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Im Mittelpunkt der Serie steht die 17-jährige Gwen Frost, die über ein außergewöhnliches Talent verfügt: Sie besitzt die »Gypsy-Gabe« – bei der eine einzige Berührung ausreicht, um alles über einen Gegenstand oder einen Menschen zu wissen. Doch dabei spürt Gwen nicht nur die guten Gefühle, sondern auch die schlechten und die gefährlichen. Auf der Mythos Academy soll sie lernen, mit ihrer Gabe sinnvoll umzugehen. Aber was Gwen nicht weiß: Die Studenten werden dort ausgebildet, um gegen den finsteren Gott Loki zu kämpfen. Und obwohl sie der Meinung ist, an der Mythos Academy nichts verloren zu haben, erkennt Gwen bald, dass sie viel stärker ist als gedacht und all ihre Fähigkeiten brauchen wird, um gegen einen übermächtigen Feind zu bestehen.
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Seitenzahl: 481
Cover & Impressum
Lesen was ich will!
www.lesen-was-ich-will.de
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch
Wie immer: für meine Mom, meine Oma und André
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe4. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-95839-4Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Kiss of Frost« bei KTeen Books/Kensington Publishing Corp., New York.Deutschsprachige Ausgabe:© , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2012Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, MünchenUmschlagabbildung: FinePic® MünchenDatenkonvertierung: psb, Berlin
Danksagung
Jeder Autor wird sagen, dass sein Buch ohne die Mithilfe vieler, vieler anderer Leute nicht möglich gewesen wäre. Hier sind ein paar der Leute, die dabei geholfen haben, Gwen Frost und die Welt der Mythos Academy zum Leben zu erwecken:
Ich danke meiner Agentin, Annelise Robey, für all ihre hilfreichen Ratschläge.
Ich danke meiner Lektorin, Alicia Concon, für ihr scharfes Auge und ihre aufmerksamen Vorschläge. Sie machen das Buch immer um einiges besser.
Ich danke allen bei Kensington, die an dem Buch gearbeitet haben.
Ich danke jedem, der den ersten Entwurf von Frostfluch gelesen und mir mit der Geschichte geholfen hat. Eure Kommentare waren sehr hilfreich, und ich weiß sie sehr zu schätzen.
Und schließlich möchte ich allen Lesern da draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und es ist mir immer eine Ehre. Ich hoffe, ihr habt genauso viel Spaß beim Lesen von Gwens Abenteuern, wie ich beim Schreiben hatte. Fröhliches Lesen!
Kapitel 1
Logan Quinn wollte mich umbringen.
Der Spartaner verfolgte mich schonungslos und schnitt mir jedes Mal den Weg ab, wenn ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschieben und davonzurennen.
Zisch. Zisch. Zisch.
Wieder und wieder schlug Logan mit dem Schwert nach mir, und die glänzende, silberne Klinge kam meiner Kehle jedes Mal ein wenig näher. Die Muskeln unter seinem Shirt bewegten sich, während er geschmeidig von einer Angriffsposition in die nächste glitt. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und seine eisblauen Augen glühten fast vor Kampfeslust.
Ich dagegen glühte nicht vor Kampfeslust. Ich wand mich, das schon. Aber ich glühte nicht.
Klirr-klirr-klirr.
Ich riss mein eigenes Schwert hoch und versuchte, Logan abzuwehren, bevor er mir den Kopf von den Schultern schlug. Dreimal gelang es mir, seine Schläge zu parieren, und jedes Mal, wenn sein Schwert auf meines traf, verzog ich das Gesicht. Aber beim letzten Mal war ich nicht schnell genug. Logan trat vor, und sein Schwert schwebte nur Millimeter vor meiner Kehle, noch ehe ich mehr tun konnte, als zu blinzeln und mich zu fragen, wie ich überhaupt in diese Situation geraten war.
Aber das reichte Logan noch nicht. Er bewegte das Handgelenk und sorgte dafür, dass mir die Waffe aus der Hand und quer durch die Sporthalle flog. Mein Schwert drehte sich mehrmals in der Luft, bevor es mit der Spitze zuerst in einer der dicken Übungsmatten stecken blieb, die den Boden der Halle bedeckten.
»Schon wieder tot, Gypsymädchen«, sagte Logan leise. »Damit bist du jetzt zwölfmal in Folge gestorben.«
Ich seufzte. »Ich weiß. Glaub mir, ich weiß es. Und ich bin kein bisschen glücklicher darüber als du.«
Logan nickte, nahm das Schwert von meiner Kehle und trat zurück. Dann drehte er sich um und sah über die Schulter zu den beiden anderen Spartanern, die auf der Tribüne herumlungerten und entweder SMS tippten oder uns mit gelangweiltem Interesse beobachteten.
»Zeit?«, fragte Logan.
Kenzie Tanaka drückte einen Knopf auf seinem Handy. »Fünfundvierzig Sekunden. Davor waren es nur fünfunddreißig Sekunden. Ein Fortschritt.«
»Zumindest hält Gwen inzwischen ein wenig länger durch«, schaltete sich Oliver Hector ein. »Muss an dem Wonder-Woman-Shirt liegen. Vielleicht verleiht ihr das ja ihre beeindruckenden Kampffähigkeiten.«
Sein höhnischer Tonfall ließ mich erröten. Okay, vielleicht hatte ich mein Superhelden-Shirt heute Morgen in der Hoffnung angezogen, dass es mir ein bisschen Glück bringen würde. Denn das brauchte ich dringend, wenn es um irgendeine Art von Kampfsport ging. Aber deswegen musste er mich noch lange nicht verarschen, besonders nicht vor den anderen.
Oliver grinste fies. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen bösen Blick zu.
Kenzie sah den anderen Spartaner an. »Ich finde es cool, dass Gwen auf Superhelden steht.«
Oliver runzelte die Stirn. Es gefiel ihm nicht, dass sich Kenzie für mich einsetzte, aber zumindest hielt er den Mund. Ich wusste nicht, was Oliver für ein Problem hatte, aber er schien ständig darauf aus zu sein, mich zu nerven. Vielleicht hielt er das für charmant oder so. Manche Kerle auf der Mythos Academy waren so – sie dachten, es sei supercool, sich wie Volltrottel aufzuführen. Was auch immer. Ich hatte auf jeden Fall mal null Interesse an dem Spartaner. Oh, Oliver war mit seinem aschblonden Haar, seinen dunkelgrünen Augen, der gebräunten Haut und dem trägen Lächeln durchaus attraktiv. Genauso wie Kenzie mit seinem tiefschwarzen Haar und den Augen von derselben Farbe. Dazu kamen noch die ganzen Muskeln, die beide hatten. Ihre Körper strahlten förmlich sehnige Stärke aus. Das einzige Problem der beiden Spartaner war, dass sie eben nicht Logan Quinn waren.
Logan war derjenige, für den ich mich interessierte – obwohl er mir bereits im Herbst das Herz gebrochen hatte.
Der Gedanke an meine dummen, hoffnungslosen, unerwiderten Gefühle für Logan ließ meine Laune noch tiefer in den Keller stürzen, und ich stiefelte über die Matten zu meinem Schwert.
Die Sporthalle der Mythos Academy war ungefähr fünfmal größer als jede normale Sporthalle, und die Decke schwebte fast sechzig Meter über meinem Kopf. In gewisser Weise wirkte sie vollkommen normal. Von den Deckenbalken hingen farbenfrohe Banner, die die Termine für die verschiedenen Wettbewerbe der Akademie im Fechten, Bogenschießen, Schwimmen und anderen albernen Sportarten verkündeten, während sich an zweien der Wände hölzerne Tribünen erhoben. Matten bedeckten den Boden und verbargen so einen Basketballplatz.
Aber da waren auch die Waffen.
An der dritten Wand zogen sich Gestelle über Gestelle voller Waffen entlang. Sie waren so hoch, dass man die oberen Regalbretter nur über eine Leiter erreichen konnte. In den Halterungen hingen Schwerter, Dolche, Kampfstäbe, Speere, Bögen und Köcher voller Pfeile mit gebogenen, gefährlich wirkenden Spitzen. Und alles war rasiermesserscharf und wartete nur darauf, von Schülern benutzt zu werden. Die meisten Schüler waren unglaublich stolz darauf, wie gut sie Gegenstände mit scharfen Klingen schwingen konnten.
Die Waffen waren einer der Gründe, warum Mythos alles andere als normal war.
Ich erreichte mein Schwert, das immer noch hin und her schwankte und mich an das Metronom meiner ehemaligen Klavierlehrerin erinnerte. Ich streckte die Hand aus, aber bevor ich das Schwert aus der Matte ziehen konnte, klappte eine silberne Beule auf dem Knauf auf – und enthüllte ein zusammengekniffenes, wütendes Auge.
»Schon wieder eine Niederlage«, murmelte Vic, und sein Unmut verstärkte seinen britischen Akzent. »Gwen Frost, du könntest keinen Schnitter töten, wenn dein Leben davon abhinge.«
Ich kniff ebenfalls die Augen zusammen und starrte Vic böse an, in der Hoffnung, dass er die Botschaft verstehen und den Mund halten würde, bevor Logan und die anderen ihn hörten. Ich wollte nicht gerade damit hausieren gehen, dass ich ein sprechendes Schwert besaß. Ich wollte überhaupt mit einer Menge Dinge nicht hausieren gehen. Nicht in Mythos.
Vic allerdings starrte nur zurück. Sein Auge hatte eine seltsame Farbe, die irgendwo zwischen Purpur und Grau lag. Er war nicht lebendig, nicht im engeren Wortsinn, aber ich hatte mir angewöhnt, von ihm als lebendes Wesen zu denken. Vic war ein ziemlich einfaches Schwert – eine lange Klinge aus einem silbernen Metall. Was ihn in meinen Augen so, na ja, menschlich machte, war das Heft, das die Form eines halben männlichen Gesichtes hatte – als wäre eine echte Person im Metall gefangen, die versuchte, sich zu befreien. Ein Strich als Mund, eine Auskerbung als Nase, die Kurve eines Ohrs. All das summierte sich zu Vic, was oder wer auch immer er war.
Na ja, das und sein blutrünstiges Gemüt. Vic wollte Dinge umbringen – besonders Schnitter. Bis wir beide in ihrem Blut baden und uns nach mehr sehnen!, hatte er mehr als einmal gegurrt, wenn ich in meinem Zimmer allein mit ihm geübt hatte.
Klar. Das Einzige, was ich relativ mühelos töten konnte, waren Käfer. Und selbst da nur die ganz winzigen. Die großen knackten zu laut und sorgten dafür, dass mir übel wurde und ich ein schlechtes Gewissen bekam. Es stand absolut außer Frage, dasselbe den absolut bösartigen Schnittern des Chaos anzutun.
»Was willst du tun, wenn dich ein echter Schnitter angreift?«, verlangte Vic zu wissen. »Weglaufen und hoffen, dass er dich nicht verfolgt?«
Tatsächlich klang das in meinen Ohren nach einem phantastischen Plan, aber ich wusste, dass Vic diese Ansicht nicht teilen würde. Genauso wenig wie Logan, Kenzie oder Oliver. Schließlich waren die Jungs Spartaner, die aus einer langen Linie magischer, mythologischer Krieger stammten. Töten war für sie so natürlich wie Atmen. Dazu wurden sie von Geburt an ausgebildet, genau wie alle anderen Schüler der Akademie.
Die Jungs auf Mythos waren überwiegend Wikinger oder Römer, während die Mädchen Walküren oder Amazonen waren. Aber es gab noch haufenweise andere Kriegertypen auf der Akademie – so gut wie alles von Samurai und Ninjas über Kelten bis hin zu den Spartanern vor mir.
Für mich dagegen war Töten nicht im Geringsten natürlich, aber ich war zu Anfang des Schuljahres einfach in diese verdrehte Welt geworfen worden. Man hatte mich auf die Mythos Academy geschickt, nachdem meine Gypsymagie auf meiner ehemaligen, öffentlichen Schule für einen ziemlichen Ausraster gesorgt hatte. Und jetzt konnte ich der Akademie mit all ihren Krieger-Wunderkindern, den angsteinflößenden Schnitter-Bösewichten, den mythologischen Monstern und einem wütenden, rachsüchtigen Gott einfach nicht mehr entkommen – egal, wie gerne ich genau das getan hätte.
Besonders da eine Göttin darauf zählte, dass ich etwas gegen die vielen bösen, bösen Dinge in der Welt unternahm – und auch gegen die, die sich hier auf dem Campus versteckten.
»Halt den Mund, Vic«, grummelte ich und zog das Schwert aus der Matte.
Ich fühlte, wie sich Vics Mund unter meiner Handfläche bewegte, als wollte er noch etwas erwidern, aber schließlich brummte er nur missbilligend und klappte sein Auge wieder zu. Ich seufzte. Jetzt war er sauer, und das bedeutete, dass ich später Zeit damit verbringen würde, ihn so lange zu umschmeicheln, bis er sein Auge wieder öffnete. Vielleicht würde ich schauen, ob irgendein Abenteuerfilm im Fernsehen lief. Zu sehen, wie die Bösen erledigt wurden, schien Vics Laune fast immer zu heben, und je blutiger der Film war, desto besser gefiel er ihm.
»Mit wem redest du, Gwen?«
Oliver Hectors Stimme erklang direkt hinter mir, und ich musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht erschrocken zu kreischen. Ich hatte nicht gehört, wie sich der Spartaner angeschlichen hatte.
»Mit niemandem.«
Er warf mir einen Blick zu, aus dem ich deutlich ablesen konnte, dass er mich für total durchgeknallt hielt, dann schüttelte er den Kopf. »Komm schon. Logan möchte, dass du als Nächstes Bogenschießen trainierst.«
Ich sah mich um, aber Logan war verschwunden, während ich mich mit Vic unterhalten hatte. Genau wie Kenzie Tanaka. Wahrscheinlich waren sie losgezogen, um sich einen Energy-Drink aus einem der Automaten vor der Turnhalle zu besorgen, und hatten mich mit Oliver allein gelassen. Super.
Noch schlechter gelaunt als vorher stiefelte ich Oliver hinterher zu der Seite der Sporthalle, an der die Zielscheiben aufgestellt waren. Der Spartaner hielt vor einem der Waffengestelle an, während ich weiter zur Tribüne ging.
Wir alle hatten unsere Taschen einfach auf der Tribüne abgestellt, als wir um sieben Uhr heute Morgen in die Turnhalle gekommen waren. Ich ging erst seit ein paar Monaten auf die Mythos Academy, und mir fehlte das lebenslange Kampftraining, das alle anderen Schüler schon durchlaufen hatten. Jetzt kämpfte ich darum, alles aufzuholen, und das bedeutete, mich jeden Morgen für eine Stunde in die Turnhalle zu schleppen, um mit Logan und seinen Freunden zu trainieren, bevor der normale Unterricht begann.
Von allen Schülern auf Mythos waren die Spartaner die besten Krieger. Professor Metis hatte gedacht, sie könnten mich in kürzester Zeit auf Zack bringen. So allerdings lief es nicht. Ich war einfach kein Kriegermaterial, egal was manche Leute – darunter eine Göttin – dachten.
Ich schob Vic in seine schwarze Lederscheide und legte ihn flach auf eine der Bänke, damit er nicht runterfallen konnte. Ich hatte das Schwert heute Morgen schon oft genug fallen lassen. Dann griff ich in meine graue Umhängetasche und angelte nach Spiegel und Bürste, um meine Haare zu einem festen Pferdeschwanz zu binden. Der alte hatte sich während meines Kampfes mit Logan aufgelöst.
Ich betrachtete mein Spiegelbild in dem kleinen Glaskreis. Gewelltes braunes Haar, winterlich weiße Haut mit ein paar Sommersprossen und Augen in einem seltsamen Purpurton. Purpurne Augen sind lächelnde Augen, hatte meine Mom immer gesagt. Ich dachte darüber nach, wie mühelos mich Logan während unseres Trainings fertiggemacht hatte. Nein, heute Morgen lächelte ich wirklich über gar nichts.
Als ich mit meinen Haaren fertig war, steckte ich den Spiegel und die Bürste zurück in meine Tasche und schmiss sie auf eine Bank der Tribüne. Dabei stieß sie gegen Olivers Tasche, und die fiel zu Boden. Mir passiert so was immer, weil ich einfach ein unkoordiniertes Trampel bin. Natürlich öffnete sich die Tasche, und jede Menge Zeug kippte heraus und auf die Matten. Stifte, Kugelschreiber, Bücher, sein iPod, ein Laptop, ein paar silberne Wurfmesser.
Seufzend sank ich auf ein Knie und fing an, alles wieder in die Tasche zu schieben, wobei ich sorgfältig darauf achtete, den Ärmel über die Hand zu ziehen und nichts mit bloßen Fingern zu berühren. Ich hatte kein großes Verlangen, einen Einblick in die Denkweise von Oliver Hector zu bekommen – aber wenn ich nicht aufpasste, würde genau das passieren.
Ich schaffte es, alles bis auf ein großes, rotes Notizbuch zurück in die Tasche zu bugsieren. Ein paar der Metallringe waren verbogen und verhakten sich im Stoff, wann immer ich versuchte, das Notizbuch wieder dorthin zu schieben, wo es hingehörte. Mein Ärmel war einfach nicht lang genug, um die Spiralen wieder gerade zu biegen, außerdem konnte ich durch die weiche Baumwolle sowieso nicht richtig greifen. Verärgert packte ich mit der ärmelbewehrten Hand die Ringe, damit sie mir nicht die Haut verkratzten, dann griff ich mit der anderen, ungeschützten Hand nach dem Notizbuch.
Die Bilder schlugen über mir zusammen, kaum dass meine Finger den roten Einband berührten.
In meinem Kopf erschien ein Bild von Oliver. Der Spartaner beugte sich über den Schreibtisch in seinem Zimmer und schrieb in das Notizbuch. Ein Bild nach dem anderen blitzte in mir auf und zeigte mir eine verdichtete, hochauflösende Vision von Oliver, der entweder vor sich hin kritzelte, malte oder wie wild in sein Notizbuch schrieb. Nach ein paar Sekunden kamen die Gefühle hinzu. All die Dinge, die Oliver beim Schreiben gefühlt hatte. Die dumpfe Langeweile während der Hausaufgaben, die genervte Frustration, während er sich bemühte, einige der komplizierten Aufgaben zu verstehen, und dann, überraschenderweise, ein weiches, träumerisches Kribbeln, das meinen ganzen Körper erwärmte …
»Was tust du da? Das gehört mir!«, blaffte Oliver mit harter Stimme.
Ich schüttelte die Bilder und Gefühle ab und sah hoch. Der Spartaner ragte über mir auf, und seine Miene war hart und verkniffen.
»Tut mir leid«, blaffte ich zurück. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass einem gestandenen Kerl wie dir sein Notizblock so wichtig ist. Was steht denn so Supergeheimes drin? Eine Liste aller Mädchen, mit denen du geschlafen hast? Lass mich raten. Du willst nicht, dass ich erfahre, mit wem du schon was hattest. Du willst es lieber allen selbst erzählen, wie es die Kerle auf Mythos eben tun – lauthals mit Eroberungen prahlen ist in, richtig?«
Bei meinen Worten wurde Oliver tatsächlich bleich. Wirklich. Er wurde vor lauter Entsetzen weiß wie die Wand. Für eine Sekunde fragte ich mich, warum, aber dann wurde mir klar, dass er wahrscheinlich von meiner Psychometrie gehört hatte – von meiner Magie.
Ich war keine Kriegerin wie die anderen Schüler auf Mythos – zumindest nicht wirklich. Aber trotzdem war ich nicht vollkommen unbegabt. Ich war eine Gypsy, eine Person, die von einem der Götter mit Magie beschenkt worden war. In meinem Fall war diese Magie Psychometrie, also die Fähigkeit, ein Objekt zu berühren und sofort seine Geschichte zu wissen, zu sehen und zu fühlen.
Meine Gypsygabe, meine Psychometrie, war in Wahrheit ein wenig cooler – und um einiges beängstigender –, als diese Beschreibung vermuten lässt. Nicht nur konnte ich sehen, wer ein Armband getragen oder ein Buch gelesen hatte, egal, wie lange es schon her war – ich konnte auch die Gefühle der betreffenden Person erspüren. Alles, was sie gedacht, gefühlt und wahrgenommen hatte, während sie das Armband getragen oder das Buch gelesen hatte. Manchmal, wenn die Verbindung zu dem Gegenstand stark genug war, konnte ich sogar alles sehen, was die Person in ihrem gesamten Leben gefühlt, gesehen oder getan hatte. Ich wusste, ob eine Person glücklich oder traurig gewesen war, böse oder gut, klug oder dumm, und noch tausend Dinge mehr.
Meine Magie verriet mir die Geheimnisse anderer Leute – ließ mich all die Dinge sehen und fühlen, die sie vor anderen und manchmal sogar vor sich selbst versteckten. All ihre widersprüchlichen Gefühle, all ihre verschlagenen Taten, alles, was sie sich in den finstersten, dunkelsten Teilen ihres Herzens je ausgemalt hatten.
Vielleicht war es ja krank und verdreht, aber ich mochte es, die Geheimnisse anderer zu kennen. Ich mochte die Macht, die dieses Wissen mir verlieh, besonders da ich vollkommen ohne die abgefahren coolen Kampffähigkeiten der anderen Schüler von Mythos dastand. Die Geheimnisse anderer zu lüften war eine Art Leidenschaft von mir – eine, die mich vor ein paar Wochen fast umgebracht hätte.
Außerdem war sie der Grund dafür, dass ich Olivers Notizbuch noch in der Hand hielt. Die Langeweile und den Frust hatte ich erwartet. Das waren Gefühle, die ich schon unzählige Male empfangen hatte, wenn ich die Blöcke, Computer, Stifte und all die anderen normalen Gegenstände angefasst hatte, die man für die Schule eben so brauchte.
Aber dieses warme, weiche, kribbelige Gefühl? Eher nicht. Ich wusste allerdings, was es war – Liebe. Oder zumindest echte Zuneigung. Oliver Hector stand schwer auf jemanden. Genug, um etwas über diese Person in sein Notizbuch zu schreiben. Und ich wollte wissen, wer es war. Denn, na ja, Geheimnisse waren so eine Art Droge für mich.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Notizbuch und auf dieses warme, hoffnungsvolle Gefühl. Sofort stieg ein verschwommenes Bild vor meinem inneren Auge auf, jemand mit dunklem Haar, schwarzem Haar …
»Ich habe gesagt, das gehört mir«, knurrte Oliver, riss mir das Notizbuch aus der Hand und unterbrach damit die Verbindung.
Das halbfertige Bild verschwand abrupt, zusammen mit dem warmen, kribbeligen Gefühl. Ich versuchte, das Buch festzuhalten, aber bekam nur leere Luft zu fassen. Noch eine Sekunde, und ich hätte gesehen, wer Olivers mysteriöser Schwarm war. Aber der Spartaner hielt das Notizbuch außerhalb meiner Reichweite, packte seine Tasche und schob es hinein. Er hatte es so eilig, dass er dabei die Tasche einriss. Oliver warf mir einen Blick zu, um zu sehen, ob ich es bemerkt hatte.
Ich schenkte ihm ein ähnliches wissendes, dreistes Grinsen wie er mir, als er sich über mein Shirt lustig gemacht hatte. Olivers Miene verfinsterte sich.
»Was treibt ihr zwei da?«, fragte Kenzie, der gerade mit einer Wasserflasche in der Hand aus einer der Seitentüren trat.
»Nichts«, murmelte Oliver und warf mir einen weiteren düsteren Blick zu.
Ich verdrehte die Augen und ignorierte ihn. In meiner Zeit auf Mythos hatte man mich bereits fast mit einem Schwert aufgespießt, und ich war beinahe von einer Killermiezekatze zerkaut worden. Böse Blicke konnten mir nichts mehr anhaben.
»Wo ist Logan?«, fragte ich.
»Er kommt gleich wieder. Er meinte, wir sollen schon ohne ihn anfangen«, sagte Kenzie, während sein Blick neugierig zwischen Oliver und mir hin- und herglitt. Offenbar fragte er sich, was los war.
Oliver drehte sich um und stiefelte ans andere Ende der Tribüne. Seine Tasche nahm er mit. Kenzie musterte mich kurz neugierig, dann ging er zu Oliver. Die beiden unterhielten sich leise, während Oliver immer wieder böse in meine Richtung starrte.
Der Spartaner war offensichtlich sauer auf mich, weil ich sein kostbares Notizbuch angefasst und ihn mit seinem mysteriösen Schwarm aufgezogen hatte. Was auch immer. Mir war egal, was Oliver von mir hielt. Außerdem hatte er angefangen, indem er sich über mein T-Shirt lustig gemacht hatte. Ich wusste vielleicht nicht, wie man ein Schwert schwang, aber beim Sticheln gehörte ich nicht zu den Schlechtesten.
Nach einem kurzen Gespräch hielten Kenzie und Oliver auf die Zielscheiben fürs Bogenschießen zu, und Kenzie bedeutete mir, ihnen zu folgen. Anscheinend hatte ich sie nicht wütend genug gemacht, damit sie den Rest der Trainingsstunde vergessen hatten. Zu dumm.
Mit einem Seufzen stand ich auf. Ich war bereit, den Spartanern zu zeigen, dass ich mich beim Bogenschießen genauso dämlich anstellte wie beim Schwertkampf.
Kapitel 2
Plock!
Zum fünften Mal bei genauso vielen Versuchen trudelte mein Pfeil schwach gegen die Zielscheibe, um dann abzuprallen und auf den Turnhallenboden zu fallen.
»Nein, nein, nein.« Kenzie schüttelte den Kopf. »Wie oft muss ich es dir noch sagen? Du kannst da nicht so zögerlich rangehen, Gwen. Du musst die Sehne nach hinten ziehen und den Pfeil fliegen lassen, als würdest du es wirklich ernst meinen. Sonst kriegst du einfach nicht genug Kraft hinter den Pfeil, um ihn durch das Ziel zu jagen.«
»Genau, Gwen«, stichelte Oliver. »Du willst die Schnitter doch töten. Oder sollen sie sich totlachen?«
Ich ignorierte Olivers bissige Kommentare, konzentrierte mich auf Kenzies Ratschlag und blies mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Kraft. Ich soll es ernst meinen. In Ordnung.«
Ich übte seit einer Viertelstunde mit einem langen, gekrümmten Bogen, während die Spartaner zusahen und mir Ratschläge zuriefen. Überraschenderweise zielte ich gut genug, um den äußeren Rand der Zielscheibe zu treffen, aber ich hatte es noch nicht geschafft, dass ein Pfeil tatsächlich stecken blieb. Sie prallten alle ab. Kenzie behauptete, es läge daran, dass ich die Sehne einfach nicht weit genug zurückzog und deshalb dem Pfeil nicht genug Schwung mitgab. Ich war der Meinung, dass ich einfach genauso schlecht im Bogenschießen war wie beim Schwertkampf. Ich hatte gute Noten. Musste ich unbedingt auch noch sportlich sein?
»Hier«, sagte Kenzie und gab mir den nächsten Pfeil. »Lass es uns noch mal probieren.«
Oliver lachte, und Kenzie schüttelte den Kopf über ihn. Ich seufzte nur und legte den Pfeil auf die Sehne.
In diesem Moment öffnete sich quietschend eine der Seitentüren, und Logan kam zurück. Aber er war nicht allein – Savannah Warren begleitete ihn.
Savannah war eine umwerfende Amazone mit intensiven grünen Augen und einer Mähne roter Locken, die ihr wie ein Sonnenuntergang über den Rücken fielen. Außerdem war sie Logans aktuelle Eroberung – die Neuste in einer langen, langen Reihe, wenn man der Gerüchteküche Glauben schenkte.
Logan hatte den Ruf, das männliche Flittchen der Mythos Academy zu sein – ein Junge, dem Mädchen einfach nicht widerstehen konnten und es eigentlich auch nicht wollten. Mit seinen stechenden eisblauen Augen, dem dichten, tintenschwarzen Haar und dem muskulösen Körper passte er auf jeden Fall perfekt in die Rolle. Er triefte quasi vor schlitzohrigem Charme, selbst wenn er wie jetzt nur ein T-Shirt und eine Jogginghose trug. Im Herbst war ein Gerücht umgegangen, dem zufolge Logan die Matratze jedes Mädchens signierte, mit dem er geschlafen hatte, damit er den Überblick nicht verlor.
Logan stand in der Tür zur Turnhalle und lächelte auf Savannah hinunter. Die Amazone spielte an seinem T-Shirt herum und strich mit der Hand über seine Brust. Ich packte den Bogen fester, und in meinem Magen brannte eifersüchtige Wut.
Logan und ich hatten vor ein paar Wochen fast … etwas gehabt. Einen verdammten Moment. Okay, mehrere Momente. Der Spartaner hatte sich angewöhnt, mir das Leben zu retten. Das erste Mal, als ein Nemeischer Pirscher versucht hatte, mich zu Katzenminze zu verarbeiten, dann noch einmal, als eine Walküre mich töten wollte, weil ich ihre bösartigen Pläne durchkreuzt hatte. Mit schlitzohrigem Charme konnte ich umgehen, aber mir das Leben zu retten? Nicht einmal, sondern gleich zweimal? Das war ein wenig schwerer zu vergessen. Das Ergebnis bestand darin, dass ich mich ziemlich in Logan verliebt hatte und sogar so weit gegangen war, ihn um ein Date zu bitten.
Er hatte mich zurückgewiesen.
Logan hatte behauptet, ich wisse nicht wirklich, wozu Spartaner fähig seien, wozu er fähig sei. Er sei nicht der Held, für den ich ihn halte.
Was auch immer. Wenn er mich nicht mochte, hätte er das auch einfach sagen können. Stattdessen hatte er mir die lahme Ausrede serviert, dass er ein großes, böses Geheimnis hatte, das mich ohnehin vertreiben würde. Ich hatte schon mal die Haarbürste einer Mitschülerin hochgehoben und gesehen, wie ihr Stiefvater sie sexuell missbrauchte. Ich hätte darauf gewettet, dass Logans Geheimnis nicht so schrecklich war, aber nichts, was ich sagte, konnte ihn vom Gegenteil überzeugen. Nichts, was ich gesagt hatte, hatte ihn davon überzeugt, mir eine Chance zu geben – uns eine Chance zu geben.
»Gwen? Willst du diesen Pfeil heute noch abschießen?«, fragte Kenzie. »Wir haben nur noch eine Viertelstunde Zeit fürs Training.«
»Sicher«, murmelte ich und drehte mich zur Zielscheibe um.
Savannahs leises Lachen klang durch die Halle und sorgte dafür, dass meine Wut ein wenig heißer brannte. Wäre ich eine Walküre gewesen wie meine beste Freundin Daphne Cruz, hätten meine Finger jetzt rosafarbene Funken gesprüht. Das passierte jedes Mal, wenn Daphne sich über etwas aufregte – und ich war im Moment ziemlich sauer auf mich selbst, weil mir Logan immer noch etwas bedeutete, obwohl er absolut klargestellt hatte, dass er andersherum nicht so empfand.
Ich hob den Pfeil und spähte den Schaft entlang auf die Zielscheibe. Ein Teil von mir war in Gedanken bei Logan, aber der andere Teil dachte an Daphne und daran, wie sie sich einfach umgedreht und den Pfeil in den Hintern des Spartaners geschossen hätte, obwohl er am anderen Ende der Halle stand. Daphne war gut mit dem Bogen. Tatsächlich war sie die beste Schützin von Mythos und Kapitän des Mädchenteams. In diesem Moment blitzte vor meinem inneren Auge ein Bild auf, wie Daphne an meiner Stelle den Bogen hielt …
»Jederzeit, Gwen«, sagte Kenzie ungeduldig.
»Ja, komm schon, Gwen. Solange wir alle noch jung sind«, stichelte Oliver.
Meine Wut kochte bei seinem bissigen Ton fast über. Ich dachte nicht mehr nach – sondern ließ einfach den Pfeil los.
PLOCK!
Der Pfeil traf die Zielscheibe perfekt – mitten ins Schwarze. Und dieses Mal blieb er auch stecken, anstatt abzuprallen und zu Boden zu fallen.
Kenzie neben mir blinzelte. »Wie hast du das gemacht?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht.«
Ich wusste es wirklich nicht. Sicher, ich hatte das Ziel schon vorher getroffen, aber immer am äußeren Rand, und keiner meiner Pfeile hatte auch nur eine Chance gehabt, stecken zu bleiben. Aber dieser hier? Er hatte die Zielscheibe quasi durchschlagen, und nur die Hälfte des Schaftes ragte noch heraus.
»Nun, was auch immer es war, mach es noch mal«, sagte Kenzie und gab mir den nächsten Pfeil.
»Falls du das überhaupt kannst«, schaltete sich Oliver ein.
Ich legte den nächsten Pfeil auf die Sehne und versuchte mich daran zu erinnern, was ich gerade getan hatte. Ich hatte an Daphne gedacht, aber es hatte sich angefühlt, als wäre es mehr als das gewesen. Fast als hätte ich sie … irgendwie heraufbeschworen. Oder zumindest meine Erinnerungen an sie.
Meine Psychometrie sorgte dafür, dass ich mich an jeden Gegenstand erinnerte, den ich je berührt hatte. Sobald mir jemand oder etwas mal Visionen beschert hatte, wurden diese Schwingungen und Gefühle ein Teil von mir. Ich konnte all diese Erinnerungen jederzeit aufrufen, die Bilder wieder und wieder mit perfekter Auflösung in Farbe und mit Ton abspielen. Das war das Coole an meiner Magie. Aber die andere Seite der Medaille war, dass die Erinnerungen manchmal aus dem Nichts kamen und meinen Geist überschwemmten, ob ich es wollte oder nicht. Auf jeden Fall war es quasi ein fotografisches Gedächtnis, nur um einiges unheimlicher – besonders wenn man bedachte, wie viel wirklich übles Zeug ich schon gesehen hatte.
Aber es waren nicht wirklich meine Erinnerungen. Als ich den Pfeil losgelassen hatte, hatte ich an Daphnes Erinnerungen gedacht, daran, was sie getan und wie sie sich gefühlt hätte. Ich hatte letzte Woche ihren Bogen berührt, und vor meinem inneren Auge war eine ganze Reihe von Bildern aufgeblitzt, wie die Walküre an den verschiedensten Bogenwettkämpfen teilnahm.
Ich dachte wieder an Daphne. Diesmal konzentrierte ich mich richtig auf sie, stellte sie mir bei einem ihrer Wettkämpfe vor – wie sie den Bogen hielt, wie sie die Sehne zurückzog und zielte, das glückliche Gefühl des Sieges, wann immer ihr Pfeil die Zielscheibe genau in der Mitte traf. Dann hob ich den Bogen und konzentrierte mich auf meinen eigenen Schuss.
Und wieder sauste mein Pfeil davon und traf ins Schwarze.
»In Ordnung«, meinte Kenzie und klatschte in die Hände. »Es sieht so aus, als würden wir endlich bei etwas Fortschritte machen.«
Er grinste mich an, und ich erwiderte die Geste, obwohl ich sehen konnte, dass Oliver hinter ihm grimmig dreinschaute. Ich verstand immer noch nicht genau, was ich getan hatte und wie ich Daphnes Erinnerungen für mich selbst nutzen konnte, aber zumindest hatte ich die Zielscheibe wieder getroffen. Ja, es war ein wenig seltsam, aber auf eine gute Art. Es war auf jeden Fall besser als einiges, was ich erlebt hatte, seit ich auf die Akademie ging.
Ich wandte mich um, weil ich sehen wollte, ob Logan meinen Erfolg bemerkt hatte – und entdeckte ihn, wie er in der Tür leidenschaftlich und unter viel Einsatz der Zunge mit Savannah knutschte. Die Amazone hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, und Logan hielt sie bei der Hüfte, um sie enger an sich zu ziehen. Sie küssten sich noch einige Sekunden, bevor sich Savannah von ihm löste. Dann packte sie Logans Hemd und zog ihn aus der Turnhalle. Ich wusste nicht, wo sie hinwollten, aber es war offensichtlich, was sie vorhatten – noch eine kurze Pettingrunde einschieben, bevor der Unterricht begann.
Kalte, bittere, schmerzhafte Enttäuschung breitete sich in mir aus, als hätte der Pfeil gerade mein Herz getroffen.
»Gwen?«, fragte Kenzie mit leiser, freundlicher Stimme.
Sogar Oliver hielt den Mund, statt mir einen bissigen Kommentar reinzuwürgen.
Nicht jeder auf der Akademie wusste, dass ich schwer in Logan verschossen war, aber für Kenzie und Oliver war es zweifellos offensichtlich, nachdem sie mich seit Wochen beim Training mit dem Spartaner beobachtet hatten. Und natürlich hatten sie gerade meine Reaktion gesehen, als er sich mit einem Mädchen davongeschlichen hatte, um noch eine Weile Zungenringkampf zu betreiben.
»Mir geht’s gut«, blaffte ich. Ich hasste es, dass sie wussten, wie viel Logan mir bedeutete, hasste es, dass ich überhaupt noch so empfand. »Lasst uns noch ein bisschen trainieren.«
Kenzie gab mir den nächsten Pfeil. Er sagte kein Wort. Genauso wie Oliver.
Ich nutzte weiter Daphnes Erinnerungen und meine eigene Wut und schaffte es vor dem Ende des Trainings, fünf weitere Pfeile ins Schwarze zu setzen.
»Du musst zum Winterkarneval kommen, Gwen. Es ist eine Tradition der Mythos Academy. Alle werden da sein.«
Ich ignorierte Daphne und spießte eine weitere, winzige Frucht in der filigranen Porzellanschüssel vor mir auf. Die Frucht hatte eine leuchtend gelbe Farbe und eine seltsame, gezackte Form. Definitiv keine Kiwi. Vielleicht eine Sternfrucht? Ich hob sie an meine Nase und schnüffelte, aber alles, was ich riechen konnte, war der scharfsüße Duft des Honig-Vanille-Dressings. Die seltsame Frucht wirkte nicht, als könnte sie mich umbringen. Allerdings sahen einige Dinge in der Akademie netter aus, als sie waren.
Mir gegenüber schnitt Daphne einen weiteren kleinen Bissen von ihrem Eiweißomelette ab, das von frischem, gebuttertem Hummer gekrönt wurde. Dazu gab es gedünsteten Spinat und geriebenen Fetakäse. Die Walküre aß tatsächlich Hummer zum Frühstück – und genoss jeden einzelnen Bissen. Bäh.
Hummer war eigentlich noch eins der harmloseren Gerichte in der Cafeteria. Kaviar, Schnecken und Kalbfleisch gehörten zum Standardprogramm bei Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, genau wie anderes Schickimicki-Essen. Selbst die normalen Gerichte – wie Lasagne, Brathähnchen oder der Fruchtsalat, den ich gerade aß – hatten immer seltsame Zutaten, seltsame Soßen oder bizarre Beläge. Aber die anderen Jugendlichen liebten das ganze exotische Zeug, weil sie bei ihren obszön reichen Eltern damit aufgewachsen waren. Die Mythos-Schüler verschlangen Schnecken, wie die Leute auf meiner alten, öffentlichen Highschool fettige Pizza, knusprige Pommes und dicke Cheeseburger verschlungen hatten.
Der Mangel an einfachem, identifizierbarem, normalem Essen war eines der Dinge, die ich am Speisesaal hasste – an der Mythos Academy generell.
»Gwen? Hörst du mir überhaupt zu?« Daphne schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern, sodass pinkfarbene Funken wie winzige Schmetterlinge um uns herumhuschten.
»Ich muss dir gar nicht zuhören«, sagte ich, legte meine Gabel in die Schüssel und schob sie mitsamt der mysteriösen Frucht darin von mir. »Du redest seit zwei Wochen von nichts anderem als von diesem Wochenendausflug, zu dem alle Schüler eingeladen sind.«
»Nicht einfach ein Ausflug«, erklärte Daphne. »Winterkarneval! Vertrau mir. Es ist eines der besten Events des Jahres.«
»Warum?«, grummelte ich. »Weil alle übers Wochenende in ein schickes Skiresort fahren dürfen, wo sie mit nur geringer Überwachung durch die Professoren trinken, rauchen und Sex haben?«
Daphne grinste, und ihre schwarzen Augen glitzerten vor Aufregung. »Genau.«
Ich verstand nicht ganz, was den Karneval vom täglichen Leben in der Akademie unterschied, aber ich hielt den Mund. Die Leute hier mochten ja alle auf Mythos sein, um zu lernen, wie man kämpfte und mit seiner Magie umging, aber sie wollten auch feiern, während sie das taten. Und wenn man bedachte, dass so gut wie alle ihrer Eltern stinkend, stinkend reich waren, konnten sie es sich auch leisten. Anscheinend hatten die Götter ihre Krieger in grauer Vorzeit mit Gold, Silber und faustgroßen Diamanten belohnt. Der Reichtum war über die Generationen weitergegeben und vermehrt worden, und das war der Grund, warum die Mythos-Schüler immer das Beste von allem hatten, von Designerkleidung über teure Autos bis hin zu individuell gefertigten Waffen und Schmuck.
Auf meiner alten Schule hatte man unter einer Party ein Sixpack Weinschorle verstanden, das die ältere Schwester eines coolen Jungen heimlich gekauft hatte. Hier auf Mythos schickten die Eltern, die dionysische Weingüter besaßen, ihren Kindern ganze Kisten von dem Zeug.
»Komm schon«, schmeichelte Daphne. »Ich brauche jemanden, der mir die Haare aus dem Gesicht hält, während ich mir die Seele aus dem Leib kotze. Einige der Partys werden ziemlich wild.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Zu wild für eine mächtige Walküre?«
Daphne grinste wieder, und ich schnaubte nur.
Wie die anderen Schüler auf Mythos war Daphne Cruz die Ur-Ur-Ur-irgendwas-Enkelin eines Kriegers aus alter Zeit. Oh, sie mochte aussehen wie eine hübsche, verzogene Prinzessin, mit ihrem glatten, blonden Haar, ihrer perfekten, bernsteinfarbenen Haut, dem teuren rosafarbenen Kaschmirpullover und der noch teureren, farblich dazu passenden Tasche. Daphne war definitiv ein Mädchen-Mädchen, aber zudem war sie eine Walküre, was bedeutete, dass sie unglaublich stark war. Ehrlich. Hulkstark. Daphne hätte den Tisch, an dem wir saßen, mit bloßen Händen zerreißen können, ohne sich dabei auch nur einen Fingernagel abzubrechen.
Walküren besaßen außerdem Magie. Daher kamen die Funken, die überall um uns herum in der Luft blitzten. Jedes Mal, wenn Daphnes gepflegte Nägel gegen etwas stießen oder sie emotional wurde, schossen winzige, prinzessinenrosa Funken aus ihren Fingerspitzen. Daphne hatte mir einmal erklärt, dass ihre Finger ein wenig waren wie die Wunderkerzen am vierten Juli. Mir machten das ständige Knistern und die Farbtupfer nichts aus. Neben ihr zu sitzen war ein wenig, als säße man in der Nähe eines Regenbogens. Na ja, wenn Regenbogen nur pink wären. Und explosiv. Manchmal war Daphne genauso aufbrausend wie ihre Funken schnell.
Daphnes Magie war noch nicht gereift. Aber sobald es so weit war, würde sie sogar noch mächtiger werden. Walküren hatten die verschiedensten magischen Fähigkeiten, von der Gabe des Heilens über Wetterkontrolle bis hin zum Erzeugen von Illusionen.
Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. Von dieser letzten magischen Fähigkeit hatte ich vor ein paar Wochen auf die harte Tour erfahren, als Jasmine Ashton, eine der anderen reichen Walkürenprinzessinnen von Mythos, die Illusion eines Nemeischen Pirschers erschaffen hatte, um mich zu töten. Wenn man an eine Illusion glaubte, konnte sie einen verletzen – sogar umbringen. Der Pirscher – ein großes, schwarzes, pantherartiges Monster – hätte mich in Stücke gerissen, wenn Logan ihn nicht erstochen hätte. Danach hatte sich die Illusion aufgelöst.
Vielleicht besaß ich heute meine eigene, zusätzliche Magie, denn sobald ich an Logan dachte, trat er durch die Tür des Speisesaals – mit Savannah an seiner Seite. Zweifellos war Logan hier, um zu frühstücken, bevor der Unterricht anfing, genau wie ich. Der Spartaner hatte geduscht und sich umgezogen, seit ich ihn in der Turnhalle gesehen hatte, und sein schwarzes Haar war noch feucht. Anstelle von T-Shirt und Jogginghose trug er Jeans, einen blauen Pullover und eine schwarze Lederjacke, die seine muskulösen Schultern betonte. Er sah total sexy aus.
Ich beobachtete, wie Logan sich seinen Weg durch den Speisesaal bahnte, vorbei an den Ölgemälden verschiedener mythologischer Gelage und den polierten Rüstungen, die darunter Wache standen. Er führte Savannah zu einem Tisch, der nicht allzu weit von dem entfernt stand, an dem Daphne und ich saßen. Wie alle anderen war auch dieser Tisch mit weißer Tischdecke, feinem Porzellan und einer schweren Kristallvase voller frischer Mohnblumen, Hyazinthen und Narzissen gedeckt.
Er hatte zusätzlich den Vorteil, direkt neben dem offenen Innengarten zu liegen, der die Mitte des Speisesaals bildete. Efeu rankte sich über, um und manchmal durch die dicken Äste der Oliven-, Orangen- und Mandelbäume, die man dort in die dunkle Erde gepflanzt hatte. An verschiedenen Stellen im Garten konnte man Marmorstatuen von Demeter, Dionysos und anderen Göttern und Göttinnen entdecken. Sie standen alle mit geöffneten Augen nach außen gewandt, als wollten sie die Studenten dabei beobachten, wie sie sich an den Erntegeschenken erfreuten, die sie repräsentierten.
Logan und Savannah hätten genauso gut in einem romantischen Restaurant essen können. Das Ambiente war so ziemlich dasselbe – besonders wenn man bedachte, wie verliebt und träumerisch sie sich tief in die Augen sahen.
Daphne bemerkte, dass ich sie nicht mehr beachtete, und drehte sich, um zu sehen, was ich anstarrte. Ihr hübsches Gesicht verzog sich mitfühlend, was die Sache für mich nur noch schlimmer machte.
»Habe ich erwähnt, dass nicht nur Schüler von Mythos auf den Karneval kommen?«, fragte Daphne. »Es werden auch eine Menge Leute von der Akademie in New York dort sein.«
Ich blinzelte. »Da draußen gibt es noch weitere Akademien? Ich dachte, wir wären die einzige Schule für Krieger.«
»O nein. Es gibt eine Schule in New York und eine draußen in Denver. Paris, London, Athen – es gibt viele Mythos-Ableger auf der ganzen Welt, auch wenn die Akademie in Cypress Mountain die größte und beste ist.«
»Wirklich? Warum?«
Daphne verdrehte die Augen. »Weil es die ist, auf die wir gehen, Dummkopf. Außerdem haben wir die Bibliothek der Altertümer. Keine der anderen Schulen hat eine solche Bibliothek, und auf keinen Fall haben sie so viele Artefakte.«
Auf der Akademie lernten die Schüler alles über Götter, Göttinnen, Krieger, Mythen, Magie und Monster aus jeder Kultur der Welt – griechisch, nordisch, römisch, japanisch, chinesisch, indianisch, ägyptisch, indisch, russisch, irisch, afrikanisch und was sonst noch da draußen existierte. Es klang logisch, dass es auf der Welt noch andere solcher Schulen gab.
»Na ja«, fuhr Daphne fort, »ich will damit nur sagen, dass es dort frisches Blut geben wird. Einige der Kerle von der New York Academy sind supersüß. Ich habe letztes Jahr selbst mit ein paar von ihnen geflirtet. Und die meisten ihrer Eltern haben Häuser in den Hamptons, und dort ist es in den Sommerferien wirklich toll.«
»Süße Jungs, hm?«, fragte ich, während ich immer noch Logan anstarrte.
»Massenweise«, versprach Daphne. »Ich bin sicher, dass wir dort jemanden finden, mit dem du das Wochenende verbringen kannst. Jemanden, der dich von … anderen Dingen ablenkt.«
Ich seufzte. Es war Wochen her, dass ich Logan um ein Date gebeten und er mich zurückgewiesen hatte, aber meine Gefühle für ihn hatten sich kein bisschen verändert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich etwas anderes als eine komplette Lobotomie von dem sexy Spartaner ablenken würde.
»Also, was sagst du, Gwen?«, fragte Daphne. »Bist du bereit, mal richtig Spaß zu haben?«
Savannah warf den Kopf zurück und lachte über etwas, das Logan gesagt hatte. Das leise, glückliche Geräusch sauste wie ein Speer durch den Raum und bohrte sich förmlich in meinen Kopf.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich meiner besten Freundin.
Dann packte ich mein Zeug, stand auf und verließ die Cafeteria, um nicht mit ansehen zu müssen, wie das glückliche Paar zusammen frühstückte.
Kapitel 3
Trotz meiner schlechten Laune verging der Tag in der üblichen Mischung aus Unterricht, Vorträgen und langweiligen Hausaufgaben. Der letzte Gong erklang nach der sechsten Stunde, und ich ging zusammen mit den anderen Schülern nach draußen.
Es war Anfang Dezember, und ich zog meinen purpurn karierten Mantel enger um mich. Obwohl es erst früher Nachmittag war, schafften es die Sonnenstrahlen kaum, die dicken, grauen Wolken zu durchdringen, die den Himmel bedeckten. Mein Atem kondensierte in der Luft und driftete in Form weißer Wolken zu Boden. Der Winter hatte seine kalte Decke bereits über North Carolina ausgebreitet. Dort lag die Akademie, in Cypress Mountain, einem Vorort in den Bergen über der schicken Kleinstadt Asheville.
Man konnte schon bei einem Spaziergang über den Campus erkennen, dass Mythos ein Ort für reiche Kinder war. Alle Gebäude bestanden aus altem, dunkelgrauem Stein, der mit Efeu überwuchert war, und jede einzelne der gepflegten Grasflächen war dicht und ebenmäßig, trotz der Kälte. Und die freie Fläche in der Mitte des Campus sah aus wie aus der Broschüre eines hochklassigen Colleges – jede Menge gewundene, gepflasterte Wege, viele schmiedeeiserne Bänke und Massen von schattenspendenden Bäumen.
In gewisser Weise war Mythos sogar ein College, da das Alter der Schüler von sechzehn im ersten Jahr bis zu einundzwanzig im sechsten Jahr reichte. Mit siebzehn war ich im zweiten Jahrgang, was bedeutete, dass ich noch ungefähr viereinhalb Jahre vor mir hatte, bevor ich meinen Abschluss machte. Wie wunderbar.
Der obere Hof wirkte ein wenig wie eine Picknickdecke, die jemand über den grasbewachsenen Hügel geworfen hatte. Er bot einen guten Blick auf den Rest der luxuriösen Außenanlage. Ich trat auf einen der aschegrau gepflasterten Wege, die zu den unteren Höfen führten, wo die Wohnheime und die kleineren Nebengebäude standen. Um mich herum gingen die Schüler zu ihren Wohnheimen oder den Hügel hinauf, um zu einem Clubtreffen, ins Sporttraining oder zu den anderen Aktivitäten zu gelangen, bei denen sie sich engagierten. Ich allerdings nicht. Ich hatte mich keinem Club angeschlossen, und ich war nicht geschickt genug für irgendeine Sportart, besonders nicht auf Mythos. Alle hier waren viel schneller, stärker und zäher als ich, was sie ihren uralten Kriegergenen und der Magie verdankten, die damit einherging.
Ich ging kurz bei meinem Wohnheim vorbei – Styx –, um Vic und ein paar Schulbücher abzulegen, dann verließ ich es wieder. Doch statt zurück zum Hauptplatz zu gehen, wandte ich mich in die andere Richtung und steuerte auf den Rand des Campus zu. Ich hielt erst an, als ich die fast vier Meter hohe Steinmauer erreicht hatte, welche die Akademie von der Außenwelt trennte. Ein geschlossenes Tor versperrte den Durchgang, und rechts und links davon saßen zwei Sphinxe auf der Mauer und starrten die schmiedeeisernen Gitter an.
Ich wurde langsamer, dann hielt ich ganz an, um die Statuen zu betrachten. Die Sphinxe waren angeblich mit irgendeiner Art von magischem Hokuspokus aufgeladen, und nur Leute, die zur Akademie gehörten – Schüler, Professoren und Angestellte –, konnten das Tor durchschreiten und unter dem wachsamen Blick der Sphinxe passieren. Ich wusste nicht genau, was geschah, wenn jemand versuchte, seinen Weg an den Statuen vorbei zu erzwingen, aber ich fühlte etwas unter der glatten, steinernen Oberfläche – etwas Altes, Gewalttätiges, das jeden Moment ausbrechen und mich verschlingen konnte, wenn ich nur falsch atmete.
Aber bei Magie schien es immer ein Schlupfloch zu geben, und bei den Sphinxen war es die Tatsache, dass sie geschaffen worden waren, um Schnitter draußen zu halten – nicht Schüler drinnen. Das hatte Professor Metis mir erzählt, und ich glaubte ihr. Immerhin waren die Kreaturen bis jetzt noch nicht zum Leben erwacht, um mich in Stücke zu reißen. Trotzdem starrte ich sie jedes Mal erst eine Weile an, bevor ich den Mut fand, mich an ihnen vorbeizuschleichen.
Ich sah mich um, aber an diesem Ende des Campus war niemand zu sehen. Genau wie ich es wollte. Ich atmete tief durch, dann machte ich einen schnellen Schritt vor, drehte mich seitlich, zog den Bauch ein und schob mich zwischen den Eisenstangen hindurch. Vielleicht war es nur meine Einbildung, aber ich konnte die unverwandten Blicke der Sphinxe auf meinen Körper spüren, die jede meiner ungeschickten Bewegungen und meine flachen Atemzüge beobachteten. Es kostete mich nur eine Sekunde, mich durch das Tor zu schieben, aber es fühlte sich viel länger an. Ich schaute mich nicht noch mal nach den Statuen um. Es war eine Sache, zu vermuten, dass mich etwas im Stein beobachtete – es war etwas anderes, es tatsächlich zu sehen.
Schüler sollten unter der Woche das Schulgelände eigentlich nicht verlassen, weil wir, na ja, lernen sollten und trainieren und so Zeug. Wahrscheinlich hatte ich deswegen das Gefühl, dass die Sphinxe mich anstarrten, aber es war mir egal. Im Gegensatz zu einigem, was auf dem Schulgelände so abging, war aus der Schule schleichen ein relativ harmloses Vergehen.
Außerdem, wenn ich mich nicht davonschlich, konnte ich meine Grandma Frost nicht sehen.
Ich war nicht gerade begeistert gewesen, als man mich zu Anfang des Schuljahres auf die Mythos Academy verfrachtet hatte, aber selbst ich musste zugeben, dass Cypress Mountain ein hübscher Vorort war. Die kurvige Straße, die an der Akademie vorbeiführte, wurde von schicken Läden gesäumt, die alles von Büchern und Kaffee bis hin zu Designerklamotten, maßgefertigtem Schmuck und Waffen anboten. Es gab sogar ein Autohaus voller Aston Martins und Cadillacs und einen Parkplatz, auf dem die Schüler von Mythos ihre teuren Karren abstellten, da sie ihre Wagen unter der Woche nicht aufs Schulgelände fahren durften. Aber die beliebtesten Läden bei den Schülern waren die, die Wein, Schnaps, Zigaretten und Kondome verkauften – und dabei nicht allzu genau auf den Ausweis schauten, solange man bar zahlte, vorzugsweise in Hundertern.
Ich nahm einen der Nachmittagsbusse, die Touristen von Cypress Mountain in die Stadt und zurück kutschierten. Zwanzig Minuten später stieg ich in einem Wohnviertel voller alter, großer Häuser aus, nur ein paar Querstraßen von der Innenstadt von Asheville entfernt. Ich ging zum anderen Ende des Blocks, dann eilte ich die grauen Betonstufen zu einem dreistöckigen Haus hinauf, das in einem hellen Lavendelblau gestrichen war. Ein Schild neben der Tür verkündete: Hellseherei hier. Das Messingschild war ein wenig angelaufen, also polierte ich es mit einem Jackenärmel, bevor ich den Schlüssel heraussuchte, um die Tür zu öffnen.
»Hier hinten, Süße.«
Ich hatte die Tür kaum hinter mir geschlossen, als die Stimme meiner Großmutter bereits durch den Gang hallte. Ich konnte sie von meinem Standort aus nicht sehen, aber es klang, als wäre sie in der Küche. Grandma Frost war eine Gypsy, genau wie ich. Und das bedeutete, dass sie ebenfalls eine Gabe besaß. Grandma konnte in die Zukunft sehen. Tatsächlich verdiente sie so etwas zusätzliches Geld. Die Leute kamen von nah und fern, um sich von Geraldine Frost die Zukunft voraussagen zu lassen. Aber anders als einige der Schwindler dort draußen log Grandma niemanden in Bezug auf das an, was sie sah. Sie sagte den Leuten immer die Wahrheit, egal wie gut, schlecht oder schrecklich sie war.
Ich ging den Flur entlang und trat in die Küche. Mit dem weißen Fliesenboden und den himmelblauen Wänden war die Küche ein heller, fröhlicher Ort und mein liebster Raum im ganzen Haus.
Grandma Frost stand an der Arbeitsplatte, schnitt getrocknete Erdbeeren und ließ die leuchtend roten Stücke in eine Schüssel mit Keksteig fallen. Zusätzlich zu ihren hellseherischen Fähigkeiten war Grandma eine phantastische Bäckerin. Ich atmete tief ein und konnte quasi die dunkle Schokolade, den braunen Zucker und das Mandelaroma schmecken, die bereits im Teig waren. Lecker.
Grandma musste gerade erst die letzte Sitzung beendet haben, da sie noch das trug, was sie ihre Gypsykleidung nannte – eine weiße Seidenbluse, schwarze Hosen, schwarze Slipper mit aufgerollter Spitze und, ganz wichtig, Massen und Massen von farbenfrohen Tüchern. Die durchsichtigen Schichten aus Lila, Grau und Smaragdgrün flatterten um ihren Körper, während die glänzenden Silbermünzen an den Enden der Tücher fröhlich klimperten. Die unzähligen Ringe, die sie gewöhnlich an den Fingern trug, hatte Grandma abgenommen. Der Silberschmuck bildete einen glitzernden Haufen auf dem Küchentresen, und die Edelsteine darin blitzten im Sonnenlicht wie geschliffene Glühwürmchen.
»Du hast mich erwartet«, sagte ich, stellte meine Tasche auf einen Stuhl und beäugte mit hungrigem Interesse den klebrigen Teig. »Hattest du eine Vision, dass ich kommen würde?«
»Nee.« Grandma Frosts violette Augen funkelten in ihrem runzligen Gesicht. »Es ist Mittwoch. Du kommst mich am Mittwoch immer besuchen, bevor deine Schicht in der Bibliothek anfängt. Ich bin heute ein bisschen früher fertig geworden, also dachte ich, ich backe ein paar Kekse für dich und Daphne.«
Ich hatte Daphne vor ein paar Wochen mal mitgenommen und meiner Grandma vorgestellt. Die beiden hatten sich auf Anhieb verstanden, was zum Teil dem phantastischen Apfelmuskuchen zu verdanken war, den Grandma an diesem Tag gebacken hatte. Daphne war kein solches Schleckermaul wie Grandma und ich, aber der Kuchen hatte sie trotzdem vom Hocker gehauen. Und jetzt schickte mich Grandma, wann immer ich sie besuchte, mit einer Leckerei sowohl für mich als auch für Daphne zurück nach Mythos, meistens verpackt in einer Dose von der Form eines riesigen Schokokekses. Es war die kleinere Version der großen Dose auf der Arbeitsplatte.
»Also, was war diese Woche in der Schule los, Süße?«, fragte Grandma, während sie kleine Bälle aus Teig formte und die Kekse in den Ofen schob.
Ich setzte mich an den Tisch. »Nicht viel. Stunden, Hausaufgaben, Waffentraining – das Übliche. Obwohl Daphne mich ständig fragt, ob ich mit auf dieses Event fahre, das sich Winterkarneval nennt. Die Mächtigen der Akademie bringen alle Schüler zu einem der Skiresorts. Angeblich gibt es da das ganze Wochenende über einen Jahrmarkt und Partys und so.«
»Oh?«, meinte Grandma. »Daran erinnere ich mich aus der Zeit, als deine Mom auf der Akademie war. Sie schien bei diesen Ausflügen immer ziemlich viel Spaß zu haben.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist der Karneval ganz lustig, vielleicht auch nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich mitfahren will.«
Grandma sah zu mir herüber, aber ihre violetten Augen wurden plötzlich ausdruckslos und glasig, als sähe sie etwas in weiter Ferne und nicht mich, die ich in ihrer Küche saß.
»Nun, ich denke, du solltest mitfahren«, murmelte sie in diesem seltsamen, geistesabwesenden Tonfall, den sie immer draufhatte, wenn sie von etwas sprach, das nur sie sehen konnte. »So könntest du die Akademie mal eine Weile hinter dir lassen.«
Sie hatte eine ihrer Visionen. Ich blieb still sitzen, während eine alte, wachsame Macht die Luft um uns bewegte. Eine vertraute und fast beruhigende Macht. Sie erinnerte mich an eine bestimmte Göttin, die ich vor nicht allzu langer Zeit getroffen hatte.
Nach ein paar Sekunden wurde Grandmas Blick wieder klar, und sie lächelte mich an. Die Vision war vorüber, und die uralte, unsichtbare Macht, die in der Luft gehangen hatte, verschwand wieder. Manchmal sah Grandma jede Menge Details in ihren Visionen, sodass die Zukunft kristallklar vor ihr stand. Manchmal allerdings empfing sie nur vage, verschwommene Bilder und den ungefähren Eindruck, dass etwas Gutes oder Schlechtes passieren würde, ohne zu wissen, was es war. Diesmal musste es eine vage Vision gewesen sein, da sie mir nichts weiter darüber verriet, warum ich zum Winterkarneval gehen sollte oder was passieren würde, wenn ich dort war. Außerdem hatte Grandma immer gesagt, dass sie mich meine eigenen Entscheidungen treffen lassen wollte, damit ich mein Schicksal selbst bestimmen konnte, anstatt mich nach einer möglichen Zukunft zu richten, die vielleicht niemals eintraf. Daher erzählte sie mir selten genau, was sie gesehen hatte, wenn die Vision mich betraf.
Grandma setzte sich neben mich an den Küchentisch, während wir darauf warteten, dass die Schokoladen-Erdbeer-Kekse fertig wurden. »Also, Süße, welcher Spur folgst du diese Woche?«, fragte sie mit einem Lächeln. »Suchst du weiter nach verlorenen Handys und Laptops für die anderen Mythos-Schüler?«
»Nee«, sagte ich. »Alle sind mit dem Winterkarneval beschäftigt. Diese Woche hat mich niemand gebeten, etwas für ihn zu finden.«
Handys, Laptops, Geldbörsen, Taschen, Autoschlüssel, Schmuck, verlorene BHs und Boxershorts – meine psychometrische Magie half mir dabei, Dinge zu finden, die verloren gegangen, gestohlen worden oder sonst wie verschwunden waren. Natürlich konnte ich den Gegenstand selbst nicht berühren, wenn er nicht dort war, wo er sein sollte, aber jeder hinterließ Schwingungen auf allem, was er berührte. Normalerweise musste ich nur die Finger über den Schreibtisch eines Kerls gleiten lassen oder mich durch die Tasche eines Mädchens graben, um zumindest eine ungefähre Ahnung zu bekommen, wo er seinen Geldbeutel liegen gelassen oder sie ihr Handy abgelegt hatte. Und wenn vor meinem inneren Auge nicht sofort ein Bild aufblitzte, wo das Teil war, dann berührte ich einfach weiter Sachen, bis ich es herausfand – oder ein Bild von demjenigen empfing, der es geklaut hatte. Die meiste Zeit fiel es mir ziemlich leicht, der Spur aus psychischen Brotkrumen zu dem verlorenen Gegenstand zu folgen.
»Wie fühlst du dich, Süße?«, fragte Grandma mit sanfter Stimme. »Insgesamt. Der Unfall … liegt jetzt schon mehrere Monate zurück.«
Ich sah sie an und fragte mich, warum sie den »Unfall« so komisch betonte, als läge eine versteckte Bedeutung in dem Wort. Aber Grandmas Miene wirkte verschlossen und traurig. Außerdem war mir klar, was sie wissen wollte: wie ich mit dem Tod meiner Mom zurechtkam.
Mein Dad, Tyr Forseti, war an Krebs gestorben, als ich noch ein Kind gewesen war. Er und meine Mom Grace waren verheiratet gewesen, aber sie hatte den Nachnamen Frost behalten und an mich weitergegeben, wie es bei den Frauen in unserer Familie Tradition war, da unsere Gypsygabe, unsere Macht, von der Mutter an die Tochter vererbt wurde.
Ich konnte mich an meinen Dad nicht erinnern, aber meine Mom war im Frühling gestorben, und ihr Tod stand mir immer noch frisch und scharf und schmerzhaft vor Augen. Ich verspürte eine Menge Schuldgefühle – okay, massenweise Schuldgefühle – wegen des Todes meiner Mom. Immerhin hatte ich ihn verursacht.
In meiner alten Highschool hatte ich nach dem Sportunterricht die Bürste eines anderen Mädchens aufgehoben. Ich hatte gedacht, es sei relativ sicher, sie zu benutzen, da es nur eine Haarbürste war. Die meisten Leute übertrugen nicht besonders viele Gefühle auf den Gegenstand, mit dem sie sich die Haare kämmten.
Ich hatte mich geirrt.
Die Haarbürste hatte sofort Bilder aufblitzen lassen, und ich hatte ein krankes, krankes Geheimnis erfahren – dass der Stiefvater des Mädchens sie sexuell missbrauchte. Die Erinnerungen, Bilder und Gefühle waren so schrecklich gewesen, dass mich meine Magie völlig zum Ausrasten gebracht hatte. Ich hatte geschrien und geschrien und geschrien, bevor ich in Ohnmacht gefallen und später im Krankenhaus aufgewacht war. Ich hatte meiner Mom, die Polizistin war, davon erzählt. Sie hatte mich am selben Abend vom Polizeirevier aus angerufen, um mir zu sagen, dass sie den Stiefvater des Mädchens verhaftet hatte.
Das war das letzte Mal gewesen, dass ich mit ihr gesprochen hatte.
Moms Auto war auf dem Heimweg von einem betrunkenen Fahrer gerammt worden. Angeblich war sie sofort tot gewesen. Der Unfall hatte sie auf jeden Fall so entstellt, dass der Sarg bei der Beerdigung geschlossen blieb. Und daher kamen meine herzverkrampfenden, seelenquälenden Schuldgefühle. Ich konnte nicht anders, als zu glauben, dass meine Mom nicht mehr so spät unterwegs gewesen wäre, wenn ich diese Haarbürste nicht angefasst hätte. Und dann wäre sie nicht gestorben.
Ich vermisste meine Mom unglaublich, und ich wusste, dass es Grandma Frost genauso ging. Es hatte immer nur uns drei gegeben. Deswegen riskierte ich auch den Groll der Professoren und der Mächtigen von Mythos, indem ich mich vom Campus schlich und sie besuchte. Das war auch der Grund, warum Grandma es zuließ. Wir beide wollten so viel Zeit miteinander verbringen wie möglich, nur für den Fall, dass eine von uns so plötzlich und grausam verschwand, wie es bei meiner Mom der Fall gewesen war …
Pling!
Der Ofen piepte, unterbrach meine finsteren, schuldbewussten Gedanken und bewahrte mich davor, Grandmas Frage zu beantworten. Grandma stand auf und holte die Kekse aus dem Ofen. Der Duft von geschmolzenem Zucker, süßen Erdbeeren und dunkler Schokolade strömte in die Küche und vermittelte sofort ein warmes, sicheres, gemütliches Gefühl. Ich ließ die Kekse nicht mal abkühlen, sondern schnappte mir sofort zwei vom Backblech, brach sie in der Mitte durch und schob mir die Stücke in den Mund. Mmmmm. So gut.
»Aber gib bitte ein paar davon Daphne«, erinnerte mich Grandma mit sanfter Stimme, während sie meine übliche Keksdose füllte. »Ich weiß, dass sie sie mögen wird.«
Ende der Leseprobe