Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Simone, einst nach Südfrankreich ausgewandert, folgt der Einladung ihrer Freundin Rita, die Vorweihnachtszeit bei ihr in Franken zu verbringen und ihren Literatur-und-Fress-Zirkel kennenzulernen. Doch die ehemalige lustige Rita hat sich in eine verbitterte, intolerante Langweilerin verwandelt. Das Treffen endet im Streit und dann ist Rita verschwunden. Zwei Mitglieder aus dem Buchclub sterben. Privatdetektivin Katinka Palfy soll helfen …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 300
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Friederike Schmöe
Still und starr ruht der Tod
Ein bitterböser Weihnachtskrimi
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ultramarin – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-3954-4
Es gibt Momente, in denen man einfach tut, was getan werden muss, in denen das Leben einem die Regieanweisung ganz deutlich gibt. Und so kam es, dass die drei im Wagen saßen und vergeblich versuchten, dem Tod, den ihnen der kalte oberfränkische Winter bringen würde, zu entkommen. Endlich keine Diskussionen mehr! Und getrauert hatte ich schon vorher genug.
Ich habe nichts anderes gemacht, als eine geniale Chance beim Schopf zu packen. Den Rest hat der Wagen gemacht. Die elektronische Türverriegelung, um genau zu sein. Du steigst aus, wirfst die Tür hinter dir zu, machst einmal ›klick‹, und man kriegt die Türen von innen nicht mehr auf, so sehr man auch rüttelt, an die Fenster trommelt und kreischt. Selbst die Fenster lassen sich nur elektronisch öffnen, daher ist hier genauso wenig ein Ausstieg zu erhoffen – nichts zu machen. Sobald die Karre steht und der Motor aus ist, schaut’s mau aus. Ich sah Frau 1 rumschreien. Der Luftschwall aus ihrem Mund ließ die Scheiben von innen anlaufen. Frau 2 wandte sich dem Mann zu. Sie schlüpften in ihre üblichen Rollen. Füllten sie voll aus. Darin waren sie ganz groß.
Ich stapfte rasch davon. Der Hang war steil, eine gewundene Straße quer durch Fichten, die den Frankenwald im Winter noch finsterer machten, da half selbst der Schnee nichts. Im weißen Gestöber streckte ich meine Hand nach vorn, erkannte sie kaum noch. Weit bergabwärts konnte ich das gelbe Blinken des Schneepfluges sehen. Es würde eine Weile dauern, bis er die Serpentinen von Förtschendorf auf die Höhe heraufgebrummt kam. Die Flocken blieben in meinen Wimpern kleben. Ich zog die Mütze tief ins Gesicht, ignorierte das stahlharte Hämmern meines Herzens. Entschlossen trat ich von der Straße ins Unterholz. Die Herrschaften im Wagen würden noch ein paar Minuten leben.
Das sind Momente, in denen du dir denkst, du könntest noch alles rückgängig machen. Nicht wie eine Hochzeit, eine Schwangerschaft oder eine Führerscheinprüfung. Wenn’s damit losgeht, steckst du schon mittendrin im Schlamassel. Nein, ich weiß, ich hätte zurückgehen können, mich hinters Steuer klemmen und losfahren. Nichts wäre passiert. Aber die Chance, diese einmalige Chance … ich hatte sie alle beisammen: den Mann, Frau 1 und Frau 2. Keine Zeugen. Keine Warnblinkanlage, kein Abblendlicht, nicht mal Standlicht. Na gut, vielleicht kamen sie selbst auf die Idee, es anzuschalten. Wahrscheinlich blieb ihnen dazu keine Zeit, weil sie ja immer erst alles ausdiskutieren mussten. Und weil sie sich dabei meist übel in die Haare gerieten.
Niemand wusste, dass wir zusammen hier heraufgefahren waren. Dass wir eigentlich in Lauenstein Pralinen besorgen wollten, erst degustieren, dann kaufen. Ab Fabrik. Die jährliche Geschenkejagd für Weihnachten. Dass wir unerwarteterweise beinahe in den Verwehungen stecken geblieben, in Ludwigsstadt umgekehrt und zurückgefahren waren. Dass der spontane Plan vorsah, in Kronach in der Kaiserhofbräu einzukehren. Keiner war eingeweiht, niemand hatte uns zusammen gesehen.
Ich würde nichts rückgängig machen. Ich nicht. Ich ließ nicht alles mit mir anstellen. Irgendwann war mal Schluss. Auch ich hatte meinen Stolz.
Der Sturm schüttelte die Fichtenwipfel. Minus 15 Grad. Sturmtief Tanja. Der Wagen, so sah ich, als ich mich zwischen den massiven Stämmen ein letztes Mal umdrehte, war schon bis zu den Scheinwerfern zugeweht.
Ich schlitterte durch den Tiefschnee den Berg hinab. Der Ort unten im Tal lag an der Bahnlinie, auf der die ICEs von Berlin nach München durch die Berglandschaft rauschten. Ich würde irgendeinen Bummelzug nehmen und heimfahren. Niemand würde mich erkennen. Ich würde warten, ob jemand mit Mitleid im Blick mir die traurige Nachricht überbrachte. Wobei ich bezweifle, dass ich trauern würde. Hatte ich doch längst. Irgendwie war das alles jetzt einfach abgehakt.
Simone staunte nicht schlecht. So hatte sie Bamberg gar nicht in Erinnerung. So verschneit. Man hätte mit Skiern durch die Innenstadt gleiten können. Das hatte sie noch nie erlebt.
Aber sie war seit Jahren weg. Genauer gesagt, seit gut 20 Jahren. Seit der Magisterprüfung. Es hatte sie in wärmere Gefilde gezogen. Sie liebte die französische Sprache und zog nach Aix-en-Provence. Verliebte sich, wurde schwanger, heiratete, durchlebte 20 Jahre voller Hochs und Tiefs. Ein Durchschnittsleben, denn schließlich ging es allen so. Nur das Ende des knappen Vierteljahrhunderts war eine einzige Misere. Jean-Claude hatte ihr am 31. Oktober eröffnet, dass er ein Kind mit einer anderen bekam. Er war 45, und sie hätte ihn am liebsten umgebracht.
Noch mal ein Kind. Für Jean-Claude und seine Neue bedeutete es noch mal ein neues Leben, eine Zukunft, während der Lebensabschnitt, in dem man sich um Kinder kümmerte und sie aufwachsen sah, für Simone definitiv zu Ende war. Sie fühlte sich ausrangiert. Alt. Sie litt. Das Haar fiel ihr aus. Das dicke, honigblonde Haar, das zu tönen sie sich weigerte. Das ihr in vollen, geraden Strähnen bis knapp auf die Schulter reichte. Sie musste es abschneiden. Der Friseurbesuch war der eigentliche Einschnitt. Simone musste schmunzeln, als ihr das Wortspiel auffiel. Seit Jahren hatte sie nicht mehr auf Deutsch gedacht. Nur auf Kommando, auf Wunsch, um es zu probieren. Sie dachte auf Französisch, träumte auf Französisch und manchmal geschah es, dass ihr ein deutsches Wort nicht mehr einfiel.
»Das Haar wächst schon nach«, hatte Rocco sie getröstet. Als Friseur war er an ganz andere Dramen gewöhnt. Krebsglatzen, Brandwunden, er hatte in Erinnerungen geschwelgt. »Haarausfall aus Kummer, das passiert eben, Madame, das kommt in den besten Familien vor. Nach einem Jahr, Sie werden sehen, haben Sie den Kerl vergessen!«
Der Kerl. Er war 20 Jahre lang ihr Ehemann gewesen. Sie hatte viel investiert. Ihm hinterhergeräumt, seine arrogante Familie ertragen, seine wichtigtuerische Schwester, seinen dominanten Vater, mit dem Jean-Claude beinahe jeden Abend telefonierte. Seine Mutter Irène, na gut, die war ein bisschen durchgedreht. Im guten Sinn. Sie hätte perfekt in das Paris der 20er Jahre gepasst. Mit ihren langen Ohrhängern, den schmal geschnittenen Kleidern und dem Pagenkopf, einer Frisur, von der sie auch im Alter nicht abrückte. Simones Schwiegermutter war nie ein Familientier gewesen, hielt sich bei Treffen abseits, ein wenig spöttisch, ein wenig ironisch, immer mit einem Schmunzeln in den Mundwinkeln und einer Zigarette in der Hand, in einer Zigarettenspitze natürlich. Irène. Simone lächelte in Erinnerung an ihre Schwiegermutter. Irène war cooler, lässiger, entspannter als alle anderen in der Familie Mathieu. Cooler als Simone, das auf alle Fälle. Für Natalie war sie nie die typische Großmutter gewesen. Natalie hatte unter Irènes Aufsicht ihre erste Zigarette geraucht. Und ihren ersten Joint. Eine Großmutter brachte der Enkelin das Kiffen bei, das musste man sich mal vorstellen. Irène war der Meinung, es wäre besser, Natalie probierte es in ihrem Beisein als in Begleitung eines Kerls, in dem die Hormone brodelten.
Vor zwei Jahren war Irène gestorben. Ein Schlaganfall. Ganz plötzlich, als sie am Flughafen in Marseille den Zubringerbus nach Aix besteigen wollte. Sie setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe – und war tot.
Ein Ableben, wie es zu Irène passte. Danach musste die Familie Mathieu feststellen, dass Irène mit ihrer Nonchalance die Familie zusammengehalten hatte. Die einzelnen Familienmitglieder davor bewahrt hatte, einander an die Gurgel zu gehen. Obwohl sie immer betont hatte, wie wenig sie sich als Familienmensch sah. Simone stiegen die Tränen in die Augen, als sie an Irène dachte. Sie umfasste den Becher mit dem Glühwein fester. Ihr Blick kletterte die beleuchteten Fassaden der Häuser an der Oberen Brücke hinauf. Bamberg hatte sich gemausert. Es gab jetzt so etwas wie eine Szene. Ein paar buntere, kreativere Leute als damals, als sie mit dem Studium angefangen hatte. Simone kam gar nicht nach, die vielen neuen Cafés und kleinen Läden durchzutesten, die rund um das Alte Rathaus, in der Sandstraße und auf der Seite der früheren Bürgerstadt aus dem Boden gewachsen waren. Einzelne Straßen waren zu Kreativmeilen geworden. Sogar die Weihnachtsbeleuchtung in diesen Ecken und Winkeln wirkte witziger als die Behänge aus Glühbirnen mit Grünzeug, die traditionsgemäß im Auftrag der Stadt installiert wurden. Simone fragte sich, ob man in der Zeitung immer noch die aufregende Information lesen konnte, wie teuer jedes Weihnachten die Illumination der Innenstadt im Vergleich zum Vorjahr kam. Trotz aller Veränderung war eines gleich geblieben: Auf dem Weihnachtsmarkt konnte man 2012 das gleiche Kleinzeug kaufen wie seit Menschengedenken.
Vielleicht gar nicht dumm, dachte Simone. Derartig unwichtige Dinge vermittelten einem das Gefühl von Stabilität, die es im Leben in Wahrheit nicht gab. Nach dem Tod ihrer Schwiegermutter war alles aus dem Ruder gelaufen. Jean-Claude hatte eine Affäre angefangen, die neue Frau geschwängert und Simone verlassen.
Klar. Wenn man evolutionsbiologisch dachte, und das tat Jean-Claude als Biologe, dann hatte Simone ihren Nachwuchs großgezogen und brauchte keinen Mann mehr. Für Jean-Claude begann noch einmal alles von vorn. Freude und Leid. Simone stellte sich vor, wie Irène an ihrer Stelle reagiert hätte. Vermutlich mit einem Besuch im Schönheitssalon, der nicht vom Haarausfall diktiert war. Selbstverständlich hätte sie lässig mit einem Scheck ihres Mannes bezahlt.
Als Nächstes verschwand Natalie – nicht aus ihrem Leben, aber aus ihrem Alltag. Sie hatte schlicht keine Lust mehr, mit ihrer Mutter zusammenzuleben. Sie war 20. Alt genug. Simone selbst hatte schon mit 19 das Nest der Eltern verlassen. In einer WG gewohnt, aber immerhin in derselben Stadt. Natalie zog nach Paris, das war mit dem TGV nicht weit, es gab Leute, die berufsbedingt von Aix in die Hauptstadt pendelten. Paris erschien Simone wie ein anderer Stern. Im Apartment der Großmutter wollte Natalie wohnen. Sie wollte Freunde finden, Sachen ausprobieren. Ohne einen Plan. Für Natalie öffnete sich gerade die Welt.
»Schreib dich wenigstens für ein Studium ein!«, hatte Simone ihre Tochter angefleht. Auf dem Ohr war Natalie taub. Sie wollte rumgucken, testen, experimentieren. Am bittersten war das Gefühl, Natalie hätte nur auf den Moment gewartet, an dem ihr Vater auszog, um selbst ausbrechen zu können. Nichts wie weg aus dem freudlosen Haus in dem Dorf, das man von Aix mit dem Bus erreichte, aber nur bis halb sieben am Abend, nichts für ein junges Mädchen, das war Simone klar.
Ich hätte keine Kraft mehr, ein Kind aufzuziehen, dachte sie. Ein Baby vielleicht, aber die Schulzeit, die Kämpfe um Hausaufgaben und Noten. Die Pubertät, das Gerangel, die mühsam ausgefochtenen Kompromisse, die erste Liebe und die Tränenströme. Sie gab den Becher ab. Pfand war etwas Deutsches, in Frankreich unüblich. Pfand. Sie lächelte. Einfach über das Wort.
Es war schön, wieder zu Hause zu sein.
Rita saß über einen Stapel Unterlagen gebeugt, als Simone heimkam. Das Wohnzimmer quoll über vor Büchern, Notizen, Kladden, Ausdrucken, Schnellheftern, Sammelmappen. Auf dem Sofa, dem niedrigen Tisch, dem Parkettboden stapelten sich die Zeugen einer literaturvernarrten Arbeiterin.
»Hallo!«, rief Simone, während sie aus den Stiefeln schlüpfte und den Mantel an die Garderobe hängte. »Störe ich?«
»Du kannst nicht stören.« Ritas rauchige Stimme klang ein klein wenig gehetzt. Als ginge Rita nichts schnell genug. Weil so viel zu tun war und Ritas To-do-Liste nie kürzer wurde. Simone wollte nicht darauf achten.
»Arbeite ruhig weiter.« Sie streckte den Kopf ins Wohnzimmer. »Soll ich uns was kochen?«
Rita grinste. »Ich würde sagen, wir bestellen eine Pizza. Wie in alten Zeiten!«
Auch Simone lächelte. Sie und Rita hatten zusammen studiert. Sich am allerersten Tag in der Uni kennen gelernt. Simone aus Bamberg und Rita aus der Oberpfalz. Simone schüchtern und arbeitsam, ein honigblondes Mädchen, das still dabeisaß, während ihre Kommilitonen rauchend und trinkend die Welt zurechtschnitzten. Rita vorlaut und ehrgeizig, deren Meinungen damals vom linken Mainstream abwichen, was Rita in eine Außenseiterposition bugsierte, die sie nicht einmal wahrnahm. Beide stürzten sich Seite an Seite in das Studium der Germanistik, wobei Simone als Nebenfächer Französisch und Volkskunde wählte, während Rita Kommunikationswissenschaften und Archäologie belegte. Sie spielten zusammen Volleyball in der Unimannschaft, Rita war ein echter Freak, sportlich bis unter die Haarspitzen. Im Studentenheim Obere Mühlbrücken bekamen sie zwei Zimmer nebeneinander, nachdem sie eine Mitarbeiterin des Studentenwerks geschmiert hatten. Ein paar Jahre lang lebte Simone wie im Himmel, untergetaucht in der Welt der Literatur, bis das Studium vorbei war und die wirkliche Welt rief. Für Simone, die frankophile, sollte es Frankreich sein. Zunächst für ein Jahr, ein Kunstkurs an der Côte d’Azur. Dort lernte sie ein paar Männer kennen und strandete schließlich bei Jean-Claude, nachdem sie mit Natalie schwanger geworden war. Und Rita, die weltgewandte, die in allen Semesterferien erst jobbte, um den Verdienst anschließend auf einer langen Reise zu verprassen, blieb in Bamberg hängen. Sie arbeitete freiberuflich beim BR als Journalistin, manchmal als Moderatorin, nahm einen Lehrauftrag an der Uni an und unterrichtete dort Literatur des 20. Jahrhunderts. Ihre Leidenschaft.
»In alten Zeiten haben wir die Pizza tiefgekühlt bei Aldi gekauft und mit Champignons aus der Dose aufgemotzt«, unkte Simone.
Rita schob ihre Papiere zusammen. »Die Ausprägungen ändern sich, die Substanz bleibt.« Sie schnappte sich das Telefon und wählte die Nummer des Pizzadienstes.
Eine dreiviertel Stunde später saßen sie vor ihren dampfenden Tellern, eine Flasche Rotwein und eine Kerze zwischen sich.
»Auf den ersten Advent!« Simone hob ihr Glas.
»Zum Wohl!« Ritas Oberpfälzer Slang hatte sich mit den Jahren abgenutzt. »Schön, dass du hier bist.«
»Danke.« Simone wurde rot. Sie tastete nach ihren Strähnen, die jetzt ganz knapp unter ihren Ohrläppchen endeten. Beim Duschen fand sie nach wie vor viel zu viele Haare im Sieb, das sie über den Abfluss gelegt hatte. Aber sie kam sich nicht mehr so kahl vor.
»Deine Haare sind okay.«
»Kannst du immer noch Gedanken lesen?«
»Konnte ich nie.«
»Konntest du.« Simone kicherte.
»Wie du meinst.« Rita säbelte an ihrer Pizza herum. Ihre Bewegungen waren energiegeladen und robust, ob sie jemandem die Hand drückte oder eine Tür schloss. Hinter allem, was sie tat, lauerten Kraft, Tatendrang, Ungeduld. »Läufst du eigentlich immer so aufgedonnert herum?«
»Aufgedonnert?« Ehrlich erstaunt blickte Simone an sich herunter. Sie trug gestreifte Leggings, einen kurzen Jeansrock und ein langärmeliges Shirt unter ihrem Wollpulli.
»Ich meine ja nur. Geschminkt und so.«
»Geschminkt?« Verstohlen studierte Simone Ritas Gesicht. Die Züge ihrer Freundin waren scharf geschnitten, bei den Zähnen war eine Korrektur versäumt worden, und die steile Falte über ihrer Nasenwurzel zeugte von unterdrücktem Stress.
»Vergiss es«, schnappte Rita.
»Ein Lidstrich? Ein paar Tupfer Rouge?«
»Ich sagte, vergiss es.« Rita nahm ein Pizzastück in die Hand und biss hinein.
»In Frankreich«, begann Simone, »gehen die Frauen schicker auf die Straße als hier. Wenn ich in Jeans und Sweater zur Arbeit gekommen wäre …«
»Arbeit?« Kritisch zog Rita die Augenbrauen hoch.
Okay, es war ein simpler Aushilfsjob in einem Architekturbüro. Simone hatte dort ab und zu Korrespondenzen und Verträge übersetzt, wenn Deutsch benötigt wurde. Das war selten der Fall. Ansonsten war sie Hausfrau und Mutter. Mit ein paar Ehrenämtern.
»Ich …«
»Hör schon auf, dich zu verteidigen!« Rita grinste. »War nicht böse gemeint.« Sie schenkte Wein nach. Der Alkohol rötete ihr Gesicht.
Sie ist alt geworden, dachte Simone plötzlich. Warum macht sie nichts dagegen, hat sie keine Probleme mit dem Älterwerden?, fragte sich Simone, während sie ihr Weinglas nahm und einen Schluck trank.
»Morgen Abend trifft sich der Literatur- und Fresszirkel. Die Herrschaften freuen sich schon, dich kennenzulernen.«
»Ulkiger Name. Wie kam es dazu?«, fragte Simone, froh um ein neues Thema.
»Ein Haufen zusammengewürfelter Cracks, die gern lesen. Sie kommen aus ganz Nordbayern. Paare, Einzelgänger … Eigentlich sind sie aus einem Volkshochschulkurs hervorgegangen, den ich vor Jahren geleitet habe. Kreatives Lesen. Literatur mal anders.«
»Klingt spannend.«
»Deswegen haben sich die Leute eingeschrieben. Sie wollten was über Literatur erfahren, bloß ohne dieses snobistische Wissenschaftsgehabe. Die Feuilletons kannst du nicht lesen. Geschwafel hoch zehn. Die Kerle da schreiben für sich selbst und die Kollegen, nicht fürs Publikum.« Rita schnaubte.
»Ihr habt es anders gemacht?«
»Ich habe den Leuten beigebracht, wie man mit Literatur umgeht. Dass man einen Unterhaltungsroman eben nicht mit einer experimentellen Kurzgeschichte vergleichen kann.« Rita schob ihren Teller weg. Er krachte gegen den Kerzenständer.
Simone streckte die Hand aus und zog die Kerze ein paar Zentimeter weg.
»Nach dem Semester wollten die Teilnehmer einen Aufbaukurs. Der fiel einem Sparplan zum Opfer, also taten wir uns privat zusammen. Wir trafen uns anfangs bei mir zu Hause, nach jeder Sitzung steckten sie Geld in ein Sparschwein. Ich wollte eigentlich kein Honorar. Ich habe meine Jobs. Und so kam es, dass sich immer einer ums leibliche Wohl kümmerte.«
»Naturalien als Honorar!« Simone kicherte.
Rita warf ihr einen schnellen Blick zu. »Genau.« Sie schleuderte eine Packung Lucky Strike auf den Tisch. »Seitdem treffen wir uns reihum, und wer dran ist, kocht. Morgen sind wir bei Margot in Forchheim.«
Rita hielt Simone die Schachtel hin.
Weit nach Mitternacht löschten sie das Licht. Simone ging als Zweite ins Bad. Nachdenklich betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Sie waren gleich alt. Rita hatte im Mai Geburtstag, sie im Juni. Aber sie sah jünger aus. Ließ es einen altern, wenn man allein lebte? Simone hatte manchmal, wenn es mit Natalie Probleme gab und Jean-Claude sie alles allein hatte regeln lassen, darüber gegrübelt, ob es nicht stressfreier wäre, Single zu sein. Aber um nichts in der Welt hätte sie ihre Familie missen wollen. Bis …
Kein Geheule jetzt!
Sie tastete nach den Tempos in ihrem Kulturbeutel. Sie musste unbedingt eine Schachtel Kosmetiktücher kaufen. So was gab es bei Rita nicht. Während sie sich abschminkte und die wenigen Utensilien ihrer Freundin betrachtete – Zahnbürste und Zahnpasta, Seife, Nivea-Creme und eine Flasche Shampoo für Haut und Haar – grübelte sie, warum ihr Kosmetik plötzlich so wichtig schien. Weil sie in Frankreich gelebt hatte? Hoppla, du lebst weiterhin dort, schalt sie sich. Du bist nur auf Urlaub in Deutschland.
Das Haus gehörte Jean-Claude und ihr zusammen. Sie sollten bald eine Einigung finden, die Scheidung musste vorankommen. Ihre Anwältin würde sich bald melden. Wo sollte sie hinziehen? Simone wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Sie würde schon was finden. Das Haus verkaufen und mit dem Geld was Neues anfangen. Aber wo? Hier, in Bamberg? Ihre Eltern waren beide tot, vor zehn Jahren gestorben. Sie hatte keine Geschwister, nur eine Cousine in München, mit der sie nicht den geringsten Kontakt hatte. In den vergangenen Jahren hatte sie keine Verbindungen in die alte Heimat gebraucht. Sie hatte ihre Familie, einen Mann, eine Tochter, Hundertschaften befreundeter Familien, die mit Kind und Kegel an den Wochenenden bei ihnen im Dorf vorbeischauten, weil es so schön war, weil man so bald im Frühjahr auf der Terrasse sitzen konnte, weil der Blick über die Hügel einem das Herz aufgehen ließ. Mit den Jahren, mit der wachsenden Selbständigkeit der Kinder im Freundeskreis, ließen die Besuche nach, und Simone saß allein mit Jean-Claude im Wohnzimmer. Damit hatte die Entfremdung angefangen. Aus der Ferne schien Simone alles ganz einleuchtend. Kein Sex mehr, keine Unternehmungen, nur Arbeit, Ehrenämter, ihre zunehmende Unzufriedenheit, weil sie ihr Leben langweilig fand. Zweimal im Jahr fuhren sie nach Paris, wohnten ein paar Tage bei Irène, gingen in Ausstellungen und Konzerte. Genaugenommen haben wir das bloß zwei Mal miteinander gemacht, dachte Simone wütend. Danach bin ich allein gefahren.
Dann die Verwandtentreffen in Aix mit Schwägerin und Schwiegervater, Irène war meistens dabei, obwohl sie eine eher lockere Beziehung zu ihrem Mann pflegte, verdammt, jetzt flossen doch die Tränen.
Simone hatte so viel eingesteckt für Jean-Claude. Sein Vater hasste die Deutschen. Er war zu jung, um den Krieg miterlebt zu haben. Jahrgang 1943. Es war die nationale Arroganz, die den Mann im Griff hatte. So definierte er sich: Er war Franzose. Er war auf der Seite der Sieger.
Simone hockte sich auf den Badewannenrand und schluchzte leise in ihr Handtuch. Sie wollte Rita nicht wecken. Rita hätte sich diese Demütigungen nicht bieten lassen. Simone dagegen hatte die Zähne zusammengebissen und weggehört. Sie hatte nie widersprochen. Jean-Claude kam ihr nie zu Hilfe. Wenn sie über seinen Vater klagte, zuckte er lässig die Schultern und sagte: »Lass ihn, er ändert sich nicht mehr.«
Nur in einem hatte sie sich durchgesetzt. Sie sprach Deutsch mit Natalie.
Simone straffte die Schultern. Also doch keine so ganz miese Bilanz, dachte sie.
»Würdet ihr bitte eure Schuhe ausziehen?«, war das Erste, was Simone von Margot Scheinfelder zu hören bekam.
»Klar«, sagte Rita sofort. Mit lautem Poltern fielen ihre Wanderschuhe zu Boden. Es stapelten sich bereits haufenweise nasse Schuhe vor Margots Wohnungstür.
Simone schlüpfte aus ihren Stiefeln und stakte auf Zehenspitzen in die Wohnung, um nicht in die Lache aus geschmolzenem Schnee zu treten.
»Dicke Socken gefällig?«. Margot, die einen halben Kopf kleiner war als Simone, hielt ihnen resolut zwei Paar Wollsocken entgegen.
Reflexartig nahm Simone eines. Verdattert hielt sie es fest, während sie den anderen Literaturfreaks vorgestellt wurde. Da war Ivo, Single, ungefähr zehn Jahre älter als sie, der einen runden Bauch und bestimmt nicht das erste Glas Frankenwein des Abends vor sich hertrug. Horst, viel jünger, der einen Pullover mit Teddybärenaufdruck trug.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!