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Band 5 des spannenden Tierfantasy-Abenteuers! Vor den Gefährten Abeke, Conor, Meilin, Rollan und ihren Seelentieren liegt eine schwierige Aufgabe: Im Land der Hundert Inseln müssen sie den Talisman des uralten Mulop finden, um den Feind zu besiegen. Doch es gibt einen Verräter in der Gruppe ... Entdecke die Welt der "Spirit Animals": Band 1: Der Feind erwacht Band 2: Die Jagd beginnt Band 3: Das Böse erhebt sich Band 4: Das Eis bricht Band 5: Die Maske fällt Band 6: Die Stunde schlägt Band 7: Der Zauber befreit Band 8: Das Dunkle kehrt zurück Band 9: Die Erde bebt Band 10: Der Sturm naht
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Seitenzahl: 213
Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2016 Ravensburger Verlag GmbHOriginaltitel: Spirit Animals. Against the TideCopyright © 2014 by Scholastic Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA.SCHOLASTIC, SPIRITANIMALS and associated logos are trademarks and/or registered trademarks of Scholastic Inc.Übersetzung: Wolfram StröleLektorat: Franziska JaekelUmschlagmotiv: Angelo RinaldiUmschlaggestaltung: SJI Associates. Inc. und Keirsten GeiseVorsatzkarte und Vignetten: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47759-3www.ravensburger.de
Für Elliot und Jonah und für mein Seelentier Sunshine– T. S.
KOVO
Die Menschen von Stetriol nannten ihn den Rumpelnden Felsen. Sie wussten nicht genau, wo er lag – irgendwo im sonnenverbrannten, dürren Innern des Kontinents. Aber sie wussten, dass er ein rumpelndes Geräusch von sich gab, das die Erde im Umkreis von Kilometern erzittern ließ. Und sie wussten, wie das Monster hieß, das dort eingesperrt war, und dass niemand, dem sein Leben lieb war, ihm zu nahe kommen durfte.
Deshalb hatte seit Jahrhunderten niemand Kovo, den Großen Affen, in seinem Gefängnis besucht.
Das wäre auch schwierig gewesen, selbst wenn jemand es gewollt hätte. Der Rumpelnde Felsen lag einsam in der Wüste von Stetriol, mehrere Tagesreisen von der nächsten Wasserquelle entfernt. Er fiel nach allen Seiten senkrecht und glatt ab, als hätte ihn jemand mit gewaltigen Schwerthieben an den Rändern beschnitten. Seine Oberfläche erhitzte sich in der Sonne auf mindestens hundert Grad. Die genaue Temperatur hatte natürlich niemand gemessen, aber jedes Lebewesen, das ihn betrat, erlitt augenblicklich schwerste Verbrennungen an Füßen oder Pfoten oder versengte sich die Schuhsohlen.
Der Käfig selbst schien aus der Oberfläche des Felsens zu wachsen, ein gewaltiges Gitterwerk undurchdringlicher Äste, die so hart waren wie Diamanten. Die Äste leuchteten grellweiß, besonders an ihren spitzen Enden, die immer noch ein wenig an die mächtigen Geweihstangen erinnerten, die das Große Tier Tellun vor Jahrhunderten hier gepflanzt hatte. Und darüber schwebte der Adler Halawir, der Wächter mit den scharfen Augen, der Kovo Tag und Nacht bewachte.
Es hatte also seit langer, langer Zeit keine Besucher mehr gegeben. Deshalb das Rumpeln.
„Zuerst werde ich ihnen die Haut abziehen“, grollte eine Stimme wie Donner im fernen Gebirge. „Dann zermalme ich ihre Schädel zwischen meinen Fäusten. Ich werde ihre Knochen in ihre grünen Mäntel wickeln und ihre Häuser anzünden. Ihre Burgen werde ich mit meinen Füßen in den Staub treten.“
Durch die Zwischenräume des Käfigs blickten die heimtückisch funkelnden Augen eines riesigen Silberrücken-Gorillas. Sein schwarzes Fell war viel zu dick für die Hitze und er hatte im Käfig keinen Platz zum Auf- und Abgehen, deshalb hockte er seit Generationen nur in düstere Gedanken versunken da. Könige und Reiche waren gekommen und gegangen, aber er wartete immer noch.
Und während er wartete, träumte er von Rache.
„Ich habe vier Große Tiere getötet“, murmelte er. „Wenn ich erst frei bin, werde ich die frechen Grünmäntel bestrafen, die den Großen Tieren folgen. Ich werde ihre Seelentiere in Stücke reißen und die schwachen Menschen eigenhändig töten. Einige werde ich ganz langsam erwürgen, andere ertränken und wieder andere mit den Füßen zu Tode trampeln.“ Er strich mit seiner ledrigen Hand über das Gitter aus Geweihstangen, hinter dem er gefangen saß.
In der Ferne schrie durchdringend ein einsamer Raubvogel. Die Luft flirrte vor Hitze.
„Lange dauert es nicht mehr. Unnütze Menschen! Wenn ich frei wäre, hätten wir schon längst alle Talismane beisammen. Wir wären die Herrscher dieser Welt und alle müssten uns gehorchen.“
Er drückte gegen die Käfigwände und ließ seine gewaltigen Muskeln spielen. „Bald ist meine Zeit gekommen“, knurrte er. „Bald werden sie mich holen.“ Mit zusammengekniffenen Augen spähte er nach draußen auf den kleinen Ausschnitt der leeren Wüste, den er sehen konnte. „Gerathon ist seit Wochen frei. Elendes Menschengewürm! Vielleicht reiße ich ihnen die Zehennägel aus.“
Er hob den Kopf und blähte witternd die gewaltigen Nüstern. Dann breitete sich langsam ein verschlagenes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Gerathon“, grollte er. „Endlich.“
„Ich verstehe ja, dass du es kaum erwarten kannst, das Blut deiner Feinde zu vergießen“, sagte eine Stimme hinter ihm. „Aber du hast Jahrhunderte gewartet, was machen da ein oder zwei Monate mehr aus?“
„Ich werde warten, solange es nötig ist“, sagte Kovo. „Stell dich dahin, wo ich dich sehen kann.“
Ein braunhaariger Junge kam in Sicht und blieb einige Schritte vor dem Käfig stehen. Hinter ihm fiel die Felswand senkrecht ab. Er war schmächtig, kaum alt genug für den Gallentrank, und er hatte einen schrecklichen Sonnenbrand. Seine Schultern waren mit langen, blutigen Kratzern übersät und von den brennenden Sohlen seiner Schuhe stieg Rauch auf, was er aber nicht zu bemerken schien. Denn in Wirklichkeit steckte ein ganz anderes Wesen in seinem Körper und blickte durch gelbe Schlangenaugen mit riesigen Pupillen nach draußen.
„Ein ungewöhnlich kleiner Körper für dich“, knurrte Kovo. „Sieht mehr aus wie ein Imbiss als ein Bote.“ Er warf einen Blick zum Himmel, aber Halawir war nirgends zu sehen. Der Zeitpunkt war gut gewählt: Sein unermüdlicher Wächter fehlte ausgerechnet jetzt, wo er Besuch hatte.
„Ich werde ihn später bestimmt noch verspeisen“, sagte der Junge. Die Stimme klang nicht wie die von Gerathon, aber sein gespenstisches Zischeln erinnerte an das große Schlangentier. „Alsssso … es ist lange her. Wie hast du die Zeit verbracht?“
„Ich habe mich köstlich amüsiert“, schimpfte Kovo. Seine tief hinter buschigen Brauen verborgenen schwarzen Augen funkelten. „Willst du vor mir mit deiner Freiheit angeben?“
„Nein“, erwiderte Gerathon. An seinen Maßstäben gemessen, klang es beinahe mitfühlend. „Ich wollte dir von unseren Erfolgen berichten. Die Eroberer konnten den räudigen Grünmänteln soeben den Kristallbären abnehmen. Außerdem konnte ich einem von ihnen einen Mordsschrecken einjagen, weil seine Mutter mir hörig ist. Was er für ein Gesicht machte, als sie ihn töten wollte. Es war köstlich.“
„Wunderbar“, fauchte Kovo. „Lass mich nur eine Ewigkeit hier sitzen, solange du deinen Spaß hast.“
„Du hast auch bald deinen Spaß“, beschwichtigte ihn Gerathon. Er brachte den Jungen zum Gähnen und hielt ihm artig den Mund zu. „Wir haben bald genügend Talismane, um dich zu befreien.“
„Das war schon fast das, was ich hören wollte“, sagte Kovo drohend.
„Vertrau mir“, fuhr Gerathon gelangweilt fort. „Wir erfahren alles, was die Grünmäntel tun. Und wir wissen genau, wohin die Vier Gefallenen als Nächstes gehen werden. Wie immer. Wir holen uns den nächsten Talisman und dann vernichten wir sie.“
„Ihr habt sie also noch nicht geschnappt?“, knurrte Kovo. „Willst du mir nicht erklären, warum sie noch leben?“
Gerathon machte mit der Hand des Jungen eine wegwerfende Bewegung. „Sie können mir noch nützen. Das heißt uns. Und unserem Reptilienkönig. Keine Sorge, sie sind bald alle tot.“
Der Junge schrie plötzlich schmerzerfüllt auf und fiel nach vorn auf Hände und Knie. Sofort überzog sich seine Haut mit Brandblasen.
„Ah, Mist“, zischelte Gerathon. Die seltsam gelassene Stimme wollte so gar nicht zu dem schmerzverzerrten Gesicht passen. „Ich glaube, ich habe für dieses mickrige Kostüm demnächst keine Verwendung mehr. Vielleicht sollte ich seinen Bussard rufen und ihn abholen lassen.“
„Verstehe“, meinte Kovo, „damit hast du ihn hier heraufgeschafft.“
Gerathon nickte. „Ja. Wir haben einen ganz kleinen Menschen gewählt und ihn durch den Gallentrank mit einem sehr großen Vogel verbunden.“
Kovo blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel hinauf. Dort kreisten zwei mächtige Schwingen – die ausnahmsweise einmal nicht Halawir gehörten.
Der Junge brach vollends zusammen. Es knisterte und stank nach verbrannten Haaren.
„Hm“, fuhr Gerathon fort, „also der ist fast tot. Wie langweilig. Ich muss mich dann wohl vorerst verabschieden, Kovo.“
„Warte!“ Der Gorilla packte die Geweihstangen. „Wie lange muss ich hier noch ausharren?“
„Wenn wir uns das nächste Mal sehen“, zischte Gerathon und seine Stimme wurde immer leiser, während die Augen des Jungen zufielen und das Leben aus seinem Körper wich, „werden wir beide frei sein.“
„Und dann gehört ganz Erdas uns.“
AUF SEE
Sie ist so nah. Abeke starrte über das dunkle, bewegte Meer zur Küste hinüber, die an ihr vorbeizog. Die Nachmittagssonne schien warm auf ihre Haut und ließ das Wasser golden funkeln, aber der Wind war ungewöhnlich kalt.
Nilo, meine Heimat. Meine Familie.
Sie konnte nur den lang gezogenen Strand und den undurchdringlichen, grünen Urwald dahinter erkennen. Dieser Teil von Nilo sah ganz anders aus als die trockene Savanne um ihr Dorf, aber sie war ihrem Zuhause trotzdem schon lange nicht mehr so nah gewesen.
Was wohl Soama sagen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte? Oder Vater?
Abeke rieb die Wunde an ihrer linken Schulter. Dort hatte sie ein Eroberer bei ihrem letzten Kampf mit einem Messer verletzt. Inzwischen war die Wunde so weit verheilt, dass sie ihren Bogen wieder spannen konnte – einen neuen Bogen als Ersatz für den alten, den ein Eroberer mit seinem Kriegshammer zertrümmert hatte. Aber manchmal tat die Schulter noch weh, vor allem wenn es kalt war.
Wäre meine Familie jetzt stolz auf mich? Oder würde sie mich immer noch für eine Schande und Enttäuschung halten?
Sie zog ihren grünen Mantel fester um sich und streckte mechanisch die Hand nach ihrer Leopardin aus.
Uraza schnurrte laut und schob den Kopf unter Abekes Hand. Eine Weile saß sie so da, ließ sich streicheln und blickte finster auf das Meer. Dann sprang sie auf und lief wieder mit schlingernden Schritten auf dem Deck auf und ab.
Vielleicht fühle ich mich nur deshalb so unwohl, weil sie sich nicht wohlfühlt, dachte Abeke.
Uraza hatte wie die meisten großen und kleinen Katzen eine starke Abneigung gegen Wasser, vor allem wenn es sie von allen Seiten umgab und nach Fischen roch, die sie nicht fangen konnte.
„Ich weiß“, flüsterte Abeke und sah ihrem Seelentier zu. „Ich hätte auch gern wieder festen Boden unter den Füßen.“ So lange auf einem Schiff eingepfercht zu sein, war anstrengend, aber Tarik hatte darauf bestanden. Der sicherste Weg nach Oceanus führte außen um Nilo herum. Auf dem üblichen Seeweg – der Durchfahrt zwischen Nilo und Zhong – wimmelte es gegenwärtig von Eroberern.
Abeke wollte Uraza gerade zurückrufen und ihr anbieten, sie in den Ruhezustand zu versetzen, da tauchte direkt vor Uraza die Pandabärin Jhi von unter Deck auf.
Uraza sprang erschrocken zurück, sträubte die Nackenhaare und fauchte. Ihre spitzen Zähne blitzten in der Sonne und ihre Krallen bohrten sich in die Planken.
„Uraza!“, rief Abeke.
Jhi sah die Leopardin friedlich an und zwinkerte mit den Augen, dann entfernte sie sich gemächlich. Doch hinter ihr erschien Meilin. Sie hatte die Hand an das Messer in ihrem Gürtel gelegt und sah Uraza empört an.
„Sie hat es nicht böse gemeint“, sagte Abeke. Sie eilte zu Uraza und legte ihr beruhigend die Hand auf den Rücken. „Sie ist nur angespannt, wie wir alle.“
„Ich frage mich, warum“, sagte Meilin.
Abeke wusste natürlich, auf was sie anspielte: Schon wieder hatten sie einen Talisman verloren, schon wieder war eine Reise umsonst gewesen. Und Rollan hatte gesagt, dass jemand Informationen an den Gegner verriet.
Meilin musterte Abeke scharf, dann fügte sie hinzu: „Tu uns allen einen Gefallen und pass besser auf deine schlecht gelaunte Katze auf.“ Sie wandte sich ab und ging.
Uraza fauchte leise.
„Ist ja gut“, flüsterte Abeke und streichelte sie. „Ich verstehe, was sie umtreibt.“ Aber ich bin keine Verräterin, ich stehe treu zu den Grünmänteln. Zugegeben, ich mag Shane und finde, dass er auch gute Seiten hat. Aber … ich würde doch nie und nimmer meine Freunde verraten. Und wenn ich nach Hause gehen würde? Wäre das ein Verrat?
Einen Moment lang malte sie sich aus, wie sie sich nachts an Deck schleichen, heimlich ein kleines Ruderboot zu Wasser lassen und allein nach Nilo rudern würde. Sie wäre fort, bevor die anderen etwas bemerken würden. Und dank ihrer Fähigkeiten als Jägerin und der Verbindung mit Uraza, die sie noch schneller und stärker machte, würde sie auch tatsächlich in ihrem Dorf ankommen.
Meilin wäre froh, wenn ich weg wäre. Rollan wahrscheinlich auch. Warum sollte ich bei Leuten bleiben, die mir nicht trauen? Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Sonne hinauf und dachte an Conor. Conor würde sie wahrscheinlich vermissen … und sie ihn ganz bestimmt. In Arctica hatte er gesagt, sie sei für ihn wie eine Familie. Und sie fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl und geborgen, während ihre wahre Familie sie meist mit Geringschätzung behandelt hatte.
Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihren Vater und um Soama, ja um ihr ganzes Dorf. Womöglich brauchten sie Abeke und Uraza zu ihrem Schutz.
Uraza knurrte und Abeke fragte sich, ob sie ihre Gedanken erraten hatte. „Nein, tu ich ja nicht“, sagte sie und beugte sich zu ihrem Seelentier hinunter. „Du brauchst mich gar nicht so streng anzusehen. Ich bin nicht dumm. Ich habe mitbekommen, was passiert ist, als Conor und Meilin glaubten, ihre Familien seien wichtiger als unsere Aufgabe – und als Rollan kurz davor stand, das ebenfalls zu glauben. Ich weiß, dass ich Vater und Soama am besten schütze, wenn ich die Talismane suche und dem Schlinger das Handwerk lege.“
Sie seufzte. Außerdem wäre meine Familie vermutlich genauso wenig erfreut, mich zu sehen, wie Meilin. „Ach, du bist wieder da? Wollten die Grünmäntel dich nicht? Natürlich hast du versagt, wir wussten es. Und die Leopardin kannst du auf keinen Fall mitbringen, schlag dir das gleich aus dem Kopf.“
Nein, sie würde bleiben, wo sie war. Sie musste die anderen nur irgendwie davon überzeugen, dass sie ihr vertrauen konnten.
Uraza ließ eine Art Brummen hören, das so viel bedeuten mochte wie: Das will ich dir auch geraten haben. Sie stieß noch einmal mit dem Kopf gegen Abekes Hand, dann entfernte sie sich anmutig. Ihr Schwanz schlug hin und her und der Wind fuhr durch ihr schwarz gepunktetes, goldenes Fell.
Abeke stand auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte Lenori hinter ihr.
Abeke nickte. Sie hatten nur kurz in Greenhaven haltgemacht, um Lenori an Bord zu nehmen und Maya abzusetzen – die arme, am Boden zerstörte Maya. Anschließend war die Telluns Stolz wiederin See gestochen. Lenoris Visionen hatten sie nach Oceanus gelenkt, wo angeblich ein Riesenkrake dringend mit ihnen sprechen musste.
„Könnten wir nicht …“, platzte Abeke heraus und verstummte.
„Was denn?“, fragte Lenori freundlich.
„In Nilo anhalten? Gibt es dort nicht auch ein Großes Tier? Den Löwen? Wir könnten doch seinen Talisman suchen und dann nach Oceanus weiterfahren.“ Und vielleicht könnten wir in meinem Dorf vorbeischauen … nur um uns zu vergewissern, dass alle wohlauf sind. Ob es doch noch geregnet hatte? Oder waren die Eroberer vorher eingetroffen?
Lenori nickte verständnisvoll. „Du vermisst deine Familie. Das verstehe ich, ich vermisse meine auch. Und du hast es noch viel schwerer als ich. Meine Familie lebt wenigstens in Amaya und dorthin sind die Eroberer noch nicht vorgedrungen.“
„Ich weiß nicht, ob ich sie so sehr vermisse“, gestand Abeke, „aber …“
„Du machst dir einfach Sorgen.“ Der Wind spielte mit Lenoris langen schwarzen Haaren und ihr Regenbogenibis rückte näher an ihren schützenden Mantel heran.
Abeke wandte sich wieder der grün überwucherten Küste zu. „Ich wünschte, sie wüssten, was ich getan habe. Dass ich nicht mehr bei Zerif bin. Ich würde ihnen gern sagen, wem sie vertrauen können und wem nicht. Und ich wünschte, ich könnte sie sehen, damit ich weiß, dass es ihnen gut geht.“
Lenori berührte Abeke an der Schulter und ihre Perlenarmbänder klackten leise. „Ich glaube, es geht ihnen gut“, sagte sie. „Du tust, was getan werden muss, um sie zu retten. Um ganz Erdas zu retten. Du bist sehr tapfer.“
Abeke hätte auch gern Lenoris ruhige Zuversicht.
„Du hast hoffentlich bald Gelegenheit, sie wiederzusehen“, fuhr Lenori fort. „Doch momentan wäre eine Reise nach Nilo zu gefährlich. Den Berichten zufolge haben die Eroberer den ganzen Kontinent überrannt, wie sie es zuvor mit Zhong gemacht haben.“
Umso dringender sollte ich sie besuchen, dachte Abeke. Haben die Eroberer Vater und Soama etwas getan? Sie stellte sich vor, man hätte den beiden den Gallentrank eingeflößt, sie mit irgendwelchen albtraumhaften Tieren verbunden und zu Sklaven der Eroberer gemacht. Ein Schauder überlief sie von Kopf bis Fuß.
„Aber die Eroberer sind nicht der einzige Grund“, ergänzte Tarik, der vom Heck herüberspaziert war. Abeke zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er ihrem Gespräch zuhörte. „Cabaro, der Löwe, ist ein besonders gefährliches Großes Tier. Bevor wir uns an ihn wagen, sollten wir möglichst viele Talismane sammeln, dann haben wir bessere Chancen.“
„Außerdem ruft Mulop uns“, sagte Lenori mit einem abwesenden Gesichtsausdruck, als beobachtete sie etwas in großer Entfernung. Sie streckte die Hand aus. Ihr Ibis kam noch näher an sie heran und fixierte Abeke mit seinem unangenehm starren Blick. Lenori murmelte etwas mit ihrer leisen, melodischen Stimme. Die Worte gingen fast im Rauschen des Meeres unter. „Seit ein paar Wochen höre ich ihn jede Nacht in meinen Träumen. Es beginnt immer mit dem Gesang von Walen, dann wird das Dunkel um mich blau und ich merke, dass ich mich unter Wasser befinde. Licht sickert von oben zu mir herunter, aber es erleuchtet kaum die Höhle, in der ich schwebe. Neben mir steigt eine Luftblase auf und dann noch eine und ich sehe, dass die Blasen Worte enthalten. Ich will sie fangen, aber sie platzen, sobald ich sie berühre. Doch die Worte bleiben als verwischte Zeichen aus Tinte auf meiner Haut zurück, sodass ich fast ein Muster, eine Botschaft erkennen kann, die sie verbindet.“
„Fast?“, fragte Abeke.
„Visionen sind immer ein wenig geheimnisvoll“, erklärte Lenori. „Vor allem, wenn Mulop sie schickt. Aber ich verstehe immerhin, dass er die Vier Gefallenen und ihre Begleiter sehen will.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir dürfen ihn nicht noch länger warten lassen. Mulop schlägt man keine Bitte ab.“
Das wollte ich ja auch gar nicht, dachte Abeke. Nur … wir sind doch bald da. Warum können wir vorher nicht kurz anhalten?
„Zumal er sich als erstes Großes Tier selbst an uns wendet“, fügte Tarik hinzu. Er bedachte Abeke mit einem mitfühlenden Lächeln. „Und nach der Begegnung mit Suka könnten wir ein solches Entgegenkommen gut gebrauchen, findest du nicht? An einem Ort mit Sonnenschein statt erfrorener Zehen. Stell dir vor, ein Großes Tier, das uns tatsächlich sehen will. Vielleicht kann es uns sogar etwas über die Zukunft sagen. Alle Geschichten über Mulop stimmen darin überein, dass er ein mächtiger Seher ist.“
Das leuchtete Abeke ein, wenngleich Lenoris eher vage Visionen sie trotzdem nicht ganz überzeugten. Sie hörte Schritte auf Deck und drehte sich um. Rollan und Conor näherten sich. Briggan befand sich im Ruhezustand – er war auch kein begeisterter Seefahrer –, während Essix sich hoch über ihnen vom Wind tragen ließ.
„Unser Plan ist der sicherste“, meinte Tarik tröstend. Doch was er dann noch sagte, klang überhaupt nicht beruhigend. „Sorgen macht mir nur, dass wir an Stetriol vorbeifahren müssen. Ich wollte, es gäbe einen anderen Weg. Hoffentlich bemerkt uns niemand.“
„Hoffen ist immer gut“, bemerkte Rollan. „Aber sind unsere Hoffnungen schon einmal in Erfüllung gegangen?“
Tarik musterte ihn.
„Fragt mich bloß nicht schon wieder, wie es mir geht“, fuhr Rollan fort und lächelte. Sein Lächeln wirkte auch einigermaßen überzeugend, aber es erreichte nicht seine Augen. „Ich habe alles verarbeitet und es geht mir gut. Sogar noch viel besser als vorher. Ich kann endlich mein Seelentier in den Ruhezustand versetzen!“ Er zog sein Hemd auf und entblößte die Brust. „Wartet kurz … Moment …“
Eine Pause entstand. Nichts geschah. Essix kreiste weiter hoch über ihnen und schenkte Rollan keinerlei Beachtung.
„Wir warten immer noch“, scherzte Conor.
Rollan zuckte mit den Schultern. „Egal. Jedenfalls verstehen wir uns besser und kommen gut miteinander klar.“ Er hob die Stimme. „Nicht wahr, Essix?“
Das Falkenweibchen kreischte, was auch bedeuten konnte: Zieh dein Hemd wieder an.
Abeke überlegte, ob es Rollan wirklich gut ging, nach allem, was mit seiner Mutter Aidana passiert war. Eigentlich konnte das nicht sein, aber offensichtlich wollte er nicht darüber sprechen.
Sie hatten sich nur einmal darüber unterhalten, seitdem sträubte sich Rollan gegen dieses Thema. Alle hatten bemerkt, wie still und erschüttert er nach den Kämpfen im Hafen gewesen war. Abeke hatte geglaubt, dass der Grund der Verlust des Kristallbären gewesen war. Schließlich hatte er ihn gehalten, als das Walross sich den Talisman geschnappt hatte.
Doch zwei Nächte später, auf der Fahrt nach Greenhaven, hatte er ihnen alles erzählt. Seine Mutter hatte ihn als Kind verlassen, weil sie keine stabile Bindung zu ihrem Seelentier aufbauen konnte und deshalb eine Gefahr für ihn darstellte. Erst bei den Eroberern hatte sie ihren Frieden gefunden, nachdem sie den Gallentrank getrunken und sich ihre Bindung dadurch gefestigt hatte. Sie hatte Rollan sogar überreden wollen, sich ihr anzuschließen – und dabei die dunkle Seite des Gallentranks offenbart: Wer ihn trank, musste den Eroberern gehorchen. Rollan hatte das Gefühl gehabt, jemand anders hätte ihren Leib übernommen. Als hätte ein unmenschliches Wesen aus ihren Augen geblickt und sie gezwungen, ihrem eigenen Sohn nach dem Leben zu trachten.
Wenn Abeke daran dachte, überlief sie immer noch ein kalter Schauer. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlte – zu erleben, wie eine nahestehende Person von einer dunklen Macht vereinnahmt wurde. Oder schlimmer noch, diese Person zu sein und die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren. Gab es etwas Schrecklicheres, als ein Mitglied der eigenen Familie anzugreifen und sich nicht dagegen wehren zu können?
Armer Rollan. Niemand wusste, ob er seine Mutter je wiedersehen würde oder ob sie jetzt, wo der Gallentrank über sie bestimmte, überhaupt wieder eine richtige Mutter sein würde.
Aber Rollan wollte keine Beileidsbekundungen oder mitleidigen Blicke, er wollte keine traurigen Gesichter. Das hatte er allen unmissverständlich klargemacht. Was geschehen sei, sei geschehen, er habe seine Mutter sowieso kaum gekannt und werde sie deshalb nicht vermissen.
Abeke wusste, dass das eine Lüge war, aber Rollan schien diese Lüge zu brauchen. Seit jenem Abend war er wieder ganz der Alte, mit seinen ewigen Sprüchen und einem womöglich noch größeren Selbstbewusstsein, weil Essix sich zumindest ab und zu in den Ruhezustand versetzen ließ.
Doch Abeke spürte, dass Tarik sich Sorgen um Rollan machte. Alle machten sich Sorgen, aber sie konnten nichts weiter tun, als Rollan in Ruhe zu lassen.
„Hast du vielleicht noch etwas geträumt, Conor?“, fragte Lenori. „Hat Mulop zu dir gesprochen?“
„Hm, nicht richtig gesprochen, nein“, erwiderte Conor und fuhr sich ein wenig ratlos mit der Hand durch die blonden Haare.
Lenori nickte. „Ich sagte gerade zu Abeke, dass Mulops Visionen immer besonders rätselhaft sind. Was hast du geträumt?“
„Der Traum fing genauso an wie der davor“, sagte Conor. „Ich flog durch die Luft über ein Meer von Inseln, die aussahen wie tausend kleine, über das Wasser verteilte grünweiße Schafe. Von Süden zog eine Wolke aus schwarzer Tinte auf und begann in das Wasser zu regnen. Alle Inseln, die mit der Tinte in Berührung kamen, wurden schwarz. Und dann …“ Er zögerte und warf Rollan einen kurzen Blick zu.
„Sprich weiter“, sagte Tarik. „Rollan wird sich nicht über dich lustig machen.“
„Doch, das werde ich auf jeden Fall“, widersprach Rollan. „Aber lass dich dadurch nicht beirren, Conor.“
„Dann wuchsen lange Fangarme aus dem Meer“, fuhr Conor fort. „Sie griffen nach den Inseln, die noch grün waren, warfen sie auf die schwarzen Inseln und trieben sie zurück wie bei einem Murmelspiel. Auch die Tinte wich zurück. Schließlich zeigten die Fangarme auf mich und … winkten irgendwie. Dann tauchten sie wieder ins Wasser und ich wachte auf.“ Er sah Rollan erwartungsvoll an.
„Schade“, sagte Rollan. „Das ist überhaupt nicht lustig.“
„Viel können wir dem nicht entnehmen“, sagte Lenori, „aber fest steht, dass Mulop uns auf sich aufmerksam machen will.“
„Dann tun wir offenbar das Richtige“, sagte Abeke. Zu hören, dass auch Conor von Mulop geträumt hatte, beruhigte sie. Er lächelte sie an und ihr wurde ganz warm vor Dankbarkeit. Wenigstens behandelt er mich noch wie eine Freundin.
Da ertönte ein tiefes Knurren und die Härchen auf Abekes Haut stellten sich auf. Sie fuhr herum. Uraza hatte sich zum Angriff geduckt. Ihr Schwanz zuckte und ihre violetten Augen waren wütend auf eine vollkommen harmlos aussehende Möwe gerichtet.
Eine Möwe?
Der grau-weiße Vogel saß so hoch über den Köpfen der Grünmäntel auf einer Rah, dass nicht einmal Uraza ihn mit einem Sprung erreichen konnte. Und er sah genauso aus wie die vielen anderen Möwen, die sie umschwirrten.
Er klapperte mit dem Schnabel, legte den Kopf schräg und starrte die Leopardin mit einem schwarzen Knopfauge an.
„Was ist denn, Uraza?“, fragte Abeke.
Der Vogel wandte sich den Kindern zu. Langsam drehte er den Kopf. Sein Blick wanderte über Abeke und ein seltsames Frösteln überlief sie. Bei Conor hielt er an.
„Sieht aus, als hättest du einen Bewunderer“, sagte Rollan lachend. „Deshalb sage ich immer, du sollst dich öfter waschen, Conor. Wenn du nicht wie ein Fisch stinken würdest, wärst du auch nicht …“
Die Möwe kreischte genau einmal – ein durchdringender Schrei, der klang, als würde sie bei lebendigem Leibe gerupft. Dann warf sie sich im Sturzflug auf Conors Gesicht.
STURM
Unversehens hüllten Conor von allen Seiten Federn ein, sodass er den Himmel und seine Freunde nicht mehr sah und keine Luft mehr bekam. Grau-weiße Flügel droschen wie besessen auf ihn ein, als wollten sie ihm den Schädel einschlagen. Ein nadelspitzer Schnabel hieb nach seinem Gesicht, seinen Augen und seinem Hals.
Mit einem Schrei wich Conor zurück, doch der Vogel ließ nicht von ihm ab und riss ihm die Haare gleich büschelweise aus. Schützend hob Conor die Arme über den Kopf. Sofort stürzte sich die Möwe auf seine Manteltasche.
„Vorsicht!“, hörte er Meilin wie aus weiter Ferne rufen. „Sie will den Talisman stehlen. Den Granitwidder!“
„Sie ist ein Seelentier!“, schrie Rollan. „Sie arbeitet für die Eroberer!“
Conor spürte, wie die anderen versuchten, die Möwe ab