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Ghostwriterin Kea Laverde nimmt kurz vor Weihnachten an einer Schneeschuhwanderung in Tirol teil. Ein plötzlicher Schlechtwettereinbruch mit Schneesturm vereitelt den Abstieg von der Berghütte. Internet- und Telefonverbindungen sind gekappt, die einzige Sesselbahn außer Betrieb, die Außenwelt nicht erreichbar. Unter den Eingeschlossenen brechen augenblicklich Konflikte auf. Und manche vermeintlich Fremden scheinen einander besser zu kennen, als sie zugeben wollen. Da geschieht ein Mord …
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Seitenzahl: 198
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Friederike Schmöe
Leise tötet der Schnee
Weihnachtskrimi
Tödliches Trauma Ghostwriterin Kea Laverde lässt sich kurz vor Weihnachten auf eine Schneeschuhwanderung in Tirol ein. Schon beim kräftezehrenden Aufstieg zur Ahornsteighütte kommen zwischen den Teilnehmern und dem Bergführer Meinungsverschiedenheiten auf. Ein Unfall verstärkt die Probleme. Als während der Nacht auf der Hütte ein Schneesturm losbricht, sitzt die Gruppe fest. Der Strom fällt aus, Internet- und Telefonverbindungen sind gekappt, die einzige Sesselbahn in der Nähe ist außer Betrieb, die Außenwelt nicht erreichbar. Unter den Eingeschlossenen machen sich Frust und Ärger breit, Kontroversen und Kleinkrieg folgen. Hüttenwirtin und Bergführer kennen einander besser, als sie zunächst zugeben, und auch unter einigen anderen Sportlern scheinen manche alten Differenzen zu schwelen. Nach einem zunächst harmlosen Spiel, das zur Ablenkung gedacht war, mündet ein handfester Streit in einen tödlichen Konflikt …
Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Ivan Kmit / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3024-9
Für Roena
Nebelfetzen glitten über die nasse Fahrbahn. Rechts und links der Straße duckten sich kahle Bäume. Ich hörte das leise ›Swisch‹ der Reifen auf dem Asphalt. Die Scheibenwischer gaben sich alle Mühe, den feinen Dunst zu beseitigen. Wieder ein Ortsschild. Schlafende Häuser, hie und da Licht. Ansonsten vermittelten Landschaft und Dörfer den Eindruck, durch eine Filmkulisse zu fahren. Vom Charme des Fünf-Seen-Landes war nichts zu entdecken. Allerdings sonst auch nichts. Außer weiß wabernder Feuchtigkeit. Ich war die einzige Reisende an diesem Morgen.
Als ich die B 2 erreichte, bekam ich Gesellschaft. Dickschiffe mit Dachsärgen, in denen die teure Skiausrüstung bestens verborgen war, schoben sich Stoßstange an Stoßstange voran. Ich musste grinsen. Bei diesem Wetter – wen mochte die Aussicht auf verhangene Skipisten schon hinter einem gemütlichen Ofen hervorlocken? Angesichts der Tatsache, dass bald Weihnachten war, kamen mir die Fahrzeugkolonnen Richtung Süden vor wie Flüchtende, die nur so taten, als seien sie Wintersportler.
Bei Eschenlohe stand ich im Stau. Genervt drehte ich am Radio auf der Suche nach guter Musik, die meine Laune ein wenig heben würde. Gar nicht so einfach, den Weihnachtsliedern zu entkommen. Beinahe jeder Sender schickte Chris Rea ›Driving Home For Christmas‹ oder irgendeinen Remix von ›White Christmas‹ in den Äther.
Ich war definitiv keine Sportlerin. Genau das hatte meine Ärztin vor einigen Wochen moniert. »Frau Laverde, bei Ihrer Krankengeschichte! Sie müssen was tun! Das künstliche Gelenk ist auf gesunde Muskeln und Bänder angewiesen.«
Danke dafür. Ich wippte zu ›Kings & Queens‹ von Ava Max. Vielleicht hätte ich mich lieber zu einem Tanzkurs anmelden sollen … Ich öffnete das Fenster einen Spalt und sog tief die winterliche Luft ein. Vor Jahren war ich bei einem Bombenanschlag in Ägypten schwer verletzt worden. Beinahe hätte ich es nicht geschafft. Die moderne Medizin hatte mich am Leben erhalten, bevor mein Selbsterhaltungstrieb wieder angesprungen war, und mich mit diversen Ersatzteilen ausgestattet. Die künstliche Hüfte machte seit einigen Wochen Schwierigkeiten. Hatte ich gedacht. Laut Ärztin war mit dem Gelenk aber alles in Ordnung. In Wahrheit stellte meine Fitness das Problem dar. Sie hatte mir Physiotherapie verschrieben und dringend geraten, Muskeln aufzubauen. »Sie üben eine sitzende Tätigkeit aus! Und so jung sind Sie nicht mehr. Treiben Sie Sport, es wird wirklich Zeit, Frau Laverde.«
Über einen Aushang beim Physiotherapeuten war ich auf eine mehrtägige Schneeschuhwanderung aufmerksam geworden. Für Anfänger und Fortgeschrittene. Wandern mit Schneeschuhen würde Ausdauer und Muskelkraft stärken. Eine Aktivität an der frischen Luft versprach überdies gute Laune. Noch dazu in einer Gruppe Gleichgesinnter, um sich auszutauschen und gegenseitig anzuspornen.
In einem Sportgeschäft in Fürstenfeldbruck hatte ich Schneeschuhe und winterfeste Sportkleidung gekauft. Und nun hockte ich an einem Freitagmorgen im Auto, sollte nachher zu einer auf 2.000 Meter liegenden Hütte aufsteigen, mit Schneeschuhen natürlich. Und beides, also das Aufsteigen und selbiges auf Schneeschuhen, hatte ich in meinem Leben noch nie gemacht. Ich sollte auf einer Berghütte übernachten, den Samstag zu einer weiteren Hütte stapfen, noch mal übernachten und am Sonntag wieder absteigen. In Klammern stand, man könne den Abstieg auch ausfallen lassen und stattdessen mit einer Seilbahn ins Tal zurückkehren. Ein Kleinbus würde uns schließlich zum Ausgangspunkt zurückbringen.
Der Stau löste sich auf. Langsam kroch die Karawane weiter. Bei Oberau kam mir der Nebel plötzlich lichter vor. Helligkeit sickerte durch die weißen Schlieren. Rechts und links erkannte ich die dunklen Rücken felsiger Bergwände. Als ich Farchant erreichte, brach die Sonne durch. Der Schnee glänzte überraschend weiß. Geblendet tastete ich nach der Sonnenbrille in der Ablage. Es war der beinahe dunkelste Tag des Jahres, und ich brauchte eine Sonnenbrille. Vielleicht war dieser ganze Schneeschuh-Wander-Plan doch nicht so schlecht.
»Ich bin der Ernst. Willkommen in Tirol!«
Ein sportlicher Mann Anfang 40 begrüßte die Schneeschuhgruppe. Er trug einen für meine Begriffe riesigen Rucksack, der sich bis zu seinem Hinterkopf auftürmte. Mein Rucksack fasste nur 30 Liter. Er gehörte meinem Lebensgefährten Nero, der das Wochenende an seinem Arbeitsplatz in Brüssel verbringen würde. Dringende letzte Angelegenheiten vor der Weihnachtspause.
Außer Wechselwäsche, Hüttenschlafsack, Erste-Hilfe-Päckchen, Taschenmesser, Stirnlampe, Proviant und den dringenden Kleinigkeiten hatte ich nichts eingepackt. Es würde schwierig genug sein, mich selbst auf einen Berg zu schleppen. Ganz zum Schluss hatte ich noch eine Powerbank in die Außentasche gestopft. Man konnte schließlich nie wissen, wie es da oben auf den Bergen mit dem Strom war.
»Auch wenn mein Name so klingt, als wenn das hier eine seriöse Angelegenheit wird – ich bin sicher, wir werden eine Menge Spaß haben!« Ernst sprach mit Tiroler Akzent. In seinem gebräunten Gesicht nistete ein Lächeln.
Wir standen im Kreis am Rand eines Parkplatzes bei der Skilift-Talstation. Minütlich kurvten mehr Autos heran. Die anderen aus der Gruppe wirkten fast genauso nervös wie ich. Keineswegs so selbstbewusst-sportlich wie die meisten hier, die sich auf dem Parkplatz aus ihren PKW schälten und ihre Gerätschaften bereitmachten.
»Der Aufstieg zur Ahornsteighütte wird um die vier Stunden dauern. Keine Sorge, wir gehen in geruhsamem Tempo. Wir haben genug Zeit. Wer eine zusätzliche Pause braucht, sagt einfach Bescheid. Um 16 Uhr sollten wir spätestens oben sein, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit ankommen. Okay, wie wär’s, wenn ihr euch kurz vorstellt?«
»Hallo. Ich bin die Lilo aus Innsbruck. Gerade 50 geworden.« Die mollige Frau in der roten Skihose lachte. »Und es ist mein erstes Mal auf Schneeschuhen.«
»Franka. Aus München.« Energisch wurde eine bunte Mütze über einen kurzen Haarschopf gestülpt.
»Kea. Münchner Umland«, sagte ich. Mein Wohnort Ohlkirchen war einmal ein gemütliches Dorf gewesen, nun entwickelte es sich zu einem Satelliten der Großstadt. Mein Haus hatte vor Jahren noch einsam mitten in der Pampa gestanden. Nun wucherten Einkaufszentren, Gartenbaucenter sowie deren Zufahrten und Parkplätze allmählich immer näher an mein kleines einsames Paradies heran. In unmittelbarer Nähe war außerdem ein Neubaugebiet ausgewiesen worden. Im Frühjahr sollten die Bauarbeiten beginnen. Irgendwann würde so ein Wohngulag mich verschlucken.
»Bastian. Aus Weßling.« Ein Mann, etwa Ende 40, also meine Peergroup, mit ergrauendem, wenngleich noch dichtem Haar grinste mich an. »Ist das deine Gegend?«
»Nicht ganz.«
»Björn. Aus Bad Tölz.« Der letzte aus der Gruppe, ein hochgewachsener schmaler Mann in schwarzer Skikleidung und dicken Bergstiefeln mit gelben Schnürsenkeln, ersparte mir, genauer werden zu müssen. »Ich hatte vor einem halben Jahr eine Knie-OP. Ich hoffe, ich kann mithalten.« Björns Gesicht hinter der Nickelbrille spiegelte eine Vielfalt von Ängsten. »Und es ist auch bei mir das erste Mal auf Schneeschuhen.«
»Schön!« Ernst lächelte unverdrossen weiter. »Ihr werdet sehen, man gewöhnt sich schnell daran, auf Schneeschuhen unterwegs zu sein. Es ist viel einfacher als das normale Gehen, ihr sinkt nicht ein! Außerdem haben wir wirklich Glück mit dem Wetter.« Er zeigte nach oben in den blauen Himmel. Zustimmendes Gemurmel von den anderen. Ich fühlte mich bemüßigt, ebenfalls zu bestätigen, dass wir echt ein irres Glück mit dem Wetter hatten, während ich am liebsten ins Auto gestiegen und abgefahren wäre. Trotz der Sonne, der weißbedeckten Gipfel, der herrlichen Luft. Trotz des Gefühls von Ferien und Abenteuer, das zwischen all den Sportlern und Skifahrern mit ihren bunten Klamotten vibrierte. Ich war einfach kein Gruppentyp. Und extrovertiert sowieso nicht. Ganz anders als die muntere Lilo, die mit Bastian sofort ein Gespräch begann. Gelächter, Geflirte, Heiterkeit.
Ernst forderte uns auf, die Schneeschuhe anzuschnallen. Wir nahmen einen Seitenweg in den Wald, der vom Lift wegführte. Nach wenigen Minuten liefen wir schon zwischen dicht an dicht stehenden Bäumen. Nur wir sechs. In einer langen Reihe. Ich machte das Schlusslicht. Von Parkplatz und Skilift war nichts mehr zu sehen und zu hören. Eine Hasenspur verlief rechts neben uns, bevor sie sich im Wald verlor. Ich dachte an den Tag, als ich den Aushang beim Physiotherapeuten gesehen hatte. Da hatte das alles sehr akademisch geklungen. Sport, Fitness, Kondition. Nun staubte der Schnee unter meinen Füßen. Ich sah meinen Atem als Dampf vor mir aufsteigen. Riss mir die Mütze vom Kopf und ließ meinen Pferdeschwanz frei baumeln. Von einem Baum rutschte Schnee. Lilo kreischte auf, um gleich danach laut und ausdauernd zu lachen. Eben war der Weg noch gemächlich angestiegen, nun wurde er rasch steiler. Ich zippte meine Jacke ein Stück auf, begann aber schnell zu frösteln. Genervt schloss ich den Reißverschluss wieder. Bastian, der direkt vor mir lief, drehte sich zu mir um. Finster erwiderte ich seinen spöttischen Blick. Als er sich wieder nach vorn wandte, sah ich den Flachmann in der Außentasche seines Rucksacks.
Ich musste verrückt gewesen sein, mich auf so eine Tour einzulassen.
»Kommst du klar, Kea?«
Ernst tauchte neben mir auf. Ich war ein Stück zurückgefallen. Lilo und Bastian stiegen flott auf, dazwischen mühten sich Franka und der hochgewachsene Björn mit der Steigung ab.
»Passt alles, danke.«
»Wie kommst du mit den Schneeschuhen zurecht?«
»Funktioniert gut.« Ich hatte keine Lust zu reden. Wegen des steilen Aufstiegs kämpfte ich ohnehin mit Atemnot.
»In einer Viertelstunde erreichen wir ein Plateau. Dann geht es erst mal flacher weiter«, ermunterte mich Ernst.
Was ›erst mal‹ bedeutete, war mir natürlich bewusst. Später würde es wieder steiler werden. Viel steiler. Schließlich wollten wir eine Hütte erreichen, die auf knapp 2.000 Metern lag. Um nicht allzu verstockt rüberzukommen, fragte ich: »Machst du das beruflich? Oder ist es dein Hobby, Leute auf Berge zu begleiten?«
Ernst lächelte mich an. »Ich war früher im Personalmanagement einer großen Firma beschäftigt. Die Berge haben mich immer fasziniert. Wanderungen waren tatsächlich ein Hobby. Vor ein paar Jahren habe ich umgesattelt und die Bergführerausbildung gemacht. Endlich kann ich draußen sein, sommers wie winters. Ich habe es am Schreibtisch nicht mehr ausgehalten.«
»Ich bin auch Schreibtischtäter.« Ich schnappte nach Luft.
Ernst verkleinerte die Abstände seiner Schritte und passte sich meiner Geschwindigkeit an.
»Bürojob?«
»Selbstständig. Ich schreibe Bücher.«
»Wow, eine Schriftstellerin.«
»Nicht ganz. Ich bin Ghostwriterin. Mein Name steht hinterher nicht auf den Büchern drauf.«
»Das ist ja interessant!« Ernst klang, als fände er das wirklich.
Ich hatte im Lauf der Jahre die Erfahrung gemacht, dass andere meinen Job exotisch fanden, sich für eine Weile von seiner Fremdartigkeit faszinieren ließen, jedoch bald mit mir nichts mehr anzufangen wussten. Irgendwie fiel ich aus der Reihe. Mit mir konnte man nicht über Chefs und Kollegen jammern. Oder über kaputte Büro-Kaffeemaschinen.
»Und was für Bücher schreibst du für deine Kunden?«
»Alles Mögliche. Biografisches. Sogar Kochbücher.«
»Das finde ich spannend. Jeder Mensch erlebt ja Dinge in seinem Leben, die es sich aufzuschreiben lohnen würde. Denke ich jedenfalls.«
Ich warf ihm einen Blick zu. Das Dauerlächeln war verschwunden und hatte einem nach innen gerichteten Blick Platz gemacht. Er brauchte mir nichts zu erklären; ich verstand sofort. Ich kannte solche Momente. Gehörte auch zu den Menschen, die ab und zu von den vergangenen Katastrophen in der eigenen Biografie attackiert wurden. Was ich für überwunden gehalten hatte, warf sich über mich. Ohne Vorwarnung. Brutal. Einfach so. Weil das Gedächtnis des Menschen so funktionierte. Man konnte das Vergessen nicht bestellen. Es gab keine Löschen-Taste. Deshalb suchten mich die Erinnerungen an die Bombenexplosion in Scharm-El-Scheich immer wieder heim. Nicht allzu oft. Manchmal ein ganzes Jahr nicht. Dann plötzlich mehrmals in einer Woche. Schreie, Blut, Schmerz, Getöse. Völlige Lähmung und Hilflosigkeit. Unverständnis, Wut auf das Schicksal. Ohnmacht. Sprachlosigkeit.
»Da hast du recht«, sagte ich schnell, um nicht an diesem verschneiten Hang in einen Flashback zu rutschen. Ich befand mich in Tirol, nicht in einem ägyptischen Badeort. Hier würde keine Bombe explodieren. »Liegen wir eigentlich in der Zeit?«
Ernst setzte zu einer Antwort an, als Lilo vorne laut aufschrie.
Der lange Björn lag im Schnee. Lilo und Bastian huschten ein paar Meter zurück, Franka stand wie unbeteiligt da.
»Was ist passiert?« Ernst schaltete seinen Turbo ein und war in null Komma nix neben Björn.
Ich beschleunigte ebenfalls. Mein Herz hämmerte. Die kalte Luft schnitt mir in die Kehle.
»Ausgerutscht. Oder so. Ich weiß nicht.« Björn wand sich wie eine übergroße schwarze Spinne, der ein paar Beine fehlten. »Tut mir leid.«
Ernst half ihm auf.
»Geht das? Kannst du stehen?«
»Sicher. Es ist nichts Schlimmes passiert, glaube ich.« Björn richtete sich auf.
»Nimm dir einen Moment Zeit. Hast du irgendwo Schmerzen?«
Während Björn seinen langen Körper checkte, berichtete Lilo im Stakkato von Unfällen bei Schneeschuhtouren, von denen sie gehört hatte, wurde jedoch von Bastian unterbrochen, der in seinem Rucksack kramte.
»Hier!« Er hielt Björn den Flachmann hin. »Das hilft immer.«
Björn winkte ab. »Danke. Ich trinke keinen Alkohol.«
»Soll es geben.« Achselzuckend schraubte Bastian das Fläschchen auf und nahm einen Schluck. »Sonst noch jemand?«
Lilo griff sofort zu. Franka wandte sich ab, ging ein paar Schritte, als wollte sie aus dem Dunstkreis der beiden Schnapsdrosseln heraustreten. Dabei bewegte sie sich seltsam steif, als hätte sie Schmerzen. Sie sah blass aus, auf ihrem Gesicht lag ein Schweißfilm. Sie steckte die Trekkingstöcke neben sich in den Schnee und richtete ihren Schal.
Ich setzte meine Mütze wieder auf.
»Was war das denn für eine OP, Björn?«, erkundigte sich Lilo. »Du hast erzählt, die war erst vor einem halben Jahr? Darfst du denn schon wieder so anstrengenden Sport machen? Hast du das O. K. vom Arzt?«
Ich verdrehte die Augen. Franka fing meinen Blick auf und deutete ein Grinsen an.
Björn reagierte gar nicht. Er richtete seinen Rucksack, machte ein paar vorsichtige Schritte.
»Es geht wieder«, sagte er.
Ernst blickte auf seine Uhr. Seinem Gesichtsausdruck nach lagen wir bereits hinter dem Zeitplan.
»In Ordnung. Dann lasst uns weitergehen. Sobald wir auf dem Plateau sind, legen wir eine Pause ein.«
Wir rasteten. Selbst mich warf der Blick fast um. Unter uns lag schwarz der Wald. Über uns ein blauer Himmel. Und rundum blendend weiß der Schnee.
»Der Sattel dort hinten führt zur Ahornsteighütte.« Ernst zeigte auf eine felsige Wand, vor der ein Hang voll unberührtem Weiß lag. »Sieht steiler aus, als es ist, also keine Angst. Jetzt genießt erst mal die Pause.«
Ernst hatte den Jausenplatz gut gewählt. Schnell waren ein Picknicktisch und zwei Bänke vom Schnee befreit. Wir setzten uns. Eng an eng.
»Im Sommer ist unsere Tour ein beliebter Wanderweg. Reguläre Skifahrer werden wir auf der Hütte nicht antreffen. Sie ist zu weit vom Lift entfernt. Höchstens Tourenskigeher suchen sie sich als Ziel aus.«
Ich hörte das Wort ›Tourenskigeher‹ zum ersten Mal. Björn taute auf und berichtete, er sei früher viele Skitouren gegangen, weil er die Aussicht auf die Abfahrt so liebte. Und es sei eben wie das ursprüngliche Skilaufen vor der Erfindung des Lifts: Man musste sich zuerst auf den Berg hinaufkämpfen, um nachher abfahren zu können.
»Ist dein Knie in Ordnung?«, erkundigte sich Lilo freundlich, während sie aus ihrem Rucksack ein Leinentuch nahm, es auf dem Tisch ausbreitete und dicke Hausmacherwürste darauf warf, gefolgt von duftendem Bauernbrot. »Bedient euch.«
»Danke.« Bastian steuerte seinen Flachmann bei. Doch außer Lilo wollte niemand.
Franka biss lustlos in einen Apfel. Björn nickte Lilo nur kurz zu. »Alles in Ordnung.«
Bastian schob den Flachmann in seine Richtung. Björn reagierte nicht.
»Seid ein bisschen vorsichtig mit Alkohol«, warnte Ernst, während er selbst eine Packung Pfefferkuchen auf den Tisch legte. »Wir haben noch eine anständige Strecke vor uns.«
»Jetzt weiß ich, warum du Ernst heißt.« Bastian brach in brüllendes Gelächter aus. »Du bist wirklich einer von den seriösen Bergführern.«
Lilo stimmte kichernd ein. Franka ließ ihren Apfel fallen.
»Fuck!« Sie bückte sich, klaubte ihn aus dem Schnee, wischte darüber und aß weiter.
Ich nahm die Brotbox aus meinem Rucksack und knabberte ein paar Nüsse. Richtigen Hunger hatte ich nicht. In einem Sportblog im Netz hatte ich gelesen, dass Nüsse, Rosinen und andere getrocknete Früchte der ideale Powersnack für Winterwanderungen wären. Außerdem lagen noch ein paar Clif Bars in der Box und ein Schinkenbrot. Ich hoffte auf zünftiges Hüttenessen, sobald wir angekommen wären. Bewegungslos auf der Bank zu sitzen, ließ mich frösteln. Beim Laufen hatte ich die Kälte gar nicht mehr gespürt. Ich cremte mein Gesicht mit Sonnenschutz ein.
»Ihr Frauen seid doch immer super ausgerüstet«, kommentierte Bastian.
Ich steckte die Cremetube weg. »Du nicht?«
»Schon halb eins. Liegen wir wirklich gut in der Zeit?« Björn schien nervös.
»Wie gesagt, bis 16 Uhr schaffen wir es auf alle Fälle.« Ernst knipste sein Lächeln an. »Also keine Aufregung. Die Tour ist so konzipiert, dass alle mitkommen.« Er biss in ein Sandwich.
Außer Lilo schien niemand wirklich Appetit zu haben. Daher hatte auch keiner etwas dagegen, als Ernst seinen Rucksack aufsetzte und zum Aufbruch blies. Ich nahm schnell noch einen Schluck aus meiner Trinkflasche und steckte eine Handvoll Nüsse in meine Jackentasche.
Wir wanderten weiter. Ich bildete weiterhin das Schlusslicht, experimentierte mit meiner Schrittlänge und spürte, wie meine Armmuskeln vom ungewohnten Umgang mit den Trekkingstöcken zu schmerzen begannen. Inzwischen hatte ich mich an die Schneeschuhe gewöhnt und genoss es, durch den Tiefschnee wandern zu können, ohne einzusinken. Zuvor hatte mein Blick konzentriert auf dem Weg gelegen. Nun wagte ich immer öfter einen Rundumblick. Das Karwendel präsentierte sich von seiner besten Seite. Trotz Sonnenbrille musste ich beim Anblick der gleißend weiß überzogenen Berge die Lider zusammenkneifen. Am blauen Himmel zeigte sich nicht eine Wolke. Nach dem Schmuddelwetter der letzten Tage rund um München sog ich dankbar Licht und Sonne auf.
Lilo, die bis eben noch fröhlich an der Spitze gelaufen war, fiel zurück. Bastian blieb an ihrer Seite. Die lebhafte Unterhaltung der beiden schien abzusterben. So stapfte die Gruppe dahin. Ich spürte, wie die Energie, die ich während der Pause getankt hatte, verflog. Ich blieb einen Moment stehen, klaubte Nüsse aus meiner Jackentasche und kaute langsam.
»Kommt mal alle her!«, rief Ernst.
Ich beeilte mich aufzuschließen.
»Seht ihr die Skipiste dort drüben? Die Läufer kommen von der Oberspitz runter. Wir müssen einige 100 Meter am Rand der Piste entlangwandern. Seid bitte vorsichtig, da sind ein paar unübersichtliche Kurven. Nicht alle Skifahrer nehmen Rücksicht. Geht hintereinander.«
»Klar, logisch!« Bastians Gesicht leuchtete rot.
Sonne oder Alkohol, dachte ich. Oder beides.
Wir stapften weiter. Die Skiläufer, die eben noch winzige bunte Punkte gewesen waren, wurden schnell größer. Rote Netze sicherten die Piste, an deren Rand Dickicht wuchs. Im Gänsemarsch quälten wir uns den Hang hinauf, während die Skifahrer in einem Affenzahn Richtung Tal brausten. Ab und zu winkte einer süffisant. Ich hätte den Typen am liebsten den Stinkefinger gezeigt.
Franka ging vor mir. Sie wurde langsamer. Die Lücke zu den anderen weitete sich.
»Willst du überholen?«, keuchte sie mir zu.
»Nein. Gar nicht.«
Ernst ging nun an der Spitze, direkt hinter ihm Björn. Bastian und Lilo bildeten die Mitte.
»Ich glaube, ich kriege eine Erkältung.« Franka blieb stehen, richtete ihren Schal.
Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls stehen zu bleiben.
»War vielleicht nicht die beste Idee, heute mitzuwandern. Aber ich hatte mich so auf den Ausflug gefreut.«
Das erstaunte mich. Franka hatte bisher nicht wie jemand gewirkt, der sich auf oder über irgendetwas freute. Eher wie eine Person, die eine lästige Pflicht absolvierte.
»Hältst du durch?«, fragte ich.
»Hilft ja nichts.« Sie zeigte nach unten. »Den ganzen Weg allein zurück? Das schaffe ich nicht mehr.«
Verstohlen sah ich auf die Uhr. Nach eins. Ich griff in meine Tasche und reichte ihr ein paar Nüsse. »Lust auf einen Batzen Energie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sorry, nein, mein Hals ist so rau.«
»Schon in Ordnung.«
Den Skifahrer sah ich aus den Augenwinkeln heranflitzen. Mir fiel die riesige Sonnenbrille auf, das blonde Haar, das unter seinem Stirnband wehte. Er sauste in kurzen Schwüngen die Piste herab und kam uns immer näher.
»Vorsicht!«, schrie ich, machte ein paar Schritte zur Seite. Verhedderte mich mit meinen Schneeschuhen im Gestrüpp, stürzte und kullerte ein Stück, bis mich das Sicherungsnetz auffing. Von Franka hörte ich nichts. Ich sah nur, wie sie zu Boden ging. Pulverschnee sprühte mir wie Gischt entgegen. Ich kniff die Augen zusammen. Eiskalt klatschte mir der Schnee ins Gesicht. Instinktiv wandte ich mich ab.
Als ich den Blick hob, war alles seltsam ruhig. Franka lag im Schnee. Während ich mich hochkämpfte, sah ich Ernst den Hang herunterlaufen. Er hielt beide Trekkingstöcke in einer Hand und winkte mit der anderen. Ich machte ein paar Schritte auf Franka zu.
Sie lag bewegungslos da. Die Mütze war ihr von Kopf gerutscht. Blut rann in den Schnee.
»Franka?«
Ernst redete ganz ruhig mit Franka, während er aus seinem Rucksack eine Wärmefolie und eine Erste-Hilfe-Tasche nahm. Daraufhin wies er mich an, Franka zuzudecken, während er bereits das Blut von ihrer Schläfe tupfte. Die anderen standen um uns herum.
»Das ist keine sehr schwere Verletzung«, murmelte er. »Franka?«
»Es ging ihr schon vorhin nicht gut«, sagte ich leise. »Angeblich spürte sie eine Erkältung.«
»Ich für meinen Teil habe mein eigenes Desinfektionsmittel.« Bastian setzte seinen Flachmann an die Lippen.
»Das interessiert jetzt keinen!«, fauchte ich ihn an.
»Hört, hört!« Grinsend reichte er seinen Flachmann an Lilo weiter.
Mir platzte fast die Hutschnur, doch Ernst warf mir einen mahnenden Blick zu. Also biss ich mir auf die Lippen und schluckte die Bemerkung, die mir auf der Zunge gelegen hatte, herunter. Frankas wachsweißes Gesicht bekam ein wenig Farbe.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Björn.
»Ein Skifahrer ist uns zu nahe gekommen. Ich bin ausgewichen, aber Franka kam nicht rechtzeitig aus der Schusslinie. Er muss sie voll umgerannt haben.«
»Hast du dir gemerkt, wie der aussah?«, wollte Lilo wissen.
»Ein Mann, groß, Stirnband, blondes Haar, Sonnenbrille.«
»Gigantisch«, unkte Bastian. »Trifft auf 50 Prozent der Skifahrer zu, schätze ich.«
Ernst nahm sein Handy aus der Tasche. Führte ein kurzes Gespräch, von dem ich dialektbedingt nur die Hälfte verstand.
»Rowdys auf den Pisten sind leider nicht selten«, sagte er, als er aufgelegt hatte. »Ich habe der Bergwacht Bescheid gegeben. Vielleicht ist jemandem was aufgefallen, der den Typen genauer beschreiben kann. Hallo? Franka?«
Er rieb behutsam ihre Wangen. Sie öffnete die Augen.
»Ach, Herrgott, endlich!«, flötete Lilo.
»Franka? Kannst du mich hören?«
Sie nickte.
»Hat jemand Wasser parat? Oder einen Schluck Tee?«
Ich reichte Ernst meine Trinkflasche.
Es dauerte ein paar Minuten. Unser Grüppchen rückte am Rand der Piste enger zusammen. Die Skiläufer sausten immer noch mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an uns vorbei. Wenigstens hielten sie ausreichend Abstand.
Endlich richtete Franka sich auf. »Was ist los?«