Spinnenwinter - Jennifer Estep - E-Book

Spinnenwinter E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Gin Blanco ist »die Spinne«, die gefürchtetste Auftragskillerin Ashlands. Als ihr Ziehbruder Finn überraschend eine Erbschaft antritt, nehmen sich die beiden eine willkommene Auszeit. Das Erbe ist zugleich das Urlaubsziel: Bullet Pointe heißt der Freizeitpark, der Finn nun gehört. Doch die Urlaubsstimmung schwindet schlagartig, als feindlich gesinnte Assassinen auftauchen und sich unter die Wilder-Westen-Schausteller des Freizeitparks mischen. Gut, dass Gin mit ihren Messern und ihrer Elementarmagie auch auf schießwütige Cowboys vorbereitet ist!

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www.Piper-Fantasy.de

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

© Jennifer Estep 2016

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Unraveled« bei bei Pocket Books, New York 2016

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München; Ildiko Neer / Trevillion images

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Danksagung

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Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für eure Liebe, Geduld und alles andere, was ihr mir über die Jahre geschenkt habt.

Danksagung

Wieder einmal möchte ich mich bei all jenen bedanken, die mir geholfen haben, meine Idee in ein Buch zu verwandeln.

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey und meinem Lektor Adam Wilson für ihre hilfreichen Ratschläge, ihre Unterstützung und Aufmunterung. Außerdem danke ich Melissa Bendixen.

Ich danke Tony Mauro für den Entwurf eines weiteren tollen Buchcovers und Louise Burke, Lisa Litwack und allen anderen bei Pocket Books und Simon&Schuster für ihre Arbeit am Cover, am Buch und an der Serie.

Und schließlich möchte ich von Herzen meinen Leserinnen und Lesern danken. Zu wissen, dass Menschen meine Bücher lesen und lieben, erfüllt mich mit Demut. Ich bin froh, dass ihr so viel Spaß an Gin und ihren Abenteuern habt. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr euch vorstellen könnt.

Viel Spaß beim Lesen!

1

Es war die perfekte Nacht, um jemanden umzubringen.

Schwere Wolken verbargen Mond und Sterne und vertieften die Schatten an diesem kalten Dezemberabend. Es schneite nicht. Stattdessen fiel Eisregen vom Himmel und bedeckte alles langsam mit einer glatten, glänzenden, heimtückischen Schicht. An vielen Bäumen an der Straße hatten sich bereits Eiszapfen gebildet. An den nackten, skelettartigen Ästen sahen sie aus wie knorrige, glitzernde Finger. Kein einziges Tier rührte sich in der Umgebung, nicht einmal eine Eule suchte auf einer Baumspitze Deckung.

Ein Stück weiter blinkten an einem der Herrenhäuser der Gegend rote, grüne und weiße Weihnachtsdekorationen an Türen und Fenstern. Aus der Ferne waren Weihnachtslieder zu hören. Stetig strömten Menschen aus der mit Stechpalmenblättern dekorierten Eingangstür und gingen die lange, von Schneemännern gesäumte Einfahrt entlang, um in ihre Autos zu steigen und so schnell wie möglich die Motoren anzulassen. Obwohl es erst neun Uhr abends war, löste sich die Party offenbar auf. Alle wollten sicher nach Hause, in ihre warmen und gemütlichen Betten, bevor das Wetter noch schlechter wurde. In zehn Minuten wären sie alle verschwunden, und die Straße läge wieder verlassen und still da.

Ja, es war die perfekte Nacht, um jemanden umzubringen.

Zu dumm, dass ich heute Abend nur auf einer Aufklärungsmission unterwegs war.

Ich rutschte tiefer in meinen Sitz, um nicht von den vorbeihuschenden Scheinwerfern erfasst zu werden. Doch keiner der Fahrer schenkte meinem heruntergekommenen, weißen Transporter einen zweiten Blick. Ich bezweifelte sogar, dass irgendjemand sich die Mühe machte, den verblassten, blauen Schriftzug Cloudburst Falls Catering auf der Seite zu lesen. Caterer, Floristen, Musiker: Die Wagen solcher Dienstleistungsfirmen waren häufig zu sehen in Northtown, jenem Teil von Ashland, in dem der Geldadel sowie die soziale und magische Elite der Stadt lebten. Wäre das Wetter nicht so lausig gewesen, hätte sich die gesamte Straße wahrscheinlich in Feierlaune befunden, und alle hätten darum gewetteifert, die beste Weihnachtsparty zu schmeißen.

Sobald die letzten Wagen vorbeigefahren und die letzten Scheinwerfer verschwunden waren, richtete ich mich wieder auf, nahm das Fernglas vom Schoß und spähte zu einem der Herrenhäuser hinüber.

Eine Steinmauer trennte dieses Haus von der Straße. Das eiserne Tor war geschlossen und verriegelt. Anders als am Haus daneben gab es an diesem Gebäude keine Festtagsdekorationen. Im vorderen Teil brannte in einem einzigen Raum Licht – in einem Arbeitszimmer mit Glastüren, die auf eine gepflasterte Terrasse führten. Dünne, weiße Vorhänge hingen vor den Türen. Alle paar Sekunden erschien der undeutliche Schatten eines Mannes, der sich hin und her bewegte, als tigerte er ständig von einer Seite seines Büros zur anderen.

Ich hätte darauf gewettet, dass er hin und her tigerte. Nach allem, was ich gehört hatte, saß er seit Monaten in diesem Herrenhaus fest und bereitete sich auf seinen Mordprozess vor, der gleich nach Neujahr beginnen sollte. Das allein würde jeden in einen Lagerkoller treiben.

Neben mir ertönte ein leises Knirschen, gefolgt von einem langen, tief empfundenen Seufzen. Zwei Geräusche, die ich in der Stunde, seit ich hier geparkt hatte, immer und immer wieder gehört hatte.

Der Mann im Herrenhaus war nicht der Einzige, der allmählich den Verstand verlor.

»Sag mir noch mal: Wie kommt es, dass ich derjenige bin, der heute Abend mit dir abhängt?«, murmelte eine tiefe Stimme.

Ich senkte das Fernglas und sah Phillip Kincaid an, der die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt hatte und mit störrischer Miene vor sich hin starrte. Er trug einen langen schwarzen Trenchcoat und eine tief ins Gesicht gezogene schwarze Mütze, um sein goldenes Haar zu verbergen. Nur der lange Pferdeschwanz lugte im Nacken hervor. Ich war ebenfalls in Schwarz gekleidet: von den Stiefeln über die Jeans bis zu der Steinsilber-Weste, dem Rollkragenpulli und der Fleecejacke. Und ich hatte mein dunkelbraunes Haar fest unter eine schwarze Mütze gestopft.

»Was ist denn, Philly?«, fragte ich. »Gefällt es dir nicht, heute Abend meinen Babysitter zu spielen?«

Er zuckte mit den Achseln, statt sich die Mühe zu machen, meine Frage zu verneinen. »Du bist Gin Blanco, die berüchtigte Profikillerin, die zur Herrin der Unterwelt aufgestiegen ist. Du brauchst keinen Babysitter.« Er rutschte auf seinem Sitz herum und schüttelte den Kopf. »Aber Owen hat darauf bestanden … Was ich nicht alles für diesen Mann tue!«

Phillip hatte recht. Als die Spinne konnte ich in fast jeder Situation gut auf mich selbst aufpassen. Ich brauchte ihn hier sicher nicht, aber Owen Grayson – Phillips bester Freund und mein Lebensgefährte – hatte darauf bestanden. Doch ich hatte auch nicht allzu lange protestiert, als Phillip zum Ladenschluss im Pork Pit, meinem Barbecue-Restaurant, aufgetaucht war, um mir mitzuteilen, dass er heute Abend mitkommen wollte.

Da sich dort draußen die mysteriösen Mitglieder des Kreises herumtrieben, konnte ein wenig Rückendeckung nicht schaden. Auch wenn diese Rückendeckung mehr jammerte, als ich erwartet hätte.

»Wieso setzt sich Lane nicht mit dir hierhin?«, fragte Phillip. »Oder Jo-Jo? Oder sogar Sophia, wenn wir schon dabei sind? Wieso wurde ich heute Abend dazu verdonnert, mir die Eier abzufrieren?«

Finnegan Lane, mein Ziehbruder, war bei allem, was mit der Spinne zu tun hatte, oft mein Komplize, während Jo-Jo und Sophia Deveraux mich je nachdem heilten oder die Toten und das Blut verschwinden ließen, die meinen Weg pflasterten.

»Weil Finn sich immer noch um das Chaos kümmert, das Deirdre Shaw in der First-Trust-Bank angerichtet hat und Jo-Jo und Sophia für heute Abend Karten für den Nussknacker hatten«, erklärte ich und zählte meine Freunde an einer Hand ab. »Und natürlich weißt du, dass Owen Eva versprochen hat, bei einer Spielzeugsammelaktion im Community College zu helfen.«

»Ich hätte Eva nur zu gern bei der Sammelaktion geholfen«, grummelte Phillip. »Ich wäre begeistert gewesen, sogar ekstatisch.«

Trotz des Altersunterschieds von zehn Jahren war Phillip verrückt nach Eva Grayson, Owens jüngerer Schwester. Doch er wollte abwarten, bis sie ihr Studium beendet und ein wenig erwachsener geworden war, bevor er eine Beziehung mit ihr anstrebte.

»Alles wäre besser … wärmer … gewesen als das hier.« Er schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch, um seinen Hals zu schützen, und ließ sich zugleich tiefer in den Sitz sinken.

»Oh, du armer Kerl! Hängst mit mir in der Kälte und Dunkelheit fest.« Ich schnalzte in gespieltem Mitgefühl mit der Zunge. »Wenn man bedenkt, dass ich dir gerade heißen Kakao anbieten wollte …«

Seine blauen Augen wurden schmal und gierig. »Du hast heißen Kakao? Selbst gemachten, heißen Kakao?«

Ich zog eine große Thermoskanne aus der schwarzen Sporttasche, die zwischen unseren Sitzen auf dem Boden stand. »Natürlich habe ich selbst gemachten, heißen Kakao. Eine Beschattung in einer kalten Winternacht ist ohne heißen Kakao nicht vorstellbar.«

Ich schnappte mir zwei Plastikbecher aus der Tasche und reichte sie Phillip, der sie festhielt, während ich eingoss. Der wunderbare, aromatische Duft des Kakaos erfüllte den Wagen und vertrieb die eisige Kälte, die sich darin ausgebreitet hatte. Ich atmete tief ein, als ich die Thermoskanne wieder schloss und in der Tasche verstaute. Phillip gab mir meinen Becher und ich roch noch einmal daran, bevor ich den ersten Schluck nahm. Die dunkle Schokolade glitt bittersüß über meine Zunge, abgemildert von Vanilleextrakt und Himbeersirup, die ich untergemischt hatte.

Phillip klammerte sich an seinen Becher, wie ein Obdachloser sich über eine brennende Mülltonne beugt. Er nahm einen tiefen Schluck und seufzte erneut, diesmal vor Glück. »Also, das ist schon besser.«

Wir lehnten uns auf unseren Sitzen zurück, beobachteten das Herrenhaus und tranken unseren Kakao.

Offenbar hatten die Gastgeber der Party entschieden, ins Bett zu gehen, denn die Weihnachtsmusik verstummte jäh und die Plastikschneemänner und Festtagsdekorationen rund um Türen und Fenster erloschen nach und nach. Schließlich war die Umgebung noch dunkler als zuvor. Auch der Eisregen nahm zu, ging aber in einen fast normalen Regen über, trotzdem hörte ich den Aufprall jedes Tropfens auf der Windschutzscheibe. In einer solchen Nacht würde man wirklich keinen Hund vor die Tür jagen … doch als Profikillerin liebte ich diese Bedingungen. Kälte, Regen und Dunkelheit machten es so viel einfacher, mich einer Zielperson zu nähern und wieder zu verschwinden, nachdem ich sie erledigt hatte. Hätte ich jemanden tot sehen wollen, hätte ich auf genau so eine Nacht gewartet, um zuzuschlagen.

Und ich hätte darauf wetten können, dass jemand genau diesen Plan für den Mann im Herrenhaus hegte.

Phillip hob seinen Becher in Richtung des Schattens, der immer noch hinter der Terrassentür auf und ab tigerte. »Du glaubst wirklich, er weiß etwas über den Kreis?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Er ist momentan meine beste Spur und vielleicht die einzige, noch lebende Person, die etwas über diese Leute weiß.«

Vor zwei Wochen war ich entführt worden – von Hugh Tucker, einem Vampir, der behauptet hatte, er gehöre zum Kreis, einer geheimen Gruppe, die in Ashland alle Strippen ziehen würde, in der Unterwelt und auch sonst überall. Diese Information war für mich vollkommen neu gewesen, obwohl eigentlich ich derzeit die Chefin der Unterwelt war. Doch Tucker hatte behauptet, der Kreis sei eine Gruppe von Kriminellen, die so mächtig waren, dass niemand ihnen etwas anhaben konnte … am allerwenigsten eine kleine Profikillerin wie ich. Der Vampir hatte auch erklärt, dass der Kreis alles aus dem Hintergrund beobachtete … und dass diese Leute mich und meine Freunde töten konnten, wann immer sie wollten.

Doch am meisten hatte mich schockiert, dass meine Mutter – Eira Snow – angeblich zu ihnen gehört hatte.

Meine Mutter war ermordet worden, als ich dreizehn war, ein tiefer Verlust, an dem ich noch immer litt. Doch ich hatte meine Mutter so gesehen, wie alle anderen Kinder ihre Mutter sahen: Sie war meine Mom, nicht mehr und nicht weniger. Ich hatte nie groß darüber nachgedacht, wer sie war; was für eine Person sie war. Was sie Gutes oder Böses tat. Darüber wusste ich rein gar nichts. Tucker hatte mit seinen Beschuldigungen meine Welt auf den Kopf gestellt und ich wollte herausfinden, wie viel Wahrheit in seinen Behauptungen steckte. Ich wollte herausfinden, ob meine Mutter der gute Mensch gewesen war, für den ich sie immer gehalten hatte, oder ob sie genauso verdorben, dreckig und verkommen gewesen war wie die übrigen Mitglieder dieses geheimnisvollen Kreises.

»Warum klopfen wir nicht einfach an seine Tür und fragen ihn?«, schlug Phillip vor.

Ich schnaubte abfällig. »Er würde mir nichts erzählen. Zumindest würde er mir keine Informationen liefern, die ich glauben kann. Dafür hasst er mich zu sehr.«

Phillip rutschte wieder auf seinem Sitz herum. »Nun, zumindest könnten wir es hinter uns bringen und nach Hause fahren. Dann würden sich meine Eier nicht in Eiswürfel verwandeln …«

Scheinwerfer tauchten im Rückspiegel auf. Ich machte eine Geste und wir rutschten beide wieder nach unten.

Ein schwarzer SUV rollte an uns vorbei. Er fuhr bis zum Ende des Blocks, bog nach rechts ab und verschwand aus unserem Sichtfeld. Phillip wollte sich wieder aufsetzen, doch ich hob die Hand.

»Warte«, sagte ich. »Lass uns abwarten, ob sie zurückkommen.«

Er verdrehte die Augen, blieb aber unten. »Wieso sollten sie zurückkommen? Das ist wahrscheinlich einfach jemand, der hier in der Gegend wohnt …«

Wieder leuchteten Scheinwerfer im Rückspiegel auf und derselbe SUV rollte an uns vorbei. Diesmal bog der Wagen am Ende des Blocks nach links ab.

»Vielleicht haben sie sich verfahren«, meinte Phillip. »Die Straßen und Herrenhäuser hier in Northtown sehen alle gleich aus, besonders im Dunkeln.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben sich nicht verfahren. Sie wollen herausfinden, wie menschenleer die Gegend ist, bevor sie ihre Pläne in die Tat umsetzen. Sie werden zurückkommen. Du wirst schon sehen.«

Wir saßen reglos im Van und starrten in die verschiedenen Spiegel. Und tatsächlich, eine Minute später fuhr derselbe SUV noch einmal an uns vorbei. Nur dass der Fahrer inzwischen die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte. Er wendete mitten auf der Straße, fuhr an den Randstein und hielt an … direkt vor dem Herrenhaus, das wir beobachteten.

»Hallo«, murmelte ich. »Was haben wir denn hier?«

Die Türen schwangen auf und zwei Personen stiegen aus. Beide trugen wie Phillip lange schwarze Trenchcoats. Es waren Riesen, über zwei Meter groß mit breiten Schultern und muskulöser Brust … wahrscheinlich die Leibwächter der Person auf dem Rücksitz.

Und tatsächlich, einer der Riesen öffnete die hintere Tür und eine kleinere, schlankere Gestalt stieg aus, ebenfalls mit einem schwarzen Trenchcoat bekleidet. Diese Person trug zusätzlich einen schwarzen Hut und hatte sich einen dicken Schal um den Hals gewickelt. Ich spähte durch mein Fernglas, doch die Gestalt stand mit dem Rücken zu mir, sodass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Aufgrund ihrer Größe und Bewegungen vermutete ich aber, dass es sich um eine Frau handelte.

»Ein nächtlicher Besucher für ein heimliches Treffen mit unserem alten Freund?«, fragte Phillip gedehnt.

»Vielleicht.«

Einer der Riesen ging in die Hocke. Zuerst fragte ich mich, was er da trieb, doch dann lief die Frau mit dem Hut auf den Riesen zu und der hob sie in die Luft. Frau Hut packte den oberen Rand des eisernen Tors und schwang mit der Eleganz einer olympischen Turnerin die Beine darüber. Sie landete geschickt auf der anderen Seite, richtete sich auf und bewegte sich mit entschlossenen, eleganten Schritten in Richtung Herrenhaus.

Ich fluchte, als mir bewusst wurde, dass ich gleich meine einzige Quelle für Informationen über den Kreis verlieren würde. Ich hatte vermutet, dass jemand kommen konnte, um nach ihm zu suchen, doch ich hatte nicht wirklich geglaubt, dass es passieren würde. Schließlich hatte sich jeder andere Versuch, die Mitglieder des Kreises aufzuspüren, bisher als Sackgasse herausgestellt.

»Kein Treffen«, knurrte ich. »Sie sind hier, um ihn zu töten.«

Nachdem Frau Hut das Tor bereits hinter sich gelassen hatte, blieb mir keine Zeit, um vorsichtig aus dem Lieferwagen zu gleiten, durch die Schatten zu schleichen und die Riesen von hinten zu erstechen, wie ich es sonst getan hätte.

Also riss ich die Tür auf, sprang aus dem Wagen und rannte über die Straße auf den SUV zu.

»Gin, warte!«, schrie Phillip und folgte mir eilig.

Doch ich musste den Mann im Herrenhaus erreichen, bevor es Frau Hut gelang, also beachtete ich ihn nicht. Die Riesen wirbelten herum, als sie Phillips Stimme hörten, und entdeckten mich. Sie fluchten, zogen Pistolen unter ihren Trenchcoats hervor und rissen sie hoch.

Pfft! Pfft! Pfft!

Ich schlug Haken und die ersten Kugeln verfehlten mich. Doch als die Riesen innehielten, um sorgfältiger zu zielen, rief ich meine Steinmagie und verhärtete meine Haut zu einer undurchdringlichen Hülle.

Pfft! Pfft! Pfft!

Die zweite Salve verfehlte mich ebenfalls. Die Riesen hatten sich bestens vorbereitet und die Schalldämpfer an den Läufen verschluckten jedes Geräusch. In den benachbarten Villen gingen keine Lichter an. Die Kerle wollten die Sache offensichtlich geheim halten … nun, das wollte ich auch.

Pfft! Pfft! Pfft!

Zwei Kugeln verfehlten mich, aber die dritte traf meine rechte Schulter und wirbelte mich herum. Doch dank meiner Magie drang das Geschoss nicht in meinen Körper ein, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Ich schlitterte über die vereiste Straße, aber es gelang mir, mein Gleichgewicht wiederzufinden und weiterzulaufen.

Statt auf die Riesen zuzuhalten, rannte ich geradewegs auf den SUV zu. Sobald ich dicht genug heran war, sprang ich auf die Motorhaube, um von dort aufs Dach zu klettern. Bevor die Riesen verstanden, was ich vorhatte, spurtete ich weiter und stieß mich so fest wie möglich vom Dach des Wagens ab. Zu meinem Glück hatten sie dicht am Rinnstein des schmalen Gehwegs geparkt. Eine Sekunde später fanden meine Hände die obere Kante der Steinmauer. Ich grub meine Stiefelspitzen in die Fugen zwischen den schweren Steinen, um mich nach oben zu ziehen. Frau Hut war nicht die einzige Athletin.

Ich schwang mich über die Mauer und sprang die drei Meter auf der anderen Seite nach unten. Einen Moment hielt ich inne, um eins der Steinsilber-Messer in meine Hand gleiten zu lassen, dann stürmte ich über die Rasenfläche. Das mit Eis überzogene Gras knirschte unter meinen Füßen wie alte Knochen.

Das Licht aus dem Arbeitszimmer beleuchtete Frau Hut, die sich ungefähr fünfzehn Meter vor mir befand und sich schnell bewegte. Ihr Atem dampfte in der Luft. Sie musste gehört haben, dass irgendetwas los war, denn sie beschleunigte ihre Schritte, zog eine Pistole unter ihrem Trenchcoat hervor und schoss mit derselben geschmeidigen Bewegung das Schloss der Terrassentür auf. Eine Sekunde später war sie schon im Herrenhaus verschwunden.

»He!«, schrie eine Männerstimme im Arbeitszimmer. »Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?«

Die Antwort, so es denn eine gab, konnte ich nicht hören.

Pfft! Pfft! Pfft!

Pfft! Pfft! Pfft!

Hinter mir erklangen weitere Schüsse, doch die Riesen zielten nicht länger auf mich. Phillip musste sich in den Kampf geworfen haben. Er konnte auf sich selbst aufpassen, also konzentrierte ich all meine Energie darauf, über den Rasen zu sprinten und das Herrenhaus zu erreichen. Aber es war bereits zu spät.

Pfft! Pfft! Pfft!

Tatsächlich, Mündungsfeuer blitzte im Arbeitszimmer auf, so hell wie die Festtagsbeleuchtung vorhin. Jemand war gerade erschossen worden.

Eine Sekunde später trat Frau Hut durch die Tür auf die Terrasse. Ich kniff die Augen zusammen, doch gegen das Licht aus dem Arbeitszimmer konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, sondern sah nur das fahle Glitzern ihrer Augen. Sie salutierte mir spöttisch mit ihrer Waffe, bevor sie wieder im Haus verschwand. Jetzt, da ihre Mission erfüllt war, würde sie zweifellos durch eine Hintertür im Wald verschwinden. Und das, ohne dass ich auch nur einen genauen Blick auf ihr Gesicht erhascht hätte.

Ich fluchte. Obwohl ich ins Haus stürmen wollte, zwang ich mich dazu, langsamer zu werden und mich der Tür vorsichtig zu nähern. Nur für den Fall, dass die Angreiferin darauf lauerte, mich zu erschießen. Außerdem rief ich noch mehr von meiner Steinmagie und verhärtete meine Haut, so gut es ging … falls sie mich gleichzeitig mit Elementarmagie und Kugeln beschießen wollte. Als letzte Vorsichtsmaßnahme schickte ich meine Magie aus und lauschte auf die emotionalen Vibrationen, die in die Steinwände des Hauses eingedrungen waren.

Ich hörte ein harsches, schockiertes Murmeln, das von den Schüssen stammte, welche die Frau gerade abgegeben hatte. Darunter erklang ein hochfrequenter, weinerlicher Chor aus Sorge, Angst und Paranoia. Doch es gab kein hinterhältiges Flüstern oder finsteres Murmeln, das darauf hingewiesen hätte, dass sich die Frau im Arbeitszimmer verbarg und mir eine Kugel in den Kopf jagen wollte, sobald ich über die Schwelle trat. Wer auch immer diese Frau sein mochte, sie war bereits verschwunden.

Trotzdem blieb ich wachsam, als ich ins Arbeitszimmer schlich, das Messer immer noch in den Fingern, die andere Hand erhoben und von meiner Eismagie erhellt, bereit, jeden damit zu beschießen, der mich herausfordern wollte.

Doch im Arbeitszimmer befand sich nur eine Person – der Mann, den ich beobachtet hatte.

Jonah McAllister, mein alter Erzfeind, lag bewegungslos am Boden.

2

Ich starrte auf Jonah hinunter, der vollkommen reglos dalag, die Arme ausgestreckt, die Beine seltsam unter dem Körper verdreht. Frust stieg in mir auf, weil Frau Hut ihn erwischt hatte; weil sie so schnell und mühelos in sein Haus eingedrungen war, wie es sonst … na ja, nur mir gelang.

Mein Plan war es gewesen, McAllisters Herrenhaus zu observieren und jeden abzufangen, den der Kreis vielleicht aussandte, um ihn umzubringen. Schließlich war er die offensichtlichste – und bisher einzige – Spur, die zu dem Kreis führen konnte. Dann hätte ich mir genüsslich Zeit gelassen, diese Person über ihre Bosse auszufragen. Doch Frau Hut war schneller und cleverer gewesen, als ich erwartet hatte, und so blieb ich wieder einmal mit leeren Händen zurück. Ein weiteres Versagen in einer langen Reihe von Fehlschlägen in Bezug auf diese geheimnisvolle Vereinigung.

Ich war es wirklich leid, gegen diese Mistkerle zu verlieren, wer auch immer sie in Wirklichkeit sein mochten.

Ich wollte gerade an McAllister vorbeigehen und das Arbeitszimmer verlassen, um im Rest des Herrenhauses nach Frau Hut zu suchen, auch wenn ich genau wusste, dass sie bereits verschwunden war. Doch da bemerkte ich, dass sich bisher keine Blutpfütze unter dem Körper des schleimigen Anwalts gebildet hatte. Tatsächlich konnte ich nirgendwo auch nur einen Tropfen Blut entdecken – keine Lache auf dem Boden, keine Spritzer auf den Stühlen, nicht einmal auf den Papieren, die vom Schreibtisch geglitten und um ihn herum zu Boden gesegelt waren wie Schneeflocken. Also hielt ich an und sah genauer hin.

Jonah McAllister wirkte viel dünner als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen und in seinem Büro zur Rede gestellt hatte. Dunkle Ringe umrahmten seine Augen und seine Wangenknochen wirkten scharf, als wollten sie die Haut durchstechen. Als hätte er über Nacht fünfzehn Kilo abgenommen. Selbst seine Haut, auf die er immer so stolz gewesen war und die er mit ständigen Luftelementarbehandlungen glatt und straff gehalten hatte, wirkte alt, lose und zerknittert wie feuchtes Papier, das an seinem Gesicht klebte.

Nur seine silberne Haarmähne war so prächtig wie immer. Perfekt frisiert leuchtete sie wie Lametta, obwohl der Rest von ihm eher an ein zerbrochenes Spielzeug erinnerte. Ich fragte mich, wie viel Haarspray er wohl verwendet hatte, wenn seine Frisur sogar bei seiner Ermordung nicht den Halt verlor. Selbst Finn wäre beeindruckt gewesen.

Doch meine besondere Aufmerksamkeit erregte der Weihnachtspullover, den er trug: Er war leuchtend grün mit einem riesigen, braunen Rentier auf der Brust, einschließlich rot leuchtender Nase. Absolut nicht McAllisters üblicher Stil. Tatsächlich wirkte der Pullover handgestrickt, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wer die Zeit investieren sollte, Jonah einen Pullover zu stricken – irgendeinen Pullover, ganz zu schweigen von einem so hässlichen Teil.

Wenn man bedachte, wie dünn Jonah sonst war, wirkte der Pullover verdächtig dick und voluminös. Und da begriff ich, was er darunter trug. Natürlich. McAllister mochte eine hinterhältige Ratte sein, aber er war eine clevere Ratte. Er wusste genau, wie viele Leute wegen des Briartop-Raubüberfalls noch wütend auf ihn waren, da hätte er sicher Vorkehrungen getroffen, um in seinem eigenen Herrenhaus nicht ermordet zu werden.

Also ging ich in die Hocke, hob die Hand und verpasste ihm eine Ohrfeige. McAllister verzog bei dem schnellen Schlag das Gesicht, öffnete die Augen aber nicht.

Also ohrfeigte ich ihn noch einmal, diesmal fester.

McAllister stieß ein leises, schmerzerfülltes Quieken aus, doch seine Augen blieben geschlossen. Offensichtlich wollte er sich so lange tot stellen wie möglich.

»Aufwachen, Jonah«, sagte ich. »Du kannst entweder die Augen öffnen, oder ich ohrfeige dich einfach weiter. Das ist in Ordnung für mich. Ich kann heute noch ein Workout brauchen.«

Bei meiner Drohung riss McAllister die Augen auf, die sich sofort zu Schlitzen verengten, als er mich vor sich entdeckte. »Blanco?«, fragte er. »Was tust du hier?«

»Nun, ich hatte gehofft, deine Möchtegernmörderin zu erwischen, aber sie ist entkommen. Jetzt weiß ich nicht, ob es mich freut oder ärgert, dass du noch am Leben bist.« Ich nickte in Richtung seines hässlichen Weihnachtspullis. »Mir war gar nicht klar, dass Rudolph dieser Tage eine kugelsichere Steinsilber-Weste trägt.«

»Kam mir wie eine weise Vorsichtsmaßnahme vor.« Er leckte sich die Lippen und sah sich im Büro um, als machte er sich Sorgen, dass Frau Hut zurückkommen könnte, um ihr Werk zu Ende zu bringen.

Fast wünschte ich mir, es wäre so. Selbst jetzt spürte ich den Drang, mein Messer zu heben und ihn für alle Zeiten auszulöschen, egal, wie nützlich mir McAllister noch sein konnte. Einfach, weil er schon so oft versucht hatte, mich umbringen zu lassen. Das wäre wahrscheinlich sogar das Klügste gewesen. Doch in den letzten Wochen hatte ich mich alles andere als klug angestellt. Warum also jetzt damit anfangen?

»Gin! Gin!«, rief Phillip. Seine Stimme kam näher. »Ist bei dir alles okay?«

»Mir geht es gut!«, rief ich zurück. »Ich bin hier! Im Arbeitszimmer!«

Ich stand auf und ging zur Terrassentür. Phillip rannte zu mir, eine Pistole in der Hand. Sein Atem dampfte in der Luft und seine Wangen waren von der Kälte gerötet. Ich sah an ihm vorbei zum Metalltor, das inzwischen weit offen stand. Aber der schwarze SUV, der vor McAllisters Herrenhaus gestanden hatte, war verschwunden.

»Die Riesen haben ein paar Schüsse auf mich abgegeben, dann sind sie in den Wagen gesprungen und abgehauen, bevor ich näher herankommen konnte. Ich habe versucht, die Reifen zu zerschießen, aber …« Phillip zuckte mit den Achseln.

Ich nickte, enttäuscht, aber nicht überrascht. Mit ihrem mühelosen Eindringen ins Herrenhaus hatte Frau Hut bewiesen, wie clever sie war. Natürlich hätte sie ihren Männern gesagt, dass sie beim ersten Anzeichen von Ärger verschwinden sollten – besonders, wenn dieser Ärger in Gestalt von mir auftauchte. Sie hätte auf keinen Fall riskieren wollen, dass ihre Riesen erwischt und über sie und den Kreis befragt werden konnten. Wieder einmal hatte ich absolut gar nichts erreicht, aber ich zwang mich, mich auf das zu konzentrieren, was jetzt wichtig war.

»Mach dir deswegen keine Vorwürfe«, sagte ich. »Geht es dir gut?«

Phillip nickte. »Ja. Nur ein wenig außer Atem.« Sein Blick glitt zu McAllister, der langsam aufstand. »Offenbar hat er es wirklich geschafft, zu überleben.«

»Anscheinend polstert unser guter Freund Jonah seine Weihnachtspullis gerne mit Steinsilber-Westen aus.«

»Wie pragmatisch«, meinte Phillip, »wenn man bedenkt, wie viele Leute ihn umbringen wollen.«

»In der Tat.«

McAllister senkte den Blick und hob den Pullover an. Das linke Auge des Rentiers, direkt über McAllisters Herz, war verschwunden. Ich konnte das Glitzern der drei Kugeln sehen, die in der schwarzen Weste darunter stecken geblieben waren. Frau Hut hatte es ernst gemeint. Jeder dieser Treffer wäre tödlich gewesen. Und es war beeindruckend, wie nah die Kugeln nebeneinanderlagen. Also war Frau Hut nicht nur sehr akrobatisch, sondern konnte auch noch herausragend schießen. Und sie wollte McAllister definitiv tot sehen, was mich nur noch neugieriger auf das machte, was er vielleicht über den Kreis wusste.

Jonah McAllister war der persönliche Anwalt von Mab Monroe gewesen – der Feuermagierin, die jahrelang die Unterwelt von Ashland beherrscht hatte, bevor ich sie umgebracht hatte. Mab war auch das Miststück gewesen, das meine Mutter Eira und meine ältere Schwester Annabella getötet hatte.

Jahrelang hatte ich geglaubt, Mab hätte meine Familie aufgrund einer alten Familienfehde zwischen den Snows und den Monroes umgebracht. Und weil sie sich Sorgen gemacht hatte, dass meine Eis- und Steinmagie eines Tages stärker als ihre Feuermagie werden könnten. Doch Hugh Tucker hatte behauptet, Eira hätte dem Kreis Ärger gemacht, weswegen er und die anderen Mitglieder Mab erlaubt hatten, sie zu ermorden. Eine weitere, verblüffende und grauenhafte Enthüllung. Und noch etwas, was mich bestärkte, Antworten auf Fragen über meine Mutter, den Kreis und alles andere zu finden.

Und jetzt war es Zeit, damit anzufangen.

Mit einer Grimasse ließ McAllister den Pullover wieder nach unten sinken, auch wenn das einäugige Rentier jetzt absolut nicht mehr fröhlich wirkte. Er sah zwischen Phillip und mir hin und her, den Mund nachdenklich verzogen. Ich konnte quasi sehen, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf drehten, als er sich fragte, was wir hier trieben – und wie er die Situation zu seinem Vorteil manipulieren konnte.

Ich hielt immer noch mein Messer in der Hand, also stach ich damit in Richtung der Couch an der Wand. »Setz dich.«

McAllister schluckte hart, doch er ging hinüber und ließ sich auf die Couch fallen. Ich packte mir einen Stuhl, der neben dem Schreibtisch gestanden hatte, und stellte ihn vor die Couch. Dann drehte ich ihn um, setzte mich und legte die Ellbogen auf die Lehne. Phillip blieb mit Blick nach draußen neben der Terrassentür stehen, um Wache zu halten – nur für den Fall, dass Frau Hut und ihre Riesen zurückkehrten und eine weitere Attacke starteten.

Ich sah McAllister an. Er starrte zurück. Wieder und wieder leckte er sich über die Lippen und rang die Hände. Wenn er wüsste, wie verzweifelt ich Informationen – irgendwelche Informationen – über den Kreis suchte, würde er mir absolut gar nichts erzählen, wie ich es Phillip vorhin im Lieferwagen erklärt hatte. Also sah ich McAllister einfach weiter unverwandt an, meine Miene ruhig und ausdruckslos, und wartete darauf, dass er anfing zu reden, um die unangenehme Stille zu füllen.

Es dauerte nicht lange.

»Was willst du, Blanco?«, blaffte McAllister.

»Nun«, sagte ich locker, »nur für den Fall, dass du es noch nicht gehört hast, weil du ja hier in deinem Elfenbeinturm festgesessen hast … ich bin zurzeit die Leitwölfin der Unterwelt.«

Er verzog das Gesicht, sagte aber nichts dazu.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass es ein paar Leute gibt, die dich tot sehen wollen, Jonah. Also mehr Leute als gewöhnlich. Angesichts meiner neuen Stellung hätte man meinen sollen, diese Leute melden sich bei mir und fragen um Erlaubnis, dich auszuschalten. Schließlich ist allgemein bekannt, wie dringend ich mich danach verzehre, dich vor Gericht zu sehen, wegen all deiner Verbrechen im Briartop-Museum im Sommer. Doch diese Leute haben mein Placet nicht eingeholt, also habe ich beschlossen, mal vorbeizuschauen und ihr kleines Mordkomplott zu sprengen.«

Das war vollkommener Blödsinn. Ich war nur hier, um McAllister so lange am Leben zu halten, dass ich Informationen aus ihm herausquetschen konnte. Aber das musste er nicht wissen.

»Nun, ich werde zugeben, dass diese Leute mich tatsächlich überrascht – beziehungsweise überrumpelt – haben. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie so clever, schnell und entschlossen vorgehen würden. Aber das macht mich nur noch neugieriger, wer genau da eigentlich in meinem Revier wildert.«

»Dein Revier?«, höhnte McAllister. »Das ist nicht dein Revier und das wird es auch nie sein. Nicht so, wie es Mabs Revier war. Die anderen Unterweltbosse hatten zu viel Angst vor ihr, um ihr viel Ärger zu bereiten. Zumindest hätten sie es niemals so öffentlich getan. Bei dir, meine Liebe, ist das eine ganz andere Geschichte. Königin der Unterwelt oder nicht, du hast genug ihrer Freunde erstochen, dass sie dich alle umbringen wollen.«

Ich schnaubte. »Bitte. Meine Opferzahl ist bei Weitem nicht so hoch wie die von Mab. Sie hat Leute frittiert, nur weil sie sie schief angeschaut haben.«

»Sicher«, stimmte McAllister zu. »Aber Mab hat auch nie vorgegeben, etwas anderes zu sein als das eiskalte, skrupellose Miststück, das sie tatsächlich war. Deinen Moralkodex und deine nervige Selbstgerechtigkeit sind inzwischen alle leid. Früher oder später wird es einem der anderen Bosse gelingen, dich zu erledigen. Ich hoffe nur, dass ich das noch miterleben darf.«

»Willst du auf meinem Grab tanzen, Jonah? Ziemliches Klischee, oder?«

Er starrte mich böse an. Seine Wangen röteten sich vor Wut, bis sie fast so hell leuchteten wie die Rentiernase auf seinem schrecklichen Pullover.

Ich zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich hast du recht. Ich wollte den Job nie. Aber jetzt, da ich ihn habe, werde ich das Beste aus der Situation machen – und aus all den schlechten, schlechten Menschen, die dazugehören.« Ich lehnte mich vor. »Und jetzt erzähl mir, was du über den Kreis weißt.«

Er runzelte die Stirn. Zur Abwechslung einmal bildeten sich wirklich Linien auf seiner Stirn wie bei einer normalen Person, trotz all der Luftelementarpeelings. »Der Kreis? Was für ein Kreis?«

McAllister war ein guter Anwalt und ein ziemlich begabter Schauspieler, der durchaus in der Lage war, mir offen ins Gesicht zu lügen. Ich musterte ihn, doch zur Abwechslung einmal wirkte er ehrlich verwirrt.

»Der Kreis«, wiederholte ich. Ich musste mich bemühen, meine Stimme ausdruckslos zu halten und mir nicht anmerken zu lassen, wie wichtig mir dieses Thema war. »Sie sind diejenigen, die heute diese Mörder ausgeschickt haben.«

Er schüttelte den Kopf. »Nie davon gehört.«

Ich warf Phillip einen Blick zu, der nur mit den Achseln zuckte. Er schien ebenfalls zu vermuten, dass McAllister die Wahrheit sprach.

»Der Kreis«, sagte ich zum dritten Mal, diesmal mit einem Anflug von Wut in der Stimme. »Irgendeine Geheimgesellschaft, mit der Mab im Bunde stand. Ich will alle Informationen, die du darüber hast.«

McAllister schüttelte erneut den Kopf. »Tut mir leid, aber ich habe noch nie etwas von irgendeinem Kreis gehört. Was für ein idiotischer Name soll das überhaupt sein? Das klingt eher nach einer Yoga-Gruppe.«

Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht von meinem Stuhl zu springen, ihm das Messer gegen die Kehle zu pressen und ihn anzubrüllen, dass er mir endlich Antworten liefern sollte. Ich brauchte einen Moment, bis ich meinen Kiefer wieder entspannen konnte.

»Okay. Sagen wir mal, ich glaube dir, dass du noch nie etwas vom Kreis gehört hast. Was ist mit Hugh Tucker?«, fragte ich, um es aus einer anderen Richtung zu probieren. »Vampir, schwarzes Haar, Ziegenbart, wirklich schnell. Verschmilzt die meiste Zeit über quasi mit seiner Umgebung.«

McAllister kaute auf der Unterlippe herum. »Hugh Tucker, Hugh Tucker. Wieso kenne ich diesen Namen …« Er schnippte mit den Fingern. »Tucker. An ihn erinnere ich mich. Mab ist hin und wieder mit ihm ausgegangen. Selbstgefälliger, schleimiger Mistkerl. Ich habe nie verstanden, was sie an ihm gefunden hat.«

Das war eine perfekte Beschreibung von Tucker. Ich kniff die Augen zusammen. »Was meinst du mit ›ausgegangen‹? War das zwischen den beiden … ernst?«

Er zuckte mit den Achseln. »So ernst, wie Mab ihre One-Night-Stands eben nahm. Allerdings war Tucker der Einzige, der mehrmals aufgetaucht ist. Sie hat mir einmal gesagt, sie wären alte Freunde … dass sie ihn schon seit ihrer Kindheit kennt und dass sie zusammen aufgewachsen sind. Das ist einer der Gründe, warum er mir in Erinnerung geblieben ist.«

»Wieso genau?«

McAllister sah mich an, als sollte ich die Antwort eigentlich kennen. »Weil die meisten Leute, die Mab länger gekannt hat, tot waren – und meistens hat sie sie selbst umgebracht.«

Nun, das war auf alle Fälle richtig. Mab hatte nie Probleme damit gehabt, Leute beim kleinsten Fehltritt mit ihrer Feuermagie zu rösten. Trotzdem hielt ich den Mund und wartete ab, ob der Anwalt noch etwas zu sagen hatte. Doch McAllister starrte mich nur verwirrt an. Offensichtlich verstand er nicht, wieso ich mich plötzlich für Mabs alte Liebhaber interessierte.

»Das war’s?«, knurrte Phillip. »Das ist alles, was du über den Kreis weißt?«

»Ich habe es euch doch schon gesagt. Ich weiß gar nichts über einen dämlichen Kreis …« McAllister hielt inne, legte den Kopf schief und musterte mich mit neu erwachtem Interesse. »Das ist dir sehr wichtig, nicht wahr, Blanco? Dieser Kreis … diese Leute haben dich wirklich sauer gemacht.«

»Könnte man so ausdrücken.«

Ich hielt meine Miene ausdruckslos, doch McAllister hatte Blut im Wasser gerochen … und wie der Hai, der er war, stürzte er sich sofort darauf.

Er lächelte und ein unheilvolles Glitzern erschien in seinen Augen. Zum ersten Mal … na ja, zum allerersten Mal… schien er froh zu sein, sich in meiner Gegenwart aufzuhalten. »Jetzt, da ich so darüber nachdenke, könnte es durchaus sein, dass ich doch mehr über Hugh Tucker weiß und über diesen Kreis, zu dem er gehört.«

»Aber?«

»Aber, wie du weißt, stand ich in den letzten Monaten sehr unter Stress, weil ich mich auf meinen nahenden Prozess vorbereiten muss. Mein Gedächtnis ist einfach nicht mehr das, was es einmal war.«

Lügner. Sein Gedächtnis war wahrscheinlich besser als meines. Ich erkannte seine Verhandlungstaktik und seufzte. »Was willst du, Jonah?«

»Ich will raus.«

»Raus aus was?«

»Raus aus Ashland, raus aus meinem Prozess, raus aus diesem verdammten Gefängnis, in das du mich gesteckt hast«, knurrte er. »Ich will irgendwo neu anfangen, wo mich niemand kennt. Inzwischen ist mir sogar egal, wo das ist. Ich will einfach nur hier raus.« Sein Blick huschte durch das Arbeitszimmer und er verzog angewidert das Gesicht, bevor er den Blick wieder auf mich richtete. »Sorg dafür, dass das passiert, und ich werde dir alles sagen, was ich über Hugh Tucker und den Kreis weiß.«

Damit lehnte er sich auf der Couch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann schenkte er mir ein selbstgefälliges Lächeln. Er schien sich absolut sicher zu sein, dass ich seinen Forderungen nachgeben würde.

Für einen Moment dachte ich ernsthaft darüber nach – war wirklich in Versuchung. Weil der Kreis bereits so gut wie alles über mich wusste, während ich noch versuchte, irgendetwas Nützliches herauszufinden. Ich wusste nicht mal, wer, abgesehen von Tucker, noch zum Kreis gehörte … und es war meinen Freunden und mir nicht gelungen, auch nur einen Hinweis auf den Vampir zu entdecken, seit der in der Nacht von Deirdre Shaws Tod verschwunden war. Wenn ich wenigstens die Mitglieder des Kreises identifizieren könnte, dann könnte ich sie beobachten – sie umbringen –, bevor sie erneut auf mich oder, noch schlimmer, auf meine Freunde losgingen.

Und ich könnte endlich Antworten auf all die Fragen zu meiner Mutter finden.

Ich öffnete den Mund, wollte McAllisters lächerlichen Forderungen schon zustimmen. Doch dann schaute ich kurz zu Phillip, der mit der Pistole in der Hand immer noch an der Terrassentür Wache stand. Und ich erinnerte mich daran, wie bleich er ausgesehen hatte, als er blutend auf dem Boden des Briartop-Museums gelegen hatte – weil einer der Riesen, die McAllister angeheuert hatte, um das Museum zu überfallen und Mabs Testament aus dem Tresorraum zu stehlen, auf ihn geschossen hatte. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie sehr Phillip gelitten hatte. Ich erinnerte mich daran, wie Eva weinend neben ihm gekauert und wie viele Sorgen sich Owen um seinen besten Freund gemacht hatte.

Und ich klappte meinen Mund wieder zu. Niemand griff meine Freunde an und kam damit davon, nicht einmal, wenn es darum ging, meine brennende Neugier in Bezug auf meine Mutter und den Kreis zu befriedigen. Ich mochte eine Profikillerin sein, aber es gab ein paar Grenzen, die ich nicht überschreiten wollte.

Außerdem war Jonah McAllister nicht ansatzweise vertrauenswürdig. So übel, wie ich ihm mitgespielt hatte, indem ich seine Beteiligung am Briartop-Raub enthüllt hatte, zweifelte ich keinen Moment daran, dass er mir nur zu gern einen Haufen Lügen servieren und dann aus der Stadt verschwinden und sich ins Fäustchen lachen würde. Selbst wenn ich ihn bedrohte, ihn folterte oder mit meinem Messer in Streifen schnitt, war er stur genug und hasste mich genug, um sich zusammenzureißen und mir absolut gar nichts Verwertbares zu erzählen.

Nein, ich konnte nicht riskieren, dass McAllister sich irgendetwas ausdachte und mich anlog, um mich auf eine sinnlose Suche zu schicken. Dieses Risiko würde ich nicht eingehen. Und auf keinen Fall würde ich Phillip und sein Leiden auf diese Weise mit Füßen treten.

»Also, Blanco?«, krähte McAllister triumphierend, immer noch vollkommen davon überzeugt, dass ich seinen Forderungen nachgeben würde. »Was sagst du?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kannst du vergessen, Jonah. Das kannst du vergessen.« Ich stand auf und ging Richtung Terrassentür. »Komm, Phillip. Lass uns gehen. Wir haben hier schon genug Zeit verschwendet.«

Phillip folgte mir nach draußen. Wir waren kaum drei Schritte weit gekommen, als McAllister uns eilig folgte.

»Wartet! Wartet!«, rief er, während er sich bemühte, uns einzuholen.

Ich wirbelte herum und riss mein Messer hoch. McAllister musste abrupt bremsen, um nicht Rentier voraus in meine Klinge zu laufen.

»Nein, Jonah«, knurrte ich. »Ich habe nicht die Zeit zu warten und bestimmt habe ich nicht die Zeit, Geduld oder Energie, mich auf deine hinterhältigen Spielchen einzulassen. Du magst ein paar dreckige Details über Tucker wissen, weil du ihn mit Mab gesehen hast, doch als ich den Kreis zum ersten Mal erwähnt habe, hattest du keine Ahnung, wovon ich rede. Was bedeutet, dass du absolut gar nichts über diese Leute weißt.«

Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch ich ließ ihm keine Chance dazu.

»Ich gebe gerne zu, dass es Spaß machen würde, ein paar Informationen aus dir herauszufoltern … das wäre eine nette Ablenkung nach den vergangenen, scheußlichen Wochen. Aber ich könnte sowieso keiner Information vertrauen, die du dann in die Welt schreist. Und ehrlich, ich habe heute Abend Besseres zu tun, als meine Kleidung mit deinem Blut zu besudeln.«

Er leckte sich erneut die Lippen, während sein Blick von rechts nach links huschte, als rechnete er damit, dass plötzlich weitere Meuchelmörder aus dem Eisregen auftauchten. »Und was ist mit mir? Was soll ich jetzt tun?«

»Meinetwegen kannst du einfach hier in deinem Herrenhaus sitzen bleiben und im eigenen Saft schmoren, so wie du es inzwischen seit Monaten tust. Obwohl es sicherlich nicht lange dauern wird, bis Frau Hut bemerkt, dass du bei Weitem nicht so tot bist, wie sie dich haben wollte.« Ich starrte ihn unverwandt an. »Und was glaubst du, was dann passieren wird?«

Ich ließ meine Klinge direkt vor seiner Kehle durch die Luft sausen, nur für den Fall, dass er es immer noch nicht kapiert hatte.

Keuchend stolperte er rückwärts. »Sie wird zurückkommen.«

Ich nickte. »Das wird sie. Und ich könnte mir vorstellen, dass sie das nächste Mal sicherstellen wird, dass du mausetot bist, bevor sie wieder verschwindet.«

Er wurde bleich, wodurch er nur noch mehr an ein Skelett erinnerte. Er war in mehr als einer Hinsicht ein lebender Toter.

»Genieß dein Leben, Jonah«, knurrte ich. »Das bisschen, was dir davon noch bleibt, zumindest.«

Ich salutierte ihm spöttisch mit meinem Messer, dann drehte ich mich um und stapfte in die Nacht davon.

Wieder einmal folgte Phillip mir, auch wenn wir keine fünf Schritte weit kamen, bevor McAllister sich erneut zu Wort meldete.

»Blanco!«, zischte er, dann ging seine Stimme in ein Jammern über. »Das kannst du nicht machen! Du kannst mich nicht hier zurücklassen! Nicht noch mal! Ich kann es nicht ertragen! Ich kann nicht!«

Ich ging einfach weiter.

Phillip sah über die Schulter zurück. »Du solltest dich freuen«, murmelte er. »McAllister lehnt im Türrahmen und presst die Hände an die Brust, als bekäme er gleich einen Herzinfarkt.«

Ich schnaubte. »Dafür bräuchte er ein Herz.«

Phillip grinste, doch dann musterte er mich aus dem Augenwinkel. »Ich weiß, warum du sein Angebot ausgeschlagen hast«, sagte er. »Aber du musst keine Rücksicht auf mich nehmen. McAllister ist nicht derjenige, der auf mich geschossen hat.«

»Nein, aber er hat den gesamten Raubüberfall organisiert, also war deine Verletzung das Ergebnis seiner Planungen. Ganz zu schweigen von den unschuldigen Menschen, die gestorben sind, nur weil er vertuschen wollte, dass er Geld von Mab veruntreut hatte, damit Madeline es nicht herausfindet. Damit ist er für diese ganze Nummer verantwortlich. Und jetzt will er eine Du-kommst-aus Ashland-frei-Karte? Und wofür? Für ein paar spärliche Infos über Tucker, die mir wahrscheinlich nichts verraten, was ich nicht bereits über den Vampir weiß? Nein, auf gar keinen Fall.«

Phillip sagte nichts mehr, während wir die Rasenfläche überquerten. Das einzige Geräusch war das Knirschen des gefrorenen Grases unter unseren Stiefelsohlen. Nach der Wärme und dem Licht in McAllisters Arbeitszimmer wirkte die Nacht noch kälter und schwärzer als bisher. Der Eisregen nahm zu und unser Atem kondensierte vor unseren Gesichtern. Doch vielleicht lag es auch an dem Gefühl des Versagens, das mich erfüllte, dass alles so dunkel und trostlos wirkte.

Phillip hatte das Schloss zerschossen und das Tor aufgeschoben, um ins Herrenhaus einzudringen, also stoppten wir im Durchgang und sahen uns auf der Straße um. Doch von Frau Hut, den Riesen oder dem SUV war nichts zu sehen und die umliegenden Häuser lagen immer noch in Dunkelheit. Niemand hatte die Schüsse gehört oder uns herumschleichen gesehen. Gut. Ein Problem weniger heute Abend.

Phillip und ich eilten die Straße entlang und glitten in meinen Lieferwagen. Ich ließ den Motor an und drehte die Heizung voll auf, doch auch der warmen Luft gelang es nicht, die eisige Verzweiflung und Müdigkeit zu vertreiben, die mich erfüllten.

»Und was jetzt?«, fragte Phillip. »Du willst McAllister doch nicht ganz allein hier draußen lassen, oder?«

Ich sah Phillip an.

Er hob die behandschuhten Hände. »Versteh mich nicht falsch. Niemand hat es mehr verdient, in seinem eigenen Haus ermordet zu werden. Ehrlich, ich würde ihn gerne mit bloßen Händen erwürgen für das, was er Eva, Owen und allen anderen in dieser Nacht in Briartop angetan hat.«

»Aber?«

»Aber ich weiß, wie wichtig es dir ist, etwas über den Kreis … und vor allem herauszufinden, in was deine Mutter wirklich verwickelt war. An deiner Stelle ginge es mir genauso.« Phillip atmete einmal tief durch. »So habe ich auch immer in Bezug auf meine eigenen Eltern empfunden. Ich habe jahrelang nach ihnen gesucht, aber nie etwas herausgefunden. Ich habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie wahrscheinlich tot sind. Oder dass ich ihnen einfach nicht so wichtig war, dass sie nach mir gesucht hätten.«

Die letzten Worte stieß er fast knurrend hervor, trotzdem konnte ich den Schmerz in seiner Stimme hören. Seine Schultern fielen nach unten und Phillip schien in sich zusammenzusinken wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Er starrte nach vorn durch die Windschutzscheibe, statt mich anzusehen. Doch an seinem Kiefer zuckte ein Muskel, als bisse er die Zähne zusammen, um sich seine Emotionen nicht anmerken zu lassen. Etwas, was ich, besonders nach den letzten Wochen, nur zu gut nachvollziehen konnte.

Phillip war als Kleinkind ausgesetzt worden und hatte seine Kindheit in schlechten Pflegefamilien verbracht, bis er schließlich weggelaufen war und auf der Straße gelebt hatte. Dort hatte er Owen und Eva getroffen und die drei hatten ihre eigene Familie gebildet, zusammen mit Cooper Stills, Owens Mentor in Schmiedekunst. Phillip wusste nichts über seine Eltern, auch wenn er aufgrund seiner überdurchschnittlichen Körperstärke davon ausging, dass ein Elternteil ein Riese und der andere ein Zwerg gewesen sein musste.

Ich drückte seine behandschuhten Finger, um ihn wissen zu lassen, dass ich seinen Schmerz, seine Wut und seinen Frust verstand. Er musterte mich aus dem Augenwinkel und erwiderte den Händedruck, bevor er mir seine Finger entzog.

»Genug davon«, sagte er ein wenig entspannter. »Ich will doch nicht, dass Owen eifersüchtig wird.«

»Da hat aber jemand eine sehr hohe Meinung von sich selbst.«

»Immer.« Phillip grinste, dann deutete er erneut mit dem Kinn Richtung Herrenhaus. »Aber was willst du nun wegen McAllister unternehmen? Wenn Tucker und der Rest des Kreises ihn tot sehen wollen, dann muss er doch irgendetwas über sie wissen, oder? Selbst wenn ihm das vielleicht gar nicht bewusst ist.«

Das Nachdenken darüber, was der schleimige Anwalt wissen konnte oder auch nicht, verursachte mir Kopfschmerzen. Ich rieb mir die Schläfen. »Ich weiß nicht. Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher. Vielleicht weiß McAllister etwas, vielleicht auch nicht. Vielleicht will Tucker McAllister nur töten, um etwas klarzustellen. Um klarzustellen, dass er mich und jeden anderen, den er möchte, jederzeit töten kann.«

»Aber?« Diesmal stellte Phillip die Frage.

»Aber du hast recht. Ich muss irgendetwas unternehmen in Bezug auf ihn, sosehr mich das auch schmerzt.«

Ich seufzte, zog mein Handy aus der Jackentasche und drückte eine Schnellwahltaste. Er hob beim ersten Klingeln ab, als hätte er direkt neben seinem Telefon gesessen und auf meinen Anruf gewartet. Wahrscheinlich stimmte das sogar. Auf diese Art war er ermüdend effektiv.

»Ja, Gin?«, erklang die glatte Stimme von Silvio Sanchez, meinem persönlichen Assistenten. »Ich nehme an, irgendetwas ist mit Jonah McAllister passiert.«

Ich sah zum Herrenhaus. McAllister war wieder im Inneren verschwunden. Er hatte die Terrassentür geschlossen und alle Lichter ausgeschaltet, als könnte das seine Sicherheit garantieren.

»So könnte man es ausdrücken. Jemand hat versucht, ihn umzubringen.«

Ich konnte hören, wie Silvio auf seiner Tastatur herumtippte. Obwohl es nach neun Uhr abends war, arbeitete er immer noch, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was er tippte oder warum er das gerade tat. Die meisten normalen Leute hätten um diese Uhrzeit auf ihrer Couch gelegen und ferngesehen oder ein gutes Buch gelesen, doch der Vampir war immer erreichbar und saß immer an seinem Computer, egal, wie spät ich anrief.

»Hmmm«, murmelte Silvio. »Nun, das ist keine allzu unerwartete Entwicklung. Du hast doch damit gerechnet, dass der Kreis ihn ins Visier nimmt, um ihn zum Schweigen zu bringen.«

»Ich glaube nicht, dass er tatsächlich etwas über sie weiß«, antwortete ich. »Das ist das eigentliche Problem.«

Ich berichtete dem Vampir von allem, was vorgefallen war, auch von Frau Huts versuchtem Mord an dem Anwalt.

Als ich fertig war, tippte Silvio noch ein paar Sekunden, bevor das Geräusch verklang. »Ich habe eine Notiz geschrieben, dass ich Bria und Xavier bitten muss, mir morgen früh die Aufzeichnungen der Verkehrskameras aus der Gegend zu besorgen. Vielleicht können wir zumindest das Kennzeichen des SUVs herausfinden.«

»Ich danke dir für die Mühe, die du dir machst. Aber rechne nicht damit, dass viel dabei rauskommt.«

Detective Bria Coolidge, meine kleine Schwester, und Xavier, ihr Partner bei der Polizei, hatten mir bei meiner Suche nach dem Kreis geholfen – besonders Bria, die genauso dringend Antworten über unsere Mutter finden wollte wie ich. In den letzten paar Wochen hatten Bria und Xavier die verschiedensten Polizeidatenbanken nach Tucker und seinen Kontakten durchsucht. Doch bisher hatten die beiden Polizisten nichts gefunden – genau wie ich, Silvio und der Rest unserer Freunde.

»Also, was möchtest du hinsichtlich McAllister unternehmen, Gin?«, fragte Silvio. »Dir steht eine Reihe von Möglichkeiten offen.«

Er hatte recht. Da ich die Chefin der Unterwelt war, konnte ich mit Jonah McAllister tun, was auch immer ich wollte. Ich konnte zurück in sein Herrenhaus stiefeln und ihn selbst umbringen, irgendwelche Unterweltgestalten beauftragen, das für mich zu erledigen, oder den Anwalt weiter in Angst, Paranoia und Leid verrotten lassen, wie er es jetzt schon seit mehreren Monaten tat.

Das war der Clou an der Situation … die brutale, bittere Ironie. Alle dachten, ich wäre die große Chefin, ich wäre der Boss, ich wäre diejenige, die das Sagen hätte, aber ich kannte die finstere, dreckige Wahrheit. Dass ich nur die Strohfrau war, nur eine Marionette. Eine angenehme Requisite, hinter der sich der Kreis verstecken konnte, während seine Mitglieder im Verborgenen weiter ihre eigenen Süppchen kochten. Ich hatte Tucker mitgeteilt, dass ich niemals für seine Organisation arbeiten würde, wie Mab es getan hatte. Doch der Kreis benutzte mich trotzdem. Dieser Gedanke versaute mir die Laune noch mehr.

»Gin?«, fragte Silvio wieder. »Was willst du in Bezug auf McAllister unternehmen?«

Ich sah erneut zum Herrenhaus, das inzwischen genauso ruhig und dunkel dalag wie die anderen Häuser an der Straße. Zweifellos war Jonah immer noch hellwach. Wahrscheinlich hatte er sich mit einer Pistole in der Hand irgendwo in einen Schrank verkrochen, immer noch in seinem Weihnachtspullover mit der Steinsilber-Weste, und hoffte inständig darauf, dass Frau Hut nicht zurückkam, um ihn endgültig zu erledigen.

Ich bezweifelte, dass sie heute Nacht zurückkehren wollte, schließlich war sie überzeugt, ihn bereits getötet zu haben. Doch sie würde wieder auftauchen und darauf musste ich mich vorbereiten. Wenn McAllister irgendetwas über den Kreis wusste – wenn er Informationen besaß, derer er sich vielleicht nicht mal bewusst war –, dann wollte ich eine weitere Chance, die aus ihm herauszupressen.

Oh, ich ging nicht davon aus, dass ich Frau Hut davon abhalten konnte, McAllister umzubringen, wenn sie entschlossen genug war, das zu tun. Ich konnte ihn nicht rund um die Uhr bewachen oder beschützen, nicht einmal, wenn ich ihn schreiend in irgendeinen geheimen Unterschlupf zerrte. Aber selbst wenn es Frau Hut gelang, den Anwalt kaltzumachen, konnte mir das zumindest mehr über sie verraten. Und die Infos, die ich so erhielt, konnten mich vielleicht zu Tucker und dem Rest des Kreises führen. Inzwischen war ich bereit, mich auch mit Brotkrumen zufriedenzugeben.

»Gin?«, fragte Silvio zum dritten Mal.

»Ruf Jade Jamison an und frag, ob sie ein paar Leute, die sowieso in der Nachbarschaft arbeiten, abstellen kann, damit sie ein Auge auf McAllister halten. Um diese Jahreszeit sind wahrscheinlich eine Menge ihrer Leute in den Villen angestellt, um zu kochen oder zu putzen.«

Jade Jamison war eine Unterweltgestalt, die verschiedenste Reinigungs- und andere Dienstleistungsfirmen in ganz Ashland führte. In dieser Gegend waren Köche, Haushälterinnen, Gärtner und selbst Sicherheitsleute so unsichtbar wie Schneemänner. Niemand würde ihnen einen zweiten Blick schenken. Nicht McAllister und hoffentlich auch nicht Frau Hut, wenn sie denn zurückkehrte, um den Anwalt noch mal umzubringen.

»Aber sag Jade, dass ihre Leute McAllister nur beobachten sollen«, fügte ich hinzu. »Ich möchte nicht, dass sie versuchen, ihn zu retten, falls er noch mal von Frau Hut oder jemand anderem angegriffen wird. Er ist es nicht wert, ihr Leben zu riskieren. Und dasselbe gilt für jegliche Informationen, die er vielleicht oder vielleicht auch nicht besitzt.«

»Verstanden.« Silvio fing erneut an zu tippen. »Noch etwas?«

»Nö. Und all das hat Zeit bis morgen früh. Du solltest ins Bett gehen. Dich ausruhen.«

»Mmm-mmm.« Der Vampir begann, noch schneller zu tippen als bisher und ignorierte damit meinen Vorschlag vollkommen.

Ich seufzte, weil ich wusste, dass ich ihn nicht davon abhalten konnte, Jade anzurufen, sobald ich aufgelegt hatte. Silvio schob Dinge nicht gerne auf, nicht mal für ein paar Stunden. Das war eine der Eigenschaften, die ihn zu einem so guten Assistenten machten, selbst wenn mich das manchmal nervte.

»Wir sehen uns morgen früh im Restaurant«, sagte ich und ergab mich damit dem Unvermeidlichen.

»Natürlich. Dann werde ich schon ein erstes Update für dich haben. Bis dahin.«

Wir legten auf, dann sah ich Phillip an.

Er musterte mich stirnrunzelnd. »Jonah nur beobachten? Das ist gar nicht dein Stil. Mich überrascht, dass du nicht wieder ins Herrenhaus stürmst und ihm mit dem Messer an seiner Kehle ein paar spitze Fragen stellst.«

Vielleicht hätte ich das tun sollen, doch mir fehlte heute Abend einfach die Energie, richtig Furcht einflößend aufzutreten. Der Kreis hatte mich schon wieder ausgetrickst. Außerdem konnte ich keinem Wort vertrauen, das Jonah McAllister im Moment sagte, und ich konnte mir einfach nicht sicher sein, wie viel Bullshit er erzählen würde, nur um am Leben zu bleiben.

»Was soll ich sagen?«, meinte ich gedehnt. »Es ist ein Weihnachtswunder.«

Phillip lachte. Ich legte den Gang ein und fuhr in die kalte, eisige Nacht davon.

3

Ich setzte Phillip am Liegeplatz der Delta Queen ab, seinem Flussschiff-Casino und Zuhause, dann fuhr ich am Fluss entlang, bis ich einen asphaltierten Parkplatz vor einem kleinen Park erreichte. Ich hielt an und spähte durch die Fenster.

Ich parkte nur ein paar Kilometer von der Delta Queen entfernt, doch die Umgebung unterschied sich so deutlich, dass ich genauso gut auf den Mond gefahren sein konnte. Statt eines glänzend weißen Flussschiffes, schicker Läden und hochklassiger Restaurants gab es in dieser Gegend verlassene Gebäude, von Rissen durchzogene Gehwege und zerstörte Straßenlaternen. Ich befand mich jetzt mitten in Southtown, dem Teil von Ashland, in dem Gangmitglieder, Nutten und andere gefährliche Gestalten herumstrichen.

Normalerweise hätte ich damit gerechnet, ein paar Obdachlose um die Abfalleimer am Ende des Parkplatzes stehen zu sehen, die sich an einem kleinen Müllfeuer zu wärmen versuchten. Doch heute Nacht war es dafür zu feucht und zu kalt, also lag die Gegend verlassen da. Gut. Ich wollte auf keinen Fall, dass jemand mich sah oder verstand, wo ich hinwollte.

Silvio konnte mein Handy orten – und tat es auch –, also schaltete ich das Gerät aus und ließ es in meinem Auto zurück … das der Vampir ebenfalls orten konnte, dank des GPS-Senders, den er am Unterboden befestigt hatte. Er mochte zu Hause sitzen und arbeiten, trotzdem zweifelte ich keinen Moment daran, dass Silvio regelmäßig auf sein Handy sah, um zu überprüfen, wo ich mich gerade aufhielt. Ich bewunderte die Effizienz und den Einsatz des Vampirs, gleichzeitig fand ich es aber ein wenig unheimlich, wie leicht der Vamp mich im Auge behalten konnte. Außerdem brauchte jede Frau ein paar Geheimnisse.

Besonders, wenn es um den Kreis ging.

Ich stieg aus dem Wagen. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, doch wegen des eisigen Windes war es noch kälter als zuvor. Ich klappte den Kragen meiner Jacke nach oben, zog mir die Mütze tief in die Stirn und stopfte die behandschuhten Hände in die Jackentaschen, um meine Körperwärme zu erhalten. Das funktionierte ungefähr fünf Sekunden lang, dann traf mich die erste Böe im Gesicht und durchdrang die Lagen meiner Kleidung. Ich zitterte, senkte den Kopf und lief los.

Ich ließ den Parkplatz hinter mir und bog auf einen gewundenen Pfad ein, der am Fluss entlangführte. In den wärmeren Monaten war dieser kleine Park bei Spaziergängern, Joggern und Fahrradfahrern beliebt. Doch niemand, der noch bei Sinnen war, würde heute Nacht bei diesem Wetter hierherkommen. Andererseits war ich selten ganz bei Sinnen, zumindest wenn ich Phillip, Silvio und dem Rest meiner Freunde glaubte.

Der Weg war vereist, also ging ich daneben auf dem Gras, weil ich das für sicherer hielt. Ich sah mich aufmerksam um, doch alle anderen hatten für die Nacht Schutz gesucht, also war ich die einzige Person, die durch die Dunkelheit eilte.

Es kostete mich ungefähr eine halbe Stunde, das Ende des Pfades zu erreichen und damit einen weiteren, kleinen Park. Ich drückte mich in den Schatten einer Trauerweide und sah mich auch hier aufmerksam um. Niemand da. Also stapfte ich durch feuchtes Laub zu dem drei Meter hohen Maschendrahtzaun, der den Park von dem Industriegelände daneben trennte.

Obwohl das Metall von Eis überzogen war, kletterte ich mühelos auf den Zaun, um auf der anderen Seite zu Boden zu springen. Ich kauerte mich für einen Moment in den Schatten, nur für den Fall, dass sich jemand auf dieser Seite des Zauns aufhielt. Aber ich war genauso allein wie bisher, also richtete ich mich auf und eilte los.

Ich rannte über eine vielleicht dreißig Meter breite Freifläche, bevor ich einen großen Frachtcontainer erreichte – den ersten von unzähligen auf diesem weitläufigen Werftgelände. Ich drückte mich gegen die Metallwand des Containers und sah mich um, doch es tauchte niemand auf und die nächtliche Stille wurde von keinen Rufen gestört. Niemand hatte mein Eindringen bemerkt, also fühlte ich mich sicher genug, um weiterzugehen.

Ende der Leseprobe