »Nein. Lass uns weitergehen.«
Wir liefen weiter und ließen die Klippen, das Cottage und den Fluss hinter uns zurück. Auf dem Weg zum Auto erzählte ich Finn, was Tucker gesagt hatte, einschließlich der Drohungen gegen Rivera wegen des Problems, das er offenbar nicht aus dem Weg geräumt hatte. Das Einzige, was ich ausließ, waren Riveras spöttische Worte über Tuckers angebliche Beziehung zu meiner Mutter. Ich brauchte noch Zeit, um diese Bombe zu verarbeiten, bevor ich darüber reden konnte.
»Was hat Damian wohl getan, das die anderen vom Kreis so sehr beunruhigt?«, überlegte Finn. »Nach dem, was deine Überwachung ergeben hat, und den Informationen, die Silvio und ich ausgegraben haben, scheint Damian Rivera völlig damit zufrieden zu sein, das Geld seiner Mama auszugeben und sich zu Tode zu saufen. Ich hätte ihn nicht für nüchtern oder ehrgeizig genug gehalten, um irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. Jedenfalls nicht die Art von Schwierigkeiten, wegen der ein Typ wie Hugh Tucker bei ihm auftaucht und sagt, er muss die Sache aus der Welt schaffen, sonst passiert was.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vermutlich geht es um Geld. Das scheint eine große Sorge des Kreises zu sein. Womöglich ist die Gruppe knapp bei Kasse, seit Deirdre Shaw einen erheblichen Batzen von ihren Mitteln verloren hat. Riveras Vermögen ist nach wie vor riesig, und er hat offenbar mehr Geld als die anderen Mitglieder, die wir bisher identifiziert haben. Vielleicht zahlt er seinen Beitrag nicht oder weigert sich, dabei zu helfen, die Reserven wieder aufzustocken. Ich wünschte nur, die beiden hätten den Namen des Big Boss genannt. Ich hab immer noch nicht herausbekommen, wer er sein könnte, trotz der Fotos, die Fletcher in den Bankschließfächern deponiert hat.«
Finn schenkte mir einen mitfühlenden Blick. Er wusste, wie wichtig es mir war, den Mann zur Strecke zu bringen, der den Tod meiner Mutter angeordnet hatte, und er, Silvio und unsere Freunde hatten in den vergangenen Wochen mit mir daran gearbeitet, diese Information zu enthüllen. Dank Fletchers Fotos hatten wir, so nahmen wir an, die Namen der wichtigsten Mitglieder des Kreises ausfindig machen können, zumindest von denjenigen, die noch lebten – aber ich wollte mehr.
Ich wollte den Anführer, den Mann, der diese monströse Hydra steuerte. Ich wollte genau wissen, welche Rolle meine Mutter in der Gruppe gespielt hatte. Was zu tun sie gezwungen gewesen war und warum. Was meine Mutter ausgeheckt hatte, was sie gegen den Kreis in der Hand gehabt hatte, das eine so große Bedrohung darstellte, dass der Anführer Mab Monroe damit beauftragt hatte, sie zu ermorden.
Aber vor allem wollte ich den Auslöser so vieler Albträume in meinem Leben zur Rede stellen und dann töten.
»Mach dir keine Sorgen, Gin. Wir finden den Mistkerl früher oder später, und dann kannst du ihn nach Herzenslust zerstückeln.« Finn legte einen Arm um meine Schultern und drückte mich tröstend. »Bis dahin hör auf, die Stirn so zu runzeln, dadurch sieht dein Gesicht ganz verknautscht aus.«
»Jetzt machst du dir Sorgen, dass ich Falten bekomme?«, neckte ich.
Er schenkte mir ein charmantes, teuflisches Grinsen. Seine grünen Augen leuchteten dabei so strahlend wie Lichterketten. »Ich muss mich doch darum kümmern, dass mein tödlichstes Mädchen jung und schön bleibt.«
Ich schnaubte und stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Ich bin nicht dein Mädchen. Ich bin meine eigene Frau.«
»Hundertpro bist du das.«
Finn drückte mich erneut und bot mir damit wortlos seine brüderliche Liebe und Unterstützung an, so wie er es immer tat, seit dieser ganze Schlamassel mit dem Kreis begonnen hatte. Ich drückte ihn ebenfalls kurz, ehe wir weitergingen.
Dreißig Minuten später erreichten wir den Waldrand und betraten einen der noblen Bezirke von Northtown, dem Teil von Ashland, wo die gesellschaftliche, magische und finanzielle Elite lebte. Bilderbuchhäuser, eins wie das andere, sprenkelten die Rasenflächen, die sich vor uns erstreckten. Finn und ich steuerten auf den Aston Martin zu, der neben dem Bürgersteig vor einer im Bau befindlichen Villa parkte. Finns teurer Wagen fiel unter all den Audis, BMW und Mercedes, die in den geräumigen Einfahrten entlang der Straße standen, gar nicht auf.
Wir stiegen ein, und Finn startete den Motor. Beide schwiegen wir für einige Minuten, während uns die Heizung nach der langen Wanderung durch die Eiseskälte allmählich auftaute.
»Wohin jetzt?«, fragte Finn. »Zu unserem supergeheimen Versteck?«
Er meinte damit unser derzeitiges Hauptquartier, einen heruntergekommenen Container auf dem Hof einer Werft am Fluss. Die Eigentümerin der Werft, Lorelei Parker, die zu Ashlands zahlreichen Unterweltbossen gehörte, hatte mir den Container zur Verfügung gestellt, den ich als mein ganz persönliches Bankschließfach nutzte. Dort bewahrte ich alle Informationen auf, die ich über den Kreis hatte. Hugh Tucker hatte bereits viel zu viel über mich und meine Freunde herausgefunden, aber unser Versteck hatte er noch nicht entdeckt, ebenso wenig wie er wusste, dass ich mehrere Mitglieder des Kreises identifiziert hatte. Und ich wollte gerne, dass das so blieb.
Ich schüttelte den Kopf. »Nee. Nicht heute. Ich hab nichts Weltbewegendes erfahren.«
Natürlich entsprach das nicht ganz der Wahrheit, aber ich wollte noch nicht über Tuckers Beziehung – oder wie immer man das auch nennen sollte – zu meiner Mutter reden.
»Außerdem ist es schon spät, es ist kalt, und ich bin zu müde und zu grantig, um über Verschwörungen nachzudenken. Bring uns heim, Finn. Nach Hause.«
Er zwinkerte mir zu. »Wie Mylady befiehlt«, erwiderte er mit einem wirklich schlechten britischen Akzent.
»Willst du auf der ganzen Fahrt nach Hause so reden?«
»Natürlich, Mylady«, sagte er und trug den kitschigen Akzent noch dicker auf. »Da ich heute Abend dein persönlicher Chauffeur bin, bestehe ich darauf, auch so zu klingen. Alles andere wäre unpassend. Meinst du nicht auch?«
Ich stöhnte, aber Finn grinste und tippte sich an einen imaginären Hut. Dann legte er den Gang ein, gab Gas und brachte uns aus dem Bezirk.
Finn fuhr mich zu Fletchers Haus, das jetzt mein Zuhause war, und setzte mich ab. Ein vertrauter Wagen stand neben meinem in der Einfahrt, und das Verandalicht brannte.
»Was macht Owen denn hier?«, fragte Finn und wackelte mit den Augenbrauen. »Habt ihr beiden etwa ein heißes Spätabend-Date? Ein kleines Bow-chicka-wow-wow?«
Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Dein erwachsenes Verhalten überrascht mich immer wieder.«
Er kicherte und neckte mich noch ein bisschen mehr, aber ich hob die Faust als klare Warnung, was passieren würde, wenn er nicht damit aufhörte.
Finn hob theatralisch die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich halte die Klappe.« Er grinste. »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.«
Ich schnaubte. »Du würdest so gut wie alles tun.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Ich weiß. Das sorgt für den Spaß im Leben.«
Und damit triumphierte Finnegan Lane mal wieder in einem Wortgefecht und schlug mich an diesem Abend zwei zu eins.
Finn versprach, mir Bescheid zu geben, falls er mehr über Damian Rivera oder sein ominöses Problem herausfand. Ich stieg aus dem Auto und blieb auf der Veranda stehen, bis die Rücklichter verschwunden waren. Erst dann ging ich hinein und verschloss die Tür hinter mir.
»Liebling, ich bin zu Hause!«, rief ich, ganz im Stil des alten Klischees.
»Im Wohnzimmer!«, erwiderte Owen.