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Im Mittelpunkt der Serie steht die 17-jährige Gwen Frost, die über ein außergewöhnliches Talent verfügt: Sie besitzt die »Gypsy-Gabe« – bei der eine einzige Berührung ausreicht, um alles über einen Gegenstand oder einen Menschen zu wissen. Doch dabei spürt Gwen nicht nur die guten Gefühle, sondern auch die schlechten und die gefährlichen. Auf der Mythos Academy soll sie lernen, mit ihrer Gabe sinnvoll umzugehen. Aber was Gwen nicht weiß: Die Studenten werden dort ausgebildet, um gegen den finsteren Gott Loki zu kämpfen. Und obwohl sie der Meinung ist, an der Mythos Academy nichts verloren zu haben, erkennt Gwen bald, dass sie viel stärker ist als gedacht und all ihre Fähigkeiten brauchen wird, um gegen einen übermächtigen Feind zu bestehen.
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Seitenzahl: 479
Lesen was ich will!
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Für meine Mutter, meine Großmutter und Andre – dafür, dass sie sie selbst sind
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95611-6
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Touch of Frost« bei K Teen Books / Kensington Publishing Corp. New York 2011.
Deutschsprachige Ausgabe:
© , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2012
Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic® München
Datenkonvertierung: psb, Berlin
Jede Autorin wird zugeben, dass ihr Buch ohne die Hilfe und Arbeit vieler, vieler anderer Leute nicht möglich gewesen wäre. An dieser Stelle möchte ich einigen der Menschen danken, die geholfen haben, Gwen Frost und die Welt der Mythos Academy ins Leben zu rufen:
Meiner Agentin, Annelise Robey, danke ich dafür, dass sie mich ermuntert hat, einen Jugendroman zu schreiben.
Danke auch an meine Lektorin, Alicia Condon, weil sie in ihrem vollen Terminplan die Zeit gefunden hat, um sich mit mir zu treffen, und ich möchte mich für ihre inhaltlichen Vorschläge bedanken. Sie haben wirklich geholfen, das Buch besser zu machen.
Und schließlich möchte ich mich bei all den Lesern da draußen bedanken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und es ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt beim Lesen von Gwens Abenteuern so viel Spaß wie ich beim Schreiben.
Viel Vergnügen!
»Ich kenne dein Geheimnis.«
Daphne Cruz schob ihr Gesicht näher an den Spiegel über dem Waschbecken und trug eine weitere Schicht hellen Lipgloss auf. Sie ignorierte mich demonstrativ, wie es alle hübschen, beliebten Mädchen taten.
Wie es jeder auf der Mythos Academy tat.
»Ich kenne dein Geheimnis«, wiederholte ich lauter.
Ich stieß mich von der Statue einer Meeresnymphe ab, an der ich gelehnt hatte, schlenderte zur Tür der Mädchentoilette und verschloss sie. Mir mochte es ja egal sein, ob jeder von Daphnes kleinem Geheimnis erfuhr, aber ich hätte darauf gewettet, dass sie am Ende unserer Unterhaltung daran interessiert sein würde, genau das zu verhindern.
Sobald Daphne mit dem Glanz ihrer Lippen zufrieden war, ließ sie den Lippenstift in ihrer übergroßen, rosafarbenen Tasche von Dooney & Bourke verschwinden. Als Nächstes zog sie eine Bürste hervor und machte sich daran, ihre glatten, goldenen Strähnen zu kämmen. Sie ignorierte mich immer noch.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte mich gegen die Tür und wartete. Die erhabenen Figuren von Kriegern und Monstern, die in die schwere Holztür geschnitzt waren, drückten sich in meinen Rücken, aber ich ignorierte die seltsamen Formen und Knubbel. Die zweihundert Dollar, die ich für diesen Job bekam, bedeuteten, dass ich es mir leisten konnte, geduldig zu sein.
Nach weiteren zwei Minuten, als sie ihre Haare ein Dutzend Mal gekämmt hatte und erkannte, dass ich immer noch nicht, na ja, verschwand, ließ sich Daphne schließlich dazu herab, sich umzudrehen und mich anzusehen. Ihre schwarzen Augen huschten über meine Jeans, das T-Shirt mit dem Comicaufdruck und meine purpurne Kapuzenjacke. Dann gab sie ein leises, angewidertes Schnauben von sich. Offensichtlich beleidigte es ihren Modegeschmack, dass ich nicht wie sie die neuesten Designerfummel trug. Dass ich es nicht draufhatte, mich in die Clique der gleich aussehenden Mädchen einzureihen, wie sie und ihre Freundinnen es taten.
Das Motiv des Tages war offensichtlich »Schottenmuster«, denn alles, was Daphne trug, war kariert: vom rosafarbenen Kaschmirschal über ihren schwarzen Faltenrock bis hin zu der schwarz-rosa karierten Strumpfhose, die ihre schlanken Beine hervorhob. Der Kontrast der hellen und dunklen Farben ließ sie noch perfekter wirken und betonte das sanfte Strahlen ihrer bernsteinfarbenen Haut. Genauso wie der Lipgloss.
»Du kennst mein Geheimnis?«, wiederholte Daphne höhnisch. »Und was für ein Geheimnis sollte das sein?«
Dann wollte die Walküre also pampig werden. Kein Problem.
Ich lächelte. »Ich weiß, dass du das Armband mit den Anhängern gestohlen hast. Das Bettelarmband, das Carson Callahan Leta Gaston schenken wollte, um sie zu fragen, ob sie mit ihm auf den Homecoming-Ball geht. Du hast es gestern in seinem Zimmer vom Schreibtisch geklaut, als er dir bei deinem Aufsatz für Englische Literatur geholfen hat.«
Zum ersten Mal flackerten Zweifel in Daphnes Augen auf, und ihr hübsches Gesicht verzog sich ungläubig, bevor sie es schaffte, ihre Gefühle zu verbergen. Jetzt sah sie mich an – sah mich wirklich an – und versuchte herauszufinden, wer ich war und was ich wollte. Nach einem Moment kniff sie die Augen zusammen.
»Du bist dieses Gypsymädchen«, murmelte Daphne. »Das, das Dinge sieht.«
Dieses Gypsymädchen. So wurde ich von fast allen auf der Mythos Academy genannt. Hauptsächlich, weil ich die einzige Gypsy auf dieser Schule für magische Krieger-Freaks war. Das Mädchen aus der Mittelschicht, dessen seltsame Gabe es hier zwischen die Reichen, Beliebten und unzweifelhaft Mächtigen geführt hatte. Wie Daphne Cruz, eine verwöhnte, verzogene Möchtegernprinzessin, die zufällig auch eine Walküre war.
»Wie heißt du?«, fragte Daphne. »Gail? Gretchen?«
Wow. Ich war beeindruckt, dass sie überhaupt wusste, dass mein Name mit einem G anfing.
»Gwen«, antwortete ich. »Gwen Frost.«
»Also, Gwen Frost«, sagte Daphne und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Handtasche. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wovon du redest.«
Ihre Stimme und Miene waren beide genauso glatt wie der goldumrahmte Spiegel vor ihr. Ich hätte ihr sogar geglaubt, hätten ihre Hände nicht ein winziges bisschen gezittert, als sie ihre Bürste zurück in die Tasche steckte. Und hätte ich nicht gewusst, wie phantastisch brave Mädchen wie sie lügen konnten.
Wie gut fast jeder lügen konnte.
Ich griff in meine graue Umhängetasche und zog einen durchsichtigen Plastikbeutel hervor. Darin glitzerte ein winziger silberner Anhänger in Form einer Rose. Daran gemessen, wie Daphne davor zurückschreckte, hätte es genauso gut eine Tüte voller Hasch sein können.
»Woher … woher hast du das?«, flüsterte sie.
»Carson hatte noch nicht alle Anhänger an Letas Armband befestigt, als er es dir während der Nachhilfestunde gestern Nachmittag gezeigt hat«, erklärte ich. »Den hier habe ich ganz hinten hinter seinem Schreibtisch gefunden. Er ist runtergefallen, als du dir das Armband geschnappt hast, um es in deine Tasche zu stopfen.«
Daphne lachte auf und blieb damit bei ihrer Scharade. »Aber warum sollte ich so etwas tun?«
»Weil du verrückt bist nach Carson. Du willst nicht, dass er mit Leta ausgeht. Du willst ihn für dich haben.«
Daphne sackte in sich zusammen und ließ die Hände auf eines der Waschbecken sinken, die sich in einer Reihe unter dem Spiegel entlangzogen. Ihre Finger umfassten kurz einen der silbernen Wasserhähne, die geformt waren wie Hydraköpfe, bevor sie ins Becken rutschten. Ihre langen, gepflegten Fingernägel glitten über den Marmor, während fahle, rosafarbene Funken aus ihren Fingerspitzen schossen. Daphne mochte ja ebenso wie ich erst siebzehn sein, aber Walküren waren unglaublich stark. Ich wusste, dass Daphne Cruz, sollte ihr der Sinn danach stehen, dieses Waschbecken leichter aus der Wand reißen konnte als der Hulk.
Vielleicht hätte ich mich vor der Walküre fürchten sollen. Vor den seltsamen Funken in prinzessinenhaftem Rosa und besonders vor ihrer Stärke und dem, was sie mir damit antun konnte. Aber ich hatte keine Angst. Ich hatte bereits eine der Personen verloren, die mir im Leben am meisten bedeutet hatten. Im Vergleich dazu verblasste alles andere.
»Woher weißt du das alles?«, fragte Daphne. Sie sprach so leise, dass es fast ein Flüstern war.
Ich zuckte mit den Achseln. »Wie du sagtest, ich sehe Dinge. Und sobald ich diesen Anhänger gefunden hatte, wusste ich, dass du diejenige warst, die das Armband gestohlen hat.«
Ich erzählte Daphne sonst nichts über meine Gypsygabe, über meine Fähigkeit, die Geschichte eines Objektes zu erfahren, indem ich es einfach nur berührte, und sie fragte nicht weiter nach.
Stattdessen starrte die Walküre mich weiterhin aus ihren schwarzen Augen an. Nach ungefähr dreißig Sekunden Schweigen hatte sie offensichtlich eine Entscheidung getroffen. Daphne nahm die Schultern zurück, griff ein weiteres Mal in ihre Tasche und zog ihre Geldbörse hervor. Sie passte perfekt zu ihrer Handtasche.
»In Ordnung«, sagte sie. »Wie viel willst du dafür, dass du mir diesen Anhänger gibst und die ganze Geschichte vergisst? Hundert Dollar? Zwei?«
Dieses Mal waren es meine Hände, die sich zu Fäusten ballten. Sie versuchte, mich zu bestechen. Ich hatte nichts anderes erwartet, aber trotzdem machte es mich wütend. Wie jeder andere auf der Mythos Academy konnte Daphne Cruz sich das Beste von allem leisten. Ein paar hundert Dollar bedeuteten ihr gar nichts. Sie hatte eine solche Summe für ihre verdammte Handtasche ausgegeben.
Aber für mich waren ein paar hundert Dollar deutlich mehr als nichts. Für mich bedeuteten sie Kleidung und Comics und ein Handy und ein Dutzend anderer Dinge, um die sich Daphne nie in ihrem Leben hatte sorgen müssen.
»Carson hat mich bereits bezahlt«, sagte ich.
»Und?«, sagte sie. »Ich zahle dir mehr. So viel du willst.«
»Tut mir leid. Sobald ich jemandem mein Wort gegeben habe, halte ich es auch. Und ich habe Carson versprochen, dass ich das Bettelarmband für ihn finde.«
Daphne legte den Kopf schief, als wäre ich ein seltsames Wesen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte – ein mythologisches Monster, das sich lediglich als Teenager tarnte. Vielleicht war es dumm von mir, das angebotene Geld nicht zu nehmen. Aber meine Mom hätte Daphnes Geld nicht genommen, nicht wenn sie schon jemand anderem ein Versprechen gegeben hätte. Meine Mom, Grace, war eine Gypsy gewesen, genau wie ich. Mit einer Gabe, genauso wie ich sie hatte.
Für einen Moment krampfte sich mein Herz in einem Anfall von Schuldgefühlen und Sehnsucht zusammen. Meine Mom war tot, und ich vermisste sie so sehr. Ich schüttelte den Kopf in dem Versuch, den Schmerz zu vertreiben.
»Hey, gib mir einfach das Armband. Mehr will ich nicht. Mehr will auch Carson nicht.«
Daphne presste die Lippen zusammen. »Er … er weiß es? Dass ich das Armband gestohlen habe? Und warum?«
»Noch nicht. Aber er wird es erfahren, wenn du es mir nicht gibst. Und zwar jetzt.«
Ich öffnete die Plastiktüte und hielt sie ihr entgegen. Daphne starrte den Rosenanhänger an, der darin glitzerte. Dann biss sie sich auf die Lippe, sodass Lipgloss auf ihre Zähne geriet, und wandte den Blick ab.
»Schön«, murmelte sie. »Ich weiß sowieso nicht wirklich, warum ich es überhaupt genommen habe.«
Ich wusste es, weil Daphne vor meinem inneren Auge aufgeblitzt war, als ich den Anhänger berührt hatte. Kaum dass meine Finger über die silberne Rose geglitten waren, war das Bild der blonden Walküre in mir aufgestiegen. Ich hatte gesehen, wie Daphne an Carsons Schreibtisch saß und das Armband anstarrte, während sich ihre Finger um die Metallglieder schlossen, als wollte sie sie zerreißen.
Ich hatte auch die Gefühle des anderen Mädchens gespürt, so wie es immer geschah, wenn ich einen Gegenstand oder sogar eine andere Person berührte. Ich hatte Daphnes heiße, kochende Eifersucht gefühlt bei dem Gedanken, dass Carson auch nur darüber nachdachte, Leta um ein Date zu bitten. Und das warme, weiche, übersprudelnde Gefühl von Daphnes Schwärmerei für Carson, obwohl er ein Musikfreak war, während sie zur Gruppe der Beliebten gehörte. Ihre kalte, schmerzhafte Verzweiflung darüber, dass sie in jemanden verliebt war, den der Rest ihrer hochnäsigen Freunde nicht gutheißen würde.
Aber das erzählte ich Daphne nicht. Je weniger die Leute über meine Gabe wussten und über die Dinge, die ich sah und fühlte, desto besser.
Daphne riss das Armband aus ihrer Tasche. Carson Callahan mochte ja ein Musikfreak sein, aber er hatte auch Geld, also war das Bettelarmband ein schweres, teures Stück mit Dutzenden Anhängern daran, die bei jeder Bewegung klirrten. Daphnes Nägel kratzten über einen der Anhänger, ein kleines Herz, und wieder stiegen pinkfarbene Funken in die Luft wie Glühwürmchen.
Ich streckte erneut die Plastiktüte aus, und Daphne ließ das Armband hineinfallen. Ich schloss den Beutel und verknotete ihn, wobei ich sorgfältig darauf achtete, das Schmuckstück nicht zu berühren. Ich wollte keine weiteren Einblicke in die Psyche von Daphne Cruz. Schon beim ersten Mal hatte ich fast Mitleid mit ihr empfunden.
Aber jedes Mitgefühl, das ich vielleicht für Daphne gehegt hatte, verschwand, als die Walküre mich mit einem kalten, hochnäsigen Blick bedachte, den mir vor ihr schon so viele andere bösartige Tussen geschenkt hatten.
»Wenn du irgendwem davon erzählst, Gwen Frost, werde ich dich mit deinem scheußlichen purpurnen Kapuzenshirt erwürgen. Verstanden?«
»Sicher«, erklärte ich freundlich. »Aber du solltest dich vor der nächsten Stunde vielleicht noch etwas frisch machen. Dein Lipgloss ist verschmiert.«
Die Walküre verengte die Augen zu Schlitzen, aber ich ignorierte ihre giftigen Blicke, entriegelte die Toilettentür und ging.
Ich trat aus der Mädchentoilette auf den Flur. Irgendwo tiefer im Gebäude ertönte die Pausenglocke und warnte mich, dass ich nur noch fünf Minuten bis zur nächsten Stunde hatte. Also reihte ich mich in den Strom der Schüler ein, um in den Westflügel des Geschichtsgebäudes zu kommen.
Von außen sah die Mythos Academy aus wie ein Elitegymnasium, obwohl sie in Cypress Mountain lag, knapp außerhalb von Asheville im westlichen Hochland von North Carolina. Alles an der Akademie roch nach Geld, Macht und Snobismus. Von den efeubewachsenen Steingebäuden über die perfekt gepflegten Grasvierecke bis zum Speisesaal, der eher an ein Fünf-Sterne-Restaurant erinnerte als an eine Schulcafeteria. Ja, von außen gesehen wirkte die Akademie exakt wie der Ort, an den reiche Leute ihre verzogenen Treuhandfond-Kinder schicken würden, um sie auf Yale, Harvard, Duke oder ein anderes, angemessen teures College vorzubereiten.
Von innen sah es ganz anders aus.
Auf den ersten Blick wirkte alles normal, wenn auch ein wenig spießig und altmodisch. Ihr wisst schon, polierte Rüstungen in den Gängen, von denen jede eine scharfe, spitze Waffe umklammerte. Steinreliefs und teure Ölgemälde von mythologischen Schlachten an den Wänden. Weiße Marmorstatuen von Göttern und Göttinnen in den Ecken, die sich mit vorgehaltener Hand gegenseitig ansahen, als würden sie über die Personen lästern, die an ihnen vorbeikamen.
Dann waren da noch die Schüler. Sie waren zwischen sechzehn und einundzwanzig, Schüler im ersten bis zum sechsten Jahr, in allen Formen, Größen und Ethnien, mit Büchern und Taschen in der einen und Handys in der anderen Hand, die gleichzeitig SMS schrieben, sich unterhielten und sich ihren Weg durch die Gänge bahnten. Und alle trugen die teuerste Kleidung, die ihre Eltern sich leisten konnten, inklusive Prada, Gucci und natürlich Jimmy Choos.
Aber wenn man die Designerklamotten und die teure Elektronik einmal ausblendete, fielen einem andere Dinge auf. Seltsame Dinge. Wie die Tatsache, dass viele der Schüler Waffen trugen. Überwiegend Schwerter, Bögen und Kampfstäbe, alle in Hüllen verstaut, die an überkandidelte Tennistaschen erinnerten. Natürlich farblich an die Kleidung des Tages angepasst.
Die Waffen waren auf Mythos einfach nur Accessoires. Statussymbole, die verkündeten, was man war, was man konnte und wie viel Geld die jeweiligen Eltern hatten. Genauso wie die farbigen Funken und Magieentladungen, die wie statische Elektrizität in der Luft hingen. Selbst der letzte Trottel hier wusste, wie man jemandem mit einem Schwert den Kopf abschlug, oder konnte einem mit einem gemurmelten Zauberspruch die Innereien zu Brei verwandeln.
Es war, als ginge man in einer Folge von Xena – Die Kriegerprinzessin zur Schule.
Denn das waren alle Schüler auf der Mythos Academy: Krieger. Echte, lebende mythologische Krieger. Oder zumindest die Urururenkel mythologischer Krieger. Die Mädchen waren überwiegend Amazonen oder Walküren, während es sich bei den Jungs meistens um Römer oder Wikinger handelte. Aber es gab auch noch andere Arten von Kriegern: Spartaner, Perser, Trojaner, Kelten, Samurai, Ninjas und alles dazwischen. Sie stammten aus jeder alten Kultur, jedem alten Mythos oder Märchen, das man je gehört hatte – und aus vielen, die so gut wie niemand kannte. Alle besaßen eigene, spezielle Fähigkeiten und eigene Magie – und die dazu passenden Egos.
Und alle waren sie reich, gut aussehend und gefährlich.
Alle außer mir.
Niemand beachtete mich, und niemand sprach mit mir, als ich zu meiner sechsten Stunde schlurfte – Mythengeschichte. Ich war einfach nur dieses Gypsymädchen und dementsprechend nicht reich, mächtig, beliebt, hübsch oder wichtig genug, um für irgendwen interessant zu sein. Es war Ende Oktober, das Herbstsemester lief bereits seit fast zwei Monaten, und ich hatte immer noch keine Freundin. Es gab noch nicht mal jemanden, mit dem ich beim Mittagessen im Speisesaal zusammensitzen konnte. Aber es machte mir nichts aus, keine Freunde zu haben.
Seit dem Tod meiner Mom vor sechs Monaten machte mir nur sehr wenig etwas aus.
Kurz bevor die Glocke bimmelte und damit allen verkündete, dass jetzt jeder in seinem Klassenzimmer sein sollte, schob ich mich auf meinen Platz in Professor Metis’ Mythengeschichtsstunde.
Carson Callahan drehte sich auf seinem Stuhl um, der direkt vor meinem stand. »Hast du es schon gefunden?«, flüsterte er.
Carson war ein großer Junge, gut einen Meter achtzig, und schlaksig. Er schien nur aus spitzen Kanten zu bestehen, von den Knöcheln über die Knie bis hin zu den Ellbogen, und erinnerte mich deswegen immer an ein Dreieck. Selbst seine Nase war gerade und spitz. Er hatte hellbraune Haut und ebensolche Haare, und das eckige Gestell seiner Brille ließ seine Augen wirken wie braune Schokokugeln.
Ich verstand allerdings, warum Daphne ihn mochte. Carson war lieb und freundlich, auf diese scheue, ruhige Art, die Freaks so oft an sich haben. Aber Carson war nicht einfach irgendeine Art von Freak – er war ein Hardcore-Musikfreak und der Tambourmajor in der Marschkapelle der Mythos Academy. Und das, obwohl er erst siebzehn und wie ich im zweiten Jahrgang war. Carson war ein Kelte und hatte angeblich ein magisches Talent für Musik. Er war ein Kriegsbarde oder etwas in der Art. Überwiegend bemühte ich mich, nicht darüber nachzudenken. Ich ignorierte eine Menge Dinge auf Mythos – besonders die Tatsache, wie wenig ich hierher gehörte.
Ich übergab Carson das Armband in seiner Tüte und achtete sorgfältig darauf, ihn nicht zu berühren, damit der Musikfreak keine Vision in mir aufblitzen ließ. Denn zusätzlich zu Daphnes Gefühlen hatte ich gestern, als ich den Rosenanhänger hinter dem Schreibtisch hervorgefischt hatte, auch einen Einblick in Carsons Gefühle erhalten. Ich sah nicht nur die Person, die einen Gegenstand zuletzt berührt hatte – ich konnte jeden blitzen, der das Ding je in der Hand gehabt hatte. Jemals.
Was bedeutete, dass ich wusste, wem Carson das Armband wirklich geben wollte. Und es war entgegen seinen Behauptungen nicht Leta Gaston.
»Wie versprochen«, sagte ich. »Du bist dran.«
»Danke, Gwen.«
Er legte einen Hundert-Dollar-Schein, die zweite Hälfte meines Finderlohns, auf meinen Tisch. Ich nahm das Geld und schob es in die Hosentasche.
Grundsätzlich ignorierte ich alle Schüler auf Mythos, und sie ignorierten mich – zumindest, bis sie etwas finden mussten. Dasselbe hatte ich schon auf meiner alten, öffentlichen Highschool getan, wann immer ich ein wenig zusätzliches Geld brauchte. Für eine angemessene Summe fand ich Dinge, die verloren gegangen, gestohlen worden oder auf andere Weise verschwunden waren. Schlüssel, Geldbeutel, Handys, Haustiere, herrenlose BHs und verknitterte Boxershorts.
Ich hatte in einer Mathestunde mitbekommen, wie sich eine Amazone darüber beschwerte, dass sie ihr Handy verloren hatte, also hatte ich angeboten, es für sie zu finden, wenn sie mir einen kleinen Finderlohn zahlte. Sie hatte mich für verrückt gehalten – bis ich ihr Handy aus den Tiefen ihres Schrankes gezogen hatte. Es stellte sich heraus, dass sie es in einer anderen Handtasche vergessen hatte. Danach sprach sich meine Begabung herum. Bis jetzt war es nicht gerade ein Erfolgsgeschäft, aber ich hatte mein Auskommen.
Da meine Gypsygabe mich dazu befähigte, einen Gegenstand zu berühren und sofort seine Geschichte zu wissen, zu sehen und zu fühlen, war es nicht allzu schwer für mich, Dinge zu finden oder Vorgänge zu erschließen. Sicher, wenn etwas fehlte, konnte ich das Ding selbst nicht berühren – sonst wäre es ja nicht verloren. Aber die Leute hinterließen überall Schwingungen – in Bezug auf alles Mögliche. Was sie zum Mittagessen gegessen hatten, welchen Film sie am Abend anschauen wollten, was sie von ihren angeblich besten Freunden wirklich hielten.
Gewöhnlich musste ich nur die Finger über den Schreibtisch eines Kerls gleiten lassen oder mich einmal durch die Handtasche eines Mädchens graben, um eine ziemlich gute Vorstellung davon zu bekommen, wo er seinen Geldbeutel liegen gelassen oder wo sie ihr Handy hingeschmissen hatte. Und wenn sich mir der exakte Fundort des verlorenen Gegenstandes nicht sofort erschloss, berührte ich einfach weiter Dinge, bis ich ihn fand – oder ein Bild von demjenigen vor meinem inneren Auge aufblitzte, der ihn vielleicht gestohlen hatte. Wie das Bild von Daphne Cruz, die das Bettelarmband von Carsons Schreibtisch nahm. Manchmal fühlte ich mich wie Kalle Blomquist oder vielleicht eher wie Gretel, die einer Spur aus übersinnlichen Brotkrumen folgt, bis sie findet, wonach sie sucht.
Es gibt sogar einen Namen für das, was ich kann – Psychometrie. Eine schicke, pseudowissenschaftliche Bezeichnung dafür, dass in meinem Kopf Bilder und die Gefühle anderer Leute aufblitzten – ob ich es nun will oder nicht.
Trotzdem, ein Teil von mir mochte es, die Geheimnisse der anderen zu kennen – all diese großen und kleinen Dinge zu wissen, die sie so verzweifelt vor anderen und manchmal sogar vor sich selbst versteckten. Es gab mir das Gefühl, klug und stark und mächtig zu sein – und löste in mir eine tiefe Entschlossenheit aus, niemals etwas Dummes anzustellen, wie mich zum Beispiel in Unterwäsche von einem Kerl fotografieren zu lassen.
Verlorene Handys wiederzufinden mochte nicht gerade der glamouröseste Job der Welt sein, aber es war besser, als bei MacD fettige Pommes zu wenden. Und hier auf Mythos verdiente ich damit um einiges besser als auf meiner alten Highschool. Dort hätte ich mich schon glücklich schätzen können, für ein verlorenes Armband zwanzig Dollar zu bekommen statt den zweihundert, die Carson mir gegeben hatte. Das zusätzliche Geld gehörte zu den wenigen Dingen, die ich an der dämlichen Akademie mochte.
»Wo war es?«, fragte Carson. »Das Armband, meine ich?«
Für einen Moment erwog ich, Daphne zu verpetzen und Carson von ihrer Schwärmerei für ihn zu erzählen. Aber nachdem die Walküre mich nicht übermäßig unfreundlich behandelt hatte und mir nur ein winziges bisschen gedroht hatte, entschied ich, diese Information für eventuell schlechtere Zeiten aufzusparen. Nachdem ich kein Geld hatte, nicht stark und auch nicht übermäßig magisch begabt war wie der Rest der Schüler auf der Akademie, waren Informationen mein einziges echtes Druckmittel. Ich sah keinen Grund, warum ich sie nicht schon einmal für alle Fälle sammeln sollte.
»Oh, ich habe es hinter deinem Schreibtisch im Wohnheim gefunden.« Na ja, den Rosenanhänger zumindest. Er war zwischen dem Schreibtisch und der Wand eingeklemmt gewesen.
Carson runzelte die Stirn. »Aber da habe ich gesucht. Ich weiß, dass ich gesucht habe. Ich habe überall danach gesucht.«
»Ich nehme an, dann hast du nicht genau genug hingeschaut«, gab ich unbestimmt zurück, bevor ich mein Buch über Mythengeschichte aus der Tasche zog.
Carson öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber in diesem Moment klopfte Professor Metis mit dem altmodischen Silberzepter, das sie als Zeigestab verwendete, auf den Tisch. Metis war griechischer Abstammung wie so viele Professoren und Schüler der Akademie. Sie war eine kleine, untersetzte Frau mit bronzefarbener Haut und schwarzem Haar, das sie immer hoch am Kopf zu einem strengen Dutt drapierte. Sie trug einen grünen Hosenanzug, und auf ihrer Nase saß eine silberne Brille.
Sie wirkte streng und ernst, aber Metis war eine der besseren Lehrkräfte auf Mythos. Zumindest versuchte sie, ihre Mythengeschichte interessanter zu machen, indem wir manchmal Spiele spielen durften oder Rätsel lösen, statt einfach immer nur langweilige Fakten auswendig zu lernen.
»Öffnet eure Bücher auf Seite neununddreißig«, sagte Professor Metis, während ihre weichen, grünen Augen von Schüler zu Schüler wanderten. »Heute werden wir noch ein wenig über das Pantheon reden, dessen Krieger gekämpft haben, um Loki und seine Schnitter des Chaos zu besiegen.«
Anscheinend war heute keiner der unterhaltsamen Tage. Ich verdrehte die Augen und folgte ihrer Anweisung.
Zusätzlich zu der Tatsache, dass ich mit all den mythologischen Kriegerkindern auf eine Schule ging, musste ich auch noch ihre ganze dämliche Geschichte lernen. Und natürlich gab es da eine Gruppe guter Magiekerle, die sich unter dem Namen »Pantheon« zusammengeschlossen hatten, um gegen eine Gruppe böser Magiekerle zu kämpfen, die Schnitter genannt wurden und, na ja, das Chaos über alle hereinbrechen lassen wollten.
Bis jetzt hatte Professor Metis nur sehr vage darüber gesprochen, was genau das Chaos war, und ich hatte diesem ganzen magischen Hokuspokus auch nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Meiner Vermutung nach bedeutete es Tod, Zerstörung und Blablabla. Ich las viel lieber die Comics, die ich in meiner Umhängetasche mit mir herumtrug. Zumindest beschäftigten die sich ansatzweise mit der Realität. Genetische Mutationen gab es immerhin wirklich.
Aber miteinander kämpfende Götter und Göttinnen, die magische Wunderkinder einsetzten, um antike Kriege in moderner Zeit auszufechten? Mit mythologischen Monstern, die einfach für den Spaß an der Sache auch noch mitmachten? Ich war mir wirklich nicht sicher, ob ich das alles glaubte. Aber alle hier auf Mythos taten es. Für sie waren Mythen nicht einfach nur Geschichten – sie waren Geschichte, sogar Fakt, und alles war absolut real.
Während Professor Metis sich wieder einmal darüber ausließ, wie absolut böse die Schnitter waren, starrte ich aus dem Fenster und musterte mein Spiegelbild in der Scheibe. Lockige braune Haare, ein paar Sommersprossen auf meiner herbstlich bleichen Haut und Augen in einem seltsamen Purpurton, der von der Farbe meines Kapuzenpullis noch betont wurde.
Purpurne Augen sind lächelnde Augen, hatte meine Mom mich immer aufgezogen. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe gehabt, aber ich war immer der Meinung gewesen, dass sie bei ihr wunderschön aussahen, während sie mich nur wirken ließen wie einen Freak.
Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Herzen aus. Ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, ich könnte die Zeit zurückdrehen und dafür sorgen, dass alles wieder so wurde, wie es gewesen war, bevor ich auf die Mythos Academy gekommen war.
Vor sechs Monaten war ich ein normaler Teenager gewesen. Na ja, so normal, wie ein Mädchen mit einer seltsamen Gabe eben sein konnte. Aber die Gypsygabe lag nun einmal in der Familie Frost. Meine Oma, Geraldine, konnte in die Zukunft sehen. Meine Mom, Grace, hatte allein durch Zuhören bestimmen können, ob Leute logen oder die Wahrheit sagten. Und ich hatte die Fähigkeit, Dinge zu sehen, zu wissen und zu fühlen, indem ich einfach nur eine Person oder einen Gegenstand berührte. Aber unsere Gypsygaben waren immer nur das gewesen – Gaben, wenig aufsehenerregende Fähigkeiten –, und ich hatte nicht allzu viel darüber nachgedacht. Weder darüber, woher sie kamen, noch darüber, ob andere Leute wohl ähnliche Magie besaßen.
Bis zu dem Tag, an dem ich nach dem Sportunterricht Paige Forrests Haarbürste angefasst hatte.
Wir standen nach einem Basketballspiel in der Umkleide und zogen uns um. Ich hasste Basketball, weil ich total unbegabt war. Wirklich, ich war schrecklich. So schlecht, dass ich es schaffte, mir selbst den Ball an den Kopf zu knallen, wenn ich versuchte, auf den Korb zu werfen.
Nach dem Unterricht war mir heiß, ich war verschwitzt, und ich wollte mir die Haare zu einem Pferdeschwanz binden. Paiges Bürste lag auf der Bank zwischen uns. Paige war keine meiner engeren Freundinnen, aber wir gehörten zur selben, halb beliebten Gruppe relativ kluger Mädchen. Manchmal unternahmen wir etwas zusammen, wenn die Clique sich traf, also hatte ich sie gefragt, ob ich ihre Bürste benutzen durfte.
Paige starrte mich eine Sekunde lang an, und in ihren Augen stand ein seltsamer Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. »Sicher.«
Ich hob die Bürste hoch, ohne ernsthaft damit zu rechnen, etwas zu spüren. Trotz meiner Psychometrie empfing ich gewöhnlich kaum Schwingungen von normalen Alltagsgegenständen wie Stiften, Computern, Tellern oder Telefonen – Dinge an öffentlichen Orten, die von vielen Leuten benutzt wurden oder die einfache, klar definierte Aufgaben erfüllten. Richtige Knüller, tiefe, lebhafte, hochauflösende Visionen blitzten gewöhnlich nur auf, wenn ich Sachen berührte, zu denen Leute einen persönlichen Bezug hatten – wie ein besonders geliebtes Foto oder ein Schmuckstück, mit dem jemand besondere Erinnerungen verband.
Aber sobald sich meine Hand um die Bürste schloss, hatte ich ein Bild von Paige im Kopf, die mit einem älteren Mann auf ihrem Bett saß. Er bürstete ihr genau einhundert Mal ihr langes, schwarzes Haar, wie man es angeblich immer machen soll. Dann, als er fertig war, öffnete der Mann Paiges Bademantel, drängte sie dazu, sich auf den Rücken zu legen, und begann, sie zu berühren, bevor er seine Hose öffnete.
In diesem Moment hatte ich angefangen zu schreien, und ich hörte nicht mehr auf.
Nach ungefähr fünf Minuten fiel ich in Ohnmacht. Meine Freundin Bethany erzählte mir später, dass ich trotzdem weitergeschrien hatte, selbst als der Notarzt kam, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Alle dachten, ich hätte einen epileptischen Anfall oder etwas in der Art.
Doch ich glaube, Paige wusste es. Sie wusste von meiner Gypsygabe und meinen Fähigkeiten. Zwei Wochen zuvor hatte sie mich gebeten, ihr verloren gegangenes Handy zu finden. Ich war durch Paiges Zimmer gewandert und hatte ihren Schreibtisch, ihren Nachttisch, ihre Tasche und ihre Bücherregale berührt. Schließlich war ein Bild ihrer kleinen Schwester vor meinem inneren Auge aufgeblitzt, die das Telefon klaute, um Paiges SMS zu lesen. Manchmal frage ich mich, ob Paige ihre Bürste auf die Bank gelegt hatte, damit ich sie aufhob. Einfach, damit jemand davon erfuhr, damit jemand mitfühlte, was genau sie durchmachen musste.
Später an diesem Tag war ich im Krankenhaus wieder aufgewacht. Meine Mom, Grace, war da, und ich erzählte ihr, was ich gesehen hatte. Das sollte man tun, wenn einer Freundin etwas Schreckliches zustößt. Ich tat es außerdem, weil meine Mom eine Ermittlungsbeamtin bei der Polizei war, die ihr Leben damit verbracht hatte, anderen Leuten zu helfen. Ich wollte einmal genau so werden wie sie.
An diesem Abend verhaftete meine Mom Paiges Stiefvater wegen sexuellen Missbrauchs. Meine Mom rief mich vom Polizeirevier aus an und erklärte mir, dass Paige jetzt in Sicherheit sei. Sie versprach mir, in einer Stunde zu Hause zu sein. Sie wollte nur noch die Berichte fertig machen.
Sie kam nie zu Hause an.
Das Auto meiner Mom wurde an diesem Abend, nachdem sie das Polizeirevier verlassen hatte, von einem betrunkenen Fahrer gerammt. Grandma Frost erklärte mir, sie sei sofort tot gewesen. Sie habe nie auch nur gesehen, wie das andere Auto auf sie zuraste, und auch beim Aufprall keinen Schmerz mehr gespürt. Ich hoffte inständig, dass das der Wahrheit entsprach, weil meine Mom in dem Unfall so zerquetscht worden war, dass bei der Beerdigung der Sarg geschlossen blieb. Zumindest, soweit ich mich erinnern konnte.
Danach war ich nicht mehr an meine alte Schule zurückgekehrt. Meine Freunde waren supernett gewesen, besonders Bethany, aber ich wollte niemanden sehen. Ich hatte nichts anderes mehr getan, als auf meinem Bett zu liegen und zu weinen.
Aber eines Tages, drei Wochen nach der Beerdigung meiner Mom, war Professor Metis im Haus von Grandma Frost aufgetaucht. Ich wusste nicht genau, was Metis ihr gesagt hatte, aber danach hatte Grandma verkündet, dass es endlich Zeit für mich sei, auf die Mythos Academy zu gehen, um zu lernen, meine Gypsygabe voll zu nutzen. Ich hatte gedacht, ich könnte meine Psychometrie schon recht gut kontrollieren, und ich hatte nie wirklich verstanden, was meine Grandma meinte, als sie endlich gesagt hatte. Als hätte ich schon längst in die Mythos Academy gehen sollen oder irgendwas …
»… Gwen?«
Mein Name riss mich aus den Erinnerungen. »Was?«
Metis musterte mich über die Gläser ihrer Brille hinweg. »Ich habe dich gefragt, welche Göttin für den Sieg des Pantheons über Loki und die Schnitter verantwortlich war.«
»Nike, die griechische Göttin des Sieges«, antwortete ich automatisch.
Professor Metis runzelte die Stirn. »Woher weißt du das, Gwen? Ich habe Nike noch gar nicht erwähnt. Hast du bereits das nächste Kapitel gelesen? Sehr fleißig.«
Ich hatte genau das am gestrigen Abend getan, hauptsächlich, weil ich mich unglaublich gelangweilt hatte und nichts Anständiges im Fernsehen gelaufen war. Angesichts meines Mangels an Freunden in Mythos war es ja nicht so, als hätte ich sonst viel zu tun.
Ich ging nicht davon aus, dass Metis mich mit ihren Worten bloßstellen wollte, trotzdem breitete sich leises Kichern im Raum aus. Ich wurde rot und ließ mich ein wenig tiefer in meinen Stuhl sinken. Großartig. Jetzt würden mich alle für diese Strebergypsy halten, die nichts Besseres zu tun hatte, als vorzulernen. Vielleicht war es ja wahr, und vielleicht war ich tatsächlich unglaublich stolz auf meinen Einser-Schnitt, aber ich wollte nicht, dass die anderen davon erfuhren.
Dann ging mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, woher ich die Antwort auf Metis’ Frage wusste. Ich hatte keinerlei Erinnerung an eine Erwähnung von Nike in dem Kapitel, das ich gelesen hatte. Aber nachdem das bei Weitem nicht das Seltsamste war, das mir bisher auf Mythos passiert war, verdrängte ich die Frage wieder.
Professor Metis brachte den Jungen, der am lautesten lachte, mit einem strengen Blick zum Schweigen, bevor sie ihm eine sogar noch abwegigere Frage über die Schnitter stellte.
Sobald ich mir sicher war, dass Metis mich nicht noch einmal aufrufen würde, starrte ich wieder aus dem Fenster und brütete weiter über der Tatsache, dass ich am Tod meiner Mutter schuld war, weil ich die Haarbürste des falschen Mädchens hochgehoben hatte.
Mythengeschichte war meine letzte Stunde an diesem Tag. Sobald es klingelte, stopfte ich mein Buch in die Tasche.
»Bis dann, Gwen.«
Carson Callahan rief mir einen fröhlichen Gruß hinterher, während er die Plastiktüte mit dem Bettelarmband in die Tasche seiner Designertarnhose schob. Ich nickte ihm zu, warf mir meine Tasche über die Schulter und ging.
Ich wanderte den überfüllten Flur entlang, nahm die erste Tür, die ich fand, und trat nach draußen. Das Herz der Mythos Academy bestand aus fünf Gebäuden – das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebäude, das Gebäude für Englisch und Geschichte, die Turnhalle, der Speisesaal und die Bibliothek. Alle standen in einer lockeren Gruppe beisammen und bildeten die fünf Spitzen eines Sterns. Obwohl ich jetzt schon seit zwei Monaten auf diese Schule ging, sahen die Gebäude für mich immer noch alle gleich aus – dunkelgraue Steinmauern, die von dicken Efeuranken überwachsen waren. Große, unheimliche gotische Strukturen mit Türmen und Zinnen und Balkonen. Auf allen Gebäuden kauerten Statuen der verschiedensten mythologischen Monster wie Greife und Drachen. Ihre Mäuler waren in schweigendem Knurren aufgerissen.
Zwischen den fünf Gebäuden lag ein riesiger begrünter Hof, über den sich gewundene Pfade zogen. Dahinter führte ein Weg den Hügel hinab und erreichte schließlich die Wohnheime und die anderen Bauwerke, die zum luxuriösen Schulgelände gehörten. Überall gedieh trotz der Oktoberkälte grünes Gras, und hier und da breiteten große Ahornbäume und Eichen ihre dicken Äste, an denen die letzten Blätter blutrot und grellorange leuchteten, über die Wiesen.
Ich schloss meine Kapuzenjacke, stopfte die Hände in die Taschen und ging quer über den Hof, wobei ich den Schülergruppen auswich, die anhielten, um sich zu unterhalten oder ihre Handys herauszuziehen und ihre SMS zu lesen. Ich hatte den Platz schon halb überquert, als ein hohes, melodisches Lachen an meine Ohren drang.
Ich drehte mich um und entdeckte Jasmine Ashton, die unter dem ausladenden Ahornbaum in der Mitte des Platzes Hof hielt.
Jasmine Ashton war das beliebteste Mädchen in meiner Klasse, die aus siebzehnjährigen Schülern im zweiten Jahr bestand. Jasmine war außerdem eine Walküre mit blonder Mähne, leuchtend blauen Augen und den teuersten Designerklamotten, die man für Geld kaufen konnte. Sie war die Art von Mädchen, neben dem jede andere Person unscheinbar aussah – sogar ihre dünnen, hinreißenden, ähnlich gekleideten Freundinnen. Jasmine saß auf einer eisernen Bank unter dem Ahornbaum, schaute auf den Laptop, den sie auf dem Schoß hielt, und kicherte zusammen mit Morgan McDougall, ihrer besten Freundin.
Mit ihren schwarzen Locken, den braunen Augen, einem kurvigen Körper und den superkurzen Röcken, die Morgan immer trug, war sie nur ein kleines bisschen weniger gut aussehend und beliebt als Jasmine. Das machte sie zur Diva Nummer zwei in unserem Jahrgang. Morgans Ruf einer Superschlampe, die mit so gut wie jedem schlief, sorgte allerdings dafür, dass sie bei den Jungs die Nummer eins war. Natürlich.
Zwei weitere Mädchen saßen neben Jasmine und Morgan, während Daphne Cruz vor der Bank auf einer Wolldecke herumlungerte. Die Walkürenprinzessinnen neigten dazu, im Rudel aufzutreten.
Die Mädchen waren nicht allein. Hinter Jasmine stand Samson Sorensen und rieb ihr mit der andächtigen Hingabe eines Sklaven die Schultern. Kein Wunder, war der Wikinger doch Jasmines Freund und noch dazu einer der süßesten Jungs auf der Schule. Sandbraune Haare, braune Augen, Grübchen. Samson hätte jederzeit als Calvin-Klein-Model durchgehen können. Außerdem war er der Kapitän des Schwimmteams. Hier gab es nämlich kein Football. Alle Schüler der Mythos Academy übten ausgefallene Etepetete-Sportarten aus wie Schwimmen, Tennis, Bogenschießen oder Fechten. Wirklich, Fechten. Wozu sollte das gut sein?
Jasmine und Samson zusammen zu sehen, war, als hätte man eine lebensgroße Ausgabe von Barbie und Ken vor sich, so perfekt wirkten sie nebeneinander. Als wären sie füreinander geschaffen.
Die anderen Schüler der Mythos Academy mochten mich ja nicht groß beachten, aber trotzdem hörte ich jede Menge interessanten Klatsch. Den Gerüchten zufolge gab es Ärger im Paradies des glücklichen Paars. Anscheinend war Samson bereit, ES wirklich durchzuziehen, nachdem er und Jasmine schon seit einem Jahr miteinander gingen. Aber sie wollte ihre Jungfräulichkeit noch nicht aufgeben …
Ich war so damit beschäftigt, die Gruppe anzustarren, dass ich in einen Kerl lief, der den Hof in die andere Richtung überquerte. Und natürlich rutschte mir dabei die Tasche von der Schulter, und meine Bücher verteilten sich über den Boden. Bei Mädchen wie mir läuft es einfach so.
»Tut mir leid«, murmelte ich, fiel auf die Knie und versuchte, alles zurück in meine Tasche zu stopfen, bevor jemand die Sachen genauer ansehen konnte. Besonders die inzwischen leere Schachtel Schokoladenkekse, die Grandma Frost für mich gebacken hatte, und die Comics, die ebenfalls herausgefallen waren. Die bunten Seiten bewegten sich im Wind wie Libellenflügel.
Statt um mich herumzugehen, wie ich es eigentlich erwartet hatte, entschied sich der Kerl dafür, neben mir niederzuknien. Ich sah ihn kurz an. Es dauerte eine Sekunde, bis ich ihn erkannte, aber dann erstarrte ich. Ich war gegen Logan Quinn gelaufen.
Oh, oh.
Selbst unter den reichen Kriegerkindern auf Mythos war Logan Quinn die Art von Kerl, die jedem Angst machte. Er tat, was er wollte, wann immer er es wollte. Und oft beinhaltete das, Leuten wehzutun.
Alles an Logan schrie »gefährlicher Rebell«, von seinem dichten, tintenschwarzen Haar über seine strahlend blauen Augen bis zu der schwarzen Lederjacke, die seine breiten Schultern noch betonte. Natürlich, er war sexy, auf eine raue, verknitterte »Ich bin gerade aus dem Bett eines Mädchens geklettert«-Art. Anscheinend wurde Logan seinem Ruf auch gerecht und hatte bereits mit den meisten, wenn nicht allen, der coolsten Mädchen auf der Schule geschlafen. Angeblich signierte er die Matratzen derjenigen, bei denen er zum Zug gekommen war, um überhaupt die Übersicht zu behalten. Die anderen Jungs hatten angefangen, dasselbe zu tun, wenn auch nicht mit demselben Erfolg wie Logan. Außer vielleicht im Zimmer von Morgan McDougall.
Außerdem entstammte Logan Quinn einer langen Ahnenreihe von Spartanern. Ja, die Spartaner, die Krieger, die bei der antiken Schlacht an den Thermopylen Tausende Gegner zurückgehalten haben, bevor die meisten von ihnen ins Gras gebissen hatten. Die Schlacht, die von Gerard Butler und seinem definierten Sixpack in 300 zum Leben erweckt worden war. Vor drei Wochen hatte uns Professor Metis den Film im Unterricht gezeigt, bevor sie sich darangemacht hatte, uns die geschichtliche Bedeutung der Schlacht zu erklären. Aber Gerards Sixpack hatte mich so sehr beeindruckt, dass ich in Tagträumereien versunken war, ohne der Metis weiter zuzuhören.
Es gab nur eine Handvoll Spartaner auf Mythos, aber alle anderen Schüler behandelten sie wie rohe Eier. Selbst die Reichsten, Hochnäsigsten unter ihnen wussten, dass sie besser keinen Spartaner angingen. Zumindest nicht direkt. Das lag daran, dass die Spartaner unangefochten die besten Kämpfer auf der Akademie waren. Spartaner waren die geborenen Krieger. Das war alles, was sie konnten. Das war alles, was sie je taten.
Anders als die anderen trug Logan Quinn keine Waffe mit sich herum. Soweit ich gesehen hatte, tat das auch der Rest der Spartaner nicht. Sie hatten es nicht nötig. Spartaner waren unter anderem dafür bekannt, dass sie jede Waffe – oder jedes Ding – nur in der Hand halten mussten, um sofort zu wissen, wie man jemanden damit umbrachte. Ehrlich. Logan Quinn war die Art von Kerl, die mich mit einer Zuckerstange umbringen konnte, indem er sie mir ins Auge rammte.
Manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich diesen ganzen Wahnsinn um mich herum wirklich glaubte. Spartaner und Walküren und Schnitter. Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht irgendwo in einem Irrenhaus saß und das alles nur träumte. Wie Buffy. Aber wenn es so wäre, sollte man doch meinen, dass ich mehr Spaß hätte und mich selbst wenigstens in die Rolle einer Walkürenprinzessin träumen würde oder irgendwas …
Logan streckte die Hand nach einem der Wonder Woman-Comics aus, die ich in meiner Tasche gehabt hatte. Die Bewegung riss mich aus meiner Erstarrung.
»Gib das her!«
Ich grapschte nach dem Comicbuch im Gras. Ich wollte nicht, dass Logan Quinn meine Sachen mit seinen unheimlichen, spartanischen Psychokillerschwingungen verseuchte. Das konnte ganz leicht passieren, wenn er sie berührte. So wurden Dinge überhaupt mit Gefühlen aufgeladen – indem Leute sie berührten, mit ihnen umgingen und sie benutzten. Ich stopfte Wonder Woman tief in meine Tasche, zusammen mit allen anderen Comics und der leeren Dose in der Form der Schokokekse, die sie einst enthalten hatten.
Logan zog eine Augenbraue hoch, kommentierte meinen panischen Anfall aber nicht.
»Tut mir leid, dass ich gegen dich gelaufen bin«, murmelte ich wieder, als ich aufstand. »Bring mich nicht um, okay?«
Logan kam ebenfalls auf die Beine, und dieses Mal verzog sich sein Mund zu etwas, was fast aussah wie ein Lächeln. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Gypsymädchen sind schrecklich einfach zu töten. Würde mich gerade mal eine Sekunde kosten.«
Seine Stimme war tiefer, als ich erwartet hatte, volltönend und ein wenig rau. Überrascht sah ich auf und blickte ihm ins Gesicht – wo ich in seinen Augen Erheiterung aufblitzen sah.
Ich runzelte die Stirn. Ich mochte es nicht, aufgezogen zu werden, nicht einmal von einem gefährlichen Kerl wie Logan Quinn. »Na ja, dieses Gypsymädchen hat zufällig eine Großmutter, die dich so verfluchen kann, dass dein Schniedel schwarz wird und abfällt. Also pass auf, Spartaner.«
Das war natürlich nicht wahr. Meine Grandma Frost sah in die Zukunft. Sie verfluchte keine Leute – zumindest nicht, soweit ich wusste. Das war bei Grandma manchmal schwer zu sagen. Aber Logan Quinn musste ja nicht wissen, dass ich nur bluffte.
Anstatt eingeschüchtert auszusehen, verzog er den Mund wieder zu diesem Fast-Lächeln. »Ich glaube, ich beobachte lieber, wie du weitergehst, Gypsymädchen.«
Ich runzelte die Stirn. Was sollte das – flirtete er tatsächlich mit mir? Ich war mir nicht sicher, und ich wollte auch nicht länger bleiben, um es herauszufinden. Ich behielt Logan Quinn im Blick, während ich mich an ihm vorbeischob und weitereilte.
Aber aus irgendeinem Grund verfolgte mich sein leises Lachen auf dem gesamten Weg über den Hof.
Ich ließ den ebenen, grasbewachsenen Hof hinter mir, schlenderte an den Wohnheimen und den anderen, kleineren Außengebäuden vorbei und erreichte den Rand des Schulgeländes, wo eine fast vier Meter hohe Steinmauer die Mythos Academy vom Rest der Welt trennte. Rechts und links vom Tor lauerten zwei Sphingen auf der Mauer und starrten das schwarze, schmiedeeiserne Gitter an, das zwischen ihnen lag.
Angeblich waren die Mauer und das Tor verzaubert, getränkt mit magischen Sprüchen und anderem Hokuspokus, sodass nur Leute, die berechtigt waren, sich in der Akademie aufzuhalten – Schüler, Lehrer und so weiter –, das Tor durchqueren konnten. Als ich am Anfang des Herbstsemesters nach Mythos gekommen war, hatte Professor Metis mich vor dem Tor anhalten lassen, direkt vor den zwei Sphingen, während sie mit leiser Stimme ein paar Worte gesprochen hatte. Die Statuen hatten sich nicht bewegt, hatten nicht geblinzelt, hatten nichts anderes getan, als starr auf ihren Logenplätzen zu sitzen, aber trotzdem hatte ich in den Steinfiguren etwas gespürt – irgendeine alte, uralte, gewalttätige Macht, die mich in Stücke reißen konnte, wenn ich nur einen falschen Atemzug tat. Das war meine erste unheimliche Erfahrung auf Mythos gewesen. Zu dumm, dass es nicht die letzte geblieben war.
Nachdem Metis ihren Singsang, Zauber oder was auch immer beendet hatte, erklärte sie mir, dass ich das Schulgelände jetzt jederzeit betreten könne. Als hätte ich das Passwort zum supergeheimen Unterschlupf der Superhelden erhalten oder so. Ich wusste nicht genau, was passieren würde, wenn jemand, der nicht hierher gehörte – nehmen wir mal an einer von den bösen Schnittern –, versuchen sollte, über die Mauer zu klettern oder sich durchs Tor zu mogeln. Aber ich ging davon aus, dass diese Sphingen mit ihren langen, gebogenen Krallen nicht nur der Dekoration dienten.
Ich dachte hier über eine Menge Sachen nach, die ich besser einfach vergessen hätte.
Metis hatte mir außerdem erklärt, dass die Sphingen nur geschaffen worden seien, um Leute fernzuhalten. Sie dienten nicht dazu, die Schüler gefangen zu halten, und ich solle keine Angst vor ihnen haben. Es fiel mir sowieso recht schwer, Angst vor etwas zu haben, an das ich nicht wirklich glaubte. Zumindest redete ich mir das jedes Mal ein, wenn ich mich vom Campus schlich.
Ich sah mich kurz um und überzeugte mich davon, dass niemand sonst zu sehen war. Dann joggte ich zum Tor, drehte mich seitlich, zog den Bauch ein und schob mich durch einen der Freiräume zwischen den Gittern. Ich schaute nicht zu den Sphingen auf, hatte aber das Gefühl, ihre wachsamen Augen auf mir zu spüren. Sie sind nur Statuen, beruhigte ich mich selbst. Einfach Statuen. Und hässlich dazu. Sie können mir nicht wehtun. Wie denn?
Eine Sekunde später war ich durch. Ich atmete auf und ging weiter. Ich drehte mich nicht um oder sah zu den Statuen zurück, um festzustellen, ob sie mich vielleicht doch beobachteten. Egal, ob ich nun an die Magie der Sphingen glaubte oder nicht, ich war klug genug, das Schicksal nicht herauszufordern.
Schüler durften den Campus unter der Woche eigentlich nicht verlassen. Deswegen war auch das Tor geschlossen. Professor Metis und die anderen Mächtigen der Schule hatten die ganzen Krieger-Checker lieber in ihrer Nähe, wo sie ein Auge auf sie haben konnten. Zumindest an Wochentagen.
Aber ich schlich mich vom Gelände, seit ich vor zwei Monaten auf Mythos angekommen war, und ich hatte gesehen, wie andere Schüler das Gleiche taten. Meistens, um Bier oder Zigaretten zu holen. Was war das Schlimmste, was sie mir deswegen antun konnten? Mich rauswerfen? Nach all dem unheimlichen Zeug, das ich hier beobachtet hatte, wäre ich begeistert, wieder auf eine öffentliche Highschool zu gehen. Ich würde mich nicht mal mehr über das schlechte Essen in der Cafeteria beschweren – zumindest nicht allzu laut.
Mythos mochte ja seine eigene kleine Welt bilden, aber jenseits der Mauern wirkte alles erstaunlich normal. Cypress Mountain war eine nette, eigenständige kleine Vorstadt. Vor der Schule kurvte eine zweispurige Straße vorbei, und direkt gegenüber dem eindrucksvollen, mit Spitzen bewehrten Eisentor lagen verschiedene Läden. Ein Buchladen, ein paar Cafés, mehrere hochpreisige Kleidungs- und Schmuckläden, sogar ein Autohändler mit Aston Martins und Cadillac Escalades. Und natürlich ein paar gehobene Weingeschäfte, die es den Akademieschülern erlaubten, rauschende Feste zu feiern, obwohl auf dem Schulgelände Alkohol angeblich verboten war.
Die Läden hatten sich hier angesiedelt, um die Platin-Kreditkarten und die fast bodenlosen Treuhandfonds der Mythos-Schüler auszunutzen. Anscheinend hatten die Götter und Göttinnen ihre mythologischen Krieger in der Vorzeit alle mit Säcken voller Gold, Silber und Juwelen belohnt, und die verschiedensten Nachkommen dieser Krieger hatten sich um das Geld gekümmert und es über die Jahre vermehrt. Das war der Grund, warum alle Kinder auf der Akademie so reich waren.
Ich wartete auf eine Lücke im Verkehr, überquerte die Fahrspuren und ging zu der Bushaltestelle am Ende der Straße. Ich musste nur fünf Minuten warten, dann rumpelte der Bus auf seiner nachmittäglichen Route vorbei, um Touristen und jeden anderen, der Cypress Mountain verlassen wollte, in die Stadt zu bringen. Zwanzig Minuten und mehrere Kilometer später stieg ich in einem Viertel aus, das nur ein paar Straßen von Ashevilles schicker Innenstadt mit ihren Antiquitätenläden und Restaurants trennte.
Wenn Cypress Mountain eine abgefahrene Version vom Olymp war, vollgestopft mit den ganzen reichen Krieger-Checkern, dann war Asheville definitiv der Ort, an dem die ärmeren Sterblichen lebten. Hier säumten ältere, schon ein wenig verwitterte Häuser die Straßen, überwiegend zwei- oder dreistöckige Gebäude, die in Wohnungen aufgeteilt worden waren. Grandma Frost hatte ihr gesamtes Leben im selben Haus verbracht, und meine Mom und ich hatten nur ein paar Kilometer entfernt in einem von Ashevilles moderneren, aber bescheidenen Vierteln gewohnt. Zumindest hatte ich nicht durchs halbe Land umziehen müssen oder so was, um nach Mythos zu gehen. Ich glaube nicht, dass ich es überlebt hätte, so weit von Grandma Frost entfernt zu leben. Sie war die einzige Familie, die ich nach dem Tod meiner Mom noch hatte. Mein Dad, Tyr, war an Krebs gestorben, als ich zwei war, und ich hatte keinerlei Erinnerung an ihn. Da waren nur die verblassten Fotos, die meine Mom mir gezeigt hatte.
Ich wanderte ans Ende des Blocks und hüpfte die grauen Betonstufen zu einem zweistöckigen Haus hinauf, das in fahlem Lavendelblau gestrichen war. Ein kleines Schild neben der Eingangstür verkündete: Hellseherei hier.
Ich öffnete die Fliegentür, dann schloss ich mit meinem Schlüssel die eigentliche Eingangstür auf. Als ich in den Flur trat, war die schwere, schwarz lackierte Tür zu meiner Rechten geschlossen. Dahinter hörte ich das Murmeln von Stimmen. Grandma Frost schien gerade jemandem die Zukunft vorauszusagen. Grandma nutzte ihre Gypsygabe, um zusätzliches Geld zu verdienen, genau wie ich es tat.
Ich ging den Flur entlang, der sich quer durchs Haus zog, und bog schließlich nach links in die Küche ab. Anders als der Rest des Hauses mit seinen dunklen Holzverkleidungen und dem tristen grauen Teppich war die Küche weiß gefliest und hatte himmelblau gestrichene Wände. Ich warf meine Tasche auf den Tisch und holte den Hunderter aus der Jeanstasche, den Carson Callahan mir gegeben hatte. Dann stopfte ich das Geld in eine Dose, die aussah wie ein riesiger Schokoladenkeks. Sie hatte große Ähnlichkeit mit der Dose in meiner Tasche.
Seit ich auf die Mythos Academy ging, gab ich Grandma Frost immer die Hälfte des Geldes, das ich verdiente. Sicher, meine Grandma hatte genug eigenes Geld, mehr als genug, um uns beide über Wasser zu halten. Aber ich half gerne ein wenig aus, besonders seit meine Mom nicht mehr da war. Außerdem gab es mir das Gefühl, etwas Sinnvolles mit meiner Gypsygabe zu tun, abgesehen davon, die verlorenen BHs von Mädchen zu finden, die es hätten besser wissen müssen, als sie überhaupt erst auszuziehen.
Ich betrachtete die restlichen Scheine in der Dose. Grandma hatte mit ihrer Wahrsagerei offensichtlich eine gute Woche gehabt. Ich entdeckte zwei weitere Hunderter, zusammen mit ein paar Fünfzigern und einigen Zwanzigern.
Die Stimmen im anderen Raum murmelten immer noch, also stürzte ich mich auf den Kühlschrank. Ich machte mir ein Tomatensandwich mit Salz, Pfeffer und ein wenig Dill. Dann vollendete ich das Werk mit einer dicken Scheibe scharfem Cheddarkäse und einer Lage cremiger Mayonnaise. Das alles packte ich auf eine Scheibe von meinem geliebten malzigen Sauerteigbrot. Zum Nachtisch schnitt ich mir ein Stück von dem süßen, luftigen Kürbiskuchen ab, den Grandma in den Kühlschrank gestellt hatte. Ich leckte die Reste der Quarkfüllung vom Messer. Hmmm. So lecker.
Alle Frost-Frauen waren, neben ihren Gypsygaben, auch schreckliche Schleckermäuler. Ehrlich, wenn irgendwo Zucker oder Schokolade drin war (bevorzugt beides), verschlangen Grandma und ich es sofort. Meine Mom war genauso gewesen. Grandma war zudem eine phantastische Köchin und noch bessere Bäckerin, also gab es in ihrer Küche immer süße Sünden, gewöhnlich frisch aus dem Ofen.
Ich aß mein Mittagessen und kratzte noch die letzten Reste des Kürbiskuchens mit der Gabel vom Teller, dann räumte ich auf. Sobald das erledigt war, zog ich meinen Wonder Woman-Comic heraus und machte es mir am Küchentisch gemütlich, um darauf zu warten, dass Grandma Frost mit ihrem Kunden fertig wurde.
Ja, vielleicht machte mich meine Vorliebe für Superhelden noch seltsamer, als ich sowieso schon war, aber ich las gerne Comics. Die Zeichnungen waren cool, die Charaktere interessant, und die Heldin gewann am Ende immer, egal was zwischendrin an Katastrophen geschah. Ich wünschte mir, das wahre Leben wäre so. Dann hätte meine Mom ihren Autounfall irgendwie überlebt, wie so viele meiner Helden in den Comics es getan hatten.
Der alte, vertraute Schmerz breitete sich in meinem Herzen aus, aber ich verdrängte die traurigen Gedanken und versenkte mich in die Geschichte, verlor mich in dem Abenteuer, bis ich vergessen konnte – oder fast vergessen konnte –, wie mies mein Leben war.
Ich hatte gerade die letzte Seite umgeblättert, als meine Grandma in die Küche trat.
Geraldine Frost trug eine purpurne Bluse aus dünner Seide, zusammen mit weiten schwarzen Hosen und Pantoffeln, die vorne nach oben gebogen waren und ihr das Aussehen eines Flaschengeistes verliehen. Nicht dass man wirklich hätte erkennen können, was sie anhatte, da Tücher fast ihren gesamten Körper verhüllten. Purpur, grau, smaragdgrün. All diese Farben leuchteten durcheinander, während falsche Silbermünzen an den langen, fransigen Enden klingelten.
Ringe mit großen Schmucksteinen steckten auf ihren knorrigen Fingern, und um ihren rechten Knöchel zog sich eine dünne Silberkette. Ihr stahlgraues Haar fiel ihr bis auf die Schultern, zurückgehalten nur von dem Tuch, das sie als Stirnband benutzte. Aus ihrem gebräunten, faltigen Gesicht strahlten purpurne Augen.
Grandma Frost sah aus, wie ich mir immer eine echte Gypsy vorgestellt hatte – und damit genau so, wie ihre Kunden es erwarteten, wenn sie sich die Zukunft voraussagen ließen. Grandma behauptete immer, dass die Leute genauso für ihr Aussehen zahlten wie für ihre Vorhersagen, und erklärte, dass eine alte, weise, mysteriöse Gypsy einfach bessere Trinkgelder bekam.
Ich wusste nicht genau, was uns zu Gypsies machte. Wir benahmen uns nicht wie irgendwelche Gypsies, von denen ich je gelesen hatte. Wir lebten nicht in Pferdewagen, und wir wanderten nicht von Stadt zu Stadt, um Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber ich war Gypsy genannt worden, seit ich denken konnte, und so sah ich mich selbst.
Vielleicht lag es daran, dass ich eine Frost war. Grandma hatte mir erklärt, es sei in unserer Familie Tradition, dass die Frauen ihren Namen behielten, weil sich unsere Gypsygaben, unsere Macht, von der Mutter auf die Tochter vererbten. Also hatte ich, obwohl meine Eltern verheiratet gewesen waren, den Nachnamen meiner Mom Grace geerbt statt den Nachnamen meines Vaters, Tyr, der Forseti gelautet hatte.
Oder vielleicht war es unsere Gabe selbst, die uns zu Gypsies machte – die seltsamen Dinge, die wir tun und sehen konnten. Ich wusste es nicht, und weder meine Mom noch meine Grandma hatten es mir je wirklich erklärt. Allerdings hatte ich auch kaum nachgefragt, bevor ich nach Mythos gekommen war, wo alle genau wussten, was sie waren, was sie konnten, woher sie kamen und wie voll das Konto ihrer Eltern war.
Manchmal fragte ich mich, wie viel Grandma Frost eigentlich über die Akademie, den Kriegernachwuchs, die Schnitter und den Rest wusste. Schließlich hatte sie nicht gerade lauthals widersprochen, als Professor Metis bei uns erschienen war, um zu verkünden, dass ich die Schule wechseln würde. Grandma hatte eher schicksalsergeben gewirkt, als hätte sie immer gewusst, dass Metis früher oder später auftauchen würde. Natürlich hatte ich meiner Grandma alles über die seltsamen Dinge erzählt, die in Mythos passierten, aber sie hatte nie auch nur mit der Wimper gezuckt. Und jedes Mal, wenn ich Grandma nach der Akademie fragte und danach, warum ich wirklich dort hingehen musste, sagte sie nur, ich solle dem Ganzen eine Chance geben und es werde irgendwann schon besser.
Manchmal fragte ich mich, ob sie mich anlog – obwohl sie das bisher noch nie getan hatte.
»Hey, Süße«, sagte Grandma Frost, drückte mir einen Kuss auf den Scheitel und strich mir mit den Fingern über die Wange. »Wie war es heute in der Schule?«
Ich schloss die Augen und genoss die sanfte Wärme ihrer Haut an meiner. Ich musste wegen meiner Gypsygabe, wegen meiner psychometrischen Magie, vorsichtig sein, wen ich berührte oder von wem ich mich berühren ließ. Wenn schon Gegenstände lebhafte Visionen aufblitzen ließen, konnte die Berührung mit menschlicher Haut heftige Visionen verursachen und riesige Gefühlswellen über mich hereinbrechen lassen. Ehrlich. Ich konnte alles sehen, was jemand je getan hatte, wusste jedes dreckige kleine Geheimnis, das er je zu verbergen versucht hatte – erfuhr das Gute, das Schlechte und das wirklich Böse.
Ende der Leseprobe