Frostherz - Jennifer Estep - E-Book
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Jennifer Estep

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Beschreibung

Gwen wurde von ihrer Göttin Nike mit einer äußerst schwierigen Mission betraut: Sie soll verhindern, dass die Schnitter das letzte Siegel am Gefängnis des grausamen Gottes Loki brechen und damit einen neuen Chaoskrieg entfachen. Doch dazu muss Gwen den Helheim-Dolch finden, jenes göttliche Artefakt, das vor Jahren auf dem Campus der Mythos Academy verschwunden ist. Ihre einzigen Hilfsmittel sind ein altes Tagebuch und ihre magische Gypsy-Gabe. Aber noch bevor die Suche beginnt, sieht sich Gwen mit zahlreichen Problemen konfrontiert: einem ausgewachsenen Fenriswolf, den sie in ihrem Zimmer verstecken muss, einer zornigen Walküre, die ihre neu erworbenen Heilkräfte hasst, und einem unbekannten Mädchen mit Loki-Maske, das nicht nur schuld am Tod von Gwens Mutter ist, sondern nun auch ihr selbst nach dem Leben trachtet. Zusammen mit Logan, Daphne und Carson bestreitet Gwen Frost ihr bislang aufregendstes Abenteuer!

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Seitenzahl: 504

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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe3. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96173-8Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Dark Frost« bei KTeen Books / Kensington Publishing Corp., New YorkDeutschsprachige Ausgabe:© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, MünchenUmschlagabbildung: FinePic® MünchenDatenkonvertierung: psb, Berlin

Wie immer: für meine Mom, meine Grandma und André, für all ihre Liebe, Hilfe, Unterstützung und Geduld mit meinen Büchern und allem anderem im Leben.

Und für Lucky, den besten Hund der Welt. Neunzehn Jahre waren nicht lang genug. Wir werden dich immer lieben und vermissen.

Jede Autorin wird erklären, dass ihr Buch ohne die harte Arbeit vieler, vieler Leute nicht möglich gewesen wäre. Hier sind einige der Menschen, die dabei geholfen haben, Gwen Frost und die Mythos Academy zum Leben zu erwecken:

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey für all ihre hilfreichen Ratschläge.

Ich danke meiner Lektorin Alicia Condon für ihren scharfen Blick und die aufmerksamen Vorschläge. Sie machen das Buch immer so viel besser.

Ich danke allen, die bei Kensington an dem Buch gearbeitet haben, und besonders Alexandra Nicolajsen und Vida Engstrand für ihren Einsatz in Sachen Marketing.

Und schließlich möchte ich allen Lesern dort draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und es ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt so viel Spaß beim Lesen von Gwens Abenteuer wie ich beim Schreiben.

Ich wünsche viel Vergnügen!

»Wenn ihr beide nicht aufhört, rumzuknutschen, wird mir schlecht.«

Meine beste Freundin Daphne Cruz kicherte und drückte ihrem Freund Carson Callahan den nächsten dicken, schmatzenden Kuss auf den Mund. Prinzessinnenrosa Funken stoben aus Daphnes Fingerspitzen, um in der Luft um sie herum zu verlöschen. Die kleinen farbigen Lichter leuchteten fast so sehr wie Carsons Gesicht.

Ich verdrehte die Augen. »Richtig, ernsthaft schlecht.«

Daphne ließ lang genug von Carson ab, um mich anzusehen. »Oh, hör auf zu meckern, Gwen. Wir knutschen gar nicht rum. Nicht in diesem muffigen alten Museum.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Wieso trägt Carson dann mehr von deinem Lipgloss als du?«

Carson errötete noch mehr, bis seine braune Haut fast die Farbe einer Tomate angenommen hatte. Der Musikfreak schob seine dunkle Brille höher auf die Nase und wischte sich in dem Versuch, die Reste von Daphnes Lipgloss zu entfernen, mit der Hand über den Mund. Er erreichte damit nur, dass das rosa Glitzerzeug auch noch an seinen Fingern klebte. Daphne kicherte, dann drückte sie ihrem Freund den nächsten Kuss auf die Lippen.

Ich seufzte. »Hey, hey. Hört auf, ihr Turteltäubchen. Das Museum macht um fünf zu, und wir haben noch nicht mal die Hälfte der Artefakte gesehen, die wir uns für Mythengeschichte anschauen sollen.«

»Schön.« Daphne zog einen Schmollmund und löste sich von Carson. »Dann sei eben eine Spielverderberin.«

Ich verdrehte wieder die Augen. »Na ja, diese Spielverderberin macht sich zufällig Gedanken um ihre Noten. Also, lasst uns in den nächsten Raum gehen. Da soll es laut Broschüre ein paar wirklich coole Waffen geben.«

Daphne verschränkte die Arme vor der Brust. Sie kniff die Augen zusammen und starrte mich böse an, weil ich ihr Vorschriften machte. Aber letztendlich folgten sie und Carson mir, als ich durch eine Tür trat und damit den Hauptteil des Museums verließ.

Es war ein paar Tage nach Silvester, und wir befanden uns im Kreios-Kolosseum, einem Museum am Rand von Asheville, North Carolina. Museumsbesuche standen auf meiner Hitliste für unterhaltsame Freizeitbeschäftigungen nicht gerade weit oben, aber alle Mythos-Schüler im zweiten Jahr hatten den Auftrag, sich irgendwann während der Winterferien ins Kolosseum zu schleppen, um sich eine besondere Ausstellung von Artefakten anzuschauen. Da der Unterricht in der Akademie morgen wieder anfing, war heute unsere letzte Chance, diesen Arbeitsauftrag zu erledigen. Es war schon schlimm genug, dass ich und alle anderen Krieger-Wunderkinder auf Mythos ausgebildet wurden, um gegen Schnitter des Chaos zu kämpfen, die echte, schreckliche Bösewichter waren. Aber Hausaufgaben über die Ferien! Das war so unfair.

Daphne, Carson und ich waren gegen drei Uhr hier angekommen, und wir wanderten jetzt seit neunzig Minuten von einem Schaukasten zum nächsten. Von außen sah das Kreios-Kolosseum aus wie jedes andere Gebäude – wie ein Museum eben, eines von Dutzenden, die um die Stadt und in den Appalachen verteilt lagen.

Was das Innenleben anging, lagen die Dinge allerdings ganz anders.

Das Museum zu betreten war, als reise man durch die Zeit zurück ins alte Rom. So weit das Auge reichte, beherrschte weißer Marmor das Dekor, nur unterbrochen von aufragenden Säulen. An den Wänden glitzerten hier und dort Gold, Silber und Bronze, um dann die gesamte Decke mit überwältigenden Farbmustern zu überziehen. An den ausgestellten Ketten und Ringen funkelten Saphire und Rubine, während in den Vitrinen feine Seide und andere Kleidungsstücke schimmerten, die wirkten, als wären sie aus Spinnweben gefertigt worden. Sogar die Angestellten des Museums trugen fließende weiße Togen, was den Gesamteindruck nur noch verstärkte.

Aber die Ausstellung beschäftigte sich nicht nur mit dem alten Rom. Jeder Raum enthielt Artefakte aus einer anderen Kultur, vom hohen Norden über die Perser bis nach Japan, und natürlich auch alle Länder und Völker dazwischen. Das Kolosseum war nämlich den Mitgliedern des Pantheons gewidmet. Götter, Göttinnen, sagenumwobene Krieger, mythologische Kreaturen – im Grunde war das Pantheon eine Ansammlung magisch begabter Helden, die sich zusammengeschlossen hatten, um die Welt zu retten.

Vor langer Zeit hatte der böse nordische Schelmengott Loki versucht, alle zu versklaven, und hatte die Welt in den langen, blutigen Chaoskrieg gestürzt. Aber die Mitglieder des Pantheons hatten sich erhoben, um Loki und seine bösartigen Gefolgsleute, die Schnitter des Chaos, aufzuhalten. Letztendlich hatten die anderen Götter und Göttinnen Loki in ein mythologisches Gefängnis gesperrt, das weit von der Welt der Sterblichen entfernt lag. Und jetzt waren im Kolosseum verschiedenste Artefakte – Schmuckstücke, Kleidung, Rüstungen, Waffen und mehr – ausgestellt, die beide Seiten während des Chaoskrieges verwendet hatten. Obwohl Loki eingesperrt war, ging der Kampf zwischen dem Pantheon und den Schnittern immer weiter, mit neuen Generationen von Kriegern und Kreaturen.

Natürlich wussten die meisten Leute nicht, dass Loki so verdammt nah dran war, aus seinem Gefängnis auszubrechen und den nächsten Chaoskrieg anzuzetteln. Ich allerdings dachte die ganze Zeit darüber nach – besonders weil ich es irgendwie schaffen musste, die Flucht des bösen Gottes zu verhindern.

»Der ist cool«, sagte Daphne.

Sie deutete auf einen geschwungenen Bogen in einer der Vitrinen. Er bestand aus einem einzigen Stück Onyx, in das goldene Verzierungen eingelassen waren. Bespannt war er mit mehreren dünnen goldenen Fäden. Daneben lag ein passender, schmaler Köcher aus Onyx, in dem allerdings nur ein einziger Pfeil steckte.

Daphne lehnte sich vor und las die Bronzeplakette neben der Waffe. »Hier steht, dieser Bogen hat einst Sigyn, der nordischen Göttin der Hingabe, gehört. Jedes Mal, wenn man den Pfeil aus dem Köcher zieht, erscheint der nächste, um seinen Platz einzunehmen. Okay, das ist total cool.«

»Das hier gefällt mir besser«, sagte Carson und deutete auf ein gebogenes Horn aus Elfenbein, das ein wenig an eine winzige Tuba erinnerte. Auf der Oberfläche glänzten Intarsien aus Onyx. »Hier steht, das sei Rolands Horn. Ich bin mir allerdings nicht sicher, was es tut.«

Ich blinzelte. Ich war so tief in meine Gedanken an Loki, Schnitter und das Pantheon versunken gewesen, dass ich einfach nur herumgewandert war, statt mir die Artefakte anzusehen, wie ich es eigentlich tun sollte.

Wir standen in einem riesigen, runden Raum voller Waffen. Schwerter, Kampfstäbe, Speere, Dolche, Bögen, Wurfsterne und mehr glitzerten sowohl in den Vitrinen als auch zwischen großen Ölbildern von mythologischen Schlachten an den Wänden. Die gesamte hintere Wand bestand aus demselben weißen Marmor wie der Rest des Museums, nur dass man hier eine Auswahl mythologischer Figuren in den Stein geschlagen hatte. Greifen, Wasserspeier, Drachen, Chimären und Gorgonen mit schlangenartigem Haar und grausamem Lächeln.

In der Mitte des Raums saß auf einem Podest ein Ritter in voller Rüstung auf einem ausgestopften Pferd. Der Ritter hielt eine Lanze in der Hand und sah aus, als wollte er jeden Moment vorwärtsstürmen und die Wachsfigur eines römischen Zenturios durchbohren, der ebenfalls auf dem Podest stand, das Schwert erhoben, um den angreifenden Ritter abzuwehren. Im Raum verteilt standen noch weitere Figuren, unter anderem ein Wikinger mit einem Hörnerhelm, der im Begriff war, seine riesige Streitaxt auf den runden Bronzeschild des Spartaners neben ihm zu schmettern. Ein paar Schritte entfernt hielten zwei weibliche Figuren, eine Walküre und eine Amazone, Schwerter in der Hand und beobachteten mit gleichgültigem Blick den epischen, nie enden wollenden Kampf des Wikingers mit dem Spartaner.

Ich starrte die beiden kämpfenden Männer an. Für einen Moment flackerten sie und schienen sich zu bewegen. Ihre Wachslippen verzogen sich zu wütenden Grimassen, ihre Finger packten die Waffen fester, die Körper spannten sich für den kommenden Kampf an. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, und ich wandte den Blick ab. Meine Gypsygabe, meine psychometrische Magie, spielte schon verrückt, seit wir das Museum betreten hatten.

»Hmpf. Also ich finde diesen Bogen nicht allzu außergewöhnlich«, murmelte eine Stimme mit hochnäsigem, englischem Akzent. »Er ist sogar ziemlich langweilig. Gewöhnlich, eigentlich.«

Ich sah nach unten zur Quelle der Stimme – Vic, das Schwert, das in seiner schwarzen Lederscheide an meiner Hüfte hing. Vic war kein typisches Schwert. Zum einen hatte er kein normales Heft, sondern das wurde bei ihm von einer Art halbem Gesicht gebildet. Ein einzelnes Ohr, eine Hakennase, ein Mund, zusammen mit der Rundung eines Auges. Auf mich wirkte es immer, als wäre in dem silbernen Metall ein Mann gefangen, der versuchte, daraus zu entkommen. Ich wusste nicht genau, um wen oder was es sich bei Vic handelte, nur dass er unhöflich, rechthaberisch und blutrünstig war. Das Schwert redete ununterbrochen darüber, dass wir endlich ein paar Schnitter zum Töten finden sollten.

Aber in Wahrheit gab es nur einen Schnitter, den ich umbringen wollte – das Mädchen, das meine Mom ermordet hatte.

Ein zerschmettertes Auto. Ein Schwert, das durch den Regen sauste. Und Blut – so viel Blut.

Die Erinnerung an den Mord an meiner Mom stieg in mir auf und drohte mich zu überwältigen, aber ich drängte sie zurück und zwang mich dazu, mich auf meine Freunde zu konzentrieren, die immer noch den Onyxbogen und das Elfenbeinhorn anstarrten.

Ich hatte Vic heute mitgenommen, weil ich dachte, es würde ihm vielleicht Spaß machen, sich die Ausstellung anzusehen. Außerdem brauchte ich jemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte, während Daphne und Carson kicherten oder Zungenringkämpfe austrugen. Die beiden waren so scharf aufeinander, dass es mich manchmal schon anwiderte, besonders wenn man den traurigen Zustand meines eigenen Liebeslebens bedachte.

»Es ist schließlich nur ein Bogen«, fuhr Vic fort. »Nichts Wichtiges. Keine echte Waffe.«

Ich verdrehte die Augen. O ja. Vic redete auch – und zwar meistens darüber, wie toll er war.

»Na ja, ein paar von uns mögen Bögen«, schnaubte Daphne mit einem Blick auf mein Schwert.

»Und das ist es, was mit dir nicht stimmt, Walküre«, antwortete Vic.

Das Schwert starrte sie böse an. Vic besaß nur ein Auge, und das hatte eine seltsame Farbe – nicht wirklich Purpur, aber auch nicht wirklich Grau. Es erinnerte mich an die Farbe der Dämmerung, dieser sanfte Ton des Himmels, bevor die Welt für die Nacht dunkel wird.

»Und du, Kelte«, sagte Vic und richtete seine Aufmerksamkeit auf Carson. »Gwen hat mir erzählt, dass du am liebsten einen Kampfstab schwingst. Einen Stab! Der hat ja nicht mal eine verdammte Spitze am Ende. Es ist wirklich jämmerlich, was sie euch Kriegerkindern heutzutage auf Mythos beibringen.«

Jeder Jugendliche, der auf die Mythos Academy ging, war irgendeine Art von Krieger, inklusive uns dreien. Daphne war eine Walküre, Carson ein Kelte und ich eine Gypsy. Wir alle stammten von den Kriegern des Pantheons ab, die als Erste gegen Loki und seine Schnitter gekämpft hatten. Nun trugen wir diese Tradition in die moderne Zeit, indem wir auf die Akademie gingen und alles an Fähigkeiten und Magie lernten, was nötig war, um Schnitter zu bekämpfen. Und wir waren nicht die Einzigen. Wikinger, Römer, Ninjas, Samurai, Spartaner, Perser. Alle diese Kriegertypen und noch weitere konnte man auf der Akademie finden.

»Beschämend, finde ich«, tönte Vic wieder.

Carson sah mich an. Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich besaß Vic erst seit ein paar Monaten, aber ich hatte schnell gelernt, dass es unmöglich war, die große Klappe des Schwertes zu bändigen. Vic sagte, was er wollte, wann immer er wollte, so laut er es eben wollte. Und wenn man es wagte, ihm zu widersprechen, bereitete es ihm die größte Freude, das Thema weiter zu diskutieren – während man seine Klinge an der Kehle hatte.

Vic und Daphne starrten sich noch einen Moment böse an, bevor sich die Walküre wieder zu Carson umdrehte und weiter mit ihm darüber sprach, wie cool der Bogen war. Ich wanderte durch den Rest des Raumes und musterte die anderen Artefakte. Vic monologisierte weiter darüber, dass die einzig wahren Waffen Schwerter waren, und bei ihm handelte es sich natürlich um das beste Schwert, das je gefertigt worden war. Ich gab zustimmende Geräusche von mir, wann immer es angebracht schien. Das war einfacher, als mit ihm zu diskutieren.

Daphne und Carson sahen sich immer noch den Bogen an, und Vic beendete schließlich seine Tirade und hielt wieder den Mund. Ich las gerade die Plakette zu einem silbernen Fadenknäuel, das Ariadne gehört hatte. Sie war eine griechische Jungfrau gewesen, die Theseus dabei geholfen hatte, den Weg durch das Labyrinth zu finden, in dem der Minotaurus gehalten worden war. Da hörte ich hinter mir Schritte, und jemand trat neben mich.

»Gwendolyn Frost«, raunte eine bissige Stimme. »Was für eine Überraschung, dich hier zu treffen.«

Ich drehte mich um und stand einem Mann in den Mittvierzigern gegenüber mit schwarzem Haar, kalten blauen Augen und einer Haut, die so weiß war wie der Marmorboden. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein paar Lederschuhe, die stärker glänzten als die meisten Vitrinen im Raum. Ich hätte ihn als gut aussehend bezeichnet, wenn ich nicht genau gewusst hätte, wie pedantisch und zimperlich er war – und dass er mich hasste.

Ich seufzte. »Nickamedes. Was tun Sie hier?«

»Ich beaufsichtige natürlich die Ausstellung. Die meisten Artefakte hier sind Leihgaben aus der Bibliothek der Altertümer.«

Nickamedes war der Obermacker der Bibliothek der Altertümer, die ein paar Kilometer entfernt auf dem Gelände der Mythos Academy in Cypress Mountain, North Carolina, stand. Zusätzlich zu den Büchern war die riesige Bibliothek für ihre unvergleichliche Sammlung von Artefakten berühmt. Auf ihren sieben Stockwerken standen Hunderte und Aberhunderte Vitrinen, in denen Dinge ausgestellt waren, die einst den Göttern und Göttinnen oder ihren Champions oder sogar den Schnittern gehört hatten, die sie bekämpft hatten.

Ich hätte mir denken können, dass das Kreios-Kolosseum einige Artefakte von der Bibliothek geliehen hatte – das war wahrscheinlich der Grund, warum die Mythos-Schüler überhaupt hierherkommen sollten. So waren sie gezwungen, sich die Gegenstände anzusehen und kennenzulernen, die sie in der Bibliothek täglich ignorierten.

Nickamedes starrte mich an und schien kein bisschen glücklicher, mich zu sehen, als ich darüber war, ihm zu begegnen. Er verzog den Mund. »Ich sehe, dass du und deine Freunde wie viele eurer Klassenkameraden den letztmöglichen Moment abgewartet habt, um eure Hausaufgabe für Mythengeschichte zu erledigen.«

Morgan McDougall, Samson Sorensen, Savannah Warren, Talia Pizarro. Ich hatte schon mehrere Leute im Kolosseum entdeckt, die ich kannte. Sie waren alle – wie ich, Daphne und Carson auch – siebzehn, im zweiten Jahr auf Mythos und versuchten ebenfalls noch schnell den Museumsbesuch hinter sich zu bringen, bevor morgen wieder der Unterricht begann.

»Ich war beschäftigt«, murmelte ich.

Nickamedes schnaubte nur ungläubig. »Sicher.«

Ich wurde wütend. Ich war beschäftigt gewesen. Sehr beschäftigt, um genau zu sein. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich erfahren, dass die Schnitter nach dem Helheim-Dolch suchten, einem der Dreizehn Artefakte, die während des letzten Kampfes im Chaoskrieg eingesetzt worden waren. Die Dreizehn Artefakte besaßen eine Menge Macht, weil sie alle in dieser großen Schlacht Verwendung gefunden hatten. Aber so richtig wichtig – und das machte mir wirklich Angst – wurde der Dolch dadurch, dass man ihn dazu nutzen konnte, Loki aus seinem Gefängnis zu befreien.

Ich war entschlossen, den Dolch vor den Schnittern zu finden, also hatte ich während der Ferien alles über die Waffe gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Wer den Dolch vielleicht geschaffen hatte, wie er eventuell während des Chaoskrieges eingesetzt worden war, welche Kräfte er besitzen könnte. Aber all diese Bücher und Artikel hatten mir nicht verraten, was ich wirklich wissen wollte: wo meine Mom, Grace Frost, den Dolch versteckt hatte, bevor sie ermordet worden war – oder wie ich es schaffen sollte, ihm vor den Schnittern auf die Spur zu kommen.

Natürlich konnte ich das Nickamedes nicht erzählen. Er hätte mir sowieso nicht geglaubt, dass ich während der Ferien etwas Sinnvolles, Wichtiges getan hatte. Er dachte zweifellos, ich hätte nur herumgelungert, Comics gelesen und Kekse gegessen, wie ich es an so vielen Abenden tat, wenn ich in der Bibliothek der Altertümer arbeitete. Okay, okay, vielleicht ging ich meinen Job ja nicht gerade mit Begeisterung an. Verklagt mich doch, weil ich gerne mal faulenze und Spaß habe, bevor ich mich dem nächsten verrückten Schnitter stellen muss, der mich für mächtiger und wichtiger hält, als ich tatsächlich bin.

Trotz der skeptischen Haltung des Bibliothekars konnte ich dem Drang nicht widerstehen, mich im Raum umzusehen, weil ich hoffte, einen Kerl in meinem Alter bei ihm zu entdecken – einen Jungen mit den schönsten Augen, die ich je gesehen hatte, und dem dazu passenden Grinsen, das gleichzeitig sexy und spöttisch war.

»Ist Logan mit Ihnen hier?« Es gelang mir nicht, den hoffnungsvollen Unterton aus meiner Stimme zu verbannen.

Logan Quinn war Nickamedes’ Neffe und der Spartaner, in den ich heftig, heftig verschossen war. Okay, okay, vielleicht war »verschossen« noch ein bisschen zu schwach, um meine Gefühle für Logan zu beschreiben, aber so nannte ich es im Moment.

Nickamedes öffnete gerade den Mund, als eine Stimme ihm zuvorkam.

»Hier bin ich, Gypsymädchen.« Die tiefe Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Langsam und mit klopfendem Herzen drehte ich mich um. Hinter mir stand Logan Quinn.

Lockiges schwarzes Haar. Leuchtende, eisblaue Augen. Ein selbstbewusstes Lächeln. Mir stockte der Atem, als ich Logan ansah, und mein Herz schlug schneller, bis ich das Gefühl hatte, es müsse so laut sein, dass er es hören konnte.

Logan trug Jeans und einen dunkelblauen Pullover unter einer schwarzen Lederjacke. Die Klamotten waren natürlich Designerware, weil der Spartaner genauso reich war wie alle anderen Schüler der Akademie. Aber selbst wenn er in Lumpen gekleidet gewesen wäre, hätte ich die sehnige Stärke seines Körpers und die breiten, muskulösen Schultern bemerkt. Ja, Logan hatte den verwegenen Look perfekt drauf, und sein Ruf passte zu seinem Aussehen. Eines der Gerüchte, das immer wieder umging, war, dass Logan die Matratze jedes Mädchens signierte, mit dem er geschlafen hatte, um den Überblick zu behalten.

Ich hatte nie herausgefunden, ob diese Gerüchte stimmten oder nicht, oder wie Logan das überhaupt hätte schaffen sollen. Sicher, ich hatte den Spartaner berührt und ihn mit meiner Gabe ausgecheckt, aber überwiegend hatte ich seine Kampffähigkeiten gesehen. Immerhin war es das, woran Logan in diesem Moment gedacht hatte und was ich zu diesem Zeitpunkt hatte anzapfen wollen. Ich wusste nicht, mit wie vielen Mädchen Logan schon ausgegangen war. Aber für mich spielten die Gerüchte auch keine große Rolle, weil Logan einfach ein ganz toller Kerl war. Stark, klug, witzig, fürsorglich. Und dann war da natürlich noch die Tatsache, dass er mir mehrmals das Leben gerettet hatte. Es ist ein bisschen schwierig, einen Kerl nicht zu mögen, der einen davor bewahrt hat, von Schnittern getötet oder von Nemeischen Pirschern gefressen zu werden.

Logans Blick glitt zu meinem Hals und der Kette, die ich trug – der Kette, die er mir geschenkt hatte, bevor wir in die Ferien gefahren waren. Sechs dünne Silberkettchen lagen um meinen Hals, während ihre mit Diamanten verzierten Enden sich in der Mitte zu der einfachen, aber eleganten Form einer Schneeflocke verbanden. Das wunderschöne Schmuckstück wirkte wie etwas, das eine Göttin tragen sollte. Ich fand es viel zu hübsch und zerbrechlich für mich, aber trotzdem liebte ich es aus ganzem Herzen.

»Du trägst die Kette«, sagte der Spartaner leise.

»Jeden Tag, seit du sie mir geschenkt hast«, antwortete ich. »Ich nehme sie so gut wie nie ab.«

Logan lächelte mich an, und es war, als würde die Sonne hinter einer Gewitterfront hervorkommen. Für einen Moment war alles einfach … perfekt.

Dann räusperte sich Nickamedes und brachte damit die Blase des Glücks zum Platzen, in der ich fast davongeschwebt wäre. Auf dem Gesicht des Bibliothekars lag ein säuerlicher Ausdruck, als er zwischen seinem Neffen und mir hin- und hersah.

»Nun, wenn ihr mich entschuldigen wollt, das Museum schließt in ein paar Minuten, und ich muss sichergehen, dass die Angestellten bereit sind, die Artefakte zu verpacken, um sie morgen früh zurück in die Bibliothek zu bringen.«

Nickamedes wirbelte auf dem Absatz herum und verließ ohne ein weiteres Wort den Waffenraum. Ich seufzte. Ja, ich war während meiner Arbeit in der Bibliothek nicht sonderlich eifrig bei der Sache, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund gab, warum Nickamedes mich nicht mochte. Er hatte mich so ziemlich auf den ersten Blick abgelehnt, und ich hatte keine Ahnung, warum.

Ich verdrängte den Bibliothekar und seine feindliche Gesinnung aus meinen Gedanken und konzentrierte mich auf Logan. Er hatte mir in den Ferien ein paar SMS geschrieben, aber ich hatte ihn trotzdem wie verrückt vermisst – besonders, weil ich keine Ahnung hatte, was eigentlich zwischen uns abging. Logan hatte sich vor Kurzem von seiner Freundin Savannah Warren getrennt, aber seitdem hatte er mir nicht gerade seine Liebe erklärt – oder mich auch nur um ein Date gebeten. Stattdessen hingen wir seit mehreren Wochen in dieser seltsamen Warteschleife – und ich war entschlossen, das zu ändern.

Ich holte tief Luft, weil ich Logan fragen wollte, wie seine Winterferien gewesen waren und wie es jetzt mit uns weiterging. »Logan, ich …«

Rufe und Schreie durchschnitten die Luft und übertönten meine Worte.

Ich erstarrte und fragte mich, ob ich mir diese schrillen Geräusche nur eingebildet hatte. Warum sollte jemand im Museum schreien? Eine Sekunde später erklangen weitere Schreie, gefolgt von mehreren lauten Schlägen und dem schweren Poltern von Schritten.

Logan und ich sahen uns an, dann stürmten wir zur Tür. Daphne und Carson hatten die Schreie auch gehört, und sie waren direkt hinter uns.

»Stopp! Stopp! Stopp!«, zischte Daphne.

Sie schaffte es noch, meinen Arm und den Rücken von Logans Lederjacke zu packen, gerade als der Spartaner aus dem Raum rennen wollte. Mit ihrer überlegenen Walkürenstärke konnte sie uns mühelos beide zurückreißen.

»Ihr wisst doch gar nicht, was los ist – oder wer vielleicht da draußen ist«, warnte Daphne.

Logan warf ihr einen bösen Blick zu, aber nach einem Moment nickte er widerwillig. Ich tat dasselbe, und Daphne ließ uns los. Zusammen schlichen wir zum Türrahmen und spähten hindurch.

Das Kreios-Kolosseum war geformt wie ein großes Rad, mit einem Hauptraum in der Mitte und mehreren Gängen und Räumen, die wie Speichen davon abgingen. Als Daphne, Carson und ich vor ein paar Minuten den Hauptraum des Museums durchquert hatten, waren Leute dort umhergewandert, um sich die Artefakte anzusehen und die hochwertigen Nachbildungen von Waffen, Rüstungen und Schmuckstücken im Souvenirladen des Museums zu begutachten. Bis auf die Angestellten waren die meisten Besucher Mythos-Schüler aus dem zweiten Jahr gewesen, die genau wie wir noch versuchten, ihre Hausaufgaben zu machen, bevor die Schule morgen wieder anfing.

Doch jetzt nicht mehr.

Jetzt stürmten Gestalten in schwarzen Roben mit Kapuzen durch das Kolosseum – und sie alle trugen lange, gebogene Schwerter. Sie stürzten sich auf jeden, der ihnen in den Weg kam. Ihre Klingen durchschnitten die Luft und dann die Schüler. Als einer nach dem anderen verstand, was vor sich ging, füllten noch mehr Schreie die Luft und hallten im Museum so laut wie Schüsse wider.

Aber es war bereits zu spät.

»Schnitter«, flüsterte Daphne und sprach damit meine eigenen, entsetzten Gedanken aus.

Die Schnitter des Chaos rammten ihre Schwerter in jeden, den sie erreichen konnten, dann warfen sie die Toten und Sterbenden einfach zu Boden. Die Angestellten des Museums, Erwachsene, Schüler. Den Schnittern war egal, wen sie umbrachten. Wachsfiguren, Statuen, Vitrinen und mehr fielen zu Boden und zerbrachen in tausend Stücke. Überall spritzte Blut, ein Wasserfall aus scharlachroten Tropfen, der an den weißen Marmorwänden herunterrann.

Bei dem Anblick verkrampfte sich mein Magen, und mir wurde schlecht. Ich hatte gehört, wie grausam die Schnitter waren und dass sie dafür lebten, Krieger zu töten – dass sie dafür lebten, uns zu töten. Ich hatte mich selbst schon zwei Schnittern gestellt. Aber etwas wie das hier hatte ich noch nie gesehen. Was sich vor meinen Augen abspielte, ließ mich vor Entsetzen erstarren – und meinen Freunden ging es genauso. Ich wusste, dass wir etwas tun sollten, irgendwas, um den anderen Schülern zu helfen, aber mir fiel einfach nicht ein, was.

Einige der Mythos-Schüler versuchten, sich zu wehren, entweder mit den Waffen, die sie eben in die Hände bekommen konnten, oder mit bloßen Fäusten. Aber es funktionierte nicht, und die Schnitter überwältigten sie einen nach dem anderen. Samson Sorensen, ein Kerl, den ich kannte, fiel schreiend zu Boden und umklammerte seinen Bauch, während Blut zwischen seinen Fingern hervorspritzte. Ein paar Mythos-Schüler wollten weglaufen, aber die Schnitter packten sie einfach von hinten, rammten ihnen die Schwerter in den Rücken und warfen sie zur Seite, als wären sie nicht mehr als Abfall.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine andere Schülerin, Morgan McDougall, die sich hinter einem hohen, weißen Podest an die Wand drückte. Grüne Magiefunken schossen aus Morgans Fingerspitzen wie Blitze, ein klares Zeichen dafür, wie überrascht und verängstigt sie war. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schob sie unter ihre Achseln, um die farbenfrohen Funken zu unterdrücken. Morgan wusste genauso gut wie ich, dass die Schnitter sie in dem Moment finden und töten würden, in dem sie die Funken sahen. Die hübsche Walküre entdeckte mich und erwiderte meinen Blick. In ihren haselnussbraunen Augen stand Panik.

»Bleib da! Versteck dich! Versuch nicht, wegzulaufen«, schrie ich, obwohl ich nicht glaubte, dass Morgan mich über die Schreie und die inzwischen heulenden Sirenen hören konnte.

In weniger als einer Minute war alles vorbei. Die Schnitter sammelten sich in der Mitte des Museums und sprachen miteinander, aber ich konnte über das Stöhnen und Wimmern der sterbenden Schüler auf dem blutigen Boden nicht verstehen, was sie sagten.

»Schnitter«, flüsterte Daphne wieder, als könnte sie genauso wenig wie ich glauben, was sie gerade sah.

Es war, als hätten sie das leise Murmeln der Walküre gehört, denn in diesem Moment drehten sich mehrere der schwarz gekleideten Gestalten um und setzten sich in unsere Richtung in Bewegung.

Ich erstarrte zum zweiten Mal. Tatsächlich hatte ich einen totalen Aussetzer und konnte nichts anderes tun, als die Schnitter zu beobachten, die mit bluttriefenden Schwertern auf uns zukamen. Vielleicht war es ja nur meine Einbildung, aber mir schien es, als könnte ich jeden einzelnen Blutstropfen hören, der auf den Marmorboden fiel. Plopp-plopp-plopp. Ich schlug mir die Hand über den Mund, um nicht zu schreien, als dieses schreckliche Geräusch in meinem Kopf widerhallte.

»Zurück, zurück, zurück!«, zischte Daphne und nutzte ein weiteres Mal ihre Walkürenstärke, um erst Carson, dann mich und schließlich Logan von der Tür wegzuzerren. »Wir müssen hier verschwinden!«

Wir wandten uns zur Flucht – nur um zu erkennen, dass wir nirgendwo hin konnten. Der Raum hatte nur diesen einen Ausgang.

»Gefangen«, sagte Carson mit bitterer Stimme. »Wir sitzen in der Falle.«

Bumm-bumm-bumm. Draußen wurden die schweren Schritte der Schnitter lauter und lauter.

Verzweifelt sah ich mich um, in der Hoffnung, eine Tür, ein Fenster oder wenigstens eine Dachluke zu entdecken, die ich bisher übersehen hatte. Oder vielleicht wartete ich auch darauf, dass etwas in der Art einfach magisch erscheinen würde, um uns die Flucht zu ermöglichen. Das passierte natürlich nicht, aber mein Blick fand die Wachsfiguren des Wikingers und des Spartaners mit den Gegenständen, die sie in den Händen hielten – die Axt des Wikingers und das Schild des Spartaners.

Waffen. Mein Blick huschte durch den Raum. Schwerter, Speere, Dolche, Kampfstäbe. Wir standen in einem Raum voller Waffen. Die tödlichen Spitzen und scharfen Schneiden glitzerten im Deckenlicht, und es schien, als würden sie mir eine nach der anderen zuzwinkern, als wüssten sie genau, was ich gerade dachte – und was wir tun mussten, wenn wir das hier überleben wollten.

»Wenn wir nicht fliehen können, gibt es nur eines, was wir tun können – uns ihnen stellen und kämpfen«, erklärte ich grimmig. »Dafür haben wir doch trainiert, oder?«

Daphne und Carson starrten mich mit hängenden Kiefern an, doch Logan reagierte vollkommen anders. Er lächelte, und seine Augen leuchteten plötzlich in einem wilden Licht auf. Spartaner waren in dieser Hinsicht ein wenig unheimlich, weil sie den Kampf wirklich liebten. Sie waren die besten Kämpfer auf Mythos – und auch im Rest der Welt.

Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte Logans Selbstbewusstsein im Kampf gegen Schnitter. Mit zitternder Hand zog ich Vic aus der Scheide an meiner Hüfte und hielt ihn hoch. Vics purpurfarbenes Auge suchte meinen Blick.

»Bist du dafür bereit, Gwen?«, fragte das Schwert leise.

»Ich nehme an, ich muss es sein, oder?«, flüsterte ich zurück.

Ich glaube, hätte er gekonnt, hätte Vic anerkennend genickt. »Ich bin bei dir bei allem, was kommt. Du bist ein Champion, Gwen. Das wird schon. Nike hat Vertrauen in dich und ich ebenfalls.«

Ich nickte zurück, und seine Worte sorgten dafür, dass ich mich ein kleines bisschen besser fühlte. Für eine Sekunde stand ich nur da und zwang mich, ruhig zu atmen – ein und aus, ein und aus, ein und aus –, genau wie meine Mom es mir beigebracht hatte. So wie ich es ihr zufolge immer tun sollte, wenn ich verängstigt, voller Panik oder aufgeregt war. Im Moment war ich das alles zusammen – und noch ein bisschen mehr.

Aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich tat, keine Zeit, vorsichtig oder ruhig zu sein. Ich rannte zu der Vitrine, in der der Onyxbogen der Göttin Sigyn mit seinem Köcher lag, hob Vic, wandte das Gesicht ab und rammte das Schwert gegen den Glasdeckel.

KLIRR!

Die Vitrine brach mit einem lauten Scheppern, und Glassplitter flogen durch die Luft. Einer traf meine Hand und hinterließ einen blutenden Schnitt. Ich meinte, einen Alarm zu hören, der sich mit dem restlichen Lärm verband, aber ich war bereits unterwegs zur nächsten Vitrine, in der ein langer, hölzerner Kampfstab lag.

»Daphne! Carson! Logan!«, schrie ich. »Holt euch die Waffen.«

Meine Freunde drängten nach vorne, und die Glasscherben knirschten unter ihren Schuhen. Ich zerschlug die nächste Vitrine, in der ein Schwert mit einem matten, bronzenen Heft lag. Eine nach der anderen zerschlug ich mit Vic die Vitrinen, während Daphne, Carson und Logan sich die Waffen darin schnappten, genauso wie jede Waffe von der Wand, die sie erreichen konnten, und noch ein paar von den Wachsfiguren. Dann trafen wir uns in der Mitte des Raums und sortierten, was wir hatten.

»Wir müssen zusammenbleiben und von Anfang an eine geschlossene Front bilden«, sagte Carson, der in einer Hand einen Kampfstab hielt, während er mit der anderen das Elfenbeinhorn und ein paar Dolche in die Taschen seiner Cargohose stopfte. »Wir müssen zuerst zuschlagen. Sonst überrennen sie uns.«

Daphne warf sich den Köcher mit dem einzelnen Pfeil darin über die Schulter, dann testete sie die Sehne des Onyxbogens. Zufrieden biss sie sich auf die Lippe, dann sah sie sich hektisch um. Die Luft war erfüllt vom Knistern und Zischen ihrer pinkfarbenen Magiefunken. »Dort drüben, hinter dem Ritter und dem Zenturio. Dort werden uns die Schnitter nicht sofort entdecken, wenn sie reinkommen. Vielleicht kann ich ein paar von ihnen erledigen, bevor sie kapieren, was los ist.«

»Ihr drei tut das«, sagte Logan, während er sich das Schild an den Unterarm band, das er dem Wachsspartaner abgenommen hatte. »Ich verstecke mich dort drüben hinter dem Wikinger. Wenn die Schnitter euch angreifen, kann ich ihnen in den Rücken fallen. Teilen und töten, richtig?«

Ich nickte. Es war ein guter Plan, auch wenn sich mir bei dem Gedanken, dass Logan sich von uns trennte, der Magen zusammenzog. Doch der Spartaner war der beste Kämpfer von Mythos. Er hatte sein gesamtes Leben damit verbracht, für genau so eine Situation zu trainieren – wie wir anderen eigentlich auch.

Wir kletterten auf das Podest und eilten zu dessen hinterstem Ende. Daphne stellte sich zwischen dem Ritter und dem Zenturio auf, sodass sie aussah wie eine weitere, stolze Figur mit dem gespannten Onyxbogen in den Händen. Carson platzierte sich rechts von ihr, ich zu ihrer Linken, sodass wir unseren Bogenschützen flankierten und schützten, wie Trainer Ajax es uns während all der Übungskämpfe im Unterricht beigebracht hatte. Logan glitt auf der anderen Seite des Raums hinter den Wikinger aus Wachs.

»Wir schaffen das, richtig?«, fragte Carson. Die Angst sorgte dafür, dass seine braunen Augen hinter der Brille fast schwarz wirkten.

»Natürlich schaffen wir das.« Ich bemühte mich, locker zu klingen. »Denk nur dran, wie neidisch die anderen Schüler sein werden, wenn wir ihnen erzählen, dass wir uns mit einer Gruppe Schnitter angelegt haben – und gewonnen haben.«

Carson versuchte, meine lahme Aufmunterung mit einem Grinsen zu kommentieren, aber stattdessen zog er nur eine Grimasse. Ich wusste genau, wie er sich fühlte. Ich war mir nicht sicher, ob ich nach dem, was ich eben gesehen hatte, jemals wieder lächeln würde. Es konnte keinen Sieg geben. Nicht heute. Nicht mit all den Verletzten dort draußen.

Nicht bei den vielen Toten.

Daphne blieb still, obwohl sie inzwischen von einer dichten Wolke knisternder Funken umgeben war, was Carson und mir verriet, dass sie genauso viel Angst hatte wie wir. Stattdessen sah die Walküre erst mich, dann den Musikfreak lange an, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die offene Tür. Carson umklammerte seinen Stab und schob die Brille höher auf die Nase, während ich Vics Heft fester packte.

Ich blickte zu Logan. Selbst vom anderen Ende des Raumes aus konnte ich die Erwartung in seinem Gesicht erkennen. Das Gefühl ließ seine Augen glitzern wie Eis in der Sonne. Der Spartaner war bereit für die Schnitter, bereit, all seine Kampffähigkeiten auf die Probe zu stellen. Logan hob einen Daumen in meine Richtung. Seine Selbstsicherheit, sein Glaube an uns und das, was wir vorhatten, sorgte dafür, dass sich mein Magen ein klein wenig beruhigte.

Und damit erwarteten wir die Ankunft der Schnitter.

Kaum eine Minute später betrat der erste Schnitter den Waffenraum. Die Gestalt trug eine schwarze Robe über der Kleidung und schwere schwarze Stiefel, aber wegen ihres breiten Körperbaus hielt ich sie für einen Mann.

Das Beängstigendste an ihm war die Maske.

Das Gesicht des Schnitters war von der Stirn bis zum Hals hinter einer Gummimaske verborgen. Das war schon unheimlich genug, aber nach einem Augenblick verstand ich, dass die Maske ein bestimmtes, schreckliches Gesicht darstellte – das Gesicht des bösen Gottes Loki.

Vor langer Zeit, als die anderen Götter Loki zum ersten Mal eingesperrt hatten, hatten sie ihn unter einer riesigen Schlange angekettet, von der ständig Gift auf sein Gesicht tropfte und ihm unvorstellbare Schmerzen bereitete. Das Gift hatte das Gesicht des attraktiven Gottes zerfressen, bis es sich in etwas Groteskes, unendlich Hässliches verwandelt hatte. Das war das Antlitz, das der Schnitter so stolz über seinem eigenen Gesicht trug. Der Anblick erschreckte mich bis ins Mark – sogar noch mehr als das blutige Schwert in seiner Hand.

Einer nach dem anderen traten die Schnitter in den Raum, bis sieben von ihnen sich bei der Tür versammelt hatten. Wir waren nur zu viert. Nicht das beste Kräfteverhältnis, aber auch nicht furchtbar, wenn man bedachte, dass wir im Hauptteil des Kolosseums an die zwanzig bewaffnete Schnitter gesehen hatten. Außerdem hatten wir ja Logan. Mit seinen Kampffähigkeiten war der Spartaner allein schon ungefähr ein Dutzend Schnitter wert.

Ich kauerte hinter dem ausgestopften Pferd des Ritters, während mein Herz raste. Ich umklammerte Vic und wartete darauf, dass mehr von ihnen in den Raum drängten, doch das geschah nicht. Zwar fragte ich mich, was die anderen Schnitter gerade taten, aber ich wollte mich nicht beschweren. Stattdessen war ich einfach froh, dass sie nicht beschlossen hatten, alle gleichzeitig in den Raum zu stürmen. Dann wären wir sicherlich gestorben.

Einer der Schnitter trat vor. »Verteilt euch.«

Ich blinzelte. Das – das war die Stimme eines Mädchens. Ich hätte nicht überrascht sein dürfen, immerhin konnte jeder ein Schnitter sein, von Eltern über Lehrer zu Schülern und jedem dazwischen. Die zwei Schnitter, gegen die ich bis jetzt gekämpft hatte, waren Jugendliche in meinem Alter gewesen. Trotzdem, irgendetwas an dieser tiefen, kehligen Stimme störte mich. Sie klang fast … vertraut. Als hätte ich sie irgendwo schon einmal gehört …

»Nehmt alles, was interessant aussieht oder magisch ist«, sagte sie.

Ich runzelte die Stirn. Ich hatte angenommen, die Schnitter hätten uns im Türrahmen gesehen und wären deswegen in diese Richtung gekommen, aber es klang, als wären sie nur der Artefakte wegen hier.

»Und sucht nach dem Helheim-Dolch«, fuhr das Mädchen fort. »Unseren Berechnungen zufolge hätten sie ihn hierher bringen können.«

Mir stockte der Atem. Der Helheim-Dolch? Wieso wusste sie davon? Und wieso glaubte sie, ihn hier im Museum zu finden? Meine Gedanken rasten. Das Mädchen bellte noch ein paar Befehle, aber ich hörte ihr gar nicht mehr richtig zu. Stattdessen konzentrierte ich mich auf ihre Stimme und verglich sie mit einer anderen – der Stimme, die ich in der Nacht gehört hatte, in der meine Mom gestorben war.

Wo ist der Dolch? Wo hast du ihn versteckt? – Närrin. Es gibt kein Versteck, das wir nicht finden können. Es ist nur eine Frage der Zeit. Die höhnische Stimme hallte in meinem Kopf, während die Worte wieder und wieder erklangen.

Dank meiner psychometrischen Magie vergaß ich niemals etwas, das ich beim Berühren eines Gegenstands gesehen, gehört oder gefühlt hatte. Und nicht nur das, ich konnte diese Erinnerungen auch aufrufen, wann immer ich wollte, um sie zu analysieren, so wie andere Leute sich ihre Lieblingsstellen in Filmen immer wieder ansehen. Man könnte sagen, es war meine eigene Version eines fotografischen Gedächtnisses.

Vor ein paar Wochen hatte meine Mentorin, Professor Aurora Metis, mich gebeten, meine Gypsygabe gegen einen Schnitter namens Preston Ashton einzusetzen. Ich empfange schon von Gegenständen ziemlich lebhafte Schwingungen, aber wenn ich andere Leute berühre, blitzen richtig heftige Bilder und genaue Gefühle vor meinem inneren Auge auf. Ich kann alles sehen, was eine Person jemals getan hat, von ihrer Kindheit bis ins hohe Alter. Alle Gefühle, die sie in der hintersten, schwärzesten Ecke ihres Herzens versteckt, und alle Geheimnisse, die sie vor jedem anderen verbergen will – sogar vor sich selbst.

Professor Metis hatte wissen wollen, was Preston und seine Schnitterfreunde planten oder wie ihr nächster Angriff gegen das Pantheon aussehen würde. Also hatte ich Prestons Hand ergriffen und meine Gypsygabe eingesetzt, um in seinen Kopf einzudringen.

Ich hatte nur nicht erwartet, den Mord an meiner Mom zu sehen.

Monatelang hatte ich geglaubt, meine Mom sei eines Nachts auf dem Heimweg von einem betrunkenen Fahrer getötet worden. Doch der Blick in Prestons Kopf hatte mir gezeigt, was wirklich geschehen war. Dass Preston dort gewesen war. Wie er den Unfall verursacht hatte, indem er das Auto meiner Mom mit seinem Geländewagen gerammt hatte. Wie er all das auf den Befehl eines mysteriösen Schnittermädchens hin getan hatte – ein Mädchen, das Lokis Champion war und das nach dem Helheim-Dolch suchte, den meine Mom vor Jahren versteckt hatte. Und dann, schließlich, wie das Schnittermädchen meiner Mom das Schwert ins Herz gestoßen hatte, um sie zu töten.

Dasselbe Schnittermädchen, das jetzt direkt vor mir stand.

Der schreckliche Schmerz dieses Moments, als ich den Tod meiner Mom erneut durchlebte, stach mir ins Herz und zerbrach es in Tausende blutige Scherben. Ich gab ein Geräusch von mir, das irgendwo zwischen einem Wimmern und einem Knurren lag. Aber zusammen mit dem Schmerz kam auch die Wut – mehr Wut, als ich jemals zuvor in meinem Leben empfunden hatte. Bald schon verdrängte sie den Schmerz und verbrannte alles außer meinem Bedürfnis nach Rache.

»Gwen?«, flüsterte Daphne, die wohl spürte, dass sich etwas in mir verändert hatte. »Was ist los?«

Für einen Moment konnte ich nicht sprechen, mich nicht bewegen, nicht einmal denken. Es gab nichts außer der Wut, die jede Zelle meines Körpers erfüllte. Schließlich zwang ich die Worte durch die zusammengebissenen Zähne.

»Sie ist es«, murmelte ich. »Das Schnittermädchen. Lokis Champion. Das ist sie, direkt dort vor uns.«

Das Mädchen, das meine Mom getötet hat.

»Hey«, sagte einer der anderen Schnitter und starrte auf die Glasscherben, die den Boden bedeckten. »Warum sind alle Vitrinen hier bereits zerschl…«

»Jetzt, Daphne!«, schrie ich. »Jetzt!«

Danach schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Daphne trat mit gespanntem Bogen hinter dem ausgestopften Pferd hervor und zielte auf das Mädchen. Doch dieses sah, was die Walküre vorhatte, packte den Mann neben sich und schob ihn vor sich, um ihn als menschliches Schild zu benutzen. Daphne ließ die Bogensehne los.

Twäng!

Meine beste Freundin hatte perfekt gezielt, doch der Pfeil traf das Herz des Mannes statt das des Schnittermädchens.

Eine Walküre, dachte ich und vermerkte es für später. Das Mädchen musste eine Walküre sein, musste die übermenschliche Stärke einer Walküre besitzen, um einen ausgewachsenen Mann herumzustoßen, als wöge er nicht mehr als eine Feder.

Neben mir breitete sich ein wenig goldener Rauch in der Luft aus, und der nächste Pfeil erschien in dem Köcher auf Daphnes Rücken. Meine Freundin hatte recht – das war wirklich abgefahren cool. Daphne sah, dass ich sie anstarrte. Sie nickte mir zu, griff nach hinten und packte den Pfeil.

»Tötet sie!«, brüllte das Schnittermädchen über den Lärm der immer noch tönenden Alarmsirenen. »Tötet sie alle!«

Die anderen Schnitter zögerten keine Sekunde. Fünf von ihnen warfen sich nach vorne, während das Schnittermädchen an Ort und Stelle blieb. Zwei der Schnitter stürmten an dem Wachswikinger vorbei.

Mit einem lauten Kampfschrei sprang Logan aus seinem Versteck, rammte sein Schwert in den Schnitter, der ihm am nächsten war, und verwundete den Feind. Für einen Moment folgte vollkommene Verwirrung, dann kämpften zwei Schnitter gegen Logan, während die anderen in unsere Richtung eilten, einer von rechts und zwei von links.

Carson und ich traten aus unserer Deckung, um uns ihnen zu stellen, während wir Daphne weiter zwischen uns hielten. Sie schoss einen Pfeil auf den Kerl zur Linken und brachte ihn zu Fall, bevor er Carson erreichte. Mehr konnte ich nicht mehr sehen, denn der Schnitter auf meiner Seite des Podiums griff an.

Zisch-zisch-zisch.

Sein Schwert sauste auf meinen Kopf zu, aber ich parierte seine Schläge. Ich ging noch nicht allzu lange auf die Mythos Academy, und ich besaß nicht das lebenslange Waffentraining der anderen Schüler, aber ich hatte in den letzten Monaten einen Crashkurs im »am Leben bleiben« durchlaufen. Der Schnitter hob das Schwert zum nächsten Schlag, aber ich duckte mich hinter den römischen Zenturio. Der Schnitter konnte seinen Schlag nicht schnell genug stoppen, und so bohrte sich die Klinge in die wächserne Brust der Figur. Panisch zog er an der Waffe, um sie für den nächsten Schlag gegen mich zu befreien.

Ich zögerte keinen Moment. Hier hieß es töten oder getötet werden, und wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte der Schnitter mir dasselbe angetan. Trotzdem sorgte dieses Wissen, diese kalte Logik, nicht dafür, dass ich mich besser fühlte, als ich vorsprang und Vic mit aller Kraft in die Brust des Schnitters stieß. Der Schnitter kreischte und griff nach der silbernen Klinge, um sie mir aus den Händen zu reißen. Ich packte das Heft des Schwertes fester, riss die Waffe zurück und rammte sie ihm in den Bauch. Wieder schrie der Schnitter, doch diesmal stolperte er nach hinten, fiel hinter dem Podium auf den Boden und stand nicht mehr auf.

»Gut gemacht, Gwen!«, schrie Vic, dessen Mund sich unter meiner verschwitzten Handfläche bewegte.

»Halt den Mund, Vic!«, schrie ich zurück.

Auf der anderen Seite des Podiums kämpfte Carson gegen einen weiteren Schnitter. Er parierte das Schwert seines Feindes mit dem hölzernen Stab, den er sich zuvor gegriffen hatte. Daphne stand mit erhobenem Bogen ein paar Schritte hinter ihm, bereit, dem Schnitter einen Pfeil in den Körper zu jagen, sobald sich die Chance dazu ergab. Am anderen Ende des Raums hatte Logan einen seiner Gegner erledigt und duellierte sich mit dem zweiten.

Ich riss den Kopf zum siebten und letzten Schnitter herum – dem Mädchen, das meine Mom ermordet hatte. Sie stand an derselben Stelle wie zuvor und hielt ein langes, gebogenes Schwert in der schwarzbehandschuhten Hand. Sie starrte mich an. Hinter den Schlitzen ihrer Maske konnte ich ihre Augen glitzern sehen – und bemerkte den roten Schein darin. Dieses wütende, hasserfüllte Flackern brannte unter dem verzerrten Plastik ihrer Maske wie eine Fackel.

»Soso«, zischte das Schnittermädchen. »Wenn das nicht Nikes Champion ist, die da ein Schwert schwingt, als wüsste sie tatsächlich, wie man damit umgeht. Ich hatte gehofft, hier auf dich zu treffen.«

Diese Worte sorgten dafür, dass sich mein Magen vor Angst zusammenzog, aber ich verdrängte das Gefühl. Ich wusste, dass das Schnittermädchen mich umbringen wollte. Damit hatte sie schon in der Erinnerung gedroht, in der sie meine Mom erstochen hatte. Wahrscheinlich hätte es mich nicht überraschen sollen, dass sie wusste, wer ich war und wie ich aussah. Professor Metis hatte mir einmal erklärt, dass Champions andere Champions erkennen konnten, dass wir unwiderruflich aufeinandertrafen, dass wir einander anzogen und abstießen wie Magnete.

»Ja, ich bin es. Gwen Frost«, blaffte ich. »Nikes Champion persönlich. Ich weiß, was du meiner Mom angetan hast.«

Das Mädchen warf den Kopf zurück und lachte. Sie … lachte einfach. Tief, lang und laut. Als wäre es witzig, dass sie meine Mom kaltblütig ermordet hatte. Als wäre es unglaublich erheiternd, dass sie und ihre Schnitterfreunde dasselbe gerade mit einem Museum voller Leute taten.

»Nun, das will ich doch schwer hoffen«, sagte sie. »Deine schwache, schluchzende Mutter umzubringen hat mehr Spaß gemacht, als ich seit Langem hatte.«

Wieder erfüllte mich Wut und vertrieb jede andere Empfindung aus meinem Körper. All meine Fragen, all meine Sorgen, all meine Ängste. Es gab nur noch mich und sie und mein Verlangen nach Rache, diesen brennenden, brennenden Drang, sie bezahlen zu lassen, sie leiden zu lassen, weil sie mir meine Mom genommen hatte.

Mit einem Aufschrei sprang ich vom Podium und hob das Schwert – und das Schnittermädchen trat vor, um sich mir zu stellen.

Mit einem wilden Schlag schwang ich Vic in dem Versuch, mit einem einzigen Streich den Kopf des Schnittermädchens von den Schultern zu trennen. Ich wollte meine Mom mit einem einzigen Angriff zu rächen, wollte etwas, irgendetwas tun, um den heftigen Schmerz in meinem Herzen zu lindern.

Es funktionierte nicht.

Sie parierte meinen Angriff mühelos und stieß ein weiteres, spöttisches Lachen aus. »Mehr kannst du nicht, Gypsy? Jämmerlich. Kein Wunder, dass das Pantheon versagen wird, mit dir als Nikes Champion.«

Dann riss das Schnittermädchen die behandschuhte Hand hoch und schlug mir ins Gesicht. Jepp, dachte ich, während ich rückwärts stolperte und Schmerz in meinem Kinn explodierte. Bei einem solchen Schlag definitiv eine Walküre.

Mir blieb kaum Zeit, mir die Sterne aus den Augen zu blinzeln, bevor das Schnittermädchen sich auch schon auf mich stürzte. Nur knapp gelang es mir, mich rechtzeitig zur Seite zu werfen, um ihrer zischenden Klinge zu entgehen. Die Waffe traf den hölzernen Standpfeiler einer der Vitrinen, die ich zerschlagen hatte. Der plötzliche, heftige Aufprall sorgte dafür, dass das Schnittermädchen seine Waffe losließ und stolperte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich das Schwert an, das dort steckte, wo sich noch vor einer Sekunde mein Kopf befunden hatte. Seltsame Symbole schimmerten auf der Oberfläche der Klinge direkt unter dem Heft, jedes einzelne von dem schwarzen Blut umrahmt, das bereits am Metall klebte.

Metis hatte mir erklärt, dass alle Götter und Göttinnen ihren Champions eine Waffe gaben. Immerhin waren die Champions diejenigen, welche die Götter erwählt hatten, in der Welt der Sterblichen ihren Willen auszuüben. Die Professorin hatte auch gesagt, nur ein Champion könne die Worte auf seiner persönlichen Waffe lesen. Auf Vics Klinge war Semper Victor eingraviert – immer Sieger. Ich fragte mich, was auf dem Schwert des Schnittermädchens wohl stand. Irgendwoher wusste ich, dass es etwas mit Blut, Schmerz und Tod zu tun hatte.

Doch das war nicht das Einzige, was mir auffiel. Das Heft des Schwertes bildete ein halbes Gesicht – ein weibliches Gesicht, dessen einzelnes, blutrotes Auge mich anstarrte. Hass ließ den Augapfel leuchten wie eine blutige Sonne.

Ich unterdrückte einen Schrei und hob Vic, damit er das andere Schwert sehen konnte.

»Lucretia«, knurrte Vic, der die Klinge offensichtlich erkannte.

»Vic«, knurrte das andere Schwert in einer weiblicheren Tonlage zurück. »Ich hatte so sehr gehofft, dich hätte inzwischen jemand eingeschmolzen und zum Alteisen verbannt.«

»Alteisen!«, höhnte Vic. »Ich zeige dir Alteisen, du angelaufener Zahnstocher!«

Okay, also hatte das Schnittermädchen auch ein sprechendes Schwert, und zwar eines, das mindestens so charakterstark war wie Vic. Absolut, total unheimlich, aber im Moment machte ich mir mehr Gedanken darüber, nicht erstochen zu werden, als über die Tatsache, dass ihre Waffe das Spiegelbild von meiner war.

Das Schnittermädchen fing sich, riss das Schwert aus dem Holz und drehte sich erneut zu mir um. Hinter mir hörte ich das Boing-boing-boing eines Schnitterschwertes, das auf Logans Schild traf. Auf dem Podium kämpfte Carson immer noch mit seinem Gegner, während Daphne dem Musikfreak zuschrie, er solle aus der Bahn gehen, damit sie einen Pfeil ins Herz des Schnitters jagen konnte.

»Bereite dich auf den Tod vor, Gypsy«, fauchte das Schnittermädchen und stürzte sich wieder auf mich.

Klirr-klirr-klirr.

Unsere Schwerter trafen aufeinander. Glas knirschte wie Popcorn unter unseren Füßen, als wir im Kampf quer durch den Raum tanzten. Die Walkürenstärke meiner Gegnerin verschaffte ihr einen riesigen Vorteil, und jeder einzelne Schlag drohte mir Vic aus der verschwitzten, zitternden Hand zu reißen. Ganz abgesehen davon, dass das Schnittermädchen genau wusste, was sie tat. Sie bewegte sich von einer Angriffshaltung in die nächste und hörte nie auf, mich zu bedrängen – nicht einmal eine Sekunde lang.

Verzweifelt versuchte ich, meine Erinnerungen an Logan und seine spartanische Kampfbegabung aufzurufen, versuchte diese Erinnerungen und damit Logans Fähigkeiten mit meiner psychometrischen Magie anzuzapfen. Doch ich war einfach zu abgelenkt. Ich konnte mich nicht so konzentrieren, wie es nötig gewesen wäre.

Zisch-zisch-zisch.

Das Schnittermädchen lachte wieder, als ihr Schwert mit jedem Schlag dichter an meiner Kehle durch die Luft fuhr. Langsam bekam ich das Gefühl, dass sie mit mir spielte. Dass sie mich jederzeit töten konnte, aber den Kampf zu ihrem eigenen, kranken Vergnügen in die Länge zog …

»Carson!«, schrie Daphne. Die Panik in ihrer Stimme drang durch meine Wut. »Carson!«

Ich schaute gerade rechtzeitig zum Podium, um zu sehen, wie der Schnitter vorsprang und sein Schwert in Carsons Brust rammte.

»Nein!«

Ich wusste nicht, ob ich geschrien hatte oder Daphne oder wir beide gleichzeitig. Carson sackte auf dem Podium zusammen, und überall war Blut. Logan verstärkte die Angriffe auf seinen zweiten Gegner, um ihn endlich zu erledigen und Carson helfen zu können. Aber ich wusste, dass es bereits zu spät war.

»Oooooh, ist einer deiner Freunde verletzt, Gypsy? Was für eine Schande«, höhnte das Schnittermädchen.

Wut, Angst und Adrenalin erfüllten meinen Körper, und ich dachte nicht mehr – ich handelte nur. Ich warf mich auf das Schnittermädchen, umschlang sie mit den Armen und riss sie zu Boden. Der Angriff überraschte meine Gegnerin. Sie verlor ihr Schwert, das mit einem Klirren davonrutschte. Ich hörte, wie Lucretia das Mädchen anschrie, aber ich ließ nicht nach. Obwohl ich nicht die Stärke einer Walküre besaß, riss ich Vic hoch und rammte das Heft des Schwertes ins Gesicht des Schnittermädchens, in der Hoffnung, ihr unter der schrecklichen Loki-Maske die Nase zu brechen.

»Das ist mein Mädchen!«, brüllte Vic. »Weiter so, Gwen!«

Doch das Schnittermädchen war noch nicht erledigt. Irgendwie schaffte sie es, ihre Arme zwischen uns zu schieben und mich wegzustoßen. Ich stolperte nach hinten und fiel auf den Hintern. Glassplitter gruben sich in meine Hände, und weitere Scherben schnitten durch meine Jeans.

Das Schnittermädchen kämpfte sich auf die Füße. Als sie hastig nach ihrem Schwert griff, rutschte etwas Weißes aus ihrer schwarzen Robe und fiel zu Boden. Das Mädchen streckte die Hand aus und versuchte verzweifelt, den Gegenstand zu erreichen, aber ich kämpfte mich auf die Beine, schlurfte vorwärts und schlug mit Vic nach ihr, um sie nach hinten zu treiben.

Das Schnittermädchen warf mir einen bitterbösen Blick zu, bei dem ihre Augen hinter der Gummimaske wie Rubine glitzerten. Sie fluchte bösartig. Dann tat sie das bisher Seltsamste – sie drehte sich um und rannte aus dem Raum.

»Wo will sie hin? Wieso verdammt noch mal zieht sie sich zurück?«, blaffte Vic und sprach damit meine Gedanken aus.

»Ich habe keine Ahnung, aber sie wird uns nicht entkommen«, knurrte ich.

Ich trat einen Schritt vor, bereit, die Verfolgung aufzunehmen, als Daphne wieder schrie. Dieses Mal war es kein Angstschrei – es war ein Schrei der Wut.

Ich riss den Kopf herum. Während ich gegen das Schnittermädchen gekämpft hatte, hatte Daphne sich Carsons Angreifer gestellt. Sie nutzte den Onyxbogen wie einen Schild, und den einzelnen Pfeil aus dem magischen Köcher setzte sie wie ein Schwert ein. Wieder und wieder stach die Walküre mit dem Pfeil nach dem Schnitter, sodass der Mann langsam zurückweichen musste. Sein Fuß blieb an etwas hängen, das ich nicht sehen konnte. Daphne trat vor und rammte den Pfeil in die Brust des Schnitters. Der Mann schrie und stolperte nach hinten, während der Pfeil aus seinem Herzen ragte wie ein goldener Finger.

Daphne war das allerdings vollkommen egal. Sie drehte sich um und fiel neben Carson auf die Knie. Tränen rannen ihr über das hübsche Gesicht, als sie zärtlich den Kopf des Musikfreaks anhob. Ich eilte zu ihr. Logan auf der anderen Seite des Raums tötete den letzten Schnitter und tat dasselbe.

»Stopp, Gwen, stopp!«, schrie Vic mich an.

Ich hielt kurz vor dem Podium an, und Logan kam schlitternd neben mir zum Stehen.

»Was? Was ist los? Sind noch mehr Schnitter aufgetaucht?«, fragte er mit einem Blick zur Tür.

»Nein, es ist die Walküre«, sagte Vic. »Ihre Magie erwacht endlich. Beobachtet einfach nur und lasst ihr ein wenig Raum.«

Wir taten, was er sagte. Wenn Vic recht hatte, dann würde Daphnes bisher verborgene Walkürenmagie auf spektakuläre Weise ausbrechen.

Ich lehnte Vic an das ausgestopfte Pferd, damit er beobachten konnte, was geschah. Während wir zusahen, flackerten immer mehr pinkfarbene Funken um Daphne, bis ein ständiger Strom aus Magie aus ihren Fingerspitzen floss. Daphne weinte die ganze Zeit über. Die Tränen tropften herab und verbanden sich mit der Magie in der Luft. Jedes Mal, wenn eine der Tränen auf den Magiestrom traf, knisterte und blitzte die Magie, während sie gleichzeitig einen rosigen Ton mit goldenen Akzenten annahm. Dieser rosige Schein breitete sich immer weiter aus, bis er schließlich Daphnes gesamten Körper umhüllte – und auch den von Carson.

»Carson«, flehte Daphne, während sie auf den Körper des Musikfreaks hinunterstarrte. »Bitte, bitte, stirb nicht. Du darfst nicht sterben. Ich werde es nicht zulassen. Hörst du mich?«

Ich wusste nicht, ob die Walküre es selbst steuerte oder ob ihre Magie einen eigenen Willen hatte, aber bei ihren Worten veränderte sich etwas. Die Magiefunken verbanden sich. Sie flackerten und knisterten nicht länger, sondern erfüllten stattdessen den gesamten Raum mit ihrer warmen Macht. Obwohl ich vom Kampf mit dem Schnittermädchen vollkommen erschöpft war, beruhigte dieses Glühen mich und sorgte dafür, dass ich mich stärker fühlte, kräftiger, lebendiger.

Zum ersten Mal bemerkte ich, dass nicht länger Blut aus Carsons Brustwunde tropfte. Stattdessen sammelte sich der rotgoldene Schein von Daphnes Magie direkt über seinem Herzen, über der Verletzung. Es schien, als … als helfe der Schimmer Carson. Ich beobachtete, wie sich die aufgerissenen Wundränder zusammenzogen, um dann nahtlos zu heilen. Nach ein paar Sekunden war es, als wäre Carson nie verletzt worden.

»Heilung«, flüsterte ich. »Daphnes Gabe ist die Heilung.«

»Und es sieht so aus, als würde sie sich ziemlich gut machen«, meinte Vic. »Ich glaube, der Kelte könnte es doch schaffen.«

In diesem Moment fing Carson an zu husten, als hätte er Vics Worte gehört. Er öffnete die Augen, sah Daphne an und lächelte.

»Tu das nie wieder«, flüsterte Daphne voller wilder Eindringlichkeit.

Carson öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber dann fielen ihm die Augen zu, bevor er die Worte aussprechen konnte.

»Du kümmerst dich um Daphne«, sagte Logan. »Ich schaue nach Carson.«

Wir traten auf das Podium. Logan kniete sich neben Carson und legte sanft die Finger an seinen Hals, um den Puls zu kontrollieren. Er nickte mir zu, und ich ging neben Daphne in die Hocke und griff nach ihrer Hand.

Meine Gypsygabe wurde in dem Moment aktiv, da meine Finger sich um ihre schlossen.

Ich hatte Daphne schon viele, viele Male berührt. Ich hatte ihre Erinnerungen gesehen und ihre Gefühle gespürt, aber so etwas hatte ich noch nie erlebt. Es schien fast, als … fiele ich in die Walküre, glitte auf eine Weise in ihren Körper, wie es noch nie zuvor geschehen war, nicht einmal bei Logan. Ihre Aura, ihre Seele, ihr Geist, wie auch immer man es nennen wollte … meine psychometrische Magie ließ mich Daphnes Herz sehen, den hellen, pulsierenden pinkfarbenen Funken, der die Walküre zu der starken Kriegerin und lebenssprühenden Person machte, die sie war.

Es war wunderschön – so wunderschön, dass ich mich einfach nicht zügeln konnte. Ich streckte meine eigene Magie aus, um irgendwie diesen Funken zu berühren. Ich wollte Daphnes Macht ergreifen und sie selbst fühlen.

Und das tat ich.

Die warme, reine Kraft von Daphnes Heilmagie floss in mich, ließ alle Schmerzen und Verletzungen aus meinem Kampf mit dem Schnittermädchen dahinschmelzen, heilte die Schnitte an meinen Händen und Armen und die blauen Flecken am Rest meines Körpers. Je länger ich den Funken festhielt, desto besser fühlte ich mich – stärker und lebendiger als je zuvor. Nach ein paar Sekunden war ich vollkommen geheilt. Alle meine Verletzungen waren verschwunden, als hätte ich nie gegen das Schnittermädchen gekämpft.

Daphne zuckte zusammen, als würde ihr jetzt erst auffallen, dass ich ihre Hand hielt. Sie zog ihre Finger zurück, brach unsere Verbindung, und das beruhigende Gefühl ihrer Magie verschwand.

Einen Augenblick später verschwand auch der rosige Schimmer um ihren Körper, und Daphne gab ein langes, müdes Seufzen von sich. Ihre bernsteinfarbene Haut wirkte fast so bleich wie meine, und ihre Hände zitterten, als sie sich das Haar aus dem Gesicht strich.

»Daphne?«, fragte ich leise. »Was hast du getan?«

»Ich habe keine Ahnung«, murmelte sie.

Damit fiel die Walküre in Ohnmacht. Sie kippte nach vorne und landete ausgestreckt über Carson.

Für eine Sekunde wusste ich nicht, was ich tun sollte. Dann warf ich mich nach vorne und packte die Schulter meiner Freundin.

»Daphne! Daphne!« Ich schüttelte die Walküre.

Sie reagierte nicht, genauso wenig wie Carson, obwohl die Wunde in seiner Brust vollkommen geheilt war.

Logan lehnte sich vor und legte eine Hand auf meinen Arm. »Entspann dich, Gypsymädchen, entspann dich. Es geht ihnen beiden gut. Sie sind nur bewusstlos. Carson, weil er so schwer verletzt war, und Daphne, weil ihre Magie endlich erwacht ist. Es ist okay.«

Ende der Leseprobe