Stalking Kai - Sandra Busch - E-Book

Stalking Kai E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Als Tinotenda nach Hemmoor zieht, gewinnt er zwangsläufig den Eindruck, dass die Einwohner dort verrückt sein müssen. Nicht nur, dass der benachbarte Polizist verwahrlost wirkt und durch seine unfreundliche Art unangenehm auffällt, nein, er wird in der Drogerie auch noch der versuchten Vergewaltigung beschuldigt. Dabei hat Tinotenda für Frauen gar nichts übrig, sondern ist auf der Suche nach einem Mann, der mehr als bloß eine heiße Nacht von einem Afrodeutschen will.

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Seitenzahl: 327

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Stalking Kai

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© lassedesignen – fotolia.com

© sam 100 – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-082-9

ISBN 978-3-96089-083-6 (epub)

Inhalt:

Als Tinotenda nach Hemmoor zieht, gewinnt er zwangsläufig den Eindruck, dass die Einwohner dort verrückt sein müssen.

Eins

Weckerklingeln.

Laut.

Anhaltend.

Schrill.

Nervtötend.

Kai streckte einen Arm unter der Bettdecke hervor, doch den mechanischen Weckdienst hatte er extra ans andere Ende des Zimmers verbannt, damit er ihn nicht einfach abstellte und weiterschlief, was bereits häufiger passiert war. Weder sein Chef noch Bianka wären besonders amüsiert, wenn er schon wieder zu spät zum Dienst kam. Dummerweise war es im Schlummerland viel schöner als auf Streife, daher hatte er meistens im Halbschlaf den Wecker abgestellt und friedlich weiter geträumt. Aus genau diesem Grund stand der Wecker jetzt am anderen Ende des Zimmers.

Knurrig schob er die Decke von sich und schwang sich aus dem Bett. Mit einem Fuß stieß er das halbvolle Glas Cola um, das seit mindestens einer Woche auf dem Fußboden gestanden hatte, mit dem anderen trat er in eine aufgerissene Tüte Chips. Beides vermischte sich auf dem Parkett.

„Scheiße!“

Auf dem Weg zum Bad hinterließ er eine Spur aus Krümeln und nassen Fußabdrücken, die später kleben und Fusseln regelrecht ansaugen würden. Eine kalte Dusche sorgte dafür, dass er endlich richtig wach wurde, die Zähne waren hinterher schnell geputzt. Das nasse Handtuch ließ er zu den anderen auf den Boden fallen.

Von draußen erscholl ein Hupen. Es hielt hartnäckig an.

„Ja, verdammt!“, murrte Kai. Rasieren fiel damit aus – nicht zum ersten Mal in dieser Woche und es war erst Mittwoch. Kai lief zur Haustür und riss sie auf. In seiner Einfahrt parkte Bianka mit ihrem schwarzen Audi. Bei seinem Anblick ließ sie das Fenster der Fahrertür runter.

„So nehme ich dich nicht mit“, rief sie aus dem Wagen heraus und griente. „Sonst muss ich dich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen.“

Kai schaute an sich herunter und zuckte mit den Schultern. Bis auf die Tatsache, dass er splitterfasernackt war, hatte er an seiner Figur nichts auszusetzen. „Brauche noch ’n Moment.“

„Das ist unschwer zu erkennen.“

Ohne einen weiteren Kommentar schlug er die Tür zu, um sich anzuziehen. Im Schlafzimmer suchte er sich aus den zahlreichen Klamotten vor dem Schrank seine dunkelblaue Dienstkleidung zusammen; Socken, Hose, Poloshirt. Auf einen Slip verzichtete er. Ohnehin war sich Kai nicht sicher, ob er irgendwo einen sauberen liegen hatte.

Fünf Minuten später öffnete er die Beifahrertür von Biankas Wagen und ließ sich in den Sitz sinken. Zur Begrüßung bekam er einen Pappbecher mit lauwarmem Kaffee in die Hand gedrückt und gleich darauf fuhr Bianka rückwärts aus der Einfahrt. Ihr kupferrotes Haar hatte sie sorgfältig geflochten und aufgesteckt, und sie war dezent geschminkt.

„Endlich“, brummte sie.

„Der Kaffee ist nicht mehr heiß.“

„Wenn du trödelst …“ Sie sprach den Rest des Vorwurfs nicht aus. Es war ohnehin unnötig.

„Komm halt etwas später.“

„Stell deinen Wecker zehn Minuten vor. Und mach das Fenster auf. Du müffelst.“

„Ich hab geduscht.“

„Nimm die Klamotten ruhig mit unter die Brause, Sweetheart. Und der Rasierer ist ausgewandert? Hoffentlich nicht für immer.“

„Bartschatten sind in.“

„Bartschatten ja, Urwaldwucherungen nein.“

Kai seufzte. „Du nölst dauernd an mir herum, Bianka. Wie wäre es ausnahmsweise mit etwas Positivem?“

„Schöner Schwanz.“

Es war wohl ein Fehler gewesen, sich nackt zu präsentieren. Zum Glück war Bianka nicht prüde und wusste ihn zu nehmen, wie er halt war. Sie weigerte sich lediglich, sein Haus zu betreten oder in sein Auto zu steigen, solange er beides nicht geputzt hatte. Wahlweise niedergebrannt. Saubermachen und aufräumen gab es bei ihm nicht. Bianka nannte es Wohnen auf einer Müllkippe.

Sie parkten wenige Minuten später vor dem Polizeikommissariat Hemmoor, einem langgezogenen, roten Backsteingebäude mit bogenförmigen Gaubenfenstern.

„Wehe, du wirfst den leeren Becher auf den Rücksitz“, warnte sie ihn. Das würde er nie wagen. Außer Bianka hatte er keine Freunde, daher würde er sich hüten, sie durch ein solches Vergehen zu vergraulen.

„Superman wartet schon.“ Kai hatte David im Streifenwagen entdeckt. Sein Kollege starrte ins Nichts und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad.

„Lass ihn lieber nicht länger warten, sonst bekommt er vor Frust Verstopfungen. Und du weißt, wie er drauf ist, wenn er nicht aufs Klo kann.“

„Du bist süß, Kleines.“

Bianka lächelte ihn an und tätschelte seine Wange. „Ich weiß. Bis später.“

Er nickte und schlenderte zu David hinüber. Der wurde auf ihn aufmerksam und drehte den Kopf, um ihn zu mustern. Missbilligend verzog sich das sommersprossige Gesicht. Er hob einen Arm und tippte sich bezeichnend auf die billige Uhr, die sein Handgelenk schmückte.

„Ja, du mich auch“, brummte Kai, umrundete den Streifenwagen und stieg ein.

„Du bist zu spät und eine wandelnde Katastrophe“, wurde er begrüßt.

„Dir ebenfalls einen wunderschönen guten Morgen. Wie war der Fick mit deiner Frau? Ach, sorry! Habe glatt vergessen, dass sie dich nicht ranlässt.“

„Du bist ein Arschloch, Kai.“ David fuhr los und öffnete keine Minute später das Fenster. Aus der Ablage in der Fahrertür holte er ein Raumspray hervor und sprühte einmal kräftig. Lavendelgestank trieb Kai beinahe die Tränen in die Augen.

„Du miefst wie ein Mülleimer“, erklärte David die Sprühattacke.

„Woher weißt du das so genau? Schnüffelst du regelmäßig an deinem?“

„Mit dir zu arbeiten ist eine Strafe.“

Kai zog eine gelangweilte Miene. „Beschwere dich.“

„Vielleicht mache ich genau das.“

„Tu dir keinen Zwang an.“

Schweigend fuhren sie weiter. In Hemmoor ging es zumeist recht ruhig zu. Schulschwänzer, häusliche Gewalt und Einbrüche … damit hatten sie gelegentlich zu tun. Häufiger brachten sie Volltrunkene in die Ausnüchterungszelle, trennten Schlägereien mit torkelnden Möchtegern-Boxern und holten Randalierer aus den Kneipen. Mit Banden oder harten Drogen kamen sie dagegen kaum in Kontakt. Solche Straftaten waren eher in der Stadt an der Tagesordnung und Kai vermisste sie nicht.

Eine Weile fuhren sie kreuz und quer durch die Straßen. Präsenz zeigen wurde wegen der Touristen ganz groß geschrieben, langweilte Kai aber zu Tode. Erst nach zwei Stunden knackte es im Funkgerät.

„14-24, bitte kommen.“

Kai bediente das Funkgerät, David fuhr stur weiter.

„14-24 hört.“

„VU ohne im Einkaufszentrum vor dem Tedi in der Otto-Peschel-Straße.“

„14-24 übernimmt.“

VU ohne bedeutete, dass es einen Verkehrsunfall ohne Personenschaden gegeben hatte. Welcher Art dieser war, konnten sie lediglich spekulieren.

David murrte: „Da konnte bestimmt wieder eine Tussi nicht einparken.“

Kai gähnte, ohne sich die Mühe zu machen, die Hand vor den Mund zu nehmen. „Möglich.“

Sein Kollege setzte den Blinker, verließ die Wohnsiedlung und kurvte zum Einkaufszentrum. Fünf Minuten später waren sie da. Auf dem Tedi-Parkplatz war bereits ein kleiner Volksauflauf entstanden.

„Ist das nicht der rote Kia deiner Frau?“, fragte Kai.

Sein Kollege reckte sich, um besser sehen zu können. „Nadja!“

„Immer diese Tussis, die nicht einparken können.“ Kai grinste und stieg zum saftigen Gefluche seines Kollegen aus.

***

Ein Benzindiebstahl an der ortsansässigen Tankstelle, eine aus dem Altenheim ausgebüchste Oma und zwei Verkehrssünder beschäftigten sie den restlichen Dienst über. Nach der Streife setzte sich Kai vor den Rechner, um die Berichte zu tippen, kurz, knapp und präzise. Das machte er eigentlich ziemlich gerne, da er dabei seine Ruhe hatte. David war spurlos verschwunden, allerdings würde er sich hüten, wegen ihm eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Meistens tauchte Superman ganz von allein wieder auf, wenn die Berichte fertig waren. Vermutlich trieb er sich in der Teeküche herum.

Plötzlich ging die Tür zum Großraumbüro auf und sein Vorgesetzter, Ingolf Bückler, spähte suchend herein. Ingolf war ein wenig rund geraten und trug eine knallrote Brille. Außerdem hatte er ein Faible für Nadelstreifenanzüge, heute in hellem Braun. Sein Haar schien von Tag zu Tag schütterer zu werden.

„Kai, kannst du bitte in mein Büro kommen?“

„Gleich?“

„Nein, nein. Wir können einen Termin in der nächsten Woche ausmachen. Natürlich gleich!“

Kai erhob sich und folgte seinem Chef in ein kleines Zimmer, wo er vor dem Schreibtisch Platz nahm. Ingolf setzte sich auf die Schreibtischkante.

„David war gerade bei mir“, eröffnete er das Gespräch.

„Und?“

„Er hat sich über dich beschwert, Kai.“

Der Trottel hatte seine Drohung tatsächlich wahrgemacht? Beeindruckend. Damit bewies David, dass er überraschenderweise Eier in der Hose hatte. Wachteleier.

„Was habe ich denn getan?“, fragte er.

„Es ist eher das, was du nicht tust. David hält es für eine Zumutung, mit dir zusammenzuarbeiten.“

„Könntest du das näher erläutern?“

Ingolf verdrehte die Augen. „Okay, wenn du nicht von selbst darauf kommst. David nannte dich ein optisches und nasales Desaster. Leider habe ich dem nichts entgegenzusetzen. Und wenn du dein Oberstübchen anstrengst, wirst du dich daran erinnern, dass wir diese Art von Gespräch regelmäßig führen. Leider ändert es nichts an deinem Erscheinungsbild.“

Kai runzelte die Stirn. „Ich habe geduscht. Erst heute Morgen. Bianka kann das bestätigen. Sie hat mich sogar nackt gesehen.“

Ingolf stöhnte. „Ich will es gar nicht näher wissen. Aber du könntest deine Kleidung zwischen dem Tragen ruhig in die Waschmaschine geben. Diesen Fleck dort vorne auf deinem Shirt habe ich das erste Mal vor drei Wochen bemerkt.“

Kai schaute an sich herab. Ingolf hatte recht, da war ein Fleck direkt über seiner linken Brustwarze. Das könnte Senf gewesen sein.

„Außerdem weigert sich David, weiterhin mit dir Streife zu fahren. Dass du den Wagen in eine Müllkippe verwandelst, ist dabei eher nebensächlich. Vielmehr stößt ihm dein loses Mundwerk übel auf.“

„David ist ein Idiot.“

Ingolf schüttelte den Kopf. „Mit deiner Einstellung kommen wir nicht weiter.“

„Lass mich halt mit Bianka auf Streife.“

„Kai, soweit ich weiß, hat Bianka dein Haus zum nationalen Sperrgebiet erklärt. Daher kann ich mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, wo sie dich nackt hat bewundern dürfen. Wenn ich euch zusammen auf Streife schicke, hat sie früher oder später von dir genauso die Schnauze voll. Ich will keine wunderbare Freundschaft zerstören.“

„Ist ja gut. Dann werfe ich halt die Waschmaschine an.“

„Bist du ein Messie, Kai? Brauchst du Hilfe? Ich könnte dir da eine Stelle nennen ...“

„Ist das jetzt dein Ernst?“, fuhr Kai auf.

Ingolf druckste verlegen herum.

„Ich habe eine Mülltonne vor dem Haus und ich weiß sie zu nutzen. Um es anders auszudrücken: Ich habe keine Hemmungen, alten Kram wegzuwerfen. Zum Beispiel David. Ich würde ihn als Sondermüll entsorgen.“

„Himmel, Arsch und Zwirn! Hack nicht dauernd auf David rum. Der Mann hat seine positiven Seiten. Und hör auf, vom Thema abzulenken. Es geht ja unter anderem auch darum, dass man Defizite darin aufweist, Ordnung in der Wohnung zu halten oder den Alltag zu organisieren. Du würdest es mir hoffentlich sagen, wenn du seelische Probleme hast?“

Kai staunte. „Also bitte, Ingolf. Geht’s noch?“

„Zum Donnerwetter! Kai! Ich muss dich das fragen. Immerhin habe ich dir gegenüber eine Fürsorgepflicht. Und damals die Sache mit …“

„Weil die Flachtröte nicht mit mir fahren will?“ Rigoros würgte Kai seinen Vorgesetzten ab. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. David und ich passen überhaupt nicht zusammen. Fragst du ihn ebenfalls, ob er auf die Couch will?“

Ingolf seufzte. „In Ordnung. Wenn du dich für fit und gesund hältst, gibt es halt eine dienstliche Anweisung: Wasch deine Klamotten. Wenn du morgen erneut dermaßen ranzig auftrittst, schicke ich dich wieder nach Hause, klar? Du repräsentierst Hemmoor und die Polizei, darum will ich dich geschniegelt und gebügelt. Kapiert?“

Kai sprang von seinem Stuhl und salutierte. „Sir, jawohl, Sir!“

„Lass die Witze, ich meine es ernst. Und nun: Abtreten!“

Kai nickte und marschierte aus dem Büro. Er entdeckte David an seinem Schreibtisch im Großraum, der einen auf nichts sehen und hören machte und sich scheinbar in genau die Arbeit vertiefte, die Kai vorhin längst erledigt hatte. Hinter Supermans Rücken hob er den Mittelfinger und schritt mit hochgerecktem Kinn an ihm vorbei.

Ihm reichte es.

Feierabend!

***

Bianka fuhr ihn nach Hause, sodass er seinem Frust wegen David wenigstens durch hemmungsloses Lästern Luft machen konnte. Seltsamerweise lästerte Bianka nicht mit.

„Was ist los?“, fragte Kai.

„Ingolf hat schon recht, wenn er dich auffordert, Grund in deinem Leben zu schaffen.“

„Mensch! Habt ihr euch heimlich gegen mich verbündet?“

„Nein, natürlich nicht, Sweetheart. Ich versuche mir bloß seit Langem einen Reim darauf zu machen, wieso du wie ein Penner herumläufst. Dabei bist du ein richtiges Schnuckelchen.“

Kai seufzte. „Mir fehlt irgendwie der Antrieb“, redete er sich heraus.

„Ist ein Anschiss von Ingolf nicht Antrieb genug?“

Kai zuckte mit den Schultern. „Fährst du mit mir Streife?“, wollte er wissen.

„Mit dir fliege ich bis zum Mond.“

„Du bist ein Schatz.“

Bianka lächelte und steuerte ihren Audi an einem Möbelwagen vorbei, der auf der Straße parkte. „Du bekommst neue Nachbarn.“

Kai reckte längst den Hals. „Ich wusste gar nicht, dass das Haus verkauft wurde.“ Renoviert worden war es bereits vor vier Monaten, nachdem der alte Besitzer ausgezogen war. Seitdem hatte sich auf dem nachbarschaftlichen Grundstück nicht viel getan. Kai musste sich drehen, um den Möbelwagen weiterhin betrachten zu können, denn Bianka fuhr in seine Auffahrt und hielt vor der Garage.

„Vielleicht ist es eine Familie mit drei schreienden Kindern, die den ganzen Tag über den Garten zerstören und einen ständig bellenden Hund sowie eine Meerschweinchenarmee und eine Mäusezucht mitbringen.“ Bianka grinste ihn an. „Die Mäuse könnten in deinem Chaos wohnen.“

„Bier?“

„Sofern ich es im Vorgarten trinken kann. Ich liebe es, anderen bei der Arbeit zuzuschauen.“

„Du bist mein Mädchen“, brummte Kai.

Sie stiegen aus dem Wagen und er eilte ins Haus, um zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Als er zurückkehrte, hatte es sich Bianka mittlerweile auf der restaurierten Bank vor dem Haus bequem gemacht. Kai reichte ihr das Alkoholfreie, behielt das mit Umdrehungen für sich und nahm neben ihr seinen Beobachtungsposten ein.

„Danke, Sweetheart.“

Sie stießen miteinander an und musterten anschließend die Möbelpacker, die den großen LKW mit Hamburger Kennzeichen entluden. Kräftige, schwitzende Kerle mit breitem Kreuz und muskulösen Armen … Es gab Schlimmeres, als seinen Feierabend auf diese Weise zu genießen.

Dann trat eine weitere Person in Erscheinung. Lediglich am Rande bekam Kai Biankas Kommentar: „Hmmm, sexy!“ mit. Kurzes, krauses, schwarzes Haar und eine Haut wie … Kai stutzte. Caffè latte! Genau! Zum Ablecken. Die Lippen waren voll, die Nase etwas breiter als bei den üblichen Nordlichtern. Und diese großen Wahnsinnsaugen! Er trug helle Hosen, die ihm bis kurz übers Knie reichten, königsblaue Turnschuhe und ein dazu passendes blau geringeltes T-Shirt.

„Ist das dein neuer Nachbar?“, fragte Bianka.

„Ich will’s hoffen.“

„Kann ich bei dir einziehen?“

„Vorhin wolltest du mein Haus nicht einmal betreten.“ Kai schüttelte resigniert den Kopf. „Mit Sicherheit ist der nicht schwul. Was mache ich mir überhaupt Gedanken?“

Bianka starrte ihn an. „Bitte? Du entdeckst einen Fremden und überlegst dir binnen zehn Sekunden, ob du ihn flachlegen kannst?“

„Läuft das bei euch Heten anders?“, fragte Kai verwirrt.

„Natürlich. Wir denken mindestens zwanzig Sekunden lang darüber nach. Oh mein Gott! Er winkt!“

Bemüht gelassen nickte Kai dieser fleischgewordenen Sünde huldvoll zu, während Bianka den Gruß etwas enthusiastischer erwiderte.

„Dir fällt gleich der Arm ab, wenn du ihn weiterhin wie einen Scheibenwischer nutzt.“

„Arsch!“, entgegnete sie. „Fahr weiter mit Superman Streife.“

„Ich liebe dich über alles.“

Sie grinsten sich an und stießen erneut ihre Flaschen gegeneinander.

„Zukünftig wirst du wahrscheinlich deine Freizeit nutzen, um dieses Model anzuschmachten.“

„Nicht nur wahrscheinlich, sondern ganz sicher.“ Kai lachte. „Das ist mein Tag des Jahres. Ich muss nicht mehr mit David fahren und erhalte eine Wichsvorlage als Nachbarn.“

Ein Rippenstoß brachte ihn zum Ächzen. „Kai!“

„Was denn? Sag nicht, dass du bei diesem Anblick kein feuchtes Höschen bekommst.“

Dass Bianka nichts entgegnete, war Antwort genug.

„Aha“, sagte er mit einem breiten Grinsen.

„Er beobachtet dich.“

„Quatsch. Er fixiert dich.“

„Kai, hast du einen Knick in der Optik? Der hat dich im Visier. Gna! Ausgerechnet meinen ranzigen Kollegen. Was ist mit meinen Titten nicht in Ordnung?“

„Deine Tittis sind wunderbar. Und den Knick hast du. Ah! Er kommt auf uns zugestiefelt.“

Hastig bemühte sich Kai um eine coole Haltung, als der Fremde an den Zaun trat, der ihre Grundstücke voneinander trennte.

„Hi. Ich möchte mich gern vorstellen.“

Synchron setzten er und Bianka ihre Bierflaschen ab und schlenderten zu dem Caffè latte hinüber. Der streckte ihnen die Hand entgegen. „Tinotenda Dada Nwoheabia.“

Kai erhielt einen weiteren Rippenstoß, der ihn taumeln ließ und Bianka nutzte die Chance, um schnell die Hand des lebendigen Traums zu ergreifen. „Bianka Wiek. Ich bin eine ziemlich platonische Freundin von Kai.“

„Hallo“, schnurrte Kann-den-Namen-nicht-Aussprechen. „Die Polizei in diesem Ort ist ja sehr attraktiv.“

Bianka strahlte. „Danke schön“, hauchte sie.

Nun bekam Kai die Hand entgegengestreckt. Hellbraun mit gepflegten Fingernägeln und einem kräftigen Griff.

„Kai Kilcher“, stellte er sich vor. Sein Ton fiel zu schroff aus, da er sich bemühte, seine Aufregung zu verbergen. Seit langem hatte ihn kein Mannsbild dermaßen aus dem Konzept gebracht. Vielleicht sollte er über seinen Schatten springen, einen Trip nach Hamburg planen und St. Georg unsicher machen.

„Und dann komme ich gleich in den Genuss, einen Polizisten zum Nachbarn zu erhalten. Da fühle ich mich sofort sicherer.“

„Keine Bange. New Yorker Verhältnisse gibt es hier nicht“, erklärte Kai noch eine Spur schroffer, was ein Stirnrunzeln von Bianka und ein beinahe erschrockenes Zwinkern des Wie-hieß-er-Gleich? zur Folge hatte.

„Beruhigend“, murmelte sein neuer Nachbar.

„Sie sind nicht von hier?“, fragte Bianka schnell.

„Nein, ich habe in Hamburg gewohnt und wollte gerne raus aus der Stadt. Freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Natur genießen und weg von dem Trubel einer Großstadt.“ Ti-irgendwas wagte ein zaghaftes Lächeln. „Meine Familie hat in der Industriestraße eine kleine Werkstatt aufgekauft. Wir restaurieren Oldtimer und Sportwagen. Cobra, Lotus, Spider und Ähnliches. Nachdem wir in unserer Werkstatt in Hamburg vier Einbrüche innerhalb eines Monats verzeichnen konnten, hielten wir es für vernünftiger, einen etwas friedlicheren Ort zu suchen.“

„Ausgerechnet Hemmoor?“, fragte Kai.

„Ist doch nett hier“, erklärte Wie-verdammt-war-sein-Name?

„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße.“

„Kai! Entschuldigen Sie, gewöhnlich ist er nicht so knörig. Hemmoor ist ganz hübsch. Sollten Sie Freude am Tauchen haben, ist der Kreidesee genau das Richtige. In ihm liegen diverse Wracks, was das Tauchen ziemlich spannend macht. Mit der Schwebefähre müssen Sie unbedingt einmal fahren und da wäre das Heimat- und Buddelmuseum oder der Naturbeobachtungsturm Osteschleife ...“

„Oder Sie steppen einfach an der Promenade der Oste entlang. Quasi Riverdance“, unterbrach Kai sie. Wieso mutierte Bianka plötzlich zum Touristenguide?

Sie warf ihm einen tödlichen Blick zu. Zum Glück hatte er heute Morgen reichlich Feenstaub aufgetragen, sodass er den Mordanschlag dieses Basilisken überlebte.

„Lernen wir Ihre Frau ebenfalls kennen?“, flötete Bianka.

Frau? Och nö, musste sie das unbedingt fragen? Das würde seine Wichsvorlage zerstören. Wie sollte man sich gepflegt einen auf diesen Traumprinzen runterholen, wenn dessen Ehefrau neben ihm stand?

„Ich bin solo“, antwortete Von-dem-Namen-bekommt-man-keine-zwei-Silben-

Zusammen.

Kais Puls beschleunigte sich.

Solo!

Der Mann war solo ... und trotzdem unerreichbar.

„Ich muss jetzt meinen Backofen reinigen“, sagte er.

„Was?“ Bianka musterte ihn inzwischen, als hätte er eine feste, weiße Jacke mit sehr langen Ärmeln an, die man praktischerweise auf dem Rücken verknoten konnte.

„Tschüss.“ Er musste weg, bevor er zu sabbern begann.

„Äh ... Tschüss. Kai? Denk dran, dass du morgen selbst fahren musst. Mein Wagen ist dann in der Inspektion. Sei also pünktlich!“, rief ihm Bianka nach. Er hob nur schnell die Hand, ohne sich umzudrehen, und rannte förmlich ins Haus. Die Tür fiel etwas zu laut ins Schloss und er lehnte sich aufatmend dagegen. Willkommen im Land der Bekloppten und Bescheuerten, von dem er der unumstrittene König war.

***

Mit einem leisen Surren drehte Tinotenda die letzte Schraube mit Hilfe des Akkuschraubers in das Holz.

„Steht!“, verkündete er gut gelaunt und klopfte zufrieden gegen das fertige Objekt.

„Prima. Magst du ’ne Pizza?“ Boris, der das Regal festgehalten hatte, half ihm, es in die richtige Ecke zu rücken. „Mir knurrt nämlich der Magen.“

„Ich habe Tiefkühlpizzen da. Es sei denn, du möchtest lieber eine bestellen.“

„TK ist ausreichend. Hauptsache, es sind Pilze drauf.“

„Rein zufällig habe ich eine Dose Pilze da.“

Sie grinsten sich an, ein Paar, das ungleicher nicht sein konnte. Boris war sein ältester Bruder. Helle Haut, Schultern wie ein Schrankkoffer und Muskeln, die er seit seinem vierzehnten Lebensjahr in der Muckibude trainierte. Just for fun. Dazu rasierte sich Boris täglich den Kopf zu einer blanken Kugel und hatte ein Faible für Bomberjacken, Cargohosen mit Tarnfleckmuster und Springerstiefeln. Wer ihm begegnete, hielt ihn unweigerlich für einen dumpfbackigen Nazi. Dabei hatte Boris ein Einser-Abi abgelegt, womit ihm hinsichtlich eines Studiums sämtliche Möglichkeiten offen gestanden hatten. Stattdessen hatte sich Boris dafür entschieden, Autolackierer zu werden und die Feinheiten des Airbrushs zu erlernen. Wirklich skurril wurde es erst, wenn Tinotenda wegen seiner Hautfarbe drangsaliert wurde und Boris seine Muskeln spielen ließ, um den kleinen Bruder zu beschützen. Der Nazi, der die Schokoperle rettet …

Tinotenda liebte seine Brüder. Es gab noch zwei davon, die Zwillinge Cruz und Carlos. Und das Nesthäkchen Susila. Die liebte er übrigens auch.

Sie waren eine kunterbunte Familie. Boris‘ Vater war ein russischer Geschäftsmann aus Moskau. Der Vater von Cruz und Carlos war ein spanischer Kellner aus Saragossa. Nachdem die Beziehungen ihrer Mutter mit Russland und Spanien vorbei waren, lernte sie einen nigerianischen Musiker kennen, Tinotendas Vater. Sobald ihr klar wurde, dass der lediglich auf einen deutschen Aufenthaltstitel aus war, suchte sich Heide Bormann einen Indonesier. Harta Citro Kade heiratete Heide, adoptierte ihre Söhne und sorgte ein weiteres Mal für Nachwuchs: Susila. Er trug Heide, die inzwischen ziemlich füllig geworden war, auf Händen, und Tinotenda konnte sich keinen liebevolleren Vater vorstellen. Ein weiterer Pluspunkt war, dass Harta fantastisch kochen konnte und in Cuxhaven einen eigenen Imbiss unterhielt, den er zusammen mit Heide führte. Während sich die Jungs auf die Autorestauration stürzten, wollte Susila später Modedesign studieren und westliche Mode mit indonesischen Einflüssen kombinieren. Im Moment steckte sie mit ihren siebzehn Jahren mitten im Abi-Stress.

„Ist dir aufgefallen, dass dein Nachbar überraschend oft am Fenster aufgetaucht ist?“, fragte Boris. „Der ist total neugierig. Wenn er dir lästig wird, sag mir Bescheid.“

Tinotenda schob die Pizzen in den Ofen und lachte. „Das ist wahrscheinlich berufsbedingt. Er ist Polizist. Ich habe ihn und seine Kollegin vorhin kennengelernt.“

„Und?“

„Die Kollegin ist süß.“

„Dada!“ Boris grinste ihn an. Dada, Tinotendas zweiter Vorname bedeutete lockiges Kind. Zu seinem Leidwesen nannte ihn seine Familie so, immer voller Zuneigung, da sie wussten, dass er es mit seinem deutlichen afrikanischen Einschlag mitunter nicht leicht hatte.

„Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Er ...“

„Ja?“

„Er wirkt etwas verlottert.“

Boris begann zu lachen.

„Die Uniform war verknittert und fleckig, er war seit Tagen nicht rasiert und roch ungewaschen. Außerdem war er richtig unfreundlich.“

„Igitt!“ Boris holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, ließ ihn dabei allerdings nicht aus dem Blick.

„Was?“, fragte Tinotenda und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Küchentisch.

„Seine Augenfarbe?“

„Aquamarinblau. Gletscherwasser. Lagunenblau ... Ich kann es nicht beschreiben. Hob sich ziemlich von seinen hellbraunen Haaren ab.“ Zu spät merkte er, worauf Boris abzielte. Der grinste von einem Ohr zum anderen. „Oooooh nein! Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf. Es reicht, wenn dieses anheimelnde Örtchen seinen eigenen Neger …“

„Afrikaner“, warf Boris ein.

„… erhält. Da muss der sich nicht als schwul outen und sich ausgerechnet am Bein eines Polizisten reiben.“

„Du merkst dir nur die Augenfarbe von den Leuten, zu denen du dich hingezogen fühlst.“

„Quatsch!“

„Okay, ein Test. Welche Farbe hatten die Augen der Polizistin?“

„Keine Ahnung.“

„Aha.“

„Von wegen aha. Trinkst du dein Bier oder willst du dich bloß an der Flasche festhalten?“ Er reichte Boris einen Flaschenöffner.

„Carlos und Cruz bringen morgen die beiden Wagen mit dem Trailer in die Werkstatt.“ Boris wechselte nach einem großen Schluck von seinem Bier das Thema. „Cruz schraubt gleich weiter an dem Jaguar herum und Carlos will die Übergabe der alten Räume in Hamburg übernehmen.“

„Sind die Besitzer der Wagen vom Standortwechsel informiert worden? Nicht, dass die denken, wir sind mit ihren Babys auf und davon.“

„Hab ich erledigt.“ Boris schmunzelte. „Der Eigentümer der Cobra kommt morgen vorbei. Er scheint uns nicht zu trauen. Außerdem will er mit mir die Farbkarten nochmal durchgehen. Wenn er sich mit der Lackierung erneut umentscheidet, treibt er mich langsam in den Wahnsinn. Wie kann man nur so wankelmütig sein?“

„Ich bin weiterhin für das Anthrazit mit den kirschroten Streifen.“

„Du hast halt Geschmack, Dada.“

Na, wenn Boris das sagte ... Wieso fiel ihm dabei wieder sein Nachbar ein?

„Der Typ muss endlich kapieren, dass er keinen unauffälligen Hingucker bekommen kann, sondern ausschließlich die Wahl zwischen entweder oder hat.“

„Wie kann es eine unauffällige Cobra geben?“

Boris prostete ihm mit der Flasche zu. „Mein Reden. Was ich damit sagen wollte ist, dass du morgen eine Weile ohne mich klarkommen musst. Ich zeige dem Kunden die Farbkarten und helfe dir danach weiter beim Zusammenschrauben.“

„Prima.“ Tinotenda holte die Pizzen aus dem Ofen und sein Bruder beeilte sich, Teller in einem der zahlreichen Kartons zu suchen.

„Das Geschirr müsste dort hinten sein.“ Tinotenda deutete auf einen Karton, der auf zwei weitere gestapelt war. Boris wurde fündig. Wenig später saßen sie futternd am Tisch.

„Ich frage mich, ob es wirklich eine gute Idee war, die Werkstatt hierher zu verlegen“, brummte Tinotenda nach einer Weile. „Damit habt ihr einen echt langen Anfahrtsweg. Jeden Morgen eineinhalb Stunden.“

„Mach dir keinen Kopf, Dada. Wir haben das gemeinsam entschieden und es für eine gute Idee gehalten. Carlos hat seine Wohnung erst bezogen, Cruz will wegen seiner Süßen nicht aus Hamburg weg und ich kann auf diese Weise ab und an für meinen Kumpel als Türsteher einspringen.“

„Vielleicht solltest du dir endlich ein Mädchen suchen.“

Boris wehrte ab. „Ich verliebe mich erst, wenn du in festen Händen bist, Dada“, sagte er sanft. „Bis dahin passe ich auf dich auf.“

Tinotenda senkte schnell den Blick. „Ich benötige keinen Aufpasser“, erklärte er.

„Da sind wir geteilter Meinung.“

Die Pizza fixierend schob er seine Hand über den Tisch und umfasste Boris‘ kräftige Finger. Der Druck wurde herzhaft erwidert und Tinotenda konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Er hatte die besten Brüder der Welt.

„Weißt du, was wir gleich machen?“, fragte Boris.

„Nein.“

„Du wirst nach der Bettwäsche suchen, während ich den Fernseher anschließe. Und danach klappen wir dein neues Sofa aus, machen es uns mit einem weiteren Bier gemütlich und lassen uns berieseln, bis wir einschlafen.“

„Gute Idee.“

„Morgen früh bauen wir als erstes dein Bett auf.“

„Ich denke, du musst in die Werkstatt?“ Sie hatten vereinbart, dass sich Tinotenda zuerst um seinen Einzug kümmern und hinterher, wenn er mit allem fertig war, an die Restauration zurückkehren sollte.

Boris erhob sich und stellte seinen Teller in die Spüle. Der Geschirrspüler war noch nicht angeschlossen, darum würde sich Tinotenda ebenfalls am nächsten Tag kümmern.

„Der Kunde kommt erst am späten Vormittag. Bis dahin haben wir dein keusches Nachtlager längst aufgebaut. Wir sind ja Profis.“

Keusches Nachtlager!

Das musste gerade Boris sagen, der seit Ewigkeiten keine Beziehung mehr gehabt hatte. Daran sollte sein Bruder lieber arbeiten, statt den Leibwächter zu spielen. Dabei wusste Tinotenda genau, dass es Boris mit seiner Vorliebe für einen Schläger-Look schwer hatte, auch nur Freunde zu finden. Natürlich könnte sein Bruder einfach sein Outfit ändern und sich die Haare wachsen lassen, doch Boris war niemand, der sich verbiegen ließ. Was er tun wollte, das tat er. Und wer ihn nicht so nahm, wie er war, der konnte ihm gestohlen bleiben. Es war schwierig, hinter diesem Look sein großes, liebevolles Herz zu erkennen. Wäre Boris schwul und nicht sein Bruder, würde sich Tinotenda garantiert in ihn verlieben. Ihm waren Äußerlichkeiten egal. Prompt fiel ihm sein Nachbar ein. Aquamarinblaue Augen … Dass er darauf unbewusst geachtet hatte …

„Dada, die Bettwäsche!“ Boris lachte und knuffte ihn gegen die Schulter. „Du Träumerle.“

Ja, das war er wohl.

Zwei

„14-24, bitte kommen.“

Heute bediente Bianka das Funkgerät. Ingolf hatte Wort gehalten und sie ihm als Partnerin zugeteilt. Dafür musste David mit dem fünfzig Jahre alten Bernhard fahren, der ständig Blähungen hatte. Superman und das Furzmonster. Kai grinste seit Dienstbeginn vergnügt vor sich hin.

„14-24 hört.“

„HG im Fichtenweg 23b. Die Anruferin ist eine Frau Kohlweyer. Sonderrechte erlaubt.“

„14-24 übernimmt.“ Bianka hieb mit der Faust auf das Armaturenbrett. „Wie ich diese Schläger hasse. Die gehören weggesperrt, wenn die ständig auf ihre armen Frauen einschlagen.“

Kai schaltete das Blaulicht ein und gab Gas. Häusliche Gewalt zählte nie zu den angenehmen Einsätzen. Leider vermehrten sich solche Fälle. Die Hemmschwelle der Menschheit sank immer weiter, ein höfliches, respektvolles Miteinander mutierte zu einem seltenen Phänomen. Er durfte sich eigentlich nicht davon ausnehmen, da er sich gestern Abend selbst nicht gerade von seiner sonnigen Seite gezeigt hatte. Zumindest was seinen neuen Nachbarn anging. Er hatte bloß Abstand gewinnen wollen, bevor er auf die Idee kam, den leckeren Caffè latte-Mann mit seinem Milchschaum garnieren zu wollen.

Im Fichtenweg erwartete sie bereits eine ältere Dame in langweiligen, beigefarbenen Gesundheitsschuhen und einem hellblauen Hosenanzug.

„14-24 ist vor Ort“, meldete Bianka der Zentrale, bevor sie ausstiegen.

„Hallo, die Polizei“, begrüßte sie die Frau. „Haben Sie uns angerufen?“

„Kohlweyer. Ja …. Guten Tag. Da herrscht ein unglaubliches Geschrei bei meinen Nachbarn. Und es hat ganz laut gescheppert.“ Sie trat einen Schritt näher. „Ich glaube, da gibt es Mord und Totschlag.“

Kai deutete auf das Reihenhaus, vor dem sie standen. „Dieses Haus?“

„Genau.“

„Warten Sie bitte hier auf uns.“

Dicht gefolgt von Bianka, eilte er auf die Tür des Häuschens zu. Gedämpft klangen Beschimpfungen an sein Ohr, also drückte er auf die Klingel. Niemand reagierte. Bianka klingelte erneut und er hämmerte dazu mit der Faust gegen die Tür. Endlich brach das Toben im Haus ab und Schritte wurden laut. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Zu ihrer Überraschung hatten sie es mit einer Frau zu tun.

„Ja?“

„Die Polizei. Was ist denn bei Ihnen los?“, wollte Bianka wissen.

„Gar nichts“, lautete die schroffe Antwort.

Bianka ließ nicht locker: „Dürfen wir kurz rein?“

„Warum?“

„Weil es gerade sehr laut bei Ihnen war, Frau ...“

„Ritter“, half Kai nach einem Blick auf das Klingelschild aus.

„… Frau Ritter.“

„Das war nur der Fernseher.“

„Wenn bei Ihnen alles okay ist, haben Sie bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns kurz selbst davon überzeugen. Wir sind dann auch ganz schnell wieder weg.“ Kai übte sich in Geduld, während Bianka neben ihm mit den Hufen scharrte.

„Ich muss Sie nicht reinlassen“, schallte es ihnen entgegen.

„Da täuschen Sie sich, Frau Ritter.“ Kai drückte kurzerhand die Tür auf und drängte sich an der lautstark protestierenden, kräftig gebauten Frau im lavendelfarbenen Jogginganzug vorbei.

„Sie sollten sich ein bisschen beruhigen, Frau Ritter“, hörte er hinter sich Bianka sagen. Er vertraute ihr, dass sie ihm den Rücken frei hielt, und lief den Flur entlang. Links ein Bad – es war leer. Ein weiterer Raum, es handelte sich um die Küche. Sie war sauber und ordentlich und ebenfalls leer. Nun gelangte er zum Schlafzimmer. Scherben lagen auf dem Boden. Auf dem Bett kauerte ein kleiner, dürrer Mann in Slip und einem weißen Unterhemd. Er drückte sich ein blutiges Taschentuch an die Nase. Eines seiner Augen war zugeschwollen, sein Gesicht tränennass. Kai näherte sich ihm vorsichtig, weil der Mann vollkommen verängstigt wirkte. Unter seinen Sohlen knirschten die Scherben, Bruchstücke einer Vase, wie Kai erkannte.

„Hi. Kilcher mein Name. Haben Sie Schmerzen?“

Der Mann nickte.

„Sind Sie Herr Ritter?“

„Manfred Ritter“, wisperte es. „Ich ... ich bin gestolpert.“

„Mehrfach gegen die Faust Ihrer Frau?“ Kai lächelte freundlich, registrierte dabei Hämatome in den unterschiedlichsten Stadien. Er reichte Herrn Ritter ein frisches Taschentuch und griff zur Quetsche, wie sie das Handfunkgerät nannten.

„14-24 an Zentrale.“

„Zentrale hört.“

„Wir benötigen einen RTW in den Fichtenweg 23b. Eine verletzte männliche Person.“

„14-24, RTW rollt.“

„Ich will keinen Krankenwagen“, flüsterte Herr Ritter und schielte in Richtung Flur, wo das Gekeife lauter und lauter wurde.

„Tun Sie mir einfach den Gefallen und lassen Sie sich behandeln. Sie sind kreideweiß und Sie scheinen einige Treffer am Kopf abbekommen zu haben.“

„Kai!“

Das war Bianka und sofort rannte er los. Im Flur rangelte sie mit der Frau des Verletzten. Hastig griff er ein und gemeinsam nagelten sie die kreischende Furie am Boden fest.

„Die Acht!“ Bianka keuchte und hielt mühsam die Beine der völlig ausrastenden Frau fest. Kai kam nicht so schnell an die Handschellen wie er wollte, da er das durchdrehende Weibsbild am Beißen hindern musste. Endlich konnte er ihr Genick mit dem Knie fixieren und die Handschellen um ihre dicken Gelenke zuschnappen lassen. Gemeinsam schleppten sie Frau Ritter in den Streifenwagen und atmeten erst auf, als sie die Tür hinter ihr zuklappen konnten. Die wüsten Beschimpfungen überhörten sie dabei großzügig. Schnaufend lehnte sich Bianka gegen den Wagen.

„Die Rettung kommt.“ Sie deutete die Straße hinunter.

„Mann, die gehört mit einem nassen Handtuch erschlagen“, brummte Kai.

„Kann ich jetzt gehen?“Frau Kohlweyer trat näher.

„Nein.“ Bianka zückte ihr Notizbuch. „Ich benötige Ihren Ausweis, Frau Kohlweyer, damit ich mir Ihre Daten notieren kann. Danach können Sie nach Hause gehen. Es ist übrigens gut, dass Sie uns angerufen haben.“

„Ja, der arme Mann. Ständig herrscht da Gebrüll.“

„Bleibst du am Wagen?“, fragte Kai dazwischen. „Ich begleite die Sanis zu dem traurigen Würstchen.“

Bianka schenkte ihm wegen dem Würstchen einen bösen Blick, nickte gnädig zu seiner Frage und notierte sich Frau Kohlweyers Anschrift. Kai wartete, bis die Sanitäter ausgestiegen waren und führte sie dann ins Haus, wobei er den beiden Rettungskräften erklärte, womit sie es zu tun bekamen.

Der Verletzte war sichtlich erleichtert, dass sich nun jemand um ihn kümmerte, obwohl er den Krankenwagen ja eigentlich nicht gewollt hatte. Kai fragte ihn während der Untersuchung nach seinem Ausweis und notierte sich die Personalien. Dabei bemühte er sich, möglichst viel Ruhe zu vermitteln. Den meisten Männern war es entsetzlich peinlich, wenn sie das Opfer von häuslicher Gewalt wurden.

„Okay, Herr Ritter. Ihre Frau bekommt ein Rückkehrverbot ausgesprochen, damit Sie die Gelegenheit erhalten, sich ein wenig zu sammeln. Nehmt ihr ihn mit?“, fragte er einen der Sanitäter.

„Ja. Verdacht auf Rippenbrüche.“

Autsch!

Kai hockte sich vor den Verletzten. „Ist Ihnen bewusst, dass Sie auf diese Weise nicht weiterleben dürfen?“, fragte er. Mit aufgerissenen Augen starrte ihn Herr Ritter an.

„Sie dürfen nicht länger der Punchingball Ihrer Frau sein. Sprechen Sie im Krankenhaus mit einem Arzt darüber und lassen Sie sich Adressen von Beratungsstellen geben. Mit diesem Problem stehen Sie nicht allein da. Lassen Sie sich helfen.“

„Ist gut“, flüsterte Herr Ritter. „Vielen Dank.“ Er warf einen scheuen Blick zur Tür. „Und die Mona kommt wirklich nicht wieder?“

Kai verneinte. „Zunächst nehmen meine Kollegin und ich sie mit zur Wache und die nächsten zehn Tage darf sie diese Wohnung nicht mehr betreten.“

Die unruhigen Augen huschten zurück zu ihm. „Ihre Uniform gehört gebügelt“, murmelte Herr Ritter. „Und Ihre Hosensäume haben Spritzflecken. Sie sehen schlampig aus.“

Kai schürzte die Lippen, ermahnte sich, den Kommentar besser zu überhören, richtete sich auf und gab den Sanitätern einen Wink. „Ihr könnt ihn mitnehmen. Wir sind fertig.“

Irrte er sich oder grinsten die Erstretter? Seine Laune sank.

Arschlöcher!

***

Dank Boris’ Hilfe standen die Möbel und die ersten zehn Kartons hatte Tinotenda schon ausgeräumt. Eigentlich müsste der Rasen dringend gemäht werden. Da er keinen Rasenmäher besaß, fiel Gartenarbeit aus. Dabei hätte er bei dem schönen Wetter gerne etwas draußen herumgewerkelt. Stattdessen zog sich Tinotenda den nächsten Karton heran. Küchenhandtücher, Besteck, Rührlöffel ... Ein lautes Scheppern von draußen lockte ihn ans Fenster. Neugierig spähte er hinaus und entdeckte einen alten Citroёn DS in der nachbarschaftlichen Einfahrt. Kai Kilcher stieg soeben aus, schlug die Wagentür zu, kickte mit dem Fuß gegen eine große, rostige Blechwanne, in der irgendwelche Pflanzen zu Staub zerfielen. Offenbar hatte der Kilcher die Wanne angefahren.

Hallo, Herr Wachmann!

Tinotenda schüttelte den Kopf. Selbst auf die Entfernung erkannte er den bemitleidenswerten Zustand des Wagens. Der Rost winkte ihm förmlich zu und unter einer dicken Schmutzschicht befanden sich vielleicht noch Rückstände vom Ursprungslack.

„Banause“, brummte er und wandte sich vom Fenster ab, denn Kai war im Haus verschwunden und damit gab es nichts mehr zu beobachten.

„Fahrzeugmörder! Nostalgieschänder.“ Ihm wären weitere passende Bezeichnungen in den Sinn gekommen, doch die waren seiner Meinung nach an diesen Kai verschwendet. Tinotenda holte sich eine Limo aus dem Kühlschrank und trank einen ordentlichen Schluck aus der Flasche. Anschließend widmete er sich weiter dem Auspacken. Nachdem er eine Weile Besteck und Tassen in die Schränke geräumt hatte, klingelte es an der Tür. Als er öffnete, stand ein sichtlich entnervter Boris vor ihm.

„Das hat aber lange gedauert.“ Tinotenda grinste ahnungsvoll.

Boris zog eine Grimasse. „Dieses schwachsinnige Herumeiern. Wir haben mindestens hundert Mal in den Farbkarten herumgeblättert. Und bei jedem Durchgang fiel dem Idioten etwas anderes ein.“

„Und wie soll die Cobra nun werden?“

„Blau mit schwarzen Streifen.“ Boris ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.

„Blau?“, fragte Tinotenda entgeistert. „Zu den kirschroten Sitzen?“

„Dada, ich sag’s ja.“ Boris seufzte. „Und in dem Blauton kommen die Streifen nicht mehr zur Geltung.“

„Wie ich dich kenne, ist das jetzt bestimmt nicht alles.“

„Wie meinst du das?“

Er schaute seinen Bruder streng an. „Das hast du garantiert nicht hingenommen.“

„Hab ich auch nicht. Ich fürchte, ich habe uns einen Auftrag vermasselt.“

„Nein!“

Boris lächelte kläglich. „Ich hab ihm mitgeteilt, er kann das Schätzchen Anthrazit mit Rot haben oder gleich mitnehmen. Unsere Werkstatt steht für Qualitätsarbeit, da lackieren wir Wagen nicht in Farben, die nicht zur Gesamtoptik passen.“

Das war typisch Boris.

„Und?“

„Er meldet sich gegen 17:00 Uhr.“

„Was sagen Cruz und Carlos dazu?“

Boris strich sich über seine Glatze. „Dass meine Haare offenbar nach innen wachsen und das Gehirn verstopfen.“

„Recht haben sie. Der Kunde ist König.“

„Der Kunde ist ein Trottel. Genau wie dein Nachbar. Darf ich den bitte hauen?“

„Mann! Was bist du aggressiv. Nein, natürlich nicht. Hast du vergessen, dass der Polizist ist? Der lässt sich garantiert nicht verhauen. Wieso überhaupt?“

Plötzlich war Boris völlig aufgeregt. „Hast du gesehen, was da vor seiner Garage steht? Ein 1974er Citroёn DS!“

„Hab ich.“

„Der lässt die Karre total vergammeln. Hast du mal einen Blick reingeworfen?“

„Du warst auf seinem Grundstück?“ Tinotenda schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

„Hallo? Da steht ein 1974er Citroёn!“

„Der nicht uns gehört.“

„Dann würde er drinnen auch nicht voller Müll sein. Und ich meine Müll: Burgerkartons, Verpackungen von Schokoriegeln, Dosen von Energydrinks, Kaffeebecher, Papiertücher, über die ich lieber nicht nachdenke …“

„Igitt!“

„Genau. Und außen nagt der Rost. Da muss was dran gemacht werden, sonst bröselt die Kiste auseinander.“

„Hast du unter dem Dreck eine Farbe ausmachen können?“

„Hellblau, weißes Dach“, antwortete Boris wie aus der Pistole geschossen. „Die Sitze waren früher ebenfalls weiß. Es könnte ein Traum sein.“

Tinotenda seufzte. „Lass die Finger davon. Der schreibt dir schneller eine Anzeige, als du pieps machen kannst.“

„Denkst du? Du könntest den Mann mit den braunen Augen ja fragen, ob er ihn aufbereiten lassen will.“

„Aquamarinblau“, verbesserte er seinen Bruder unwillkürlich. Als Boris breit grinste, merkte er, dass er in eine Falle gelaufen war.

„Er beschäftigt dich, Dada.“

„Mich beschäftigen die Kartons.“ Tinotenda begann weiter auszupacken. „So wie er gestern mit mir geredet hat, will er von mir nichts wissen. Wahrscheinlich hat er Angst, dass ich ihn nach Afrika verschleppe.“