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Hast du dir jemals vorgestellt, ein Buch aufzuschlagen und deine eigene Geschichte darin zu lesen? Und noch schlimmer: zu erfahren, dass heute der letzte Tag deines Lebens ist! Die Reporterin Trisha hat ausgerechnet am Abend des 23.12. im verschneiten Thüringer Wald eine Autopanne. Zwangsweise übernachtet sie in einem einsamen Hotel. Als sie auf der Suche nach Lesestoff auf ein zerfleddertes Manuskript stößt und anfängt darin zu lesen, gefriert ihr das Blut in den Adern. Der Text erzählt ihre eigene Geschichte bis zur heutigen Nacht und endet in einer Drohung: Noch in dieser Nacht wirst du sterben …
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Seitenzahl: 251
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Friederike Schmöe
Stille Nacht, grausige Nacht
Ein frostiger Winterthriller
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2015
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © bit.it / photocase.de
ISBN 978-3-8392-4866-9
Über allen Gipfeln ist Ruh.
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
J .W. von Goethe
Ich wünschte, ich wäre jemand anders.
Kein unvertrauter Gedanke. Einer, in dem ich mich eingerichtet habe. Es wäre schön, jemand anders zu sein, nicht jemand, der über der Schulter eines Unbekannten hängt und davongetragen wird, während verwaschene Stimmen auf mich einreden; oder reden die gar nicht mit mir, sondern mit wieder anderen? Wer ist da eigentlich? Ich habe den Überblick verloren, die Bilder, die meine Augen liefern, kann ich nicht deuten. Wände wölben sich auf mich zu, Lärm wogt irgendwo, nicht nah, nicht fern, denke ich, aber kann ich meinen Eindrücken trauen?
Meine Position knappe zwei Meter über dem Boden ist unangenehm, aber besser, als mich selbst erneut auf die Füße zu kämpfen, auf Beinen zu balancieren, deren Knochen zu Pudding geworden sind. Mir ist schlecht. In meinem Mund brennt ein widerlicher Geschmack. Mein linker Fuß schmerzt. Dunkelheit umfängt mich, und dann spüre ich etwas Kaltes, das mich umschließt, und mein Körper fängt an zu zittern.
Fragen Sie mich nicht nach meinem Namen, ich kann ihn nicht nennen. Hoffnung keimt in mir auf, dass ich es morgen wieder weiß oder an einem anderen Tag, doch im Moment versagt das Gedächtnis. Ich steige aus.
Ich könnte heulen. So etwas passiert nur mir. Der Superstau am Tag vor Heiligabend, und ich stehe mittendrin. Wenigstens gibt’s Handys.
»Papa?«
»Trisha, wo steckst du? Warum gehst du nicht ans Telefon?«
»Es war aus. Ich habe es gerade erst angeschaltet. Ich stehe im Stau!«
»Eben deswegen! Ich habe dich x-mal versucht anzurufen! Im Radio sagen sie seit Stunden, dass wegen eines Lkw-Unfalls mit mehreren beteiligten Fahrzeugen auf der A9 bei Eisenberg nichts mehr geht.«
»Danke.« Diese Info kommt definitiv zu spät. Das wäre nicht zum ersten Mal. Ich zeichne mich vor allem dadurch aus, anderen einen Wissensvorsprung zu lassen.
»Hast du kein Radio an?«
»Doch.« Ha! In diesem Moment eingeschaltet.
Ich höre natürlich überdeutlich, was mein Vater mir eigentlich sagt. Du fährst mit deinem Wagen von Leipzig nach Nürnberg, ohne das Radio oder das Handy anzuschalten oder wenigstens vor Abfahrt im Netz zu checken, ob die Straßen frei sind? Einen Tag vor Heiligabend? Beim fiesesten Blizzard des bisherigen Winters?
Er sagt es nicht. Mein Vater ist ein zurückhaltender Mensch. Wie ich auch. Doch wo er zwischen den Worten redet, mir zu verstehen gibt, dass sogar Otto Normalverbraucher vor Abreise die Verkehrslage überprüft und er solche Umsicht bei einer Journalistin noch viel mehr erwartet, schweige zur Abwechslung ich. Bloß keine Rechtfertigungslawine lostreten!
»Ich bin jedenfalls nicht die Einzige, die so doof ist, sich in einen Stau zu stellen.« Das kann ich zugeben, es ist unübersehbar.
Ich höre ihn tief durchatmen. »Wie ist das Wetter?«
»Bescheiden.«
Hat nicht auch gestern Tina Stubnagel, die Redakteurin von Sachsen heute, mich vor der Fahrt nach Süden gewarnt? Die Strecke ist tückisch, Trisha, vor allem bei dem Wetter!
Die Scheibenwischer arbeiten nach Kräften, doch der Schnee fällt unaufhörlich, und da hier in der nächsten Stunde wahrscheinlich kein Schneepflug mehr durchkommt, schneien wir alle in einer langen dreispurigen Blechschlange ein. Vor mir springt ein Typ aus seinem Volvo, ein Handy am Ohr, und verteidigt sich ebenfalls.
Wer im Stau steht, gilt als Idiot der Nation. Und alle anderen haben es besser gewusst. Deshalb sitzen sie jetzt im Warmen.
»Hör zu, Trisha: Bleib auf alle Fälle auf der Autobahn, in Ordnung? Bei dem Wetter durch die Berge zu fahren, hat keinen Sinn. Der Thüringer Wald ist tückisch.«
Atmosphärische Geräusche zucken durch die Leitung. Es kracht und knistert. Auf der Autobahn ist es ungewöhnlich still. Viele haben längst den Motor abgestellt, um Benzin zu sparen. Auch auf der Gegenspur ist nicht viel los.
»Alles klar, Papa.«
Ich lege auf. Ich bin eine beschissene Journalistin. So viel ist klar. Und als Mensch nicht viel besser. Ich fühle mich leer und auf eigenartige Weise meiner Identität beraubt. Seit ich Lusya diese Story abgetreten habe, weil ich nicht mehr weiterkam. Gleichzeitig bin ich froh, den ganzen Wahnsinn los zu sein.
»Ihnen fehlt die Chuzpe!« Das hat mein Journalistikprofessor mir vor ein paar Jahren unter die Nase gerieben, im Seminarraum 217, im 2. Stock, vor 53 anderen Studenten, und das habe ich mir gemerkt. »Eine Journalistin darf sich nicht so leicht abwimmeln lassen. Sie müssen erspüren, auf welche Weise Sie bei einem Menschen Vertrauen gewinnen können …«
Da fehlt nicht viel und wir ziehen die Leute, von denen wir Infos wollen, mit Waffengewalt auf unsere Seite. Psychischer Druck ist ohnehin erlaubt. Insofern gebe ich Faber recht.
Verdammt. Faber.
Ich hatte den ganzen Prozess beobachtet, saß täglich im Gerichtssaal, studierte sämtliche Unterlagen zur Kinderpornoaffäre des Landtagsabgeordneten, schaffte es sogar, ein Interview mit seiner Ehefrau zu arrangieren – das, nebenbei gesagt, ziemlich in die Hose ging – und dann konnte ich einfach nicht mehr. Bescheuerte Ausrede. Vielleicht bin ich nach dieser grässlichen Magen-Darm-Grippe immer noch nicht wieder ich selbst. Eine Begründung für meine eigenartige Gefühlslage wird schon zu finden sein, wenn man lange genug sucht.
Du bist eine gute Journalistin, hat Lusya heute früh gesagt. Sie muss es wissen, denn sie ist definitiv gut.
Ich drehe das Fenster runter, lasse die frostige Luft ins Auto. Hole tief Atem. Schneeflocken wirbeln umher. Der Himmel ist dunkelgrau, sackt immer tiefer, das Licht schwindet, irgendwohin. In einer halben Stunde wird es stockfinster sein. Ich bin definitiv kein Freund dieser Klimazone.
Der Mann mit dem Handy lehnt an seinem Volvo und rudert mit den Armen. Er fühlt sich wie alle hier. Hilflos, ruhelos, wütend bei der Aussicht, für die nächsten Stunden festzusitzen. Wenn nicht für länger. Und morgen ist Heiligabend!
Fuck. Alle zwei Jahre Weihnachten, das würde reichen! Finde ich. Dann säße ich jetzt nicht im Stau. Ich wäre gar nicht nach Süden gestartet. Hätte mich in meiner Wohnung eingeigelt und Musik gehört. Bessere als die, die im Radio dudelt. Ich schnalle mich ab, lege den Kopf auf die paar Zentimeter Scheibe, die noch emporragen, und atme tief durch. Der Wind wirbelt meine Locken um meine Nase.
Der Mann wirft sein Handy durch das Fahrerfenster ins Auto, beugt sich hinterher. Bringt eine Thermoskanne zum Vorschein. Schraubt den Deckel ab. Guckt zu mir.
»Kaffee?«, ruft er mir zu.
»Das wäre echt klasse.«
Er grinst, Grübchen in den Wangen. Der Schnee hat sich in sein braunes, zu langes Haar gesetzt. Sieht aus, als wäre er in den letzten Minuten ergraut. Er braucht dringend einen Haarschnitt.
»Die Trucker fahren ohne Winterreifen! Diese Hornochsen! Die haben keinen Millimeter Profil mehr im Gummi, können Sie sich das vorstellen?«
»Leider ja!« Es ist nicht mein Vorstellungsvermögen, das Defizite verzeichnet. Die Mankos liegen bei mir woanders.
»Die Vollpfosten nehmen uns alle in Sippenhaft!« Er reicht mir den Becher. Seine Hände sehen aus, als wenn er gewöhnlich lange ohne Handschuhe in Frost und Schnee unterwegs ist. »Schöner, starker Americano. Ihre Kragenweite?«
»Könnte nicht besser sein.« Ich nippe. Der Kaffee ist heiß und gerade richtig geröstet. Das letzte schwarze Dope hatte ich heute Morgen mit Lusya, als wir uns zum Frühstück im Darling trafen. »Danke.«
»Gern. Wo soll’s denn hingehen?« Er lehnt an meiner Tür. Ich sollte ihn bitten einzusteigen. Mache ich aber nicht. Ich bin ein vorsichtiger Mensch. Ich arbeite meistens bei Gericht. Habe mehr als genug Geschichten mitbekommen von Männern, die eine Situation ausnutzen.
»Nürnberg.«
»Da haben Sie noch was vor sich. Ich muss eigentlich nur zur nächsten Ausfahrt. Ungefähr vier Kilometer. Selbst schuld. Ich habe den Angaben in den Verkehrsmeldungen geglaubt. Eigentlich sollte der Stau erst nach der Ausfahrt Eisenberg beginnen. Aber der Rückstau baut sich natürlich schnell auf. Bei dem Verkehr! Tja. Hoch gepokert. Und verloren.«
Ich nicke. Reiche ihm den Becher. »Danke für den Kaffee.«
»Noch einen Schluck?«
»Nein.« Ehrlich gesagt könnte ich die ganze Kanne leertrinken. Aber höfliche Menschen tun das nicht. Ist ja sein Kaffee. Und ich bin höflich. Zu höflich, um im Ernstfall nachzuhaken. Ich bin so dermaßen sozialverträglich, dass ich mich hinter den Kollegen der Konkurrenz verschanze. Ich schließe ganz kurz die Augen. Die Schmach diverser Situationen steht bis dato zu deutlich vor meinem inneren Auge.
»Okay.« Er gießt sich ein, zeigt mit der Thermoskanne rechts neben die Fahrbahn. »Wobei ich mich frage, ob es nicht funktionieren könnte … vier Kilometer auf der Standspur …«
»Das kostet Sie den Führerschein.« Ich wische den Schnee von meinem Ärmel. Das weiße Zeug wirbelt wirklich überall hin.
»Unsinn. Die paar Euros bezahle ich gern dafür, dass ich heute noch heimkomme.«
Ich luge durch die Windschutzscheibe. Ein schwarzer Wagen, schneeverkrustet, pirscht über die Standspur.
»Unsere Nummernschilder kann sowieso kein Mensch mehr lesen«, gebe ich zum Besten.
»Genau, oder? Wenigstens ein Vorteil!« Er grinst, trinkt aus, schraubt die Thermoskanne zu. »An die Front!« Er winkt, stapft zu seinem Wagen.
Wenn nicht jetzt, wann dann?, frage ich mich, als ich den Zündschlüssel drehe. Wenn es so weiterschneit, ist in einer halben Stunde auch auf dem Seitenstreifen kein Durchkommen mehr.
Während ich hinter dem Volvo auf die Standspur schleiche, der Schnee unter meinen Reifen knarrt, rede ich mir meinen Regelübertritt schön. Ein außergesetzlicher Notfall, oder? Ich mache nämlich normalerweise nichts Verbotenes. Das überlasse ich den Menschen, über die ich nachher schreibe.
Ron Faber. Der Stern am Himmel einer großen deutschen Volkspartei. Einer, dem man bisher nicht ans Bein pinkeln konnte. Er hat alles richtig gemacht: keine plagiierte Doktorarbeit im Lebenslauf, im Gegenteil, gar nicht promoviert. Ein Hüne mit blondem Haar, einer ebenso blonden Frau und drei blonden Kindern. Na ja, der Kleinste hat einen rötlichen Einschlag. Die Familie würde dem Merian-Schweden-Heft auf der Titelseite alle Ehre machen. Individuelle Freiheit im Internet, das ist momentan ein Thema, und Faber hat es zu seinem gemacht, mit markigen Worten, gegen den Willen von ein paar wichtigen Nasen in seiner Partei. Schließlich vor einem knappen Jahr der Sturz: Ron Faber hat Kinderpornos auf seinem Dienstrechner in seinem Leipziger Büro. Landtagsmandat: futsch. Karriere: im Eimer. Individuelle Freiheit: in Gefahr. Familie: zerrüttet. Im vergangenen Herbst wurde ihm der Prozess gemacht.
Ron Faber redete sich von Anfang an raus. Gab sich auf Pressekonferenzen als tapferer Soldat Schweijk: Er hat damit nichts zu tun! Jemand will ihm Übles! Die Politik ist ein Vipernnest, leuchtet doch ein! So ein Dienstrechner ist manipulierbar, oder? Steht der nicht oft genug unbeobachtet im Büro, und jeder, der vorbeigeht, kann ran?
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