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Julian ist ein eher ruhiger Junge ohne viele Freunde. Als seine Schwester Liv nach einem Kinoabend nicht nach Hause kommt, entdeckt Julian plötzlich neue Seiten an sich. Gemeinsam mit Livs bester Freundin macht er sich auf die Suche nach einer möglichen Erklärung für ihr Verschwinden. Auf den Spuren von Liv lernt er nicht nur mehr über sich selbst, sondern auch über das Leben seiner Schwester."Spuren eines Lebens" ist ein spannender und dramatischer Thriller über Einsamkeit, Liebe und Freundschaft. Aber auch eine Erzählung davon, wie auch in einer heilen Familie nicht immer alles so ist, wie es scheint.-
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Seitenzahl: 116
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Kit A. Rasmussen
Übersetzt von Kirsten Evers
Saga
Spuren eines Lebens
Übersetzt von Kirsten Evers
Titel der Originalausgabe: Spor af liv
Originalsprache: Dänisch
Coverimage/Illustration: Shutterstock
Copyright ©2018, 2023 Kit A. Rasmussen und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728270868
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Dieser Abend konnte unmöglich noch schlimmer werden.
Liv trat nach einem Stein, sodass der über den Gehweg hinweg sprang. In der Dunkelheit konnte man nicht erkennen, wo er landete.
Zuerst war Mama stinksauer geworden, als Nora gekommen war, um sie abzuholen. Typisch Mama – als ob sie selbst so perfekt wäre. Sie seien viel zu jung, um abends allein in der Stadt feiern zu gehen, hatte sie gesagt und die Arme vor der Brust verschränkt.
Als wüssten sie das nicht selbst. Die Q-Bar lässt doch keine zwei 14-jährigen Mädchen rein, egal wie erwachsen die sich schminken. Leider.
Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, sie davon zu überzeugen, dass sie doch wirklich nur ins Kino wollten. Und als sie endlich nachgab, wollte sie sie selbst in die Stadt fahren. Das Kino liegt ja schließlich auf dem Weg zur Kirche.
Ernsthaft?
Liv musste erstmal kontrollieren, ob niemand auf dem Gehweg zu sehen war, ehe sie aus dem Auto stieg. Wenn Lukas gesehen hätte, dass sie von ihrer Mutter gefahren wird …
„Alles gut“, murmelte Nora, als Mama endlich wieder abgefahren war. Nachdem sie gefühlt tausendmal gesagt hatte, dass es nicht zu spät werden und sie gut auf sich aufpassen solle.
„Ja-ha.“ Liv öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke, und die kühle Luft brachte die kleinen Härchen auf ihren Armen dazu, sich aufzustellen.
„Denkst du nicht vielleicht doch, dass du ein bisschen… ein bisschen mehr hättest anziehen sollen?“ fragt Nora.
Liv blickte an sich hinab. Das Top saß perfekt. Direkt über der BH-Kante und kurz unterm Bauchnabel.
„Glaubst du, Lukas gefällt es?“
„Ja“, sagte Nora. „Bestimmt. Aber …“
„Das ist das wichtigste.“
Als sie endlich auf dem Marktplatz ankamen, war Lukas noch nicht da. Eine Dreiviertelstunde lang zitterten Liv und Nora, rieben sich die Hände und hüpften auf der Stelle. Zum Schluss musste Liv sogar vor Kälte den Reißverschluss wieder zuziehen.
Als er endlich auftauchte, hatte er Jacob und Ajay dabei. Das war so nicht abgemacht gewesen, aber Liv sagte natürlich nichts. Sie wartete nur auf ihre Chance, aber er schien mehr daran interessiert zu sein, die Plastiktüte voller Dosenbier leer zu machen, die Jacob dabei hatte. Ajay versuchte die ganze Zeit über, mit ihr zu flirten, weil er offensichtlich nicht begriff, dass Liv ein ganz anderes Ziel vor Augen hatte.
Nora hatte diesen Blick. Sie fand ganz eindeutig, dass sie es auf eine andere Art und Weise angehen sollten. Eine anständigere Art und Weise. Aber so lernt man ja nichts. Und ein bisschen machte Liv es ja auch für Nora. Und deswegen konnte sie nicht auf ihren Blick eingehen. Nicht in Lukas‘ Gegenwart.
Stattdessen öffnete sie wieder den Reißverschluss ihrer Jacke, was seine Aufmerksamkeit weckte. Zumindest so lange, dass sie es schaffte, ein Selfie mit ihm zu machen.
Liv seufzte. Trat nach einem weiteren Stein. Der rollte über den Gehweg davon und verschwand im Gebüsch. Jetzt war es nicht mehr so weit.
Obwohl es nicht das beste Bild war, lud sie es bei Insta hoch. Wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, hätte sie erst recht bewiesen, warum man sich nicht mit ihr anlegen sollte.
Aber Lukas hatte es plötzlich ganz eilig gehabt. Hatte sich nicht mal eine schlechte Ausrede einfallen lassen. War einfach mit seinen Jungs abgehauen, und dann standen Liv und Nora wieder allein auf dem Marktplatz herum.
Natürlich wollte Nora sofort nach Hause und es nicht doch noch versuchen, an den Türstehern der Q-Bar vorbei zu kommen. Also hatte Liv es allein versucht, hatte sogar die Jacke ganz ausgezogen, aber keine Chance. Die waren genauso knallhart wie immer.
Jetzt war sie auf dem Heimweg. Die Füße taten ihr in den hochhackigen Schuhen weh. Unter der Jacke war ihr kochend heiß. Was für ein Scheißabend.
Hinter ihr erklang ein Brummen. Liv drehte sich um und sah ein paar Scheinwerfer von einem Auto, das sich ihr näherte.
Jetzt war sie fast zu Hause. Die Wärme prickelte unter ihren Achseln, und sie öffnete die Jacke. Sie konnte ja schließlich nicht völlig durchnässt zu Hause ankommen.
Das Licht der Scheinwerfer umschloss sie jetzt ganz. Das Auto wurde langsamer. Und hielt dann ganz an.
Liv drehte den Kopf und warf einen Blick auf den Fahrersitz.
„Was glaubst du eigentlich, was du da machst?“ Die Stimme war laut und wütend, selbst durch das geschlossene Fenster.
Scheiße.
„Ich …“ Weiter kam sie nicht.
Die Autotür wurde aufgerissen. Dann legte sich eine Hand fest um ihr Handgelenk. Plötzlich war die Jacke voller eiskalter Luft. Liv zitterte.
„Du lügst doch!“
„Ich …“ In ihrem Bauch entzündete sich ein kleiner Funke. Ein Funke von etwas, das Liv eigentlich nicht hatte benutzen wollen. Aber es wuchs und wuchs und wuchs blitzschnell riesengroß an. Brannte in ihr wie Feuer. Flammen in ihrem Mund.
„Denkst du etwa, ich weiß nicht, was Sache ist?“ Die Worte versengten ihr die Lippen, aber es fühlte sich gut an, sie auszusprechen. „Denkst du, ich weiß nicht alles?“
Ein schockierter Blick bohrte sich in ihren.
„Was meinst du?“ Ein schwaches Zucken im Mundwinkel. Der Griff um Livs Handgelenk wurde lockerer.
Liv senkte die Stimme:
„Ich weiß alles. Und ich werde nicht mehr tatenlos zusehen.“
Samstag, 22:47 Uhr
Ein steter Strom an 9GAG-Memes saust unter meinem Daumen hinweg. Abwechselnd gucke ich auf mein Handy und auf den Fernseher.
„Jaaa!“, brüllt Papa und hebt die Arme. „Hast du das gesehen? Julian? Hast du das gesehen?“
Schnell lasse ich das Handy sinken und hebe den Blick zum Fernseher. Lächle und nicke.
„Das war crazy“, sage ich.
„Pew pew!“, sagt Papa und hebt eine Hand mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger wie eine Pistole. „Perfekter Kopfschuss.“
Ich nicke zustimmend und sehe mir das Replay an. Er hat recht.
„Nicht schlecht, nicht schlecht“, sagt Papa und lehnt sich im Sessel zurück. „Langsam verstehe ich, warum du diesen E-Sport so gut findest.“
„Ja, ist ziemlich cool“, sage ich und widme mich wieder meinem Handy. Jetzt kommen aber nur noch Memes, die ich schon kenne.
„Ist doch echt mal gemütlich, so ein Männerabend, oder, Julian?“, fragt Papa und schaufelt sich eine Handvoll Popcorn in den Mund.
„Hm-hm“, murmle ich.
Papa ist schon wieder ganz im Geschehen auf dem Fernseher versunken. Ich öffne Instagram.
Ali ist auf irgendeinem Fußballturnier. Sieht so aus, als würde er mehr Zeit damit verbringen, den Mädchen beim Spielen zuzusehen als selbst zu spielen. „Fan-Service;) #fussball #ichliebemeinleben #dubistneidisch“ steht unter einer ganzen Fotostrecke von Mädchenbeinen und Mädchenhintern in engen Fußballshorts.
Thor hält eine riesige Wodka-Flasche hoch. „Wahre Liebe #love #vodka4life #bestefreunde“ schreibt er.
Ich scrolle weiter durch den Feed. Benjamins Foto ist super verschwommen. Helle bunte Farbkleckse und unscharfe Umrisse von irgendwelchen Schatten. „Party!!! #party #bestesleben #bierm*schisundhornymusiccc“.
Hoffentlich hat Papa mein Seufzen nicht gehört. Aber alles gut. Er ist völlig abgelenkt.
„Jaaa! Nein!“, schreit und er und wedelt panisch mit den Armen. „Schieß noch mal. Schiiieeeß! Neeiiiiin …“
Obwohl ich einen dicken Klops im Bauch habe, scrolle ich weiter.
Liv hat ein Foto gepostet. Ich habe gehört, wie sie sich mit Mama gestritten hat, ehe sie losgezogen war. Papa hatte mit dem Fuß gewippt, so als würde er sich nur zu gern einmischen. Sagen, dass sich schon alles richten wird, und lass Liv doch einfach machen, wozu sie Lust hat. Wie immer.
Ich hatte so getan, als wäre nichts. Während ich wünschte, dass ich einfach ganz locker-flockig rausgehen und Nora hallo sagen könnte. Aber ich war einfach sitzen geblieben.
Sie sind auf dem Marktplatz. Liv hat den Arm um irgendeinen Typen gelegt und macht ein Duckface. Ich wünschte, mir würde es genauso leichtfallen, neue Freunde zu finden.
Im Hintergrund, nur zur Hälfte im Foto, lächelt Nora. Ihre Zähne glänzen schneeweiß und ihre Lippen sind rot. Im Gegensatz zu Liv hat sie ihre Jacke bis zum Kinn zugezogen, und es sieht so aus, als würde sie frieren. Typisch Liv, ihr ist alles egal.
Ich lege meinen Daumen neben das Foto. Da, wo die andere Hälfte von Noras Gesicht wäre. Ich wette, sie hat ganz weiche Haut.
Liv hat keinen Kommentar unter das Bild geschrieben, nur ein Herz-Emoji. Darunter steht ein Kommentar, und ich klicke darauf, um ihn zu lesen.
Banananas16 schreibt:
„Bitch. Ich kriege dich.“
Und vor zehn Minuten hat Liv geantwortet:
„Who cares? Ich bin busyyy:-P“.
Mein Griff ums Handy verkrampft sich.
„War das nicht das Programm, das du gern sehen wolltest?“
„Was?“ Ich blicke auf.
Papa sieht mich an. Sieht mein Handy an. Zeigt auf den Fernseher.
„Ist das nicht der richtige Kampf?“
„Nein, nein“, sage ich und schalte den Handybildschirm aus. Reibe mir mit der flachen Hand die Stirn. „Ich bin bloß ein bisschen müde.“
„Möchtest du lieber was anderes sehen?“ Papa reicht mir die Fernbedienung.
Ich schüttle den Kopf. Lächle. „Nein, schon gut.“
„Bist du dir sicher?“, fragt Papa, während ich aufstehe. „Wir können auch was anderes machen. Ein Spiel spielen zum Beispiel?“
„Ich glaube, ich gehe einfach früh ins Bett.“
Einen Augenblick lang sieht Papa enttäuscht aus. Dann lächelt er und nickt nur.
„Ja, wir wollen ja nicht, dass du krank wirst. Geh ruhig schon ins Bett, wir können ja morgen weiter gucken.“
Ich nicke, obwohl Sonntag eigentlich immer der Tag ist, an dem Papa und Liv zusammen Hausaufgaben machen. Zumindest so lange, bis sie die Geduld verliert und keine Lust mehr hat.
Meine Beine sind schwer wie Blei, als ich die Treppe hinaufgehe.
Wenn ich doch nur so extrovertiert wäre wie Liv. Und wenn es mir so leichtfallen würde, mit anderen zu reden. Mit Nora zum Beispiel.
Liv stürzt sich einfach immer mitten rein. Denkt nicht drüber nach, ob das, was sie gerade vorhat, jetzt eine gute Idee ist oder nicht. Sie tut es einfach.
Morgen, beschließe ich. Morgen mach ich auch mal irgendwas Verrücktes.
Sonntag, 8:28 Uhr
Meine Laufhose fühlt sich stramm auf meinen Waden an. Draußen vor dem Fenster zwitschert ein Vogel. Hellwach. Genau wie ich.
Ich binde mir die Schnürsenkel fest zu und wackle kurz mit den Füßen. Fertig. Ich laufe an Livs geschlossener Zimmertür vorbei und renne die Treppe hinunter.
„Ei?“, fragt Papa, der am Herd steht, und dreht sich zu mir um.
„Ich laufe erstmal ‘ne Runde.“
„Dann bist du also wieder fit?“, fragt er.
„Ja …“, murmle ich. „Schlafen hat geholfen.“
Tatsächlich habe ich noch eine ganze Stunde wachgelegen und darüber nachgedacht, was ich machen soll. Habe hin und her überlegt, ohne eine Lösung zu finden.
Und als ich aufwachte, war mein erster Gedanke: Ich geh joggen. Frische Luft bringt bestimmt frische Ideen. Das hilft zumindest manchmal, wenn ich mit den Hausaufgaben nicht weiterkomme.
Ich hüpfe auf der Stelle. Meine Füße können es kaum erwarten, endlich loszurennen.
„Wenn du zurückkommst, gibt‘s Eier und Speck.“
„Danke.“ Ich bin schon auf halbem Weg zur Haustür.
„Kommt Mama heute nicht mit?“, fragt Papa.
„Äh …“ Am liebsten möchte ich einfach nur die Tür aufreißen und ins Sonnenlicht verschwinden. „Keine Ahnung.“
„Da ist sie ja“, sagt Papa und wendet ein Spiegelei in der Pfanne.
Mama gibt ihm einen Kuss auf die Wange und sieht mich an.
„Wo willst du denn hin?“, fragt sie und öffnet den Schrank mit den Tassen.
„Ich geh bloß joggen. Willst du mit?“
Sie zögert, die Hand noch am Schrank. Normalerweise habe ich sie gern dabei. Sie ist gut in Form und beschwert sich nicht, dass ich zu schnell laufe.
„Heute nicht“, sagt sie und stellt eine Tasse auf den Tisch. „Wir sind gestern nicht fertig geworden, also muss ich noch mal in die Kirche.“
„Brauchst du Hilfe?“, fragt Papa.
„Du bist ein Engel“, sagt Mama. „Aber das ist wirklich nicht nötig. Danke trotzdem.“
Meine Füße tippeln ungeduldig auf der Stelle.
„Na dann …“, sage ich.
„Kaffee?“, fragt Papa.
Mama erstarrt. Blickt hinab auf ihre Hand. Auf die Kaffeekanne.
„Ach, was zur Hö– flichkeit“, murmelt sie und schüttelt den Kopf.
Papa lacht. „Du brauchst doch nicht immer so gesund zu sein. Eine kleine Tasse Kaffee wird dich schon nicht umbringen.“
Sie senkt den Blick, gießt den Kaffee in den Abfluss und schüttelt den Kopf. „Die schlechte Gewohnheit hatte ich mir eigentlich abgewöhnt. Vielleicht solltest du heute zur Abwechslung mal mit Julian joggen gehen.“ Sie greift nach einer Speckrolle an seiner Hüfte.
Er lacht schallend.
„Fang mir gar nicht erst so an.“ Er gibt Mama einen Kuss auf den Mund, woraufhin ich demonstrativ aus dem Fenster starre. „Wolltest du nicht schon längst losgelaufen sein?“ Er richtet lächelnd den Zeigefinder auf mich und legt Mama den Arm um die Taille.
Bevor einer von beiden noch etwas sagen kann, springe ich zur Tür heraus.
Der Wald duftet frisch und grün. Die Luft ist kühl, aber mir ist warm. Der Erdboden knirscht bei jedem Schritt unter meinen Schuhsohlen. Meine Beine strecken und beugen sich. Das Blut pumpt durch meinen Körper. Links und rechts sausen die Bäume vorbei, und ich sehe sie, aber nur halb.
In Wirklichkeit sehe ich durch sie durch. In die Welt, die dahinter liegt. Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Nächsten Samstag will ich nicht schon wieder mit Papa allein zu Hause hocken. Nächsten Samstag will ich etwas machen, was man auf Instagram posten kann. Vielleicht was mit Nora?
Ich laufe schneller. Fliege auf den Zehenspitzen davon. Bin beinahe so schnell wie das dunkelgraue Auto auf der Straße hinter den Bäumen.
Noras Nummer ist auf meinem Handy eingespeichert. Ich habe ihr noch nie geschrieben, aber heute, wenn ich wieder zu Hause bin …
Es ist ja bloß eine Frage.