Wernievergibt - Friederike Schmöe - E-Book

Wernievergibt E-Book

Friederike Schmöe

4,7

Beschreibung

Die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde nimmt einen Auftrag ihrer ehemaligen Agentin Lynn Digas an. Der droht ein Geschäft durch die Lappen zu gehen: eine Reportage über den Tourismus in Georgien nach dem Augustkrieg von 2008. Lynns Reporterin Mira ist zwar nach Tiflis gereist, hat sich aber von dort nicht mehr gemeldet. Kea tritt die Reise an. Sie sucht Kontakt zu Mira, doch diese ist spurlos verschwunden. Ebenso wie die deutsch-georgische Mezzosopranistin Clara Cleveland, die als gefeierte Künstlerin der Bayerischen Staatsoper ein Konzert in Tiflis gegeben hatte …

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Seitenzahl: 328

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Cover

Titel

Frederike Schmöe

Wernievergibt

Lea Laverdes fünfter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Fotos »woman playing piano«

von: © Netfalls / fotolia.de

ISBN 978-3-8392-3638-3

Vorwort

I dedicate this book to

Julia

She has given me a home

in a world

where I was – and still am –

a complete stranger

Prolog

Der Mann rappelte sich auf und klopfte ungeduldig feuchten Sand von seiner Lederjacke. Beim Sprung aus dem Wagen hatte er sich die Schulter grün und blau geschlagen. Die ganze linke Seite tat ihm weh. Aber das war es wert. 5.000 Dollar waren es allemal wert.

Er trat vorsichtig an den abschüssigen Rand der schmalen Straße. Anfang April lag Schnee auf den umliegenden Bergen und Matsch auf der Straße, doch das Flüsschen unten in der Schlucht war getaut und rauschte voller Leidenschaft durch das felsige Bachbett.

Die Gegend erstarrte um diese Zeit in Einsamkeit. Das Kloster Wardsia lag weit genug weg, und die Mönche kamen kaum aus ihrem vereisten Domizil heraus. Die Touristensaison hatte längst noch nicht begonnen. Der Mann schnaubte. Wenn man hier, im gebirgigen Süden Georgiens, überhaupt von Tourismus sprechen konnte. Die Nordostgrenze der Türkei lag keine 20 Kilometer entfernt. Die beschwerliche Fahrt über schmale Sträßchen, die an steilen Hängen klebten, mehr beansprucht von Kuhherden als von Fahrzeugen, nahmen nur wenige Urlauber auf sich. Ab Mai, sogar erst ab Juni, wenn die Hitze einsetzte und die Sonne auf dem kahlen Felsen unerträgliche Glut entfachte, kamen ein paar. Sie kamen wegen des Klosters, wegen der Fresken, vielleicht wegen der Einsamkeit. Sie reisten von weither an, in Jeeps und Minibussen, und fühlten sich fremd. So wie er.

Der Wagen lag zerschmettert in der Schlucht. Die Explosion war gewaltig gewesen, immerhin hatte er daran gedacht, zusätzlich drei Gasflaschen im Kofferraum mitzunehmen. Während der irrwitzige Knall von den Bergen zurückprallte, war er über die Straße gekugelt, um den schnellen Ausstieg abzufangen. Hundert Meter tief war der Sturz gewesen, wenn nicht mehr. Hierzulande fuhr man ohne Sicherheitsgurt, aber die dumme Frau aus dem Westen hatte sich natürlich angeschnallt. Er grinste schief. Das Sicherheitsbedürfnis der Westler fand er lächerlich; man sah ja, wohin es führte. Die Leiche würde bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Der Mann nickte zufrieden. 5.000 Dollar. Er war im Augustkrieg 2008 aus Zchinwali geflüchtet, als die russische Armee Georgien überrollte. Ein Krieg, über dessen Ursachen und Urheber heute noch gestritten wurde. Journalisten, EU-Offizielle und Politiker diskutierten sich die Münder fransig, dabei wucherten die Theorien über den Auslöser der Angriffe ins Unendliche. Er selbst hatte in Südossetien gelebt, ein Georgier in einem georgischen Dorf auf ossetischem Boden, und er hatte das Gebiet fluchtartig verlassen, mit seiner Frau und zwei Söhnen. Einem von ihnen war von ossetischen Milizen in den Kopf geschossen worden. In so einem Krieg entwickelten sich schnell Nutznießer. Sie kämpften auf irgendeiner Seite, nicht um der Sache oder der Überzeugung willen, sondern wegen des Profits. Sie optimierten ihre Verdienste mit Geiselnahmen und Auftragsmorden. Das konnte der Mord an einem ganzen Dorf sein, wenn nötig. Big Business des Krieges. Sein Sohn hatte die Verletzung überlebt, aber er war ein Tölpel geworden, ein Kretin. Seine Frau war über diesem Unglück zerbrochen. Sein zweiter Sohn ging noch zur Schule. Sie hatten keine Bleibe, er fand keinen Job, und so hauste die Familie nördlich der Autobahn zwischen Tbilissi und Gori in einem Flüchtlingslager, in einem Häuschen mit Chemieklo, das an eine Schuhschachtel erinnerte. Seine Frau konnte vor Kummer nicht arbeiten, und seine Geliebte bekam ein Kind von ihm. Er brauchte das Geld dringend.

Schwarzer Qualm trieb durch die Schlucht. Der Mann, der sich selbst nie als Mörder bezeichnet hätte, steckte sich eine Zigarette an. Endlich. Die Westlerin war natürlich Nichtraucherin. Gewesen! Der Mann nahm einen tiefen Zug. Angeblich vertrug sie den Rauch nicht. Und wollte nicht, dass er ein Fenster öffnete, weil ihr kalt war. Er hätte sie am liebsten vorher vernascht. Nordische Frauen waren leicht zu erobern. Er musste sich zurückhalten, an die 5.000 Dollar denken, nur daran denken. Er musste die Ärzte für den idiotischen Sohn und seine depressive Frau bezahlen. Außerdem musste man ja essen und trinken.

Es begann, sacht zu schneien. Auf der unbefestigten Piste schmolzen die Flocken und wurden zu Matsch. Besser, er sah zu, dass er wegkam. Die Gegend war zu einsam für Zeugen, doch man konnte nie wissen.

Der Mann wandte sich vom Abgrund weg und ging über die Straße zurück nach Norden. 20 Minuten später hatte er die Felsspalte wiedergefunden, wo er tags zuvor das Motorrad untergestellt hatte. Er schwang sich in den Sattel. Der Motor sprang sofort an. Erleichtert gab er Gas. Er mochte das Hochgebirge nicht. Plötzlich schien es ihm, als hörte er die Berge atmen. Kurz vor der nächsten Haarnadelkurve wandte er sich um und warf einen letzten Blick auf die schwarze Wolke, die ihm, zwischen den kahlen Hängen dahintreibend, gleichgültig nachsah.

1

Der Friedhof von Ohlkirchen drückte sich verschämt an die lachsrosa gestrichene kleine Kirche. Bayerisch, Barock, Zwiebelturm. Die Idylle störte der schneidende Wind, der von Osten kommend meine Laune in den Keller trieb.

Wir standen zu dritt neben dem offenen Grab, in das die Helfershelfer mit den diskreten Uniformen einen schlanken, schwarzen Sarg herabsinken ließen. Rechts neben mir hörte ich Juliane tief durchatmen. Sie war meine beste Freundin, meine Ersatzmutter und mein Fels in der Brandung. Mehr als mein Lebenspartner Nero Keller, der sich links neben mir aufgestellt hatte, um Dolly Streitberg, Julianes Schwester, die letzte Ehre zu erweisen. Ausdrücke wie ›letzte Ehre‹ passten zu Neros konservativer Weltsicht. Er war Hauptkommissar im Münchner Landeskriminalamt und hatte mit Cyberverbrechen zu tun, die mindestens so echt waren wie der Sarg, der nun tief unten in der Grube auf die Erde schlug.

Uns gegenüber stand Dollys Sohn. Er war an die 30 und sah atemberaubend gut aus. Obwohl in festen Händen, interessierte ich mich dafür, wie Männer aussahen, und zwar von oben bis unten, innen und außen und umgekehrt. Dollys Sohn Sascha hätte einem Latin Lover Konkurrenz gemacht. Er war sehr schlank, fast mager, von vornehmer Blässe und phänomenal glattrasiert. Das schwarze, kinnlange Haar schmiegte sich in Wellen an seinen schmalen Kopf, im linken Ohr klemmte ein silberner Ring. Seine dunklen Augen blinzelten hinter einem Schleier aus Fassungslosigkeit hervor.

»Mein Neffe bricht gleich in Tränen aus«, zischte Juliane mir zu. »Er glaubt, bei den Frauen käme das gut an.«

»Ich wusste ehrlich gesagt nicht mal, dass Dolly Kinder hatte!«

»Nur dieses eine.«

Der Mann vom Beerdigungsinstitut trat von einem Bein aufs andere. Eine vierköpfige Trauergesellschaft, und dann noch Geschwätz am Grab, kaum dass der Sarg außer Sicht war. Er blickte zweifelnd zwischen Juliane und Sascha hin und her.

»Kommen Sie zum Abschluss«, sagte Juliane cool.

Nicht, dass sie ihre Schwester nicht geliebt hätte. Im Gegenteil, sie hatte mit einer für einen harten Brocken wie Juliane unerwarteten Zärtlichkeit an der Jüngeren gehangen und in den letzten Monaten für sie gesorgt. Wohingegen Sascha niemals aufgetaucht war, um sich um seine alzheimerkranke Mutter zu kümmern.

»Sie bekam ihn mit Mitte 40, das war ein bisschen spät«, knurrte Juliane. »Verzogen und verhätschelt hat sie ihn. Sieh dir den Weichling an! Wird nur von seiner Lederjacke zusammengehalten!«

Saschas Trauer schien vorwiegend aus Verblüffung zu bestehen. Dass er überhaupt eine Mutter gehabt hatte, und dass diese Mutter nun tot war. Beides bekam er nicht schnell genug auf die Reihe. Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch. Falls es irgendwann endlich Frühling würde, hätte ich ein paar echt nette Klamotten im Schrank.

Wir traten vor, um Erde und Blumen auf Dollys Sarg zu werfen. Der Anblick der Vergänglichkeit traf mich stets mit Wucht. Erinnerungen an die Beerdigung meines Vaters kamen hoch. In einem Herbst, kalt und nass wie dieser April. Und an meine eigene Sterblichkeit. Beinahe hätte auch ich in so einer Kiste gelegen und wäre verbuddelt worden. So lange war es nicht her, dass ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Tatsache war: Es würde irgendwann für jeden von uns so weit sein. Der Tod war leicht herbeizuführen; wenn nötig in Sekunden. Aber zu leben, das war die eigentliche Kunst. Und das Wunder. ›Celebrate your day. It’s your turn to win.‹ Wenn ich mich nicht sehr täuschte, hatte ich das vor Jahren in Disneyland gelesen. Auf einer Reportagereise durch die Sümpfe Floridas hatte ich mir Peter Pan und Micky Maus nicht nehmen lassen. Gestatten: Kea Laverde, 41, unverheiratet, Ghostwriterin, ehemalige Reisejournalistin. Das ewige Kind. 80 Kilo, Vollweib, jawohl, langes glattes schwarzes Haar.

Wann und wo lag der große Gewinn für dich bereit, Dolly?, fragte ich im Stillen.

Sie war 73 Jahre alt geworden. Zu Lebzeiten hatte sie stets älter und vor allem konventioneller gewirkt als ihre Schwester. Juliane ging auf die 79 zu. Sie trug schwarze Marlenehosen und einen feuerroten Rollkragenpulli unter ihrem Regenmantel. Auf ihrem raspelkurzen weißen Haar saß eine Schirmmütze im Fidel-Castro-Stil.

Ich griff konzentriert nach dem Schäufelchen, das in der feuchten Erde steckte, und warf ein paar Krümel auf den Sarg. Die Tränen brannten. Nicht heulen, Mascara verläuft, dachte ich. Nach mir kam Nero, dann Juliane.

»Lasst uns gehen!« Juliane hakte sich bei mir ein. »Ich lade euch zum Tröster ins Wirtshaus Elser ein.«

Wir saßen vor Streuselkuchen mit Sahne und einem dünnen Kaffee. Juliane neben mir, Nero und Sascha uns gegenüber. Hier saß man katholisch.

»Wie ging es ihr in letzter Zeit?«, fragte Sascha duckmäuserisch.

»Spielt das jetzt noch eine Rolle?« Julianes Antwort kam hämisch. So kannte ich sie nicht. Dollys Tod hatte sie tief getroffen. Sie versuchte, über den Schock hinwegzutäuschen, indem sie den Kotzbrocken spielte.

Sascha wischte sich die Augenwinkel. Nero räusperte sich alle paar Sekunden, versuchte vergeblich, gegen das stachelige Schweigen anzuarbeiten. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich hatte Juliane lieb. Aber sie ließ sich nicht trösten. Nicht einmal anfassen. Meine zaghafte Umarmung auf dem Friedhof hatte sie abgeschmettert. Sie verhielt sich wie Gott Pan, als er feststellen musste, dass sich seine Geliebte Nymphe Syrinx in ein Schilfrohr verwandelt hatte: Sie konnte es nicht glauben.

»Sie hat mich nicht mehr erkannt«, sagte Juliane. »Seit Monaten nicht.«

»Möchte jemand noch Kaffee?« Nero hielt die Kanne in der Hand und sah herausfordernd in die Runde.

Obwohl die Brühe grauenvoll schmeckte, streckte ich ihm meine Tasse hin.

»Ich habe dich oft genug angerufen und dir geschildert, wie es um deine Mutter steht!«, fuhr Juliane fort und ein frostiger Wind wehte über den Tisch hinweg. »Du hast sie kein einziges Mal besucht.«

Sascha schien noch schmaler zu werden. »Ich hatte keine Zeit«, verteidigte er sich.

»Keine Zeit, die eigene Mutter zu sehen, bevor es mit ihr zu Ende ging?«

»Aber …« Er verkroch sich in seiner Lederjacke. Ein frisch geschlüpftes Küken, das erfolglos versuchte, ins Ei zurückzurobben.

»Nee, klar, du hast einen verantwortungsvollen Job da im kapitalistischen Pfuhl. Arbeitest dich ganz nach oben. Respekt, Neffe, Respekt.«

Juliane sprach ihn nicht einmal mit seinem Namen an. Zum Glück war er schlau genug, nichts zu erwidern.

»Finanzmarkt. Interessante Geschichte. Seit Kurzem wissen wir dank Krise ja eine Menge mehr über euch Krawattenmafiosi. Jetzt ist es belegt; vorher war es nur Bauchgefühl. Ich kann dich beruhigen: Dolly hätte dich sowieso nicht mehr erkannt. Sie hat nämlich keinen mehr erkannt. Nicht einmal gesprochen hat sie mehr. Ihre einzige Aktivität bestand darin, sich auszuziehen, wo immer sie saß. Kaum hattest du den Rollstuhl in den Park geschoben, knöpfte sie sich die Jacke auf. Im Speisesaal: runter mit der Bluse.« Juliane schüttelte sich. Ihr Blick lag lauernd auf Sascha. »Könnte erblich sein. Achte auf deine Gene.«

Mein Handy klingelte.

»Entschuldigt«, murmelte ich, versuchte, meine Erleichterung nicht zu zeigen, und ging aus der Gaststube hinaus in den Biergarten. »Laverde?« Eine Freiberuflerin musste jede Minute mit Aufträgen rechnen.

»Kea? Hier spricht Lynn. Lynn Digas!«

»Mensch, Lynn, lange nichts gehört.« Während ich als Reisereporterin durch die Welt tourte, hatte Lynn mich als Agentin unter Vertrag gehabt.

»Störe ich gerade?«

»Kann man so nicht sagen.«

»O. k., ich mache es kurz. Kea: Könntest du dir vorstellen einzuspringen? Reportage? Möglichst sofort? Oder in den nächsten, sagen wir, drei Tagen?«

»Du machst mir Spaß.« Der Wind fegte durch meine Kleider. Mein Mantel hing irgendwo im Wirtshaus. »Wenn es jedoch ein warmer Ort wäre …«

»Südkaukasus. Liegt auf der Höhe von Neapel. Südlich genug. Da ist schon Frühling.«

Ich blickte auf die Butzenscheiben, hinter denen die dezimierte Trauergesellschaft die Messer wetzte. Vermutlich hatte Juliane bereits ein großes Stück aus ihrem Neffen herausgesäbelt.

»Süd – was?«

»Georgien. Du weißt doch: Es gab einen Krieg da und wir haben ein renommiertes Reisemagazin unter unseren Kunden, die wissen wollen, ob es dort noch oder wieder Tourismus gibt, wenn ja, wie er aussieht und so weiter.«

»Hast du niemanden anderen, der das machen kann?« Ich hatte keine Zeit für Mätzchen. Ich musste ein Projekt fertigghosten. Die Lebensgeschichte eines Dirigenten. Langweilig bis zum Einschlafen. Ich brauchte literweise Kaffee, um bei der Stange zu bleiben.

»Ich habe Mira losgeschickt. Mira Berglund, eine meiner stärksten Journalistinnen Leider ist sie in Georgien abgetaucht und meldet sich nicht mehr.«

Das gab es ab und zu in der Branche. Der Reisejournalismus zog Abenteurer und Gesindel an. Insbesondere Typen, die die Pubertät nicht ganz abgeschlossen hatten oder unmittelbar im Anschluss in eine böse Midlife-Crisis gesaugt worden waren. Manche fanden die große Liebe, tauchten unter, kamen Jahre später wieder in Deutschland angekrochen, übel mitgenommen, weil die Illusionen in Rauch aufgegangen und die Ersparnisse aufgebraucht waren, und flehten um einen Job.

»Kea, ein amerikanisches Magazin will die Rechte für die englische Übersetzung kaufen. Das ist ein Riesendeal. Wir brauchen den Auftrag, weil wir mit denen gerne langfristig ins Geschäft kommen wollen …«

»Ich habe keine Ahnung von Georgien. Ich kann kein Russisch. Oder was sprechen die da eigentlich?«

»Georgisch. Kein Problem. Du besorgst dir eine Dolmetscherin. Die Agentur übernimmt alle Kosten. Jeden Abend fliegt eine Maschine nonstop von München nach Tbilissi. Ich buche dir das Ticket. Economy flex, wenn du willst. Jederzeit umbuchbar.«

Ich hatte mir geschworen, nie mehr zu fliegen. Nie mehr von der Einsamkeit des Reisens verschluckt zu werden, die mir mehr als die Hälfte meines beruflichen Lebens zur Hölle gemacht hatte. Ich wollte nicht mehr in Lounges an Flughäfen herumhängen oder in Hotels, in denen mir nur Fernsehgeräte und Minibars Gesellschaft leisteten, bis ich freiwillig mit meinem zerkratzten Spiegelbild in einem Badezimmer voller Kakerlaken ratschte. Ich hatte genug von Ausnahmezuständen, annullierten Flügen und emotionaler Drangsal.

Nero trat in den Garten. Er brachte mir meinen Mantel und legte ihn mir über die Schultern. Das war ein Mann! Er wusste, was ich brauchte. Nur, wo würde mein Leben nun hinführen? Von einem selbstverliebten Ghostwritingprojekt zum nächsten? Von einer Beerdigung zur nächsten? Wie viel Zeit stand mir zur Verfügung? Und was, bitteschön, sollte ich mit meiner Lebenszeit anfangen?

Nero würde übermorgen ans BKA nach Wiesbaden fahren und dort eine Fortbildung halten. Anschließend hatte ihn der BND eingeladen. Wir wären ohnehin mindestens einen knappen Monat getrennt.

»Wie lange …?«, begann ich.

»Mira wollte drei Wochen bleiben. Kea, gib deinem Herzen einen Stoß. Dir traue ich zu, dass du zurechtkommst und die richtige Story mit nach Hause bringst.«

»Sag mal, wann hatten die diesen Krieg?«

»2008. Exakt darum geht es.« Lynns Stimme klang ein bisschen zu glatt. Das sichere Anzeichen von Ungeduld.

»Ist ja eine Ewigkeit her«, unkte ich. »Nicht mal zwei Jahre.« Nero sah mich an, als wollte er mir das Telefon aus der Hand reißen. Immer besorgt, dieser Mann mit den Torfaugen und dem italienischen Bart. Immer auf der Seite von Gesetz und Gerechtigkeit. Einer, der das Schlimmste stets für möglich hielt. Nero würde durchdrehen, wenn ich nach Georgien fuhr.

»Sie tranchiert Sascha«, flüsterte er mir zu. »Deeskalationsmaßnahmen laufen ins Leere.« Er blinzelte, weil er wusste, wie allergisch ich auf Polizeijargon reagierte.

»Ich mach’s«, sagte ich. »Reserviere mir den Flug für morgen Abend.«

Nero starrte mich an.

»Oder warte mal, Lynn. Buche zwei Tickets. Nein, auf eure Kosten! Und ob ich weiß, dass du das kannst!«

2

Weit im Norden Georgiens, an der russischen Grenze, im Ort Kasbegi, der mittlerweile Stepandsminda hieß, weil man ja wieder religiös sein und sich mit den Namen von Heiligen wie dem heiligen Stefan schmücken durfte, machte sich eine alte Frau mit dem vielsagenden Vornamen Medea auf den Weg, um in der Kirche Dsminda Sameba zu beten. Die Kirche befand sich auf einem dem berühmten Kasbek vorgelagerten Berg, dem Kwemi Mta, hoch über dem Ort. Der Weg war beschwerlich, aber Medea, die ihr genaues Alter nicht kannte, hatte mit Ausdauer und Beharrlichkeit fast jedes Ziel in ihrem Leben erreicht. Der steile Aufstieg vom Dorf schreckte sie nicht. Sie hatte Zeit. Sie trug ausgetretene Gummistiefel, die sie früher verwendet hatte, um Trauben zu zerstampfen, damit irgendwann Wein daraus wurde. Allerdings lebte sie derzeit in einer unwirtlichen Bergregion, wo von Wein keine Rede sein konnte. Sie lebte hier, weil es ihr sinnvoll erschien, nicht in allzu vielen Registern aufzutauchen. Die Hauptstadt war keine 200 Kilometer von Stepandsminda entfernt, das Sammeltaxi brauchte gut drei Stunden, wenn alles glatt ging, wenn auf dem Kreuzpass kein Wetterumschwung wartete und kein Passagier kotzen musste. Medea saß hier draußen am Ende der Welt; besser so.

Am gestrigen Nachmittag, als sie mit Keti Kaffee getrunken hatte, war etwas Dummes passiert. Keti und sie lasen gern im Kaffeesatz. Sie nahmen das nicht ernst. Es war nur eine Möglichkeit, sich etwas Nettes zu sagen, über die Lage im Dorf zu debattieren, einen Nachbarn nach dem anderen durch den Kakao zu ziehen und sich eine Abwechslung zu gönnen. Der Winter in Stepandsminda begann im September und endete im Mai.

Wo auch immer Medea sich länger niedergelassen hatte – irgendwann kamen die Leute zu ihr und fragten um Rat. Wegen Krankheiten, bevorstehender Geburten, Hochzeiten, Scheidungen oder sonstiger Übel, die einem Menschen in seinem Leben widerfuhren. Offiziell gehörten sie seit der Loslösung von der Sowjetunion dem georgisch-orthodoxen Glauben an. Viel tiefer verwurzelt war bei den meisten eine Ahnung von jenem alten Wissen, das hier knapp unterhalb des Kasbek, des Eisgipfels, wie er auf Georgisch hieß, besonders üppig gedieh. Immerhin, so ging die Geschichte, war Prometheus an den Felsen des vergletscherten Riesen angekettet gewesen, als Strafe für den Frevel, den Menschen das Feuer gebracht zu haben, und die Vögel hatten seine Leber angefressen, aus dem einzigen sadistischen Grund, sein Leiden zu verlängern. Hier also geschahen ab und an mysteriöse Dinge, was Medea nur normal fand an einem Ort, an dem mächtige Götter miteinander im Clinch gelegen hatten. Schon jetzt, am Vormittag, pflegte sich der mürrische Berg hinter Wolkenhaufen zu verbergen. Im Sommer sah Medea ab und zu frustrierte Touristen, die begierig auf ein Foto waren, um es zu Hause vorzuzeigen. Die wenigsten bekamen, was sie wollten. Der Kasbek zeigte sich allenfalls in den frühen Morgenstunden. Man musste also spätestens um 2 Uhr morgens in Tbilissi aufbrechen, um die Kameras rechtzeitig in Stellung zu bringen. Kaum ein Urlauber tat sich eine so unchristliche Zeit an. Und übernachten wollte hier auch niemand. Dem westlichen Auge erschloss sich das Dorf nicht. Sie sahen nur das einfache, oft ärmliche Leben der Bewohner. Ein paar Nachbarn hatten manchmal Touristen aufgenommen. Ganz früher hatte es einmal ein Intourist-Hotel gegeben. Ganz früher …

Medea raffte die Röcke, während sie durch den Schneematsch immer höher stieg, hielt sich mit der anderen Hand an Ästen und schmalen Stämmchen fest. Im Sommer gewährte der Wald Schatten, jetzt bot er Schutz vor dem Wind. Als sie die letzte Biegung erreicht hatte und zwischen den Bäumen hervortrat, erfassten die klirrend kalten Böen ihr Kopftuch und rissen es beinahe fort. Sie griff danach, band es fest, und sie band es, wie ihre Mutter es getan hatte. Mit dem Knoten im Nacken, die beiden losen Enden über den langen Zipfel geschlungen.

Der Pfad, der auf die Dreifaltigkeitskirche zuführte, war vereist. Bei besserem Wetter fuhren Allradfahrzeuge, sogar Sammeltaxis hier herauf. Heute wartete die Einsamkeit vergeblich auf Gäste. Der April hexte Frost auf die steilen Hänge. Der Himmel war finster von den Wolken, die sich zwischen den Gipfeln ballten. Medea hatte längst aufgehört, sich über das Wetter Gedanken zu machen. Um ihren Frieden zu finden, brauchte sie keine Äußerlichkeiten. Den verharschten, schmutzigen Schnee, auf dem sie in ihren profillosen Gummistiefeln rutschte, beachtete sie ebenso wenig wie die Krähe, die über dem wenige Meter neben der Kirche ausharrenden Glockenturm kreiste. Jenseits der Kirche wachte die nächste Bergkette. Gleichgültig, grau und kalt.

Während Medea sich die eiskalten Hände rieb, dachte sie an Keti und die Kaffeetasse. In ihrer Tasse hatte sie etwas gesehen, was nie da gewesen war: Das Gesicht einer Frau. Einer jungen Frau. Und es war zweimal aufgetaucht: Auf der Seite, in der die Zukunft zu lesen war, und gegenüber, wenn sie die Tasse in der linken Hand hielt und in die Vergangenheit blickte. Klar und deutlich wie in einem Spiegel!

Keti war eine Null, wenn es darum ging, Bilder sprechen zu lassen. Sie pflegte das Restwasser aus ihrer Tasse zu gießen, die Tasse umzudrehen, zu warten, bis der Satz getrocknet war, und die Tasse dann ohne einen Blick an Medea weiterzureichen.

Medea hatte ab und zu etwas in Ketis Kaffeetasse gesehen, was sie für wichtig hielt. Was sich irgendwie anders anfühlte als das, was sie mit einem Lächeln kommentieren konnte, um anschließend die Tassen auszuspülen. Meist war es um Veränderungen gegangen, auf die sie Keti beiläufig hinwies. Und sie hatte jedes Mal recht behalten.

Oft kamen die Bilder, wenn sie dem Schlaf zutrieb. Weichgezeichnete Skizzen von Dingen, die sie am nächsten Morgen in ihr Heft schrieb. Hingetuscht, wie ein eiliges Aquarell.

Während sie auf Dsminda Sameba zustapfte, fiel ihr auf, dass sie nie irgendein Aufhebens um diese Dinge gemacht hatte. Dass sie zuweilen die Zukunft lesen konnte, daran war nichts Mysteriöses. Sie hatte einfach ein paar Zusammenhänge erkannt und logisch zu Ende gedacht. Bewohnte ihre Gedanken bewusster als die meisten Menschen.

Die Sache mit den zwei Frauengesichtern war anders. Medea war keine Frau, die sich von scheinbar stimmigen Symbolen in die Irre führen ließ. Was einem zunächst schlüssig erschien, stellte sich im Nachhinein meistens als völlig falsch heraus. Medea war nie irgendwelchen Konstrukten auf den Leim gegangen. Soviel seelisches Leid das Leben ihr auch gebracht hat: Für eines war es gut gewesen. Der Schmerz hatte für klare Sicht gesorgt.

Sie betrat die Kirche, faltete die Hände und betete. Sie murmelte nur, denn sie betete in ihren eigenen Worten, in der Sprache, in der ihre Mutter mit ihr gesprochen hatte, und das ging den Mönch nichts an, der sich in der Ecke mit den Souvenirs zu schaffen machte. Wer kaufte jetzt schon ein Andenken! Zwischen den Versen, die Medea kaum hörbar rezitierte, schnaubte sie verächtlich. Der Mönch beachtete sie nicht. Hier tauchten genug Jammergestalten auf. Alte und Kranke, die im heutigen Georgien zum Elend verdammt waren. Die froh sein konnten, wenn sie Kinder hatten, die ihnen Essen gaben, ein Dach über dem Kopf, die für die Arztrechnungen aufkamen. Medea kannte die geschundenen Seelen, die sich den Berg hinaufschleppten, wo sie auf den ohnedies zermürbten Knien dreimal die Kirche umrundeten, um Erlösung von ihren Sünden und Leiden flehend. Denen blieb nichts anderes als ein Glaube, der zu biegsam war, als dass er an den umliegenden Massiven zerschellen konnte. Erlösung kam nur einmal im Leben, das wusste Medea: Erlösung brachte nur der Tod.

Sie hatte keine Bitte auf den Lippen. Sie glaubte auch nicht an die Vergebung der Sünden. In ihrer Überzeugung musste man irgendwann für das Schlechte, das man getan hatte, büßen. Medea suchte keine Barmherzigkeit. Sie strebte nach Klarheit, und in den alten, kahlen Mauern hier oben fand sie die Erkenntnis schneller als irgendwo sonst.

Allein deshalb war sie hier.

3

Wir saßen am Gate H04 des Münchner Airports, der unter dem Namen Franz-Josef-Strauß-Flughafen firmierte. Das mochte der alleinige Grund für Julianes schlechte Gefühle sein. Sie murrte halblaut etwas von Nepotismus und fehlendem ökologischen Bewusstsein. An meine Gefühle mochte ich gar nicht denken. Das musste ich aber auch nicht. Sie drängten sich von selbst auf. Meine Kehle war so trocken wie ein Fetzen Papier, mein Herz hämmerte. Ich hatte beinahe 48 Stunden nicht geschlafen. In den letzten beiden Nächten war ich durch die Hölle gegangen. Durch verschiedene Höllen. Meine alte Reisepanik brach auf. Ich verfluchte mich und meine Zusage, ich verfluchte Nero und unsere Beziehung. Der Hauptkommissar war zu nichts anderem imstande, als mir Vorhaltungen zu machen. Gefährliche Gegend. Unsichere politische Lage. Teilreisewarnung des Auswärtigen Amtes.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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