Sprachentwicklung und Sprachförderung in der Kita - Uta Hellrung - E-Book

Sprachentwicklung und Sprachförderung in der Kita E-Book

Uta Hellrung

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Beschreibung

Kinder in ihrer Sprachentwicklung zu beobachten, zu unterstützen und zu fördern ist eine wesentliche Aufgabe pädagogischer Fachkräfte. Dieses Buch bietet fundiertes Wissen und praktische Impulse zu Themen wie Spracherwerb, Sprachentwicklungsstörungen sowie zur Reflexion und Weiterentwicklung des eigenen sprachfördernden Verhaltens. Die Freude an Sprache und Kommunikation steht dabei stets im Vordergrund. Ein Leitfaden für alle pädagogischen Fachkräfte, um diesen faszinierenden Lernprozess einfühlsam und kompetent zu begleiten.

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Uta Hellrung

Sprachentwicklung und Sprachförderung

beobachten – verstehen – handeln

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: SchwarzwaldMädel, Simonswald

Umschlagabbildung: © Maya Cycan

Fotos im Innenteil: S. 9 © Anke Thomass/Adobestock

S. 68 © MN Studio/Adobestock

S. 85 © Marina Dyakonova/Adobestock

S. 133 © Juanmonino/istock/Getty Images

Gesamtgestaltung und Satz: Hauptsatz Susanne Lomer, Freiburg

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-81813-4

ISBN Print 978-3-451-38541-4

ISBN EPUB 978-3-451-81924-7

Inhalt

Vorwort

1.Wie sich Kommunikation und sprachliche Fähigkeiten entwickeln

1.1 Was ist Sprache und Kommunikation?

1.2 Wie funktioniert Sprechen und Verstehen?

1.3 Was ist normal? Die Schwierigkeit von Altersnormen

1.4 Vom ersten Tag an – Die frühe Kommunikation

1.5 »Was ist Figur?« – Der Wortschatz

1.6 Deutlich sprechen – Die Aussprache

1.7 Die Melodie der Sprache – Die Prosodie

1.8 »Das hat sich gleich angehört« – Die phonologische Bewusstheit

1.9 »Hab schon abgeschneidet« – Die Grammatik

1.10 »Ich verstehe, was du sagst« – Das Sprachverständnis

1.11 Zeit lassen – Die Sprechflüssigkeit

1.12 Sprachliche Fähigkeiten gebrauchen – Die Pragmatik

1.13 Schnittstellen in der Sprachentwicklung

1.14 Mehrsprachig aufwachsen

2.Sprachentwicklung und kindliche Gesamtentwicklung

2.1 Mit allen Sinnen – Die Wahrnehmung

2.2 Die Entwicklung der Motorik

2.3 Das Wissen über sich selbst und die Welt – Die kognitive oder geistige Entwicklung

2.4 Mit anderen in Kontakt treten – Die sozial-kommunikative Entwicklung

2.5 Die Rolle des Inputs – Sprachvorbild und soziales Umfeld

3.Sprachförderung in der Kita

3.1 Was ist Sprachförderung?

3.2 Wer braucht Sprachförderung?

3.3 Wer braucht Sprachtherapie?

3.4 Was bedeutet alltagsintegrierte Sprachförderung?

3.5 Sprachförderndes Verhalten

3.6 Reflektieren der eigenen Arbeit

3.7 Sprachförderung bei Kindern, die Deutsch als Zweitsprache lernen

3.8 Sprachförderung bei Kindern unter drei Jahren

3.9 Förderung der metasprachlichen und der phonologischen Bewusstheit

3.10 Förderung der Literacy

3.11 Zusammenarbeit mit Eltern

3.12 Ermittlung des Sprachstandes/Feststellung von Förderbedarf/Diagnostizieren/Beobachten/Dokumentieren

3.13 Spielideen zur allgemeinen Sprachförderung

4.Behandlungsbedürftige Störungen von Sprache, Sprechen und Stimme

4.1 Störungen der Sprachentwicklung

4.2 Die verbale Entwicklungsdyspraxie (VED)

4.3 Myofunktionelle Störungen

4.4 Redeflussstörungen (Stottern und Poltern)

4.5 Der selektive Mutismus

4.6 Stimmstörungen

4.7 Die Rhinophonie

4.8 Der Weg zur Logopädin/Sprachtherapeutin

Literatur

Vorwort

Das Thema »Sprachförderung« nimmt nach wie vor einen breiten Raum in der bildungspolitischen Diskussion, aber auch im Alltag von Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen1 ein. Dabei geht es zum einen um den mehrsprachigen Spracherwerb mit all seinen durch gesellschaftliche Veränderungen bedingten Facetten. Zum anderen geht es um die »ganz normale« Sprachentwicklung aller Kinder und um die Frage, wie diese am besten gefördert werden kann.

Kinder sind von Geburt an mit Fähigkeiten ausgestattet, die es ihnen ermöglichen, eine oder mehrere Sprachen ganz beiläufig und mühelos zu erwerben. Ihre Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sind für diesen Prozess hochspezialisiert. Auf der anderen Seite bieten ihnen ihre Bezugspersonen ganz intuitiv und ohne über eine Didaktik nachzudenken den passenden Sprachinput für jeden nächsten Entwicklungsschritt. Den Rahmen dafür bilden alltägliche Interaktionszusammenhänge, in denen Kinder von Anfang an Kommunikationserfahrungen machen können. Die Bezugspersonen gestalten diese Interaktionssituationen so, dass die Kinder nach und nach eine immer aktivere Rolle übernehmen und ihre erworbenen kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten einbringen können.

Auch die professionelle Förderung sprachlicher und kommunikativer Fähigkeiten von Kindern sollte innerhalb sinnvoller Interaktionen im Alltag geschehen:

»Alltagsintegrierte sprachliche Bildung ist von einem professionellen Interesse an der Lebenswelt, den Themen und Fragen der Kinder, ihren Entwicklungserrungenschaften und anstehenden Entwicklungsschritten als soziale und interaktive Persönlichkeiten geprägt und macht diese zum Ausgangspunkt für eine gezielte Begleitung und Unterstützung sprachlicher Bildung. (…) Fachkräfte erkennen, initiieren und nutzen Interaktionsgelegenheiten, um den Dialog mit Kindern und der Kinder untereinander auf der Grundlage von theoretischem Wissen zu Sprachbildungsprozessen zu fördern« (www.fruehe-chancen.de).

In diesem Buch finden sich praxisnahe Informationen

zum ein- und mehrsprachigen Spracherwerb,

zu den Entwicklungsbereichen, die eng mit dem Spracherwerb zusammenhängen,

und zu behandlungsbedürftigen Sprachentwicklungsstörungen.

In der neuen Auflage von »Sprachentwicklung und Sprachförderung« wurden kleine Anpassungen an den aktuellen Forschungs-, Diskussions- und Wissensstand vorgenommen. Aufgrund der aktuellen Relevanz wurden außerdem die Themen »selektiver Mutismus« und »Sprachförderung bei Kindern mit Fluchterfahrung« aufgenommen.

Daneben finden sich eine Menge an Anregungen, um das eigene sprach- und kommunikationsfördernde Verhalten den Kindern gegenüber zu reflektieren und weiter zu professionalisieren.

Pädagogische Fachkräfte haben es in der Kita mit vielen Kindern gleichzeitig zu tun und treffen auch auf Kinder, die sich nicht so leicht mit dem Spracherwerb tun oder Deutsch als zweite Sprache lernen. Hier kommt es darauf an, sprachförderndes Verhalten bewusst einzusetzen und nach den Möglichkeiten zu kommunikativer Interaktion aktiv zu suchen.

Dabei ist mir besonders wichtig, dass die Freude an Sprache und Kommunikation im Vordergrund steht – bei allen Beteiligten. Ich wünsche viel Erfolg und Freude bei der spannenden und lohnenden Aufgabe, Kinder in ihrem Spracherwerb zu begleiten und zu unterstützen.

Uta Hellrung

1.Wie sich Kommunikation und sprachliche Fähigkeiten entwickeln

In diesem Kapitel erfahren Sie

was uns mit Sprache alles möglich istwie die Sprachverarbeitung funktioniertauf welchen Ebenen man Sprache betrachten kannwie schon ganz kleine Kinder mit ihren Bezugspersonen kommunizierenwie Kinder Sprache erwerben und welche Fähigkeiten sie dafür mitbringenwie sich Bezugspersonen von Kindern im Spracherwerb verhaltenwie Kinder zwei oder noch mehr Sprachen erwerben

Der Spracherwerb ist eine hochkomplexe und umfangreiche Aufgabe: Kinder lernen in kurzer Zeit eine riesige Menge an Wörtern, sodass sie diese in entsprechenden Situationen verstehen und nutzen können. Sie lernen, wie man diese Wörter richtig ausspricht. Dazu müssen sie die Laute der jeweiligen Sprache bilden können und wissen, wie diese kombiniert werden. Sie lernen, wie Wörter zu Sätzen zusammengefügt werden, und entdecken dabei Regeln und Ausnahmen der Grammatik. Und schließlich werden sie immer besser darin, ihre Gedanken in flüssige Sprache umzusetzen.

Kinder lernen Sprache »nebenbei«

Den meisten Kindern scheint diese gewaltige Aufgabe recht mühelos und ganz beiläufig zu gelingen. Die Regeln ihrer Sprache(n) müssen sie nicht explizit lernen – ganz im Gegensatz zu Erwachsenen, die sich eine Fremdsprache meist mühsam aneignen müssen. Kinder lernen ihre Muttersprache und sogar mehrere Sprachen implizit. Das heißt, dass sie, würde man sie nach den zugrunde liegenden Regeln fragen, keine einzige benennen könnten. Trotzdem können sie sie ständig anwenden und machen erstaunlich wenige Fehler dabei. Sprachliches Wissen ist also vor allem Handlungswissen.

Kinder sind bereits von Geburt an mit Fähigkeiten ausgestattet, die ihnen den Zugang zur Sprache eröffnen und diesen gewaltigen Lernerfolg ermöglichen. Ihre Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sind in vielfacher Hinsicht für die Aufgabe des Spracherwerbs spezialisiert. Schon lange bevor ein Kind seine ersten Wörter äußert, erweitert es ständig sein Wissen über den Klang und die Struktur seiner Sprache und die Bedeutung der Wörter. Dabei sind vor allem die kommunikativen Erfahrungen, die es im ersten Lebensjahr macht, von Bedeutung. In ungezählten Interaktionssituationen mit seinen Bezugspersonen lernt das Kind immer besser, kommunikative Signale und Zeichen intentional, also absichtsvoll und auf ein Gegenüber ausgerichtet, zu gebrauchen und Symbole als kommunikative Zeichen zu nutzen. Es lernt, dass es mit seinen Lauten die Aufmerksamkeit der Bezugspersonen auf sich lenken und in einen lustvollen Austausch treten kann. Und es lernt, dass auf seine Äußerungen hin bestimmte Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden. Kinder lernen aber vor allem, dass Sprechen und Kommunizieren an sich etwas ist, das Spaß macht und viele Möglichkeiten für gemeinsame Spiele eröffnet.

1.1 Was ist Sprache und Kommunikation?

Sprache und Sprechen

Was ist überhaupt Sprache? Sprache ist ein abstraktes Zeichen- oder Symbolsystem in unserem Kopf, das der Verständigung dient. Zu diesem System gehören Einheiten (Laute, Wörter) und Regeln, mit denen man diese Einheiten kombinieren kann. Die Sprache ist nicht beobachtbar. Wir können nur die Realisation der Sprache, also das Sprechen, beobachten.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass das Sprechen nicht die Sprache selbst ist. Wenn ein Kind spricht und wir dabei einen Fehler bemerken, gibt das nicht unbedingt Aufschluss darüber, wie weit sein Sprachsystem schon entwickelt ist, wie weit das Kind also mit dem Erschließen von Regeln ist. Umgekehrt kann ein Kind vielleicht einen Satz, den es gehört hat, korrekt nachsprechen; das heißt aber nicht unbedingt, dass es über die entsprechenden Regeln bereits verfügt (vgl. Funk, Meyer & Rausch 2015).

Bei der Sprachförderung geht es zum einen um die Sprache. Es sollen möglichst optimale Bedingungen dafür geschaffen werden, dass die Kinder die Einheiten der Sprache (vor allem Wörter) und die Regeln zu ihrer Kombination erwerben können. Und es geht nicht darum, dass die Kinder in der Kita möglichst perfekte Sätze sprechen. Das Wichtigste aber ist, dass Sprache einen Zweck hat: Sie dient der Verständigung untereinander, also der Kommunikation. Gelingende Kommunikation im Alltag zu ermöglichen – auch dann, wenn sprachliches Wissen (noch) begrenzt ist –, darum geht es zum anderen.

Mit anderen in Kontakt treten

Kommunizieren bedeutet vor allem, mit anderen in Kontakt zu treten. Wenn wir kommunizieren, können wir andere auffordern, etwas Bestimmtes zu tun, sie über ein Ereignis informieren, ihnen unsere Pläne oder Überlegungen mitteilen, etwas über ein Erlebnis erzählen oder über eine Geschichte, die wir gehört haben. Wir können Gedanken und Gefühle ausdrücken, von Erfahrungen berichten, Wünsche und Ideen kundtun oder Streitigkeiten lösen und Kompromisse aushandeln (vgl. Funk et al. 2010).

Um Kommunikationsprozesse zu erklären, wurden verschiedene Modelle entwickelt. Ein gängiges Kommunikationsmodell ist das »Nachrichten«-Modell, in dem eine Nachricht vom Sender zum Empfänger geschickt wird. Es werden also Informationen zwischen den Gesprächspartnern übermittelt. Dabei geht es zum einen um Inhalte, die übermittelt werden sollen. In jeder Nachricht stecken zum anderen aber auch Anteile, die die Beziehung zwischen Sender und Empfänger betreffen. Und ganz häufig geht es eigentlich gar nicht um die Übermittlung von Informationen. Wenn wir zum Beispiel über das Wetter sprechen, formulieren wir das, was sowieso offensichtlich ist, einzig und allein zu dem Zweck, etwas miteinander zu teilen, also soziale Nähe herzustellen.

Zeichen und Symbole

Bedeutungen von Wörtern sind willkürlich

Zur Übermittlung von Inhalten brauchen wir Zeichen und Symbole. Ein Symbol ist ein Bedeutungsträger, der eine Vorstellung oder ein Konzept repräsentiert. Symbole können Zeichen, Wörter, Gebärden, Gegenstände, Formeln, Buchstaben, Zahlen etc. sein. Sprachliche Symbole sind willkürlich. Ferdinand de Saussure, ein Schweizer Sprachwissenschaftler (1857–1913), prägte dafür den Begriff der »Arbitrarität«. Dass sprachliche Zeichen »arbiträr« sind bedeutet, dass die Beziehung zwischen dem Bezeichnenden, also zum Beispiel der Wortform auf der einen Seite und dem Bezeichneten, also dem, was das Wort meint, auf der anderen Seite nicht naturgegeben ist. Man könnte auch sagen: Die Beziehung zwischen dem Wort und seiner Bedeutung wurde von Menschen festgelegt. Sie ist deshalb willkürlich und beruht auf Konvention und Vereinbarung. Diese Konventionen sind natürlich von Sprache zu Sprache unterschiedlich. Deshalb kann das gleiche Tier im Deutschen mit »Hund«, im Französischen mit »chien«, im Englischen mit »dog« und im Spanischen mit »perro« bezeichnet werden. Anders als das lautmalerische »dingdong« lässt zum Beispiel das Wort »Glocke« (oder »bell«) nur etwas über seinen Inhalt erkennen, wenn der Sprecher es als Symbol für das, was es bezeichnet, gelernt hat.

Unendlich viele mögliche Sätze

In der Regel kommunizieren wir natürlich nicht mit Einzelwörtern. Das Besondere an Sprache ist, dass man mit ihr unendlich viele neue Sätze konstruieren kann, und zwar auch solche, die man noch nie gehört hat. Dafür braucht Sprache ein System. Dieses System stellt auf verschiedenen Ebenen Einheiten (Laute, Silben, Wortbausteine, Wörter, Satzteile) zur Verfügung und Regeln, nach denen diese zu größeren Einheiten kombiniert werden können. Wenn man zum Beispiel Wörter mit anderen Wörtern kombiniert, verändern diese sich nach bestimmten Regeln. Verben erhalten in Kombination mit dem Pronomen »du« (2. Person Singular) die Endung »-st« (du spielst, du läufst, du lachst). Substantive ändern ihre Form, je nachdem, ob sie im Singular oder Plural gebraucht werden (Tier/Tiere, Jacke/Jacken, Auto/Autos), und in Abhängigkeit davon, in welchem »Fall« sie stehen (der Hund, des Hundes, den Hund, dem Hund). Wir können auch mehrere Wörter zu neuen Wörtern kombinieren (»Spielkreislieder«). Und schließlich stellt die Sprache uns auch für die Kombination von Wörtern zu Sätzen bestimmte Regeln zur Verfügung: »Ich spiele im Garten« und nicht »Spiele im Garten ich« (vgl. Szagun 2010).

Kinder lernen also im Spracherwerb die festgelegten, konventionellen Symbole ihrer Sprache – die Wörter. Sie erwerben die Regeln, die gebraucht werden, um aus Wörtern Sätze zu bilden. Das Wichtigste aber ist vielleicht, dass sie all die Möglichkeiten entdecken, die ihnen Sprache und Kommunikation eröffnen.

Gemeinsamer Hintergrund

Wenn wir kommunizieren, dann tun wir das in der Regel vor einem gemeinsamen Hintergrund (vgl. Tomasello 2009). Fragt ein Freund den anderen »Hat es geklappt?«, dann bezieht er sich auf einen Sachverhalt, den beide kennen und von dem beide wissen, dass auch der andere ihn kennt. Wenn eine Frau ihrer Freundin erzählt: »Ich habe doch den grünen genommen«, teilen sie ein gemeinsames Wissen. In ihrem Fall wird sich das gemeinsame Wissen vielleicht auf einen Einkaufsbummel beziehen, bei dem eine der beiden Frauen einen grünen und einen blauen Pullover anprobiert hat. Da beide Frauen sich an dieses Ereignis erinnern können, müssen die entsprechenden Inhalte gar nicht sprachlich ausgedrückt werden. Weil die Sprecherin sich auf dieses Wissen bezieht, reichen sehr knappe sprachliche Informationen aus, damit die Freundin weiß, wovon die Rede ist.

Kommunikationspartner teilen Wissen, auf das sie sich mit Sprache beziehen

Der »gemeinsame Hintergrund« zweier Kommunikationspartner kann sich auf unmittelbar Wahrnehmbares beziehen (»Guck mal da oben«), auf vorausgegangene gemeinsame Erlebnisse (»Weißt du noch, das Eis in Venedig?«), auf ein gemeinsames Ziel (»Versuch nochmal andersrum«) oder auch auf gemeinsames kulturelles Wissen. Die meisten Menschen wissen, wie ein Fußballspiel funktioniert. Deshalb genügen in diesem Zusammenhang häufig sehr knappe sprachliche Wendungen (»Tor für den FC«).

Je mehr zwischen den Kommunikationspartnern als geteiltes Wissen vorausgesetzt wird, umso weniger muss also offen ausgedrückt werden. Kinder nutzen diesen gemeinsamen Hintergrund im Spracherwerb zum Beispiel, um Hypothesen darüber zu bilden, was ein Wort, das sie nie vorher gehört haben, bedeutet.

Innere Sprache

Sprache ist aber nicht nur in der Kommunikation mit anderen wichtig. Sprache ist auch notwendig, damit wir unsere eigenen Gedanken strukturieren oder uns mit neuen Zusammenhängen auseinandersetzen können. Mithilfe von Sprache können wir uns Dinge merken, unsere Gedanken strukturieren, Für und Wider abwägen und mit unseren Gedanken weit über das Hier und Jetzt hinausgehen. So können wir uns mit Ereignissen und Fragen auseinandersetzen, die sich auf die Vergangenheit bzw. Zukunft beziehen oder andere Länder und Kontinente betreffen. Wir können sogar ganze Gedankenwelten schaffen, die mit der aktuellen Situation gar nichts zu tun haben. Allein das Hören des Wortes »Urlaub« reicht aus, um uns in völlig andere Welten zu träumen.

1.2 Wie funktioniert Sprechen und Verstehen?

Natürlich haben die meisten Menschen eine Vorstellung davon, was beim Sprechen und beim Verstehen von Sprache passiert. Trotzdem ist wahrscheinlich den Wenigsten bewusst, wie viele verschiedene Leistungen notwendig sind, damit sich jemand im Gespräch äußern, aber auch seinen Gesprächspartner verstehen kann. Sprachwissenschaftler haben verschiedene Modelle entwickelt, um Sprachproduktion und Sprachverarbeitung nachvollziehbar zu machen. Das folgende Beispiel illustriert die einzelnen Schritte im Sprachverarbeitungsmodell von Willem Levelt (1989, 1993):

Kai sagt zu seiner Mutter den Satz: »Ich schenke dir das Bild!«

Zunächst einmal muss Kai überhaupt den Wunsch haben, etwas zu sagen. Er hat eine kommunikative Absicht, weil er seiner Mutter eine Freude machen möchte. Nun muss in Kais Kopf eine Entscheidung darüber getroffen werden, welche Informationen für seine Äußerung relevant sind. Dabei muss berücksichtigt werden, was die Mutter schon an Vorinformationen hat: »Das Bild« bezieht sich in diesem Fall auf etwas, das vor ihr auf dem Tisch liegt und von Kai aus der Kita mitgebracht wurde. Anschließend werden für die Übermittlung dieser Informationen die entsprechenden Wörter gesucht. Dabei muss Kai Wörter aus seinem Wortspeicher im Gedächtnis aktivieren. Dieser Wortspeicher wird auch »Mentales Lexikon« genannt. Hier sind alle Wörter gespeichert, die Kai kennt. Dabei sind mit jedem Wort unterschiedliche Informationen verknüpft. Zum einen gibt es hier Informationen über die Wortbedeutung, also darüber, wie ein Bild normalerweise aussieht, darüber, dass es verschiedene Bilder gibt, dass es Bilder auf Papier und auf Wänden gibt, dass man in der Kita selbst Bilder malen kann etc. Zu einem Worteintrag im mentalen Lexikon gehören zum anderen grammatische Informationen. Mit dem Wort »Bild« ist die Information verknüpft, dass es sich um ein grammatisches Neutrum handelt (das Bild). Bei den Verben sind die grammatischen Informationen besonders wichtig, weil sie die Grundlage für die grammatische Satzplanung liefern.

Das Wort »schenken« benötigt zum Beispiel drei »grammatische Mitspieler« (vgl. Tracy 2008; Jampert et al. 2009):

jemanden, der etwas verschenkt (ich),

jemanden, dem etwas geschenkt wird (dir),

und etwas, das verschenkt werden soll (das Bild).

Wenn Kai das Wort »schenken« aus seinem mentalen Lexikon aktiviert hat, werden automatisch »Leerstellen«, also Lücken für diese Mitspieler mitgeliefert.

Verben liefern »Leerstellen« für »grammatische Mitspieler«

Aber das mentale Lexikon verfügt auch über Informationen über die Wortform, also das Wort mit seiner Klanggestalt. Die Wortform enthält die sogenannte »phonologische Struktur«, zum Beispiel Informationen über die Silbenanzahl, die Lautstruktur und die Betonung des Wortes. Wenn im mentalen Lexikon die Wörter »gefunden« und die Wortformen mit ihrer phonologischen Struktur und dem genauen Plan zur Aussprache der Wörter aktiviert wurden, kann dieser Plan in Bewegung umgesetzt werden. Kai spricht seinen Satz: »Ich schenke dir das Bild!«

All diese Verarbeitungsschritte müssen natürlich unglaublich schnell aufeinanderfolgen. Beim flüssigen Sprechen, also zum Beispiel in einem normalen Gespräch, werden etwa zwei bis drei Wörter pro Sekunde gesprochen. Das heißt, dass all die zuvor beschriebenen Verarbeitungsschritte innerhalb von Sekundenbruchteilen stattfinden. Diese hohe Geschwindigkeit ist nur dadurch zu erreichen, dass ein großer Teil der Sprachverarbeitung unbewusst und nahezu automatisch abläuft.

Auch um Sprache verstehen zu können, müssen wir vielfältige Leistungen erbringen:

Kais Mutter antwortet auf den Satz ihres Sohnes: »Ich freue mich riesig darüber. Gehen wir nachher noch ein Eis essen?«

Kai muss den Antwortsatz der Mutter zunächst einmal hören. Sein Ohr muss also Schallwellen aufnehmen. Bei der ersten akustischen Verarbeitung im Gehirn muss dann entschieden werden, ob es sich bei dem Gehörten um Geräusche oder Sprachlaute handelt. Während die Verarbeitung von Störgeräuschen unterdrückt wird, müssen die für die Sprachverarbeitung relevanten Informationen herausgefiltert werden. Die Prosodie, also die Sprachmelodie, lässt Kai den zweiten Teil der Äußerung als Frage erkennen. Außerdem registriert er den fröhlichen und wohlwollenden Tonfall seiner Mutter. Schließlich beginnt das phonologische Entschlüsseln. Dabei muss zum Beispiel der Lautstrom

»ichfreuemichriesigdarüberwollenwirnachhernocheineisessengehen?«

Erkennen von Wörtern im Lautstrom

in Teile zerlegt werden. Nun wird es möglich, aus den Kombinationen von Lauten Wörter zu erkennen, die für Kai Bedeutung haben. Um von der Lautkombination auf die Bedeutung zu kommen, muss Kai wieder sein mentales Lexikon aktivieren. Hier muss er die Bedeutung der Wörter sozusagen »nachschlagen«. Um eine ganze Äußerung, also zum Beispiel einen kompletten Satz, verstehen zu können, reicht es jedoch nicht aus, jedes Wort einzeln zu verstehen. Wir benötigen grammatisches Wissen, um die Wörter zueinander in Beziehung zu setzen und so die Bedeutung der Äußerung insgesamt zu erschließen (»grammatisches Entschlüsseln«). Oft unterscheidet sich dabei die Bedeutung einer ganzen Äußerung beträchtlich von der Bedeutung der einzelnen Wörter. Das Wort verschlingen bekommt zum Beispiel in der Äußerung »ein Buch verschlingen« eine ganz neue Bedeutung, ebenso wie das Wort schenken völlig unterschiedliche Tätigkeiten bezeichnet in:

Er schenkt ihr eine Blume.

Er schenkt ihr ein Glas Wein ein.

Er schenkt ihr reinen Wein ein.

Wenn Kai die Worte der Mutter grammatisch entschlüsselt hat, folgt noch das sogenannte »Diskursverständnis«. Kai muss aufgrund des gemeinsamen Hintergrundes aus dem sprachlichen und situativen Kontext erschließen, auf welchen Sachverhalt sich ihr Satz und ihre Frage beziehen. Er weiß, dass sich »darüber« in diesem Fall auf sein Bild bezieht. Die anschließende Frage der Mutter – »Gehen wir nachher noch ein Eis essen?« – kann Kai aufgrund früherer Erfahrungen verstehen. Kai war mit seiner Mutter schon häufiger in der Eisdiele direkt um die Ecke, und diese Erfahrungen nutzt er, wenn er sich nun ein inneres Bild des Gesagten aufbaut. Da Kai mit seiner Mutter auch das Wissen um bestimmte Gesprächsregeln teilt (vgl. Rausch 2003), weiß er, dass auf die Frage nun von ihm eine Antwort erwartet wird.

Sprachverarbeitungsmodell in Anlehnung an Levelt 1993

1.3 Was ist normal? Die Schwierigkeit von Altersnormen

Um entscheiden zu können, ob ein Kind altersgerecht in seiner Sprachentwicklung ist, muss man genau wissen, wie die Sprachenwicklung verläuft. Man muss aber auch wissen, in welchem Alter normalerweise welcher Erwerbsschritt stattfindet.

Wann muss ein Kind laufen können? Julias Mutter berichtet stolz, dass ihre Tochter bereits mit zehn Monaten laufen konnte. Die Mutter von Felix war schon ein wenig besorgt, weil ihr Sohn fast anderthalb Jahre alt war, als er die ersten freien Schritte wagte. Im weiteren Verlauf entwickelten sich beide Kinder ganz unauffällig.

»Normale Entwicklung« umfasst ein breites Spektrum. Auch in der Sprachentwicklung sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern beträchtlich. Szagun (2010) stellt in einer Studie fest, dass es Kinder gibt, die bereits mit 18 Monaten 185 verschiedene Wörter benutzen können, während andere auf eine ähnlich hohe Zahl erst mit 29 Monaten kommen. Der Entwicklungsunterschied beträgt hier also elf Monate!

Gerade bei der Sprachentwicklung stellt sich darüber hinaus noch ein weiteres Problem. Die ersten Schritte sind ja relativ leicht zu erkennen. Aber wann kann man vom ersten Wort sprechen?

Lisa sagt immer »ba«, wenn sie einen Ball sieht. Florian kann zwar »Ball« sagen, benutzt dieses Wort aber auch für Apfelsinen, eine Abbildung vom Mond und überhaupt für alles, was rund ist. Wer von den beiden Kindern spricht nun das erste Wort?

Wenn man über »normale« Entwicklung spricht, muss man sich also darüber im Klaren sein, dass Altersangaben zum Teil unterschiedliche Definitionen zugrunde legen und dass die Variationsbreite in der Entwicklung groß ist.

Zum Glück gibt es mittlerweile viele Untersuchungen, in denen große Stichproben von Kindern im Hinblick auf Aussprachefähigkeiten oder andere sprachliche Fähigkeiten untersucht wurden. Anhand solcher Untersuchungen kann man dann sagen: »Im Alter zwischen 3;6 und 3;11 Jahren können 75 Prozent der Kinder das /sch/ korrekt aussprechen.« Oder: »Im Alter zwischen 4;6 und 4;11 Jahren können 90 Prozent der Kinder das /sch/ richtig aussprechen« (Fox & Dodd 1999). Hier bietet der Vergleich gleichaltriger Kinder die Chance zu erkennen, welche Kinder in ihrer Entwicklung wirklich Probleme haben.

Aber nicht nur in der Geschwindigkeit, auch in der Art und Weise, wie Kinder Sprache erwerben, gibt es Unterschiede. Nelson (1973, zitiert in Szagun 2010) hat schon früh auf verschiedene Spracherwerbsstile hingewiesen. Während eine Gruppe von Kindern sich eher auf Objekte bezieht, nimmt die andere Gruppe vor allem Bezug auf Menschen und soziale Interaktionen. Folgerichtig verwendet die erste Gruppe viele Nomen und die zweite Gruppe viele Pronomen, aber auch feststehende Ausdrücke (z.B. »stop it«, »do that«, »thank you«).

Marie ist zwanzig Monate alt. Sie redet gerne und viel. Sie produziert lange Monologe, die in der Satzmelodie der Erwachsenensprache ähneln, in denen aber nur einzelne Wörter zu verstehen sind. Mit der Zeit kann man immer mehr Wörter erkennen. Immer häufiger tauchen in Maries Redestrom Wörter wie »da«, »rein« oder kurze Redewendungen wie »ich auch« auf.

Jan ist auch zwanzig Monate alt. Er kommentiert draußen alles, was er sieht. Seine Wörter sind gut zu verstehen, seine Äußerungen bestehen aber selten aus mehr als zwei Wörtern: »Jan Bus«, »Auto fahren«, »große Bett«.

Unterschiedliche Spracherwerbsstile

Während Jan das Lexikon als Einstieg in die Welt der Sprache benutzt und Wörter erwirbt, die er dann kombiniert, imitiert Marie ganze Phrasen anhand der Satzmelodie. Marie verwendet viele Funktionswörter und feststehende Ausdrücke. Deshalb gibt es in ihrer Sprache auch schon früh verschiedene grammatische Formen, die sie aber noch nicht verallgemeinern kann. Jan benutzt dagegen überwiegend Inhaltswörter (Nomen, Verben, Adjektive). Diese kombiniert er. Wenn in Jans Sprache grammatische Formen auftauchen, dann hat er diese als Regeln erkannt und kann sie nun konsequent anwenden. Marie geht also »ganzheitlich« an die Sprache heran, während Jan analytisch vorgeht. Er zerlegt die Sprache in einzelne Elemente, die er dann wieder kombinieren kann. Natürlich gibt es diese Spracherwerbsstile nicht in »Reinform«. Beide Strategien kommen bei jedem Kind vor, aber es scheint Vorlieben für die eine oder die andere Strategie zu geben (vgl. Grimm 1995; Szagun 2010).

Kinder aus dem Autismusspektrum scheinen ganz überwiegend »ganzheitliche« Sprachlernstrategien zu nutzen. Häufig entdeckt man Phrasen und Satzteile aus Zeichentrickfilmen, Hörspielen, Liedern etc. Interessanterweise werden diese »Zitate« aber oft in sinnvollen Kontexten genutzt:

Timur steht vor einer verschlossenen Tür in der Kita: »Thaddäus, öffnen Sie diese Tür!«

1.4 Vom ersten Tag an − Die frühe Kommunikation

Wann beginnt die Sprachentwicklung? Lange bevor ein Kind sein erstes Wort äußert, hat es begonnen, mit seinen Bezugspersonen zu kommunizieren. Der Dialog zwischen Mutter und Kind beginnt im Grunde genommen schon vor der Geburt. Bereits zu Beginn der Schwangerschaft gibt es eine Informationsübermittlung auf biochemischem Weg. Die Mutter verspürt zum Beispiel Übelkeit oder Heißhunger. Auf diese Weise wird der Fötus vor ungünstigen Stoffen geschützt bzw. bekommt wichtige Nährstoffe.

Ab dem zweiten Schwangerschaftsmonat gewinnt mehr und mehr der sensomotorische Dialog an Bedeutung. Das Kind spürt die Bewegungen und Schritte der Mutter. Etwa ab der 20. Woche ist es in der Lage zu hören. Etwa ab dem sechsten Monat schlägt sein Herz schneller, wenn es die Stimme der Mutter hört. Die Mutter registriert ihrerseits die Bewegungen ihres Kindes. Sie nimmt wahr, wann es schläft, wann es wach ist, welche Schlaflage sie einnehmen muss, damit es ruhiger wird und bei welchen Geräuschen es sich erschreckt.

Von der Geburt an ist das Verhalten von Kind und Bezugsperson optimal aufeinander abgestimmt (vgl. Bruner 1977; Papoušek 1994). Neugeborene bringen bereits wichtige Fähigkeiten für den Spracherwerb mit: Sie können schon im Alter von wenigen Tagen die Stimme der Mutter erkennen und sprachliche von nicht-sprachlichen Lauten unterscheiden. Dabei scheinen sie sich für sprachliche Laute besonders zu interessieren (Szagun 2010). Interessant ist auch, dass sie von Geburt an ihre jeweilige Muttersprache bevorzugen. Dieses Interesse kann natürlich nicht angeboren sein, weil es ja keine Bevorzugung einer bestimmten Sprache gibt, sondern für jede Sprache gilt. Die Forscher haben also gefolgert, dass die Babys die Vorliebe für ihre Muttersprache bereits in der Schwangerschaft lernen. Schon in dieser Zeit macht sich ihr Gehör mit der Sprachmelodie und Betonung ihrer Umgebungssprache vertraut (a.a.O.).

Die Bezugspersonen unterstützen intuitiv den Spracherwerb

Auch das »Lächeln« eines Neugeborenen erfüllt eine ganz wichtige Funktion. Obwohl es vom Baby nicht bewusst gesteuert wird, verfehlt es doch nie seine Wirkung bei den Bezugspersonen und motiviert sie zum Beziehungsaufbau und zur Kommunikation. Aber nicht nur die Babys sind optimal für den Spracherwerb ausgerüstet, auch die Bezugspersonen verhalten sich ganz automatisch so, dass der Spracherwerb unterstützt wird. Wenn die Eltern mit ihrem Baby sprechen, sprechen sie anders als sonst. Sie verwenden nicht nur einfachere Wörter und Sätze, sie sprechen auch langsamer und mit höherer Stimmlage, und sie gliedern ihre Äußerungen klarer durch Pausen. Auch die Tonlage wird viel stärker variiert als sonst. Außerdem verwenden die Eltern in bestimmten Situationen immer wieder die gleichen Muster in der Sprachmelodie, zum Beispiel eine tiefere Tonhöhe beim Beruhigen, bei Zustimmung höhere Töne mit zuerst steigender, dann fallender Melodie, bei Verboten eher abrupte Staccato-Töne (a.a.O.). Kinder können bereits sehr früh auf solche melodischen Muster reagieren; so fangen schon Babys im Alter von fünf Monaten an zu jammern, wenn sie das Intonationsmuster für Verbot hören. Die melodischen Muster der Erwachsenen regulieren so die Erregung des Babys und lenken seine Aufmerksamkeit. Durch Satzmelodie und Betonung hervorgehobene Wörter helfen dem Kind, Wörter aus dem Lautstrom zu isolieren und sind daher eine wichtige Unterstützung für sprachliches Lernen (a.a.O.). Im ersten Lebensjahr sind also zunächst weniger die Wörter die Bedeutungsträger, sondern vor allem die Sprachmelodie übernimmt diese Aufgabe.

Dialogisches Abwechseln

Ein Säugling lernt am besten, wenn er einfache, kontrastreiche und sich häufig wiederholende Anregungen bekommt. Intuitiv bieten die Bezugspersonen beim Sprechen und mit ihren Sing- und Kitzelspielen in den ersten Wochen und Monaten genau solche Interaktionsmuster an. Außerdem reagieren sie auf alles, was das Baby tut, vor allem, wenn es Laute produziert. Durch die positive Reaktion der Eltern wird das Baby so zur Wiederholung seiner Lautäußerungen und zum Spiel mit der eigenen Stimme angeregt. Dadurch kann es allmählich sein Lautrepertoire erweitern. Es wird aber auch dazu angeregt, kommunikative Fähigkeiten zu erwerben, wie zum Beispiel das »Turn-Taking«, das Abwechseln beim Sprechen. So lernt das Kind, nach seinen Lauten zu pausieren, um die Antwort abzuwarten. Ein dialogisches Kommunizieren kann bereits bei Kindern im Alter von drei bis vier Monaten beobachtet werden, wenngleich es noch überwiegend durch die Mutter gesteuert wird. Die Bezugspersonen sprechen so mit ihren Babys, »als ob diese bereits kompetent wären, ein Gespräch zu führen. Sie integrieren alle ›Äußerungen‹ des Kindes, also neben den Vokalisationen auch sein Lachen, sein Aufstoßen, sein Husten und Niesen, indem sie darauf spezifisch inhaltsbezogen und kontingent reagieren« (Rausch 2003, S. 51).

Fabian ist fünf Monate alt. Er kann bereits viele verschiedene Laute produzieren und scheint schon Freude an seiner eigenen Stimme zu haben. Seine Mutter wiederholt seine Töne und Laute. Gelegentlich wandelt sie sie leicht ab. Sie merkt, dass Fabian dann wieder ganz aufmerksam zuhört und sie gebannt anschaut. Wenn die Mutter eine Pause macht, fängt Fabian wieder an, seine Töne zu produzieren.

Im ersten Lebensjahr lernen die Kinder aber nicht nur, Laute und schließlich Wörter für die Kommunikation zu nutzen, sie entwickeln auch wichtige Fähigkeiten in der non-verbalen, also nicht-sprachlichen Kommunikation.

Florian ist sieben Monate alt. Die Aufmerksamkeit seiner Mutter war im ersten Lebenshalbjahr vor allem auf sein Befinden gerichtet. Hat er Hunger? Ist er warm genug angezogen? Wie kann er zum Schlafen gebracht werden? Mittlerweile kann sie solche Fragen mit einer gewissen Routine beantworten. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich jetzt immer häufiger auf die Dinge, denen sich Florian zuwendet. Wenn er sie anschaut, bringt sie gelegentlich auch selbst neue Dinge in das Spiel ein. So hat sie neulich ein buntes Schleifenband über ihn gehalten und immer wieder dagegen gepustet. Wenn Florian in eine andere Richtung geschaut hat, hat sie einen Moment gewartet, dann auf das Band geguckt und wieder neu angefangen zu pusten.

Über den Blick können Florian und seine Mutter ihre Aufmerksamkeit immer wieder gemeinsam ausrichten. Zunächst nimmt die Mutter Florians Blickrichtung ein. Mehr und mehr erlangt aber auch Florian selbst die Fähigkeit, der Blickrichtung seiner Mutter zu folgen. Mit etwa neun bis zwölf Monaten beherrschen Kinder den sogenannten »triangulären Blickkontakt« (Zollinger 2015). Das bedeutet, dass sie ihre Aufmerksamkeit zwischen einer Person und einem Gegenstand, für den sie sich interessieren, aufteilen können. Dabei schaut ein Kind zum Beispiel zwischen einem bunten Ball und seiner Mutter so lange hin und her, bis die Mutter seinem Blick folgt und auch den Ball anguckt. Die Mutter wird dann automatisch den Ball in ihr Spiel einbeziehen und vielleicht eine Bemerkung machen wie: »Ja, das ist der Ball. Guck mal, der Ball kann rollen.« Der trianguläre Blickkontakt hilft dem Kind also, die Aufmerksamkeit der Bezugsperson auf Dinge zu lenken, die es interessant findet, und dadurch neue Informationen über die Dinge zu bekommen. Er stellt den gemeinsamen Hintergrund her und eröffnet so nicht nur eine Fülle neuer Lernmöglichkeiten, sondern scheint auch ganz wesentlich für die weitere Entwicklung der Kommunikationsfähigkeiten zu sein.

Das Gleiche gilt für Gesten, die Kinder in den Monaten um ihren ersten Geburtstag herum nutzen – also zu einem Zeitpunkt, zu dem die (Laut-)sprache noch keine wirklichen Verständigungsmöglichkeiten eröffnet hat. Auch hier spielt der gemeinsame Hintergrund eine entscheidende Rolle.

Anna sitzt in ihrem Kinderstuhl und zeigt auf die Schüssel mit Brei, die sie mit ihren Händen nicht erreichen kann. Dazu lautiert sie. Der Vater versteht und gibt ihr den nächsten Löffel voll.

Im Garten steht ein Planschbecken. Der Vater hat es gerade mit Wasser gefüllt. Als seine Schwester in den Garten kommt, zeigt Jan auf das Planschbecken und strahlt.

Die Mutter holt Lotta aus ihrem Autositz. Lotta öffnet und schließt ihre Hand wie beim Winken. Gerade haben sie die Großeltern besucht und sich von ihnen verabschiedet. Darauf nimmt Lotta Bezug. Vielleicht will sie sagen: »Wir haben Oma und Opa Tschüss gesagt. Weißt du das auch noch?«

Gesten haben eine festgelegte Bedeutung. Dabei kann man zwischen verschiedenen Formen von Gesten unterscheiden:

Referentielle

oder

deiktische

Gesten haben die Funktion, gemeinsame Aufmerksamkeit herzustellen. Sie

referieren

auf einen Gegenstand oder Sachverhalt, sind also kontextgebunden (vgl. Appelbaum 2016). Die wichtigste referentielle Geste ist die

Zeigegeste

.

Nicht-referentielle

Gesten sind kontextunabhängig. Sie können auch auf etwas außerhalb der aktuellen Situation verweisen. Sie sind

konventionell

(Nicken oder Kopfschütteln für »ja« und »nein«) oder

ikonisch

(Hand zum Mund führen und damit »essen« symbolisieren).

Damit sind Gesten ein ganz wichtiger Schritt auf dem Weg zur konventionellen und symbolischen Kommunikation.

Welche Absichten verfolgen die Kinder mit ihren Gesten? Michael Tomasello und seine Kollegen sind dieser Frage in ihren Forschungsarbeiten nachgegangen und haben drei Hauptmotive beschrieben (Tomasello 2009):

Das Teilen

(Gefühle oder Erfahrungen werden mit dem Kommunikationspartner geteilt): Jan teilt seine Freude über das Planschbecken mit seiner Schwester. Lotta teilt den emotionalen Moment des Abschieds von den Großeltern im Nachhinein noch einmal mit ihrer Mutter.

Das Informieren

(der Kommunikationspartner wird über nützliche oder interessante Dinge informiert): Jan weist seine Schwester auch auf die Möglichkeit des Planschens im Wasser hin (»Guck mal, du kannst auch ins Planschbecken«).

Das Auffordern

(der Kommunikationspartner wird aufgefordert, etwas zu tun): Anna möchte mehr Brei und »bittet« ihren Vater darum.

Damit konnten die Forscher belegen, dass schon einjährige Kinder die wichtigsten Aspekte der menschlichen Kommunikation verstehen: »Sie kommunizieren auf einer geistigen Ebene, im Kontext eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrundes und aufgrund von kooperativen Motiven« (Tomasello 2009, S. 147).

1.5 »Was ist Figur?« − Der Wortschatz

Um uns mithilfe von Sprache über alle möglichen Inhalte verständigen zu können, brauchen wir Wörter. Sie sind die Bedeutungsträger unserer Sprache, die Symbole, mit denen wir uns verständigen. Es wurde bereits erwähnt, dass Wörter »arbiträre« Zeichen sind, dass es also eine willkürliche, auf Konvention beruhende Verbindung zwischen einem Wort und dem, was es bezeichnet, gibt. Diese willkürliche Verbindung ist von Sprache zu Sprache verschieden (»der Hund«, »the dog«, »el perro« …).

Aktiver und passiver Wortschatz

Die Wörter, über die wir verfügen, sind mit ihrer Bedeutung, ihrer grammatischen Information, Informationen über die Wortbausteine und mit ihrer Wortform im sogenannten »mentalen Lexikon«, im Lexikon unseres Kopfes, gespeichert. Dabei gibt es zum einen die Wörter, die wir selbst benutzen können. Sie werden als »aktiver« oder »produktiver« Wortschatz bezeichnet. Zum anderen gibt es die Wörter, die wir zwar verstehen können, die uns aber nicht für unsere eigenen Äußerungen zur Verfügung stehen. Sie gehören zum »passiven« oder »rezeptiven« Wortschatz. Er ist wesentlich größer als der aktive.

Ein Lexikon im Kopf

Wie in einem Lexikon sind auch die Wörter in unserem Kopf nach bestimmten Kriterien geordnet. Wenn wir im Gespräch ein Wort hören und seine Bedeutung in unserem Gedächtnis »alphabetisch nachschlagen« wollten, würde das natürlich viel zu lange dauern, denn für das Erfassen eines Wortes im Gespräch stehen uns nur Sekundenbruchteile zur Verfügung. Das Ordnungssystem unseres Lexikons im Kopf, unseres »mentalen Lexikons«, muss also viel flexibler sein (vgl. Aitchison 1994). Die Besonderheit des mentalen Lexikons besteht darin, dass wir es nach verschiedenen Suchkriterien durchforsten können. So können wir zum Beispiel die Wörter aufgrund ihrer Lautgestalt aktivieren, also Wörter suchen, die mit »a« beginnen oder auf »en« enden. Wir können aber auch Ordnungskriterien verwenden, die die Bedeutung der Wörter betreffen, also möglichst viele Tiere aufzählen oder zu einem Wort wie »heiß« das entgegengesetzte Wort suchen. Damit wir einen Satz schon verstehen können, während er gesprochen wird, müssen wir viele Bedeutungen parallel finden können. Das heißt, während unser Gedächtnis noch an der Entschlüsselung des ersten Wortes arbeitet, beginnt es schon mit der Identifizierung des nächsten Wortes.

In unserem Lexikon finden sich zwei unterschiedliche Klassen von Wörtern. Einerseits gibt es die sogenannten Inhaltswörter. Zu ihnen gehören Substantive wie »Haus«, »Baum«, »Jacke«, Adjektive wie »groß«, »klein«, »bunt« und Verben wie »laufen«, »schneiden«, »fliegen«. Inhaltswörter vermitteln uns eine Menge an Bedeutungswissen. Sie bezeichnen Gegenstände, Personen, Handlungen oder Eigenschaften von Dingen. Da ihre Anzahl unbegrenzt ist und sich auch dauernd verändert, bezeichnet man sie als »offene Wortklasse«.

Dagegen haben die sogenannten Funktionswörter weniger Bedeutungsinformation. Sie haben vor allem eine grammatische Bedeutung. Zu ihnen gehören Pronomen (»ich«, »du«, »wir« …), Präpositionen (»auf«, »unter«, »neben«, »in« …) Artikel (»der«, »die«, »das«, »ein«, »eine« …), Konjunktionen (»weil«, »wenn«, »bevor« …) sowie Hilfs- und Modalverben (»können«, »sollen«, »dürfen«, »haben«, »sein« …). Da ihre Anzahl begrenzt ist, bezeichnet man sie auch als »geschlossene Wortklasse« (vgl. Bung 1997; Szagun 2010).

Für die Bildung von Sätzen sind Verben, also Tätigkeitswörter besonders wichtig (Bung 1997). Die Lexikoneinträge von Verben enthalten nämlich auch Informationen darüber, welche »grammatischen Mitspieler« (vgl. Tracy 2008; Jampert et al. 2009) ein Verb benötigt.

Ein Mitspieler: Ich renne.

Zwei Mitspieler: Ich suche dich.

Drei Mitspieler: Ich schenke dir. . . . eine Blume.

Nebensatz als Mitspieler: Ich glaube, dass du schneller bist.

Kinder, die neue Wörter lernen, müssen einem neuen Wort, das sie gehört haben, eine Bedeutung zuordnen. Sie fügen also Lautgestalt und Bedeutung des Wortes wie die zwei Seiten einer Münze zusammen. In Experimenten wurde festgestellt, dass Kinder schon nach einmaligem Hören eines Wortes versuchen, die Wortform und eine erste Hypothese über die Bedeutung zusammenzubringen. Diesen Prozess nennt man »Mapping« (vgl. Bung 1997; Tracy 2008).

Was ist die Bedeutung eines Wortes?

Was ist überhaupt die Bedeutung eines Wortes? Wortbedeutungen sind nicht statisch, sondern können in verschiedenen Kontexten unterschiedlich sein:

»Zeig mir mal den Fisch in deinem Bilderbuch.«

»Heute gibt es Fisch.«

»Willst du den Fisch mit in die Badewanne nehmen?«