Stereotyp - Bernd Pilzer - E-Book

Stereotyp E-Book

Bernd Pilzer

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Beschreibung

Mit dem Ende der DDR wird der siebenjährige Paul jäh aus seinem behüteten Leben gerissen.
 
Von der Familie verstoßen, wächst er mit seinem Ziehvater Ronny in einem verlassenen ostdeutschen Kinderferienlager auf. In einer von Perspektivlosigkeit geprägten Jugend findet er Anschluss an die rechtsextreme Szene. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und Paul muss sich zwischen einem Leben als Rechtsterrorist und dem Verrat an seiner neuen Familie entscheiden. Bis eine außergewöhnliche Frau Pauls Leben in eine vollkommen verrückte Richtung lenkt.
 
Stereotyp ist ein spannender politischer Gesellschaftsthriller über 25 Jahre deutsch-deutsche Geschichte. Eingebettet in reale Ereignisse - die sich vom Mauerfall über den Gewaltexzess in Rostock Lichtenhagen bis zur Flüchtlingskrise 2015 ziehen - wird eine hochaktuelle Geschichte erzählt, in der Rechts- und Linksextremismus aufeinanderprallen.
 
Nach zwei unter einem Pseudonym erschienen Werken ist Stereotyp der erste unter Klarnamen veröffentlichte Roman von Bernd Pilzer. Bernd Pilzer hat nicht studiert und arbeitet für keine Zeitung. In den Jahren von 2007 bis 2020 hat er den Blog "Strategien gegen Vernunft" betrieben.

Das Vermächtnis der Moai ist nach Stereotyp das zweite Buch von Bernd Pilzer, das sich mit der Entstehung von Extremismus auseinandersetzt.

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Bernd Pilzer

Stereotyp

Eine deutsche Geschichte

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

Für Olga

 

 

 

 

Dieser Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Die Personen und die Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Buch 1

 

 Es war einmal in Ostdeutschland

 

 

„Daher betrachte ich mich selbst als Extremisten für die Verbrüderung der Menschen, die Paulus so edel beschrieben hat. – Es gibt weder Jude noch Grieche, es gibt weder den Unfreien noch den Freien, es gibt weder männlich noch weiblich: denn wir alle sind eins in Jesus Christus – Liebe ist die einzige Kraft auf der Welt, die in extremer Form gegeben und entgegen genommen werden kann, ohne irgendwelche Qualifikationen, ohne dass dabei der Gebende oder der Nehmende zu Schaden kommt.“

 

Martin Luther King Junior, Januar 1965, im Interview mit der amerikanischen Ausgabe des „Playboy“-Magazins.

 

 

 

 

 

 

Interlude 1

 

Am Tag der deutschen Einheit befand sich Paul Fleming in einem Techno-Club. Ausgerechnet Techno. Paul hatte diesen Techno-Raver-Unsinn schon immer verabscheut.  Diese furchtbare elektronische Nicht-Musik, die nicht einmal von denen, die sie „abfeiern“, ohne bewusstseinsmindernde Drogen ertragen werden konnte. Paul war sich sicher: Wollte man sich den unmündigen Bürger zu Gemüte führen, musste man nur in einen Techno-Club gehen, um dort in die Gesichter dieser egozentrischen Wohlstandskrüppel zu blicken. Diesen ewig Jugendlichen mit ihren panisch starrenden, schlichtweg wahnsinnig erweiterten Pupillen. Mit ihren sinnlos mahlenden Kiefern. Und ihrer unablässig verschwitzten, pickeligen Haut. Manche Menschen tragen ihren Charakter unweigerlich in ihrem Gesicht. Von dem verbalen Unsinn, den diese feiernden Egoisten von sich gaben, ganz zu schweigen. Denn wenn sie nicht wie mit sexueller Energie aufgeladene Roboter im Stakkato-Takt tanzten, erbrachen sich die „Raver“ mit ihrer ekelhaft feuchten, brülllauten Aussprache regelrecht aufeinander. Unablässig spien sie sich gegenseitig schleimige Sturzbäche geistiger Galle in ihre Gesichter. Ohne Luft zu holen. Ohne nachzudenken. Voll auf Unterbewusstsein. Doch an welchen Ort hätte Paul sich in dieser Gegend von Berlin sonst retten können? Seine Lage erlaubte es ihm nicht, wählerisch zu sein. Realistisch betrachtet war das Aufsuchen des Techno-Clubs in jener Notlage, in die sich Paul hatte hineinziehen lassen, ein perfekter wie cleverer Geistesblitz gewesen.

 

„Bumsvoll“ war der Laden. Diesen Ausdruck hatte eine halbe Stunde zuvor an der Bar einer dieser Techno-Schreiaffen Paul gegenüber gebraucht, was Paul nur fade lächelnd abgenickt hatte. Diese verdammten Feiertage. Es war an sich schon schlimm genug in diesen „Läden“, wie die Techno-Affen ihre Clubs nannten. An den Feiertagen war es umso schlimmer. Paul konnte vor lauter Touristen kaum die Hand vor den Augen sehen; was für ihn ironischerweise den Vorteil barg, mit ein wenig Glück einfach in der Menge unterzugehen. Überflüssig zu erwähnen, dass der dumme Techno-Schreiaffe an der Bar noch zwei, drei weitere Mal auf die Bumsvolligkeit des Ladens hingewiesen hatte. Atemlos schrie der Kerl Paul an, was für eine furchtbare Situation das in den Berliner Techno-Clubs inzwischen sei. Vor lauter Bumsvolligkeit traf man kaum mehr normale Menschen, in den angesagten, also guten Läden. ECHTE Berliner wie sie! Da müssten Kollegen wie er und Paul doch ein Kleinwenig zusammenhalten, lachte und spuckte der Menschenaffe weiter. Paul. Nickte dem schwitzenden Kerl, dem vor lauter Lebendigkeit jeden Moment die Augen aus dem Kopf zu springen drohten, einfach nur zu. Denn ganz egal wie schlimm sich dieser Techno-Raver-Unsinn für Paul anfühlte: Draußen, im Vorher seines Lebens, war es noch viel furchtbarer gewesen. Was konnte es da schaden mit einem ihm wildfremden Raver via Jägermeister Bruderschaft zu trinken?  Sie exten die braune Flüssigkeit ihre Kehlen hinunter. Pauls Körper reagierte auf den spendierten Schnaps mit einem angenehm warmen Schauer, der seinen Körper durchschüttelte. Paul verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Der fremde Spender lachte ihn brüderlich an. Klapste Paul mit seiner schweißnassen Hand auf die Schulter und frohlockte: „Geht doch!“

 

Der Club, in dem sie sich befanden und in welchem sich die Menschen wie Kälber in einer Schlachtanlage drängten, trug den Namen „Wilde Barbara“. Die Wilde Barbara entsprach der dritten Generation von Techno-Clubs.  Nach den verbotenen illegalen Raves und den danach legal angemieteten Industriehallen, waren komplette, ehemalige Wohnhäuser der neueste „heiße Shit“ in Club-Berlin. Die Organisatoren setzten nicht mehr auf den einen geräumigen Haupt-Floor, in dem ein überteuerter „Superstar-DJ“ die großen Scheine garantierte. Im Jahre 2014 des Herren lief es anders. Auf jeder Etage, in jeder einzelnen separierten Räumlichkeit war Party angesagt und ein neuer DJ samt Anlage am Start. In jedem Winkel des Gebäudes wurde gefeiert, getrunken und so etwas Ähnliches wie getanzt. Alles war durchzogen mit einer „Mega-Underground“-Berlin-Attitüde, die sich durch abgeklebte Handykameras und verrücktes Level-Design der einzelnen Locations wiederspiegelte. Jeder Raum musste als Event ein wenig aus dem Rahmen gefallen erscheinen, ohne zu sehr zu irritieren. Auf dem Floor, auf dem sich zum Beispiel Paul gerade befand, stand ein Alte-Leute-Sofa samt -Tisch neben einem Kachelofen in einem Folterkeller. Zudem waren klischeehafte Ketten und unbenutzbare, weil fest verschraubte Folterinstrumente an die Wände kuratiert. Dazu lief monotoner Minimal-Sound von jenem unbekannten DJ, welcher gerade durch seine Unbekanntheit diesen Räumen den Spirit eines Weltklasse-DJs anhaftete, gemäß dem Berliner Motto: Hauptsache Underground. „Nur nicht zu berühmt sein“, lautete die Devise. Die Besucher, die sich in einer Altersspanne von 18 bis 88 bewegten, saßen auf dem Sofa, dem Tisch und auf dem Kachelofen herum. Dabei schrien sie sich unablässig gegenseitig an und lachten ein Lachen, das durch den physisch spürbaren Druck aus den Boxen nirgendwo ankam. Währenddessen zeigten sich die Raver gegenseitig auf ihren Smartphones Bilder von Ecstasy, welches sie gerade im Begriff waren zu kaufen oder vor einer Stunde, fünf Tagen oder zwei Jahren gekauft hatten. Im Erdgeschoss wurde House-Music mit 70er-Jahre-Flair gedudelt. In jenem Stock, in dem sich Paul gerade befand, blubberte der Minimal-Techno. Im Stockwerk über ihnen war deswegen mit stampfendem Hard-Techno zu rechnen. Weiß Gott womit es im Dachgeschoss weiterging. Was diese Techno-Hausclubs nun von Großraumdiskotheken mit mehreren Floors und handelsüblicher Sangria unterschied, konnte Paul beim besten Willen nicht erkennen. Er war aber weiß Gott auch nicht die Zielgruppe dieses Drogenlochs, in der nun schon zum zweiten Mal ein Rudel von halbnackten Feuerschluckern durch die Gänge zog und unter dem Beifall der Touristen warme Luft verbreitete. Paul sollte es recht sein. Dies. War genau das, was er jetzt brauchte. An Orten wie diesem hier war jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Paul mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den folgenden Tagen von niemandem mehr als anwesend identifiziert werden könnte. Sicherlich nicht einmal von seinem neuen, wenn auch spendablen „Freund“, der ihm zu Pauls Unmut auch dann nicht von der Seite wich, als Paul sich einen Sitzplatz gesucht hatte. Ob er Ketamin wolle? Er mit ihm, da drüben auf der Toilette? Pauls neuer „Freund“ geiferte ihn euphorisch an.

 

„Nein, danke.“ Dies waren die ersten Worte, die Paul Fleming an diesem Ort von sich gab. Dabei fasste diese Aussage alles wofür die Wilde Barbara stand, für ihn treffend zusammen. Sein Schreiaffen-Freund erhob sich unbeeindruckt und verschwand „auf Toilette“, im Irgendwo des Hausclubs. Inzwischen schwang sich ein etwa 20-jähriger Kerl mit roten Haaren und einem Hipster-Bart voller Bartwichse auf die oberste Stufe des Kachelofens. Am höchsten Punkt angekommen, zog der Hipster sein Shirt von seinem Discopumper-Körper und brüllte lallend etwas Unverständliches in die leicht amüsierte Menge. Woraufhin der Schreihals umgehend von dem Ofen-Gebilde abrutschte und kopfüber auf den Boden knallte. Vermutlich hatte ihm ein Reiseführer-Vlog dieses Verhalten in einem Berliner Techno-Club nahegelegt. Hashtag: Echtesberlin. Die Raver dankten es dem Zirkusclown mit hämischem Gelächter. Paul schüttelte dazu nur seinen Kopf. Ein altes Zitat von Onkel Werner kam ihn in den Sinn: „Wenn der Erfolg den Wenigen Recht gibt, gibt der Misserfolg den Vielen Unrecht.“ Werner. Niti. Ronny…

 

Durch seine Gedanken aufgerüttelt verließ Paul seinen Sitzplatz und bestellte sich an der Bar von einer im kompletten Gesicht mit silbernem Glitzer überschminkten Transfrau unbestimmbaren Alters ein Bio-Bier. Der Minimal-Technobass war indessen so laut und durchdringend, dass Paul lauthals schreien musste, um sein Getränk zu ordern. Nach dem ersten Schluck aus der Flasche konnte Paul zwar nicht herausschmecken was an diesem Bier „Bio“ sein sollte, überließ aber dennoch der hier arbeitenden Transfrau einen vollen Euro Trinkgeld. Überraschenderweise zeigte sich die Dame über das Trinkgeld so extrovertiert dankbar, dass es Paul schon wieder leidtat das Trinkgeld gegeben zu haben. Allem Anschein nach war es in diesen Hipster-Kreisen nicht üblich, mehr für Andere auszugeben als nötig.  Irgendwie erwies es sich als gar nicht so einfach in einem Club wie diesem nicht aufzufallen. Dabei war es keineswegs Pauls erster Besuch in einem Techno-Club. Schließlich war Paul zu diesem Zeitpunkt schon 32 Jahre alt.

 

Er brachte zwei weitere Räume mit extravaganter Innenausstattung und einen Pulk von lachenden, schwatzenden und lauftanzenden Menschen hinter sich, bis er an einer mit grünem Flokati überzogenen Sitzecke haltmachte. Dort setzte er sich abermals zu den Techno-Raver-Leuten. Ein gutes Versteck. In der Flokati-Sitzecke hämmerte der Beat aus den digitalen Turntables nicht mehr ganz so ohrenbetäubend laut wie an seinem vorherigen Platz bei dem Kachelofen. Auch die Techno-Schreiaffen schrien sich hier kaum mehr an. Der Bass wummerte nur dumpf abgeschirmt durch die dicken Wände vom Nebenraum. Wilde Tech-House-Musik hatte den Minimal-Beat abgelöst. Eine ihrer Stimme nach schwarze Sängerin schrie vor Ekstase aus den Boxen. Die Hände gingen nach oben. Glücksschreie vom Nebenraum. Paul nahm einen Schluck von seinem Bio-Bier; der Gerstensaft tat ihm richtig gut. Vielleicht war es nicht die klügste Idee sich hier und jetzt in der Wilden Barbara zu betrinken. Doch das Bier half ihm den pochenden Stressdruck auf seinen Kopf zu verringern. Wie lange müsste er wohl hierbleiben? Missmutig blickte er umher. Die Techno-Raver würden sicherlich noch bis mindestens Montagmittag durch die Räume der Barbara stolpern. Heute war Freitag. Zeit blieb Paul somit genug. Als er seine Situation und Lage reflektierte, kam in Paul ein überwältigendes Gefühl der Ironie auf, dass er sich gerade an diesem Ort vor der Polizei und den anderen potentiellen Verfolgern verstecken musste. Bis vor 5 Stunden hätte er noch über die von einigen als „geschützte Räume“ bezeichneten Techno-Clubs Berlins nur gelacht. Dem zum Trotz war durch die unerwarteten Ereignisse dieses Tages die Wilde Barbara für ihn zu einem ebensolchen geschützten Zufluchtsort geworden. Vor 5 Stunden… Es fühlte sich an, als wären 5 Monate vergangen. Darauf gab Paul sich noch einen saftigen Schluck Bio-Bier. Auf die Ironie. Auf Berlin. Auf die Freiheit.

 

Nein. Im schlimmsten Fall würde ihn die Polizei suchen. Die Anderen hätten ihn längst gefunden, wenn sie es darauf angelegt hätten. Außerdem hatten sie ihn gehen lassen. Das machte Hoffnung.

 

„Wusstest du, dass in Ungarn. Da, wo der Bewandowski herkommt! Die meisten Pornodarsteller pro Million Einwohner sind?" Die Frage galt nicht Paul, auch wenn ihn der Kerl auf Pauls rechter Seite angesprochen hatte und dabei ansah. Ohne Frage sprach der Kerl mit Bürstenhaarschnitt und einem tatsächlich beeindruckenden Friedrich-Nietzsche-Oberlippenbart mit der jungen Frau, die eine Sitz-Etage hinter Paul saß. Doch da der Nietzsche-Bart-Träger durch seinen offensichtlichen drogeninduzierten Zustand nicht mehr fähig war, sich mit seinem Körper zu ihr umzudrehen, ohne von der Sitzfläche auf Paul zu fallen, sprach er hierfür, quasi als Notlösung, einfach Paul an. Nietzsches Drogen hatten längst zu wirken begonnen.

 

„Sollen wir…?“ Paul machte mit seinen beiden Zeigefingern eine Tauschgeste auf sich und die junge Frau hinter seinem Rücken, worauf der Kerl mit Nietzsche-Bart nur den Kopf schüttelte: „Ich glaubäää… Die Annalena macht eh gerade Pause.“ Dabei kniff der verstrahlte Technodepp die Augen zusammen, um durch angestrengte visuelle Beobachtung den Wirkungsgrad der konsumierten Drogen bei seiner Freundin zu entschlüsseln. Pauls Einschätzung nach war Nietzsche viel zu drauf, um überhaupt etwas zu erkennen.

 

Paul zögerte eine Sekunde, ob er sich zu der genannten Frau umdrehen sollte. Dann beließ er es dabei. Lieber nahm er noch einen hilfesuchenden Schluck aus der fast leeren Bierflasche.

 

„Wusstest du?“ fragte der Typ von rechts. Paul ignorierte den Nietzsche-Kerl mit seinem offensichtlichen Laber-Flash. Der Name „Bewandowski“ mit seinem für Paul russischen Klang hatte ihm einen kurzen, wenn auch lächerlichen Schreck verpasst. Nietzsche ließ sich davon nicht beeindrucken und kam mit seinem Gesicht so nahe an Paul heran, dass dieser ihn unmöglich weiterhin ignorieren konnte. Paul konnte den rauchigen Atem des Kerls deutlich an seiner Wange fühlen. Der wiederholte einfach seine Frage: „Wusstest du?“

 

„Was! Weiß ich?“ Paul hatte Nietzsche schon immer gehasst. Wieso konnte die Welt ihn nicht einfach in Ruhe lassen? War der Tag denn nicht so schon schlimm genug? Mussten die banalen Leben der anderen immer aus ihren Mündern sprudeln? Paul fühlte, wie eine Stresswelle aus seinem Herzen hinauf in seinen Kopf zog.

 

Der Nietzsche-Typ grinste ihm fortwährend zu: „Wusstest du, dass Bewandowski neunzig Prozent aller Tore beim FC München schießt? Hä? Wusstest du?“ „Nein! Ich habe es nicht so mit Fußball.“ Paul massierte sich mit beiden Händen seinen vor Stress verspannten Hinterkopf. Als könnte er dadurch den Typen aus seiner Wahrnehmung massieren.

 

„Ist aber so. Weißt du? Und ich denke mir… Ja… Ich denke mir. Ich meine“, der Typ kramte eine Zigarette hervor und bot auch Paul eine an, der mit einem Auch-schon-egal-Gesichtsausdruck die Fluppe nahm und sie sich von dem Kerl anfeuern ließ, „was ich meine. Ist“, fuhr der Nietzsche-Kerl fort, „WARUM bricht dem Bewandowski keiner die Beine? Verstehst du? Ich meine. Im Fußball steckt so viel Geld! Hat der irgendwie so Personenschützer? Ich meine. Wenn man dem die Beine bricht, wer schießt dann die Tore für den FC München? Und. Ich meine. Wo würden die dann in der Tabelle stehen? Da geht es doch um MILLIONEN! Ich meine. Ist doch krass. Neunzig Prozent aller Tore! So viel Geld! Wettmafia! Champions League! Und dann die Hertha! Hör mir auf mit der!“ Und weil das Thema Paul so unglaublich egal war nickte er nur und sagte: „Ja. Da hast du schon Recht.“ Daraufhin nickte der Fußball-Typ anerkennend. Wohlwissend eine Person gefunden zu haben, die seine Gedanken teilte. Die Beiden rauchten.

 

Währenddessen zogen die jungen Leute unaufhörlich jubelnd an den Sitzenden vorbei. Weiter durch den Club. Immer weiter. Dabei viel weniger wild und hedonistisch wirkend als sie sich in diesem Moment gerade selbst fühlten. Mit ihren Bieren in den Händen und den chemischen Substanzen in ihren Nasen. Dazu die gängigen klischeehaften Instagram-Bilder über sich und ihre Traumwelt im Sinn, die ihnen vorgaben wie sie dieses Berlin zu erleben hatten. Alle Besucher der Wilden Barbara waren offensichtlich mit den gleichen Sehnsüchten nach Sex und Hedonismus vor den Türstehern angetreten und hatten sich brav in Reih und Glied gestellt. Paul hätte gelacht, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Dies war die Hippie-Hölle. Die dunkle Seite des Mondes. In der jeder sich selbst vorgaukelte nach einer subjektiven, persönlichen Freiheit zu streben – um am Ende nur zu wollen, was jeder will. Das war nicht einmal schlimm. Nur menschlich. Und dadurch schon wieder unendlich langweilig. Eine Jugend im verdrogten Swinger-Club. Und wenn sie dann erwachsen wurden, träumten diese Leute mit der gleichgeschalteten Phantasie gerade deswegen von ihrem „kleinen Haus am See“. Die Wilde Barbara, die nach Jane Fonda in „Barbarella“ benannt worden war, füllte sich stetig weiter mit glücklich grinsenden Jugendlichen, die es „geschafft“ hatten. Sie waren drin. Der Türsteher hatte sie passieren lassen. Sie waren dem Traum ewiger und enthemmter Jugend einen Schritt nähergekommen. Die banale Ausgelassenheit der einfachen Leute bahnte sich wie ein Tsunami in die für sie heiligen Räume. Selbst Paul konnte fühlen, wie sich der Club mehr und mehr mit weltvergessener Euphorie und bedingungslosem Feierwillen auflud. Überall waren Männer, Frauen, jeglicher Ausrichtung und Bedürfnisse; Hände, Gläser, Gelächter. Alles war in Bewegung und konnte nicht die Finger voneinander lassen. Und überall: Musik.

 

„Und frohen Tag der Einheit!“, lachte ihn der Kerl mit dem merkwürdigen Bart plötzlich euphorisch an, nachdem der sich kurz um seine Freundin Annalena gekümmert hatte. „Ja, dir auch“, lächelte Paul dem Typen verkniffen zu, der ihn darauf, als wäre Pauls Antwort eine Einwilligung dazu gewesen, gleich herzlich und schweißwarm umarmte. Darüber musste Paul tatsächlich lachen. So weit weg war die dunkle, böse Welt dort draußen für ihn inzwischen. Die Bahn. Die Bullen. Die Hunde. Vielleicht ein Hubschrauber… Es war doch eh schon alles egal. Egal und unabänderlich. Was das Gleiche war… Nun war er hier. In dieser lächerlichen Form von Sicherheit. Vielleicht sollte er sich noch ein Bier holen.

 

„Deiner Freundin“, sagte Paul mit dem rechten Daumen nach hinten. „Geht es der gut?“

„Ist nicht meine Freundin! Sie ist meine Schwester!“

„Ah, okay… Geht es der gut?“

„Sie ist meine Schwester!“ brüllte der Schreiaffe und schüttelte danach dumm seinen Kopf hin und her, womöglich um seine Sinne neu zu justieren. Daraufhin entkam Pauls Lippen wieder ein kurzes Auflachen. Eine ehrliche, unverbitterte Reaktion auf seine Umgebung. Vielleicht waren diese Techno-Clubs gar nicht mal so übel wie er immer gedacht hatte. Worüber beschwerte sich Paul eigentlich? Wahrscheinlich war es in diesen Zeiten gar nicht einmal die schlechteste Wahl vor der Wirklichkeit in die drogenbeseelte Dummheit dieser Szene zu fliehen. Auf eine verquere Art machte es Sinn in dieser verrücktgewordenen Welt einfach nur zu tanzen und Schwachsinn daherreden zu wollen. Und wenn Paul irgendwo sicher vor der Polizei sein sollte, dann an solch einem Ort. Weiß Gott: Es bestand sogar die Möglichkeit, dass ihn niemand gesehen hatte. Schließlich hatte Paul mindestens eine, wenn nicht zwei Stunden lang in der Schlange vor der Wilden Barbara gestanden. Schon da hatte die Menge ihn getarnt. Zur Erinnerung: In diesen Clubs werden am Eingang sogar die Handykameras abgeklebt! Sogar Mark Zuckerberg musste draußen bleiben. Was sollte Paul jetzt noch passieren? Das was geschehen war, konnte er ohnehin nicht mehr rückgängig machen.  Vielleicht brauchte er nur ein weiteres Bier. Und noch eines. Und noch eines. Und noch… Immerhin hatte er es bis hierhin geschafft. Auch wenn… Paul stellte sein leeres Bier auf den Boden, zu seinen Füßen. Für ihn hätte es schlimmer kommen können. Er nickte unbewusst ein wenig zu dem stumpfen Techno-Beat mit, der nicht aufhören wollte durch die Wände zu wummern. Hier und da fiel ihm eine hübsche Frau auf. Klar. Das alles war immer noch saublöd, hier. Aber. Wer nicht draußen war, war drinnen. Er dachte an sein Handy. An Marie. Wie gern er sie jetzt gesehen hätte. Was Bobby wohl gerade machte?

 

„Wir sind ja ewig angestanden“, laberflashte der Nietzsche-Imitator ihn wieder mit seiner nassen Aussprache voll.

„Ja, ich auch. Normal“, gab Paul zurück. Wieso sich nicht unterhalten? Wieso sich nicht darauf einlassen?

„Ja ne! Anna… Lena… Und ich waren… Fast! Drinnen. So richtig fast drin. Ganz vorne. Weißt du? Nur noch die Security-Schranke. Dann kamen die Bullen zu den Türstehis. Und dann war erst mal zu. So direkt vor uns. Ich meine. Da haben wir zwei richtig Pech gehabt. Halbe Stunde! Halbe Stunde noch mal. Standen wir da. Man kann schon richtig Pech im Leben haben. Ich meine. Wir waren ja fast drin.“

 

Ein kalter Windhauch zog durch das Gebäude. Paul fror. Sein Sichtfeld zog sich im gleichen Ausmaß zusammen wie sich ein Gewicht auf seinen Brustkorb legte. Unvermittelt hielt er die Luft an. Ein Gefühl von Schwindel überkam ihn. Worte. Er musste nachfragen. Mit dünner Stimme krächzte er, dabei tunlichst darauf bedacht, cool und gelangweilt zu klingen: „Was wollten die Bullen denn?“

 

„Ach!“ gab Nietzsche angewidert zurück. Dabei wedelte er benommen, genervt mit seiner schlaffen rechten Hand vor Pauls Nase herum, als wäre sie taub geworden. „Nix Wichtiges. Bullenzeug. Suchten halt irgend so einen… Vollidioten. Irgendwas mit `nem Zug. Wohl da hat sich… Da hat sich wohl irgend so ein Idiot vor den Zug geworfen. Meine ich. Irgendwo. So ein Kerl. Depressiv. Kennt man ja. Pf! Egoisten…“

 

Pauls Bewusstsein erinnerte sich explosionsartig an den Schock, der ihn überrollt hatte. Diesen Moment… Von einer Sekunde auf die Andere. Der Flügelschlag eines Schmetterlings. Wie schnell alles gegangen war. Der betrunkene Mann an der Seite… Paul fühlte noch einmal den Aufschlag. Ihm war, als würde er selbst in diesem Moment vor die Brust gestoßen werden. Dieses dumpfe Klatschen, als die Bahn…  Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er dieses abgründige Geräusch überhaupt gehört hatte, bei all dem schrillen Lärm, den die Maschine… Dieses Ächzen. Dieses furchtbare Ächzen…

 

„Wer…“, Paul schluckte einen Kloß in seinem Hals hinunter. „Wer hat sich vor den Zug geworfen?“ Sein Herz raste. Die Menschen tanzten und schrien mit einem Mal noch wilder, noch brutaler, noch böser ihr Leben aus ihren Kehlen. Als würden sich die Ereignisse überschlagen. Dicke Schweißperlen rannten an Paul hinab. Die heiße Club-Luft der Wilden Barbara hatte eine neue Viskosität angenommen. Er konnte kaum noch atmen. Das Blut sank ihm schlagartig in seine Zehen- und Fingerspitzen.

 

„Keine Ahnung“, Nietzsches Hände nahmen lethargisch erhoben die Ahnungslos-Haltung an. „Weiß nicht. Ich meine. Niemand kennt seinen Namen.“

 

Paul stand unvermittelt auf. Die Panik aus seinen Fingerspitzen blitzte wie ein Stromschlag in sein Gehirn. Die Raver-Welt war außer Rand und Band. Es war laut. Hektisch. Unübersichtlich. Wild. Heidnisch. Gottlos. Und in diese plumpe, laute, überdrehte, gottlose Wildheit der Wilden Barbara sagte Paul Fleming zu sich und zu niemand Anderem in den donnernden Krach des Techno-Clubs hinein: „Ich kenne seinen Namen.“

Kapitel 1

 

Paul Flemings Geschichte begann am 30. September 1989. An jenem Tag stand der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher um 18:59 Uhr auf dem Balkon des „Palais Lobkowitz“ in Prag. Es war der Abend, an dem der deutsche Außenminister unabsichtlich den mit Sicherheit bekanntesten Halbsatz der deutschen Geschichte sprach, mit welchem er nicht nur das Leben der nach Prag geflohenen DDR-Bürger von Grund auf veränderte. Der Junge Paul Fleming saß an jenem Abend mit seiner Familie vor ihrem „Chromat“-Fernseher. Er hing dabei ebenso an den Lippen Genschers, wie die restlichen Bürger des geteilten Deutschlands. Hans-Dietrich Genscher sprach seinen berühmten wie ikonenhaften Halbsatz auf dem in abendliche Dunkelheit gehüllten Balkon direkt in die Geschichtsbücher: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Die letzten drei Worte „…möglich geworden ist“ gingen im frenetischen Jubel der in die deutsche Botschaft geflohenen DDR-Flüchtlinge unter. Diese Rede markierte nicht nur das Ende der Deutschen Demokratischen Republik, sie steht ebenso für das Ende von Paul Flemings bislang gelebten Lebens. Paul war 7 Jahre alt. Er lebte mit seinen Eltern in Ostdeutschland. Ebenso wie sein Vater hatte der Junge blonde Haare und war der am größten Gewachsene in seiner Klasse. Wie es von einem Siebenjährigen anzunehmen ist, verstand er weder den genauen Grund noch die Tragweite dessen, weshalb seine Mutter und sein Vater sich noch während der Fernsehsendung weinend und gleichzeitig lachend in den Armen lagen. Auf dem immer gleichen Ost-Sofa. Vor den immer leeren Bücherregalen. Mit dem verstaubten Globus im Holzschrank. Das West-Fernsehen im schummerigen Röhrenfernseher jubilierte. Ausgelassen stießen Pauls Eltern mit dem Marillen-Schnaps aus der großen Flasche an, dessen Geruch der kleine Paul immer so gemocht hatte. „Der erste Schritt ist getan“, Pauls Vater gab sich siegessicher. Als Scherz fügte er an Pauls Mutter gerichtet hinzu: „Hiltrud! Du kannst schon einmal die Koffer packen!“ Paul freute sich mit seinen Eltern. Waren seine Eltern glücklich, war er glücklich. Er musste gar nicht verstehen, worin nun der genaue Grund für diese Ausgelassenheit lag. Der Junge, den so manche seiner Erzieher und Lehrer milde lächelnd als Spätentwickler bezeichnet hatten, hatte sich in seiner geistigen Entwicklung zu lange an jener Grenze aufgehalten, in der er das Leben nur als eine Ansammlung einzelner Momente betrachtete. Doch spätestens seit seiner Einschulung hatte Paul damit begonnen, nach und nach ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass die Welt einem gewissen Rhythmus zu folgen schien. Von Geburtstagen zu Weihnachten. Von Weihnachten zu Geburtstagen.  Paul war kein Junge, der viele Ansprüche geltend machte. Keiner von jenen, die zu viele Fragen stellten.  Paul mochte die einfachen Dinge. Selbst- und zeitvergessen spielte er am liebsten mit seinen Freunden. Für gewöhnlich sah man sie zwischen den Häusern herumtollen. Die trockenen Holzstöcke in ihren Händen wurden durch ihre Fantasie zu stolzen Musketen. Nicht weniger gerne und entrückt spielte er mit dem Hund des Nachbarn. Paul malte gerne. Sogar dem Schulalltag stand er nicht abwehrend gegenüber. Dabei waren seine dort gezeigten Leistungen blanker Durchschnitt.

 

Paul wusste nicht viel über seine Eltern. Ob sein Vater bei der Stasi oder Maler war, spielte im Nachhinein ohnehin keine Rolle mehr. Nicht einmal, ob beides der Fall war. Paul erinnerte sich als Erwachsener nur an unsortierte Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit. Daran zum Beispiel, wie sein Vater immer recht spät, meistens nach Sonnenuntergang, von der Maler-Arbeit nach Hause kam. Vater ging für gewöhnlich in die Arbeit, dann in die Gaststätte. Schloss Paul die Augen, roch sein Vater für ihn immer nur nach Zigaretten und Ketwurst. Oftmals war der Vater betrunken, wenn er nach Hause kam. Es war sogar der Regelfall. Doch ansonsten war der Vater ein sanfter Mann, der hin und wieder einen Farbklecks in seinen blond gelockten Haaren übersehen hatte und wegen denen der kleine Paul seinen Vater für eine Art Engel hielt. Der siebenjährige Paul liebte seinen Vater, wie die meisten Kinder ihre Väter lieben: Abgöttisch. Vater machte alles. Vater konnte alles. Vater wusste alles. Sein Vater war wie Gott. Ebenso wie seine Mutter. Zwei Seiten einer göttlichen Medaille. Ein einzelnes Wesen. Untrennbar miteinander vereint. Mutter. Die Mutter. Seine Mutter, die immer für Paul da war. Die ihm Geschichten im kalten Zimmer vorlas. Sogar die gruseligen, die der kleine Paul so sehr mochte, für die er eigentlich noch zu klein war. Was Vater nicht wusste, hatte die liebe Mutti Paul schon längst beantwortet. Schloss der ältere Paul in Gedanken an sie seine Augen, sah er noch immer aus der bodennahen Kinderperspektive die Schürze seiner Mutter wie ein Ballkleid um sie schweben. Seine Mutter hörte für ihr Leben gern ihre Schlagerschallplatten und sang dazu verträumt den Liedtext mit. Für Paul hatte sie die schönste Singstimme der Welt. Viel schöner und lieblicher, als die Frauen und Männer, deren Lieder seine Mutti nachsang. Merkwürdig, in welchem Lichte der Mensch die prägenden Personen in seiner Erinnerung behält. Gerade jene Menschen, die ihm am meisten Unrecht angetan haben. Paul liebte die Weihnachtszeit in der Kleinstadt. Deren Symbol für ihn auch in späteren Jahren immer der lackierte Nussknacker aus Holz blieb, mit dem er mit seinem Vati Nüsse knackte. Und er liebte noch mehr die Plätzchen und vor allem den Teig, von dem er kosten durfte, wenn die Mutter ihn jedes Jahr vor Weihnachten zubereitete. Dann roch die ganze Wohnung so wunderbar nach Vanille. Nicht einmal die unaufhörlichen, eigentlich alles erstickenden Rauchschwaden von Mutters „Cabinet“-Zigaretten konnten den Geruch ganz überdecken. Der junge Paul wusste nicht viel über die Zukunft. Dennoch war er sich sicher, dass in Zukunft jedes Jahr zur Weihnachtszeit ihre Wohnung nach Vanille riechen würde. Paul war davon so überzeugt, wie es nur Kinder sein können. Seine Überzeugung war stark und widerstandsfähig wie eine Burg, die von fleißigen Handwerkern in einen Felsen hineingeschlagen worden war. Was hätte auch geschehen sollen? Für das Kind war die Zukunft klar definiert. Zu seinen Großeltern, welche nur eine Straße entfernt in einer Wohnung lebten, die sich von ihrer eigenen kaum unterschied, hatte Paul ein gemischtes Verhältnis. Auch sie liebte er. Natürlich. Doch irgendetwas stand zwischen ihnen, selbst wenn Paul nicht benennen konnte, was. Unvergessen blieb für ihn jene Szene, als der Großvater eine Tafel Schokolade geöffnet hatte und allen Familienmitgliedern ein Stück davon gab. Nur Paul nicht. Seine Generation hätte es leicht genug im Leben, lautete die ein wenig zu grollend hervorgepresste Begründung des alten Mannes. Paul verstand nicht, was sein Großvater ihm damit hatte sagen wollen. Seine Großmutter war schon immer schweigsam und in sich selbst gekehrt gewesen. Seit diesem kleinen Ereignis erschienen ihm die eigenen Großeltern weniger nahbar als zuvor. Doch immer noch lieb. Paul redete sich in Folge darauf ein, er hätte hatte ohnehin keine Schokolade gewollt. Es war nur ein kleines Ereignis. Dessen Folgen zu diesem Zeitpunkt nicht abschätzbar gewesen waren.

 

Am 9. November 1989 fiel in Berlin die Grenzmauer, die 28 Jahre lang den Osten vom Westen der Stadt getrennt hatte. Die neuvereinten Deutschen lagen sich im Freudentaumel in den Armen. Die ganze Welt blickte zu diesem Zeitpunkt ungläubig auf die friedliche Revolution im ehemals so kriegerischen Deutschland. Im Hause von Pauls Familie saßen wieder alle beisammen. Zu den Eltern hatten sich die Großeltern und ein paar Nachbarn gesellt. Zu dem Marillen-Schnaps aus den stumpfen, brüchigen Gläsern wurde Flaschenbier gereicht.  Selbstverständlich lief das West-Fernsehen nebenbei, auch wenn die Familie mit ihren Bekannten und Freunden gedanklich schon einen Schritt weiter war. Das Fernsehen konnte nur die Bilder der Vergangenheit zeigen. Pauls Eltern begrüßten die Wende und das augenscheinliche Ende der DDR mit hochgehaltenen Gläsern. Hoffnungsvoll sahen sie schon goldene Zeiten auf sich zukommen. Die Großeltern und Nachbarn dagegen gaben sich skeptisch. Zu viel und zu schnell war die letzten Monate geschehen. Zu hart war die Volkspolizei gegen seine eigenen Bürger vorgegangen. Und wer konnte schon wissen welchen Plan die Genossen aus Russland für Deutschland vorgesehen hatten? Glasnost hin, Perestroika her. Wie konnten einfache Leute wie die hier Versammelten abschätzen, wie mächtig Michail Gorbatschow im eigenen Staatsapparat tatsächlich war? Und würden die sowjetischen Truppen wirklich in den Kasernen bleiben? Da konnte ein Sekretär für Informationswesen namens Günter Schabowski noch so viel von einer neuen Regelung für Reisen in das westliche Ausland erzählen. Konnte und durfte einer wie Schabowski so etwas überhaupt entscheiden? „Da könnt ihr euch noch so viel freuen und Bier trinken. Abgerechnet wird immer erst am Ende“, dozierte der Großvater. Angestoßen wurde dennoch. Pauls Mutti und Vati hörten gar nicht wirklich zu. Es wurde nur noch mehr Schnaps und Bier gereicht, gepaart mit der lautgefeierten Hoffnung, den Sozialismus endlich hinter sich zu lassen und Teil der BRD zu werden. Teil der sozialen Marktwirtschaft! Endlich würde es in der DDR vorangehen, wie im wohlhabenden Westen. Die Großeltern sollten sich doch darüber freuen so etwas noch erleben zu dürfen! Niemand müsste mehr Teil des Staatsapparats sein um etwas zu erreichen; Man könnte nach dieser historischen Nacht schlichtweg ALLES werden. Prost! Wenn sie denn ihre Karten richtig ausspielten, waren sie mit einem Schlag im Besitz völlig neuer Möglichkeiten.

 

Auch an diesem Tag verstand der kleine Paul nichts von den weltverändernden Ereignissen, die sich direkt vor ihm abspielten. Ebenso wie er die Worte Genschers in Prag nicht deuten, wie er die Diskussionen um die Anfang September begonnen Montagsdemonstrationen im Familienhaus und in der Nachbarschaft nicht entschlüsseln konnte, verstand Paul auch heute nicht was da im Fernsehgerät gezeigt wurde. Paul sah mit seinem kindlichen Verstand nur ein paar merkwürdige Gestalten auf einer alten, schmutzigen Mauer herumtanzen. Im Hintergrund war ein alter Prunkbau, den Paul schon einmal gesehen hatte. Auf einem Bild war das gewesen. Oder im Fernsehen. Paul wusste es nicht mehr genau. „Das Brandenburger Tor am antifaschistischen Schutzwall“, wie ihm der Großvater erklärte. Auf dem Tor war ein schöner Reiterwagen. Paul wunderte sich noch, warum keinem der Erwachsenen der tolle Reiterwagen auffiel. Ansonsten wurde viel gelacht im Fernseher. Nur der Nachrichtensprecher trug ein ernstes Gesicht. Im Anschluss interviewten für Paul unsichtbare Reporter, von denen er nur das Mikrofon sehen konnte, eine Vielzahl von Menschen. Einige von den Interviewten gaben sich regelrecht erschlagen vor Euphorie, während andere süffisant lächelnd angaben, dass dies nur die logische Konsequenz der letzten Wochen und Monate sei. Irgendwie wirkte die ganze Veranstaltung wie ein verfrühtes Silvester auf Paul. Mit diesen scheinbar unendlichen Menschenströmen, die durch das Fernsehbild von rechts nach links pilgerten. Und dem enthemmten Alkoholkonsum zu Hause. Es könnte auch ein großer Geburtstag oder gleich ein staatliches Volksfest sein. Dazu zeigten die Kameras immer wieder die Bilder von Trabanten und einem Schlagbaum. Es wurde viel gefahren und gehupt. Wo und wohin blieb für Paul auch nach mehrmaligen Erklärungen des Vaters unklar. In den Westen. Was auch immer das im Konkreten bedeutet. Um seinen Vater nicht zu verärgern, nickte Paul einfach dem freudigen Vati zu. Es kam nicht allzu oft vor, dass der Vater so viel Zeit bei seiner Familie verbrachte und zudem auch noch in Hochstimmung war.

 

„So oder so“, erklärte der Nachbar Schmidt mit hochrotem Marillen-Kopf, „muss man jetzt mal schauen, wie es da drüben so ist. Es gibt doch sicherlich noch Begrüßungsgeld.“

 

„Begrüßungsgeld! Stimmt!“ Pauls Familie lachte. Wenn sich jemand ein wenig Luxus verdient hatte, dann die Bürger der DDR. Dieses „Begrüßungsgeld“ wurde bereits seit den 70er Jahren Bürgern der DDR gezahlt, wenn sie es schafften in den Schwesterstaat BRD rüber zu machen. Der alte Lohmeyer hatte einmal davon erzählt. Weil der Freund von seinem Schwager hatte vor ein paar Jahren… Und letztes Jahr sollte es sogar erhöht worden sein. Auf 120 Mark! Auch wenn diese Information sich am nächsten Tag teilweise als falsch herausstellen sollte (das Begrüßungsgeld erhöhte sich nur auf 100 D-Mark), waren Pauls Eltern fest entschlossen gleich morgens in die BRD zu fahren und sich das Geld abzuholen. Dabei war es viel wichtiger, sich die BRD einmal anzusehen. Geld war schön und gut. Freiheit konnte man sich damit aber nicht kaufen. Es musste am nächsten Tag sein. Denn der nächste Tag war ein Freitag. Das musste unbedingt noch vor dem Wochenende erledigt werden. Wer wusste denn schon wirklich, an welchen Wochentagen die westdeutschen Banken geöffnet haben? „Sonntags sicherlich nicht“, gab Nachbar Schmidt zu bedenken. An Arbeiten war ohnehin nicht zu denken.

 

„Aber es sind 4 Stunden Fahrt von hier!“ wand der Großvater ein, worauf Pauls Vater nur mit glasigen Augen antwortete: „Und wenn es 40 wären! Jetzt dürfen wir endlich rüber!“

 

So stieg ein paar Stunden später die ganze Familie in das alte Auto des Großvaters. Einen „Wartburg“. Pauls Vater hatte zwar vor einigen Jahren selbst einen Trabanten beantragt, doch selbst wenn dieser bewilligt worden wäre, hätte er kaum das Geld aufbringen können, um ihn tatsächlich zu bezahlen. Doch ab heute würde ja alles anders werden. Wartezeiten sollten der Geschichte angehören. Die Bürger der DDR hatten lange genug gewartet. Da saßen sie nun, eingequetscht in den „guten Wartburg“, wie Großvater sein treues Gefährt stets nannte. Am Steuer der Herr Papa, neben ihm auf dem Beifahrersitz Pauls Mutti. Hinten die Großeltern und in der Mitte hilflos eingequetscht der kleine Paul, dessen Name damals noch ganz anders lautete. Mehrfach hatten sich die Großeltern darüber beklagt, Paul solle doch zu Hause bleiben. Es sei einfach viel zu eng auf der kleinen Rücksitzbank des Wartburg. „Das wird schon irgendwie gehen“, nickte der Vater mit seiner Zigarette im Mund nach hinten, „heute ist der Junge bares Geld wert. Auch für den wird uns die BRD Geld geben. Endlich zahlt es sich mal aus, ein Kind gezeugt zu haben.“ Da lachte die Mutti. Die Großeltern seufzten. Die Grenzen zur BRD waren geöffnet, das wussten sie. Und doch hatten die Großeltern, die fast ihr ganzes Leben in der Deutschen Demokratischen Republik verbracht hatten, Sorge, nicht mehr in das geliebt/verhasste Land zurückgelassen zu werden. Ihrer politischen Erfahrung nach waren noch keine harten Fakten geschaffen worden. Schließlich standen die Panzer der UdSSR noch vollbetankt und vor neugierigen Blicken versteckt irgendwo im Land.

 

„Nicht nach Berlin“, gab der Vater die Marschrichtung vor. Dabei wäre es für die Familie der kürzere Weg gewesen. „Denn da wollen sicherlich alle hin. Die Ost-Berliner sowieso. Und bestimmt werden auch die Berliner Wessis mal in den Osten schauen. Da kommen wir doch nicht voran. Am Ende macht der Kohl die Geldschatulle zu. Nee. Wir fahren einfach über den Grenzübergang Marienborn.“

„Wird da nicht auch total überfüllt sein?“ warf die Oma ein.

„Das ist ja noch weiter!“, entrüstete sich der Großvater.

„Schnickschnack!“ winkte Pauls Vater ab.

 

Der Wartburg hatte sich schon auf den Weg gemacht. „So viel weiter ist das nun auch nicht.“ Und so ging sie los, Paul Flemings erste Reise in den Westen.  Sein Vater und seine Mutter waren in Hochstimmung und sangen zum Hohn alte Volkslieder der DDR. Dabei rauchten Pauls Eltern unaufhörlich wie die Schornsteine des deutschen Wirtschaftswunders. Die Großeltern saßen stumm und beleidigt auf der Rückbank. Paul konnte kaum aus dem Fenster sehen vor lauter Familie und Rauch um sich herum. Dann zündeten sich wie auf Kommando auch noch die Großeltern Zigaretten an. Einerseits war es eine gute Wahl von Pauls Vater gewesen, nicht nach Berlin zu fahren, wo zu diesem Zeitpunkt Hundertausende Menschen sich über die alten und neu geschaffenen Grenzübergänge drängten. Beamte verteilten Millionen Visa und vor den Sparkassen und Banken entstanden Menschenschlangen, die über 100 Meter lang sein konnten. Das Problem mit dem Grenzübergang Helmstedt/Marienborn blieb nur: An diesem Tag sollten bis zu 14000 Autos die Grenze von Ost nach West überqueren. Dies erzeugte erhebliche Wartezeiten. Die Grenzbeamten der DDR waren heillos überfordert. Entgegen der ausgerufenen Parole, die Bürger der DDR hätten genug gewartet, tat dies der guten Stimmung von Pauls Eltern jedoch keinen Abbruch. So weit waren sie schon gekommen. Diese paar Minuten – oder sollten es Stunden sein – sollten nicht mehr ins Gewicht fallen. Den Großeltern dagegen wurde in dem Meer aus Trabanten und Wartburg mit jedem Kilometer in Richtung Westen mulmiger. Ihnen schmerzten ihre Füße und sie konnten die Euphorie der Menschen, die aus ihren Autos johlten und winkten, wenn die Autoschlange sich wieder für einige Meter in Bewegung setzte, noch immer nicht teilen. Irgendwann war es dann soweit. Ein sichtlich erschöpfter Grenzer winkte sie zu sich heran. Der Vater grinste den Beamten mit dem erschöpften Blick an. Der nickte nur und winkte sie weiter. Vater trat aufs Gas.

 

„Brauchen wir denn keine Visa?!“ Der Großvater beugte sich erschrocken zu seinem Schwiegersohn nach vorne.

„Ach, Scheiß drauf“, winkte der nur ab. „Glaubst du, hier haben alle ein Visum?!“

„Aber was ist, wenn sie uns nicht mehr zurücklassen?“

 „Vater“, Pauls Mutter drehte sich zu ihrem Vater nach hinten um und lächelte ihn an: „Die werden noch froh sein, wenn wir überhaupt zurückkommen.“

„Ach…“, seufzte die Großmutter und nahm Pauls Hand. Paul setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. Die kleine dünne, grauhaarige Mutter seiner Mutter. Diese schweigsame, würdevolle Frau. „Es war ja nicht alles schlecht“, seufzte sie dann noch.

„Außerdem werden die uns am Auto erkennen“, zwinkerte Pauls Vater über den Rückspiegel in Richtung Rücksitzbank.

 

Pauls Familie war nicht wegen des Geldes in die BRD gereist. In Wahrheit ging es darum, endlich das tun und lassen zu können, was ein freier Bürger konnte. Das Geld war nur die beste, wenn auch peinliche Ausrede dafür, die lange Fahrt auf sich zu nehmen. Die Freiheit, die sie dabei genossen, war mehr wert als jeder Geldschein. Sie kamen sich nicht vor wie Bettler, als sie einige Kilometer nach der Grenze an einer Sparkasse in einem unüberschaubaren Menschenpulk anstanden. Dort fanden sie sofort Freunde. Bürger der wie ein Schiff leckgeschlagenen, sinkenden DDR: „Wie daheim!“ lachte ein Mann mit Schnauzbart in einem ähnlichen Alter wie Pauls Vater sie an. „Und doch ganz anders“, nickte Pauls Mutter dem fremden Mann glücklich zu. Dann umarmten sie sich. Einfach so. Der Fremde und die Frau. Im Glück vereint. Und obwohl Pauls Vater von der eifersüchtigen Sorte war, hatte er nun nichts dagegen, dass ein anderer Kerl seine Alte in die Arme nahm. Nie wieder hatte Paul sich so viele Menschen umarmen sehen wie in diesen Tagen. Zwar tat es allen Ost-Deutschen sichtlich gut das Begrüßungsgeld in den Händen zu halten, doch die Menschen waren nicht aus Gier in den Westen gereist. Tatsächlich war die Familie in dem Supermarkt, den sie nach der Sparkasse aufsuchte, ziemlich erschlagen von der Auswahl und dem üppigen Angebot in den Regalen. So etwas kannten sie nicht von zu Hause. Doch ein wenig mussten sie sich schon fragen, wozu der Westen diese riesige Markenvielfalt überhaupt benötigte. Nein. Sie waren keine gierigen Menschen. Sie waren einfach nur hungrig. Nur war ihr Hunger von jener Art, wie ihn Jugendliche verspüren, die von ihren Eltern zu lange zu Hause eingesperrt werden. Sicherlich würde im Westen nicht alles besser sein. Ihnen war bewusst, dass nicht jede Kritik am Westen nur Propaganda des Regimes sein konnte. Doch sie hatten es sich verdient, sich ihr eigenes Bild von dieser Welt zu machen. Irgendwie waren sie alle Montagsdemonstranten gewesen. Wenn viele es auch nur mit ihren Herzen gewesen waren. Sie waren keine Kinder mehr und wollten sich auch nicht mehr so behandeln lassen. Und das Geld war nur ein Symbol für aufkommende Möglichkeiten.

 

Paul war unendlich stolz, als er während der Rückfahrt seinen eigenen Hundertmarkschein in den Händen halten durfte. Es war nicht wichtig, dass Herr Papa nachts, als sie wieder zu Hause in ihrer Wohnung ankamen, Paul den D-Mark-Schein etwas zu ruppig wieder abnahm. Für Paul war es ausreichend gewesen, die Banknote überhaupt halten zu dürfen. Was hätte der kleine Paul mit solch einer für ihn unermesslichen Summe auch anfangen sollen? Der Schein war ganz neu und Paul hatte darauf geachtet, dass er an keiner Stelle zerknitterte. Der blaue Schein war wie eine Auszeichnung für Paul. Eine bedruckte Medaille. Hinten war das Brandenburger Tor. Vorne ein ernst und dennoch milde schauender Mann mit Hut. Das Westgeld hatte sogar einen besonderen Geruch.

 

„Endlich wieder daheim“, seufzten die Großeltern. Und hätten ihre Kinder sie gefragt, hätten sie zugegeben, dass der Ausflug in die BRD ein ganz besonderes Abenteuer für sie gewesen war. Es stellte ihnen nur niemand diese Frage. In den eigenen vier Wänden angekommen, umarmten sich Papa und Mama noch einmal und küssten sich lange. Dann sahen sie sich lange, vielleicht ein wenig zu lange, gegenseitig verliebt in die Augen. „Und jetzt wird gepackt!“ lachte der Vater und klapste seiner Hiltrud auf den Hintern. Ihr Sohn hatte sich gerade noch so in sein Bettchen geschleppt. Dort angekommen, fiel er in einen tiefen Schlaf. Paul war so müde, dass er es nicht mehr fertigbrachte, sich aus seiner Kleidung zu schälen.  

 

In der Zeit, in der Paul schlief, war das Haus nicht untätig. Reißverschlüsse und Schnallen wurden bewegt. Pakete geöffnet. Winkel durchsucht. Erinnerungen bewertet. Schubladen und Schranktüren aufgeschwungen, offen stehengelassen, noch einmal inspiziert. Zeitungspapier wurde um und in zerbrechliche Dinge gestopft.  Hin und wieder polterte etwas zu Boden. Paul wachte davon nicht auf. Der Junge schlief traumlos wie ein Stein. Sicher, behütet, glücklich. Zur gleichen Zeit stapften die Füße sanfter Riesen durch die Wohnung. Fröhlich wurden ausgelassene Worte hin und her geworfen. Abgewogen, was – und was nicht…? Im Zweifel wurde gegen das angeklagte Kleidungs- oder Erinnerungsstück entschieden. Diese blaue Bluse? Eine BRAUNE Krawatte? Welches Buch ist unverzichtbar? Welcher Gegenstand ist praktisch? Was bekommt man „überall“? Und was benötigt man eigentlich, um ein neues Leben zu beginnen? Eine kurze Raucherpause. Am Ende ging es schneller als beide gedacht hatten. Noch ein letztes Bier, eine letzte Zigarette, dann legten sie sich schlafen. In der letzten Nacht. Sie machten sich keinen Vorwurf überstürzt zu handeln. Denn wer würde Wasser einen Vorwurf machen, wenn es nach Jahrzehnten unter Druck und Verschluss einen Damm durchbricht? Wer könnte es nicht nachvollziehen, wenn eine jahrelang eingesperrte Hauskatze ihre erste Chance zur Flucht ergreift? Und wer würde es nicht verstehen, wenn jemand, der sein ganzes Leben lang unter einer großen Last leben und leiden musste, diese spontan und im ersten Moment abwirft? Sie waren niemandem eine Erklärung schuldig. Seit ihrer Geburt in diesem Land mussten sie sich, ihre ganze Existenz, nach fremden Maßstäben messen lassen. Sicher. Hiltruds Mutter hatte Recht: Es war nicht alles schlecht gewesen. Na und?

 

Am Morgen danach erwachte der kleine Paul gut erholt in seinem Kinderbettchen. Das Haus, das die Wohnung seiner Eltern beinhaltete, war in matte Stille gehüllt. Paul blieb entspannt liegen. Es störte ihn nicht, als er seine Kleidung an seinem Leib bemerkte. Er blieb dabei ebenso still und leise wie die Gemäuer, die ihn umgaben. Der Junge hatte aus den Schlägen gelernt, die er letztes Jahr dafür erhalten hatte, als er an einem Wochenendmorgen seine Eltern zum wiederholten Male zu früh geweckt hatte. Nun lag Paul einfach da, unter seiner Decke. Nur sein Kopf ragte hervor. Er wartete. Und lauschte. Er erinnerte sich nicht mehr im Detail daran, wie sein Vater ihn letztes Jahr in die kleine Einbauküche gebracht hatte, um ihm dort die kleine Schlaf- und danach seine Unterhose herabzuziehen. Vati hatte sich langsam, fast gemächlich auf einen der Küchenstühle gesetzt, den entsetzt schreienden Jungen um sein Knie gelegt, wo Vater ihm mit der flachen Hand den nackten Hintern verdrosch. Ebenso wenig erinnerte sich Paul daran, wie seine Mutti, nachdem Paul nicht aufhören konnte zu heulen wie ein Häufchen Elend, ihn daraufhin abermals über ihn Knie legte und mit dem Kochlöffel so lange auf seinen schon wieder entblößten Po einschlug, bis der hölzerne Kochlöffel abbrach. All dies hatte Paul vergessen. Nicht aber, wie er zum Geburtstag kein Geschenk bekam, da „der Junge ja den Kochlöffel zerbrochen hatte“. Der Mangel an Geschenken war für ihn an diesem besonderen Tag die größere Strafe als die Schläge. Nur sein Unterbewusstsein würde diesen Moment nie wieder hergeben. Den Moment, als Mutti so hart zuschlug bis der Kochlöffel zerbrach und Mutti und Vati, als sie begriffen was gerade geschehen war, darüber zu kichern begannen. Nein. Doch. Auch wenn Paul Fleming es in diesem Moment in seinem Bettchen nicht mehr wusste, würde er diese Kochlöffelszene nie wieder vergessen. Darüber hinaus wusste Paul nicht einmal den Grund, warum er gezüchtigt wurde. Wie sollte er damals auch wissen, was Blasen bedeutet? Wozu Sex überhaupt dienlich ist. Er war einfach nur morgens in das Schlafzimmer seiner Eltern gekommen. Zu früh.

 

Das Haus blieb still. Übermorgen. Am Montag war Pauls Geburtstag. Vielleicht würde er ja dieses Jahr etwas geschenkt bekommen. Zu seinem Unbehagen meldete sich nun langsam wie unangenehm, dafür umso penetranter seine Blase. Der kleine Paul verdrückte es sich noch ein wenig, bis der Drang schließlich zu groß wurde und er sich auf die Toilette schlich. Komisch. Im Gang stand der große Koffer. Der Koffer, der so groß war, dass selbst Vati ihn kaum tragen konnte, wenn er zu vollgepackt war. Bei jenem standen drei weitere, kleine Reisetaschen. Sogar einige Plastiktüten waren über Nacht mit allerlei Dingen gefüllt worden. Paul schlich sich ohne die Eltern zu wecken zurück in sein Kinderbett und kroch wieder unter die Decke. Mutti und Vati würden sicherlich bald aufwachen. Bestimmt würde die Wohnung gleich wieder nach Zigaretten riechen und Vati seine Witze erzählen, die Paul oft nicht verstand. Mit leerer Blase lag es sich wieder schön und gemütlich in seinem Bett. Seine Kleidung hatte er zuvor ausgezogen. Nicht dass es noch Ärger deswegen gab. Um ihn herum hingen Bilder an den Wänden, die Paul mit Bleistiften gezeichnet hatte. Zeichnungen von „Pittiplatsch“ und „Schnatterinchen“. Womöglich würde Paul Mutti bald fragen, ob er sie abnehmen dürfe. Schließlich war er bald 8 Jahre alt. Da war er doch schon zu alt für solche Strichmännchen an den Wänden. Nur das Herz aus Pappmaschee mit dem golden verzierten „Mirko“-Schriftzug würde er hängen lassen. Das mochte er. Den Schriftzug mit seinem damaligen Namen darauf hatte er von seinen Klassenkameraden geschenkt bekommen.

 

Es dauerte schließlich noch eine gute Weile, gegen Mittag, bis Paul die erste Zigarette in der Wohnung roch. Bald darauf erlauschten Pauls Ohren durch die Zimmerwand, dass sich Mutti und Vati unterhielten. Wie immer konnte er nicht hören was sie sprachen. Allem Anschein nach waren sie nur noch nicht bereit aufzustehen. Paul hatte Hunger, blieb aber brav liegen. „Brav sein“ hatte sich schon immer bewährt.

 

Beim mittäglichen Frühstück hatten seine Eltern gute Laune. Sie lächelten und umarmten sich viel. Auch Paul wurde immer wieder in der Arm genommen. Viel häufiger als gewöhnlich. Selbst Vati strich dem Jungen übermäßig oft, fast schon penetrant durch die Haare. Und mehr als drei Mal sagte er zu seinem Kind, dass heute ein besonderer Tag sein würde. Es gab da Dinge, die getan werden müssten. Und auf die Frage, WAS denn getan werden müsse, antwortete Vati in einem Moment der Schwäche mit einem fast schon traurigen Blick, dass sein Sohn ihn eines Tages verstehen würde. Wahrscheinlich. Vermutlich… Dann nahm Vati wieder einen Schluck West-Kaffee und goss seinem Sohn West-Kakao ein, welchen sie gestern gekauft hatten; und dieser Kakao war richtig gut. „Richtig, richtig gut“, lachte der Kleine und Mutti schmierte ihrem Kind die gute, selbstgemachte Marmelade aufs Brot. Obwohl heute noch gar nicht Sonntag war. Ein wenig merkwürdig war es schon, wie fröhlich seine Eltern zusammen wirkten. Und wie traurig ihr Blick wurde, wenn sie Paul ansahen.

 

Nach dem Frühstück wurde Paul auf sein Zimmer geschickt. Mutti hatte unvermittelt zu weinen begonnen. Paul wusste gar nicht warum. Es war kein fröhliches Weinen, wie er es die letzten Wochen häufiger gehört hatte. Wenn der Nachrichtensprecher wieder irgendeine Meldung vorgelesen hatte, die die Eltern berührt hatte. Die Töne des Radios und fröhliche Schlagermusik übertönten ihr Schluchzen annähernd vollständig, als der Junge in seinem Zimmer war. Paul verstand nicht, was geschehen war. Wieso Mutti plötzlich so traurig werden musste. Ob sie sich wehgetan hatte? Er hatte nichts in der Richtung bemerkt. Am liebsten wäre er einfach zu ihr in die Küche gegangen und hätte sie in die Arme genommen. Vielleicht würde sie das ein wenig aufmuntern. Nur ein kleinwenig. Ihm half es doch auch immer, wenn sie das bei ihm tat. Doch Paul sollte in seinem Zimmer bleiben, erklärte der Vati noch eine Zeitlang später. Sie würden ihn dann holen. So spielte Paul mit seinen Spielsachen, bis es schon wieder dunkel wurde. Ohne Ankündigung öffnete sich seine Kinderzimmertür zum letzten Mal.

 

„So dala“, lächelte der Vater gezwungen. „Jetzt müssen wir aber los.“

„Wohin denn?“ Paul war überrascht. Schon wieder ein Ausflug? Gut. Na ja… Vielleicht hatte das was mit seinem Geburtstag zu tun! Immerhin war er das ganze Jahr über so ein braver Junge gewesen. Zumindest die meiste Zeit.

„Das“, seine Mutter stand hinter dem Papa, „Ist eine Überraschung.“

„Eine schöne Überraschung?“ fragte Paul mit großen Augen. Er ließ sein Spielzeug, Spielzeug sein und stand auf. Seine Eltern wechselten einen Blick. Dann erklärte seine Mutter mit tonloser Stimme: „Sind denn nicht alle Überraschungen schön?“

„Oh ja!“ freute sich Paul unverhohlen.

„Na dann, ab ins Auto!“ Mutti versuchte zu lächeln. Dann schlug sie wieder ihre Hände vors Gesicht.

 

Paul rannte lachend an seinen Eltern vorbei, den nun leeren Flur hinaus, das Treppenhaus hinab. Er hüpfte regelrecht in seine Schuhe und eilte hinunter zum „guten Wartburg“, in den bereits die Koffer, Taschen und Tüten geladen worden waren. Die Mutter trug dem Jungen noch kopfschüttelnd seine Jacke, seine Mütze und die kleinen Handschuhe hinterher, in die sich Paul wiederwillig zwängte. Nur die Wintermütze stopfte Mutti in die Seitentasche des kleinen Anoraks. Wieder einmal schlugen die Türen zu. Heute ohne Großeltern. Dann ging es los; einen Kilometer weiter stoppte Pauls Vater den Wartburg wieder. Hatten sie etwas vergessen? Pauls Mutti drehte sich zu ihm um.

 

„Wir spielen jetzt ein kleines Spiel!“ Ihre Stimme klang fest und spröde. „Du rutscht jetzt so tief du kannst nach unten.“ Seine Mutter zeigte hinter die Rücklehnen der Fahrersitze. „Und dabei setzt du das hier auf.“ Sie zeigte ihm einen unförmigen Lappen, der sich in Pauls Händen als kleiner Mehlsack erwies. Er sah sie fragend an. „Den setzt du auf, wenn du hinuntergekrochen bist. Und dann bist du ganz brav und still.“

„Bekomme ich dann die Überraschung?!“ „Oh ja.“ Sie seufzte. Der Versuch zu schmunzeln endete in einer Grimasse. „Natürlich.“

 

So tat Paul wie es ihm von seiner Mutter gesagt wurde. Er setzte sich den nach Mehl riechenden, sogar nach Mehl schmeckenden Sack auf, und kroch wild entschlossen zwischen die Sitze. Was für ein Abenteuer! Und dabei hatten sie am Tag zuvor schon ein ganz anderes Abenteuer erlebt! So viele Autos hatten am Grenzübergang gestanden. Noch nie hatte Paul so viele Autos gesehen. Was wohl heute passieren würde? Vielleicht würde nun jeder Tag ein Abenteuer sein? Vielleicht bedeutete es genau das, erwachsen zu sein. Die Reisetaschen, zwischen denen Paul die kurze Strecke lang gesessen hatte, kippten auf die ganze Länge der Rücksitzbank um. Paul konnte es genau spüren, doch obwohl dadurch sein Raum zwischen den Sitzen, der ohnehin schon knapp bemessen war, noch enger wurde, blieb das Kind ruhig und still liegen. Er hatte auf die Anweisung der Mutter sogar die Augen geschlossen, damit er kein Mehl in die Augen bekäme. Mit der Zeit, mit den Minuten, die zu einer knappen Stunde reiften, traute sich Paul immer wieder die Augen ein wenig zu öffnen. Nur selten sah er matte Lichtscheine, die durch das Säckchen dämmerten. Tatsächlich lauschte er die ganze Zeit nur dem dumpfen Dröhnen des Wartburg, der hier, auf dem Boden des Gefährtes, noch 10 Mal lauter zu ächzen schien. Seine Eltern: Schwiegen. Nicht einmal das Radio dudelte durch die Nacht oder erzählte vom größten Tag in der näheren deutschen Geschichte. Nicht einmal vom Wetter wurde berichtet. Es herrschte eine fast greifbare, bedrückend menschliche Stille im in der Deutschen Demokratischen Republik gefertigten Wagen. Nur einmal hörte Paul seine Mutter sagen: „Ich glaube, ich pack das nicht, Walter...“ Worauf der Vater tonlos antwortete: „Das wird schon.“ Plötzlich fuhr das Auto von der Straße ab und hielt auf einem steinigen, vermutlichen kiesigen Untergrund an. Der Vater brachte den Motor zum Verstummen. Stille kehrte ein. Niemand sprach.

 

Pauls anfängliche Euphorie hatte sich inzwischen gelegt. Sein Rücken schmerzte und er hatte sich mehr als einmal verkniffen, seinen Eltern die drängende Frage zu stellen, wie lange es noch dauern würde, bis sie endlich bei der großen Überraschung einträfen. Die Luft im Sack war nach dem anfänglich angenehmen Mehlgeruch doch recht stickig geworden. Außerdem wurde ihm ein wenig schlecht als er auf dem Boden eines fahrenden Autos liegen musste. Jetzt sprach er doch aus, was er so lange für sich behalten hatte: „Mutti? Sind wir jetzt endlich da? Mir tut mein Rücken weh…“ Paul konnte nicht sehen, wie die Mutter ihre Augen schloss und damit einen Strom leiser Tränen zum Erliegen brachte. Er sah auch nicht, wie sie die Hände vor ihren Mund legte um nicht zu schreien. Ebenso wenig, wie der Vater seine Hand auf das Knie seiner Frau Hiltrud legte. Und sie nicht damit aufhörte ihre rechte Hand panisch auf den zitternden Mund zu pressen, während ihr die Tränen wie Sturzbäche über die Finger tropften. Die Eltern sahen sich nicht an. Dann atmete Pauls Vater tief ein. Es klang fast wie ein Stöhnen. Auf einen kurzen Moment der Starre löste der Vater seinen Sicherheitsgurt und öffnete die Fahrertür. Paul konnte genau fühlen, wie sein großer, schwerer Vater das Auto verließ. Die Fahrertür ließ er hinter sich geöffnet und als hätte sie jemand gerufen, trat die Novemberkälte klamm in das Auto hinein. Als nächstes öffnete der Vater die hintere Wartburg-Tür auf der Fahrerseite. Er schob die Reisetasche zur Seite und zog seinen Sohn zwischen den Sitzen hervor. Ausgesprochen sanft und vorsichtig. Er wollte dem Jungen unter keinen Umständen unnötige Schmerzen zufügen. Obwohl sein Sohn dafür eigentlich schon zu groß gewachsen war, hielt der Vater Paul wie ein Kleinkind in seinen starken Armen. Endlich wollte Paul den Mehlsack abnehmen, doch Vater meinte: „Einen Moment noch.“ Daraufhin wurde Paul auf dem Boden abgesetzt, sein Rücken tat nun in der veränderten stehenden Haltung nur noch mehr weh.

 

„Sag zu niemandem ein Wort, wer du bist und woher du kommst“, waren die letzten Worte, die sein Vater an ihn richtete. Kurz ließ Pauls Vater seine schwere Hand ein letztes Mal auf Pauls Kopf ruhen, der noch immer von dem lächerlichen Mehlsack verdeckt wurde. Dann stieg der Mann ohne Sohn ins Auto, schloss die Tür und der Wartburg fuhr davon, ohne dass sich jemand umsah. Paul riss sich den Sack von seinem Kopf und konnte in der unbestimmten Dunkelheit der Nacht, irgendwo im Nirgendwo Deutschlands, den Rücklichtern des Wartburg nur noch hinterher sehen. Bis sie nach einer Biegung nach rechts in den Wald hinein ganz verschwanden. Seine Eltern waren fort. Paul sah sich um. Links herum. Rechts herum. Da war gar nichts. Nichts. Überhaupt nichts. Nur Dunkelheit und… Bäume. Schwarze Bäume im Grafitschwarz der Nacht. Ganz weit oben glaubte das verlassene Kind die Wipfel von Tannenbäumen erkennen zu können. Es war dunkel, kalt und windig. Paul war starr vor Angst. Was geschah hier? Was lief hier falsch? Warum machten Mutti und Vati das mit ihm? Aus dem Urquell seiner Seele stieg ein ungeheurer, physischer Schmerz seine Kehle hinauf. Eine Welle aus Qualen brach aus seinem Innersten hervor, die der kleine Junge all die Jahre seiner jungen Existenz in sich selbst versteckt hatte und die nun wie aus einem geöffneten Gefäß aus ihm hervorschoss. Seine Augen begannen sich schlagartig mit Tränen zu füllen, als der Kummer wie ein befreiter Geist mit einem Urschrei gleichenden Laut aus seinem Mund explodierte.

 

Zu keiner Sekunde vermutete Paul hinter dem, was gerade geschehen war, einen Scherz. So viel Ironie hatte der kleine Junge noch nicht gelernt. Dafür war das Kind noch zu sehr in seiner infantilen Welt gefangen, in der jedes Wort wahr zu sein hatte und ewig galt. Der Gedanke daran, dass dies lustig sein könnte, kam dem Jungen zu keinem Augenblick in den Sinn. Paul. Heulte einfach nur. Er heulte und heulte heiße Tränen und sackte auf der Stelle, genau an dem Punkt, an dem ihn sein Vater abgesetzt hatte, zusammen. Er versuchte nicht einmal, dem Auto zu folgen. Er machte sich keine theatralischen Mühen, an seinem Schicksal irgendetwas zu ändern. Paul konnte es sich nicht erklären: Was hatte er Schlimmes getan? Was hatte er nur falsch gemacht, damit seine Eltern ihn hier einfach zurückließen? War er so ein schlechtes Kind gewesen? War denn nicht gerade noch alles gut gewesen? Oder nicht? Paul war doch heute Morgen so leise gewesen, als er auf die Toilette ging! Hatten sie ihn doch gehört? Oder war es etwas Anderes? Paul weinte und weinte und weinte und suchte und suchte in seinem kleinen, unerfahrenen Selbst nach dem Grund seines Vergehens und der damit verbundenen Strafe, nicht mehr Teil dieser heilen, schönen Familie zu sein. Unvermittelt stand der Junge schreiend und schluchzend auf, sein ganzer Hals tat ihm schon grausam weh und doch brüllte er so laut er konnte: „VATIiiii! MUTTIiiiii!“ in die ihn alles umschließende und verschluckende Dunkelheit. Er rannte los. Einfach geradeaus. Streckte seine kleinen Ärmchen aus. So als ob da jemand wäre. Als ob dort vielleicht doch noch seine Eltern in der Dunkelheit ständen. In deren Arme er laufen müsste. Pauls kleine Beine rannten und rannten und rannten, bis er hundert Meter weiter über einen abgeschnittenen Baumstumpf stolperte und schreiend vor Angst (vor Angst, vor Angst, vor Angst) vor der ganzen Welt in das spitze Dickicht eines Strauchs fiel, welcher mit seinen eiskalten Zweigen gnadenlos Pauls makelloses und von Tränen durchnässtes Gesicht zerschnitt. Der Junge spürte die Schmerzen kaum und blieb in dem Strauch in einer Haltung zwischen waage- und senkrecht, einfach liegen. Gehalten und aufgespießt von den Hunderten blättrigen Armen des Strauches. Hier heulte und schrie und schrie und heulte der ausgestoßene Sohn: „VATI! MUTTI! Vati… Mutti…“ Bis dem kleinen Jungen schließlich die Stimme versagte. Da hing er nun in der unangenehm stechenden und doch ironischerweise sanften Umarmung des dichtbewachsenen Busches. Ja. Einen wilden Moment lang klammerte sich das Kind Paul sogar an den Strauch, griff ganz tief in die Zweige hinein. Als ob das Gewächs ein Mensch sei, der ihn halten könnte. Damit ihn wenigstens dieser Busch umarmen, ihn trösten könnte. Wenn da schon sonst niemand mehr war, der ihn festhielt. Keiner mehr, der ihn liebte. Sie waren einfach davongefahren.

 

Da musste doch ein Grund sein! Es musste eine Erklärung dafür geben, warum Paul diese Behandlung von seinen Eltern verdient hatte... Irgendwas war passiert. Auf die schlimmste Art und Weise. Und Paul, dieses schlechte, schlechte, böse, dumme Kind hatte es nicht einmal bemerkt, wann seine eigenen Handlungen so unerträglich für seine Eltern wurden, dass sie ihn wie ein Kind aus einem Märchen verstoßen hatten. Möglicherweise lag es an dem Unfall, den er vor ein paar Monaten gehabt hatte. Dieses Ereignis war das Erste, das Paul in den Sinn kam.