Käfersterben - Friederike Schmöe - E-Book

Käfersterben E-Book

Friederike Schmöe

3,8

Beschreibung

Eine spektakuläre Verbrechensserie im kalten Bamberger Frühsommer: VW-Käfer werden rituell ›erdolcht‹ und in der Stadt ›ausgestellt‹. Die Polizei glaubt an einen Spinner, doch Privatdetektivin Katinka Palfy hat schlimmere Sorgen: Warum verschwindet ihre Freundin, die Wiener Bildhauerin Dani Zanini, kurz vor einer wichtigen Ausstellung? Und wer stellte den ›erdolchten‹ Spielzeug-Käfer vor Danis Haustür ab? Als Katinka einen Hilferuf von Dani erhält, sucht sie Rat bei ihrem kunstverständigen Vater. Doch Ignaz Palfy verheimlicht seiner Tochter etwas und bringt sie damit in größte Gefahr ...

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Seitenzahl: 344

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Titel

Friederike Schmöe

Käfersterben

Katinka Palfys vierter Fall

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Vorbemerkung

Alle Handlungen und Charaktere in diesem Kriminalroman sind freie Erfindungen der Fantasie. Sollten sich Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit Personen oder Handlungen des wirklichen Lebens herausstellen, so wäre dies einer jener absurden kleinen Zufälle, wie sie das Leben ab und zu schreibt.

dmung

Zitat

There is a hole in the year

Es ist ein Loch im Jahr

Beginn

Ich werde dich umbringen.

Schon weiß ich, wie du liegen wirst. Wie du aussehen wirst.

Ich werde dich umbringen, weil du zu klug geworden bist. Du kannst lachen darüber, dass ich es endlich kapiert habe. Ja, ich kann dir das Wasser nicht reichen. Ein Triumph für dich, scheinbar. Doch nun, da ich die Freiheit habe, meine Minderwertigkeit einzugestehen, habe ich auch verstanden. Und den Mut gewonnen, den ich brauche. Vor allem den Mut.

Ich habe mein Brandmal verpasst bekommen. Von nun an gibt es nichts, was mich stoppt. Deine Wissbegierde, dein Forschertrieb, deine Lust an Fragen … sie sind dein Urteil.

Warte, Naseweis.

Ich werde dich umbringen.

1. Käfermord

Snsnsn.Der Fotograf turnte um den Tatort herum und schoss Bilder. Katinka stand neben Hauptkommissar Harduin Uttenreuther innerhalb der Polizeiabsperrung und betrachtete das Opfer.

»Kann einem ja leidtun«, sagte einer der Beamten. »Und schon der zweite in dieser Woche.«

»Glauben Sie, da ist ein Serientäter am Werk?«, rief Britta, kramte einen Schreibblock aus ihrer XXL-Tasche und pickte mit den Zähnen den Kugelschreiber aus seiner Halterung. »Beerenstrauch,Fränkischer Tag, Lokalredaktion, Sie wissen schon.«

Der Beamte feixte. »Ja, ja, wir kennen Sie. Sieht stark danach aus. Was meinen Sie, Kollege?«

Er sah sich nach Hauptkommissar Uttenreuther um. Der schob die Hände in die Jeanstaschen und sagte: »Mir kann’s egal sein. Ich habe ab morgen Urlaub.«

»Kommen Sie schon, Kommissar. Mord fällt doch in Ihr Ressort, oder?« Der Mann formte mit den Händen zwei Pistolen und schoss in die Luft.

Katinka achtete nicht auf die Frotzelei der beiden. Ihre Freundin Britta, Lokaljournalistin bei Bambergs Tageszeitung, hatte sie angerufen und zum Tatort bestellt. Schließlich sollte die einzige Privatdetektivin am Ort wissen, was seit neuestem in der Stadt abging. »Eine Mordserie der ganz üblen Art«, hatte Britta aufgeregt in Katinkas Ohr geschrieen. Nach einem flotten Spurt durch den Nachmittagsverkehr auf ihrem Fahrrad stand Katinka nun neben der ›Leiche‹ am unteren Ende der Molitorgasse und sah den Polizeitechnikern bei der Arbeit zu. Neugierige drängten sich zu Dutzenden um die rot-weißen Plastikbänder. In den engen Gassen und auf der Brücke war wenig Platz. Polizeimeisterin Sabine Kerschensteiner, die Katinka von früheren Fällen kannte, bemühte sich nach Kräften, die Gaffer wegzuschicken. Einige rissen Witze, andere empörten sich lautstark. Wörter wieSaubandefielen. Das Stimmengewirr mischte sich mit dem Rauschen des Flusswassers in den Turbinen.

Katinka umkreiste den ›Toten‹. Ein Langschwert steckte im Dach, Ströme von Blut liefen über die Seitenfenster auf das kupferbraune Blech.

»Schade drum«, murmelte Harduin Uttenreuther neben Katinka. »Tja, da hat es ein Spinner auf Käfer abgesehen. Nicht auf irgendwelche. Auf Cabrios. Letzte Woche ein orangefarbener mit schwarzem Verdeck am Heumarkt, jetzt der Counterpart.«

»Ist das Ketchup?«, fragte Katinka einen Mann im weißen Overall und deutete auf das Blut.

»Probieren Sie mal!« Er wischte mit seinem Latexfinger über die rote Masse und hielt ihn Katinka unter die Nase.

»Danke, zu freundlich«, sagte Katinka angewidert. Sie wickelte die Jeansjacke fest um sich. Dieser Sommer begann eindeutig zu kalt und zu nass.

»Wir finden die Marke schon noch raus«, sagte er. »Schmeckt nach einem Hauch Chili. Tja, bald beginnt die Grillsaison. Sie sind doch Frau Palfy, oder? Die Privatdetektivin mit dem sicheren Händchen für Leichen. Wie wäre es mit dieser hier?«

»Schickes Modell,« entgegnete Katinka. »Und wer sind Sie?« Die gönnerhafte Art des Mannes nervte.

»Fleischmann, Lutz.« Er grinste. »Ich bin auch ganz gut für Tipps, nicht nur der Herr Hauptkommissar.«

Er wandte sich wieder dem VW zu.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie in Urlaub gehen«, sagte Katinka, als sie sich wenig später mit Uttenreuther auf den Weg machte. Britta war schon davongebraust, um ihren Artikel für die morgige Ausgabe fertigzuschreiben.

Katinka war mit Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, genannt Hardo, seit ihrem ersten Fall als private Ermittlerin vor einem guten Jahr auf du und du. Sozusagen, denn sie siezten sich nach wie vor, wenn auch ihre private Beziehung irgendwo zwischen Kollegialität und Freundschaft angekommen war. Bei Teilen der Polizei schien das Anlass für flache Witze zu sein. Jedenfalls waren ihr Lutz Fleischmanns Worte so im Ohr geklungen.

»Keine Rede. Ich bleibe im Lande und läute die Kellersaison ein.«

Keller – Katinka atmete das Wort ein und spürte, wie es sich wohlig in ihrem Körper ausbreitete. Die Bamberger Bierkeller hatten wirklich ein ganz besonderes Flair. Die Wirtschaften unter freiem Himmel befanden sich auf den Hügeln der Stadt, über den ehemaligen Kühlkellern der Brauereien. Ab dem späten Frühjahr pilgerten Bamberger und Gäste bergauf, um die lauschige Atmosphäre und natürlich nicht minder den frisch gebrauten Gerstensaft zu genießen.

»Bisschen kühl noch«, gab Katinka zu bedenken, während sie über die Obere Brücke liefen. Der Mai hatte sich warm und sonnig angekündigt, bei der Stab-übergabe an den Juni jedoch geschwächelt. Die Temperaturen lagen bei wenig überzeugenden 14 Grad, und ein scheußlicher Wind fegte in Böen über die Stadt. »Sie werden sich warm anziehen müssen.«

»Schafskälte nennt man das. Fällt Ihnen nichts auf?«

»Was denn!«

»Ich habe den Fall für Sie freigegeben.«

Hardo grinste sie an. Sommers wie winters in Jeans und Holzfällerhemd, seine altbekannte Lederjacke drüber, Turnschuhe an den Füßen, wirkte er äußerlich überhaupt nicht wie ein Polizist. In seinen grauen Augen aber glomm stete Wachheit, eine Aufmerksamkeit, der nichts und niemand entging.

»Sie können mich mal«, sagte Katinka. »Nur weilsie mich schon oft genug aus den Ermittlungen raushaben wollten, stoße ich jetzt bestimmt keine Jubelschreie aus. Was soll ich mit dem Fall? Solange ich keinen Auftraggeber habe, der mich bezahlt …«

Er hob die Hände.

»War nicht böse gemeint, Palfy.«

»Schon o.k.« Sie riss sich zusammen, schließlich konnte man Uttenreuther eines nicht vorwerfen: nachtragend zu sein. Also wollte sie in nichts nachstehen. »Trinken wir noch einen Kaffee?«

»Warum nicht.« Hardo öffnete die Tür zum Café Riffelmacher. »Das Einzige, was ich heute noch tue, ist, meinen Schreibtisch aufzuräumen.«

Sie setzten sich an einen Tisch beim Eingang. Ka-tinka war dankbar um den bullernden Ofen in der Ecke.

»Der Käfer eben«, sagte sie. »Der hatte kein Bamberger Kennzeichen. Einen Milchkaffee, bitte.«

»Eine heiße Schokolade«, sagte Hardo. »Scharf beobachtet. Der erste auch nicht.«

»Wie lange dauert das, bis Sie den Halter ermitteln?«

»Geht flott. Haben die Kollegen bestimmt schon erledigt.«

Katinka fuhr mit dem Zeigefinger über die Zuckerdose.

»Sie brauchen auf lange Sicht einen Informanten bei der Zulassungsstelle«, sagte Hardo. »Als Detektivin, meine ich.«

Katinka lächelte abwesend. Sie hatte gar nicht richtig gehört, was er sagte. Sie dachte über etwas nach.

»Diese Morde, wenn man sie so nennen kann, sind mir unheimlich.«

Hardo betrachtete sie ruhig. Wie immer, wenn er aufmerksam zuhörte, hefteten sich seine Augen wie Scheinwerfer auf seinen Gesprächspartner. Katinka spürte, wie sie unsicher wurde. Oft genug peinigte sie der Eindruck, seinen Erfahrungen und seinem Wissen nicht gewachsen zu sein. Er hatte in seinen knapp dreißig Jahren bei der Polizei einfach einen viel zu großen Vorsprung. In schwachen Momenten glaubte sie, ihn niemals einholen zu können. Aber selbst wenn ihr der Wind um die Ohren pfiff, wollte sie sich den Mut nicht nehmen lassen.

»Seit Anfang der Woche findet doch dieses Oldtimer-Treffen statt«, sagte sie. »Es stand in der Zeitung. Da sind sicher auch Käfer dabei.«

»Ja. Und?«

Katinka zog den Kopf ein. Ja. Und. Ihm war natürlich alles klar, während sie selbst laut grübelte. Verlegen wischte sie sich über die Stirn. Schön blöd. Hättest du dir doch denken können, dass Hardo auch schon das Oldtimer-Treffen in Betracht zieht.

»War nur laut gedacht.«

Die Getränke kamen. Katinka wärmte sich die Hände an der Milchkaffeeschale.

»Die Kollegen haben die Autofans schon befragt. Der Käfer von Anfang der Woche gehörte keinem der Teilnehmer. Der Besitzer ist ein Urlauber, der auf dem Weg in den Süden in Bamberg Station gemacht hat. Ein junger Student, er hat in der Jugendherberge in der Wolfsschlucht übernachtet.«

»Der arme Kerl. Sein Urlaub ist damit wohl zu Ende.«

»Höchstwahrscheinlich.«

Katinka verrührte den Milchschaum.

»Mir kommt das Ganze so … rituell vor.«

»Eine Inszenierung?«

»So in der Art. Wenn ich jemandem das Auto kaputtmachen will, dann ist nichts einfacher, als mit einem Pfennigsnagel einmal über den Lack zu gehen.«

Hardo hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

»Der Täter musste in das Schwert investieren. Es sah teuer aus. Dann musste er Ketchup kaufen. Da kann er das billigste genommen haben. Was ich meine … Warum das alles?«

»Das Schwert ist eine interessante Sache«, meinte Hardo. »Solche Schwerter findet man gar nicht häufig. Es sind Samuraischwerter, die haben einen speziellen Griff, extra Schneide, besonders geschwungen, was weiß ich. Und Sie haben recht: So eine Waffe ist teuer. Ab 300 Euro sind Sie dabei. In der vorliegenden Ausführung kosten sie bestimmte einiges mehr.« Er schob seine Tasse hin und her. »Die Kollegen haben sich drangemacht, entsprechende Anbieter zu ermitteln. Es gibt in ganz Europa eine Reihe von Spezialgeschäften. Aber auch die üblichen Waffenläden verkaufen welche.«

Er trank seine Schokolade in einem Schluck leer.

»Und es ist nicht verboten, Schwerter zu kaufen, richtig?«, fragte Katinka.

»Exakt.« Er lächelte. Wie immer sprang das Lächeln einmal von Mundwinkel zu Mundwinkel und erlosch.

Katinka seufzte.

»Im Internet findet man wahrscheinlich unzählige Anbieter. Ohne einen Verdächtigen ist es quasi unmöglich, herauszufinden, wo die Schwerter gekauft wurden. Und von wem.«

»So ist es.« Hardo bestellte eine zweite Tasse. »Außerdem kann man Schwerter wie alle Waffen an ganz anderen Orten kaufen als in offiziellen Geschäften oder im Internet. Aber Sie wollen den Fall ja nicht.« Er strich sich über den völlig kahlen Schädel.

Katinka musste grinsen. Das war ein altes Spiel zwischen ihnen. Katinka hatte auf Hardos Intervention hin schon in drei Mordfällen die Ermittlungen aufgeben müssen. Es war ihr jedoch jedes Mal gelungen, auf Umwegen mitzurecherchieren und auch zu ihrem Honorar zu kommen. Ihr war schon klar, weshalb er ihr diesmal den Fall so großzügig anbot: Es war kein Mord. Nur ein Käfermord, falls man so wollte, eine wenn auch extrem mutwillige Sachbeschädigung. Kein Kapitalverbrechen. Und Hardo hatte Urlaub.

»Warum fahren Sie nicht wieder nach Südamerika?«, wollte Katinka wissen, während die Bedienung ihm die zweite Tasse servierte.

»Bin ich Rockefeller? Außerdem war die Reise damals eine Ausnahme. Ich bin ein bodenständiger Typ. Erdverbunden. Ein echter Franke eben. Nicht so kosmopolitisch wie Sie.«

Katinka lachte. Er spielte auf ihre Wiener Herkunft an.

»Auch als bodenständiger Mensch kann man verreisen.«

»Sie kennen meinen Gehaltszettel nicht. Vielleicht fahre ich in die Fränkische Schweiz. Wandern. Habe ich ab und an mit meiner Tochter gemacht. Gehen Sie gerne wandern?«

Katinka zuckte zusammen, als er seine Tochter erwähnte. Hardo war geschieden. Seine Tochter Sybille war vor einem guten Jahr tödlich verunglückt. Sie hätte überleben können, doch der einzige Zeuge des Unfalls war davongefahren, ohne ihr zu helfen. Erst im Zuge der Ermittlungen in einem anderen Fall war die eigentliche Unfallursache geklärt worden, und Hardo hatte sich danach für einen Monat nach Südamerika abgesetzt. Katinka wusste nicht, ob er inzwischen über den Tod seiner Tochter hinweggekommen war. Sybille war seit seiner Scheidung vor langen Jahren der einzige Mensch in seinem Umfeld, zu dem er eine wirklich tiefe Beziehung pflegte. Er hatte nie wieder auch nur ein Wort über den Unfall verloren.

»Früher bin ich ganz gerne wandern gegangen«, sagte Katinka. »Aber ich bin lange nicht dazu gekommen.« Sie streckte sich. »Sie bringen mich auf eine Idee. Ich könnte meine Bude auch mal ein paar Tage zumachen.«

Hardo legte die Stirn in Falten.

»Kann sich die Jungunternehmerin Palfy das leisten?«

»Immerhin habe ich mich nun schon anderthalb Jahre mit der Detektei ernährt », sagte Katinka überzeugt. »Und seitdem keinen Urlaub gemacht.«

Hardo schüttete die heiße Schokolade in sich hinein und stellte die Tasse ab. »Dann gehen wir die nächste Woche mal zusammen los«, schlug er vor. »Das Wetter soll ja besser werden.«

»Gern«, sagte Katinka. »Wie lange halten Sie sich vom Büro fern? Ich meine, nur zu meiner Info, falls ich wieder über eine Leiche stolpere.«

»Vierzehn Tage. Mehr ist nicht drin. Aber für Sie bin ich immer erreichbar. Wählen Sie meine Handynummer.«

Er wollte für sie beide bezahlen. Katinka kam ihm zuvor und legte das Geld auf den Tisch. »Diesmal geht’s auf mich.«

Hardo murmelte irgendwas von modernen Frauen. Vor der Tür trennten sie sich.

»Warten Sie mal, Palfy.«

Katinka sah zurück.

»Floriane Riegl.«

»Bitte?«

»Zulassungsstelle.« Hardo blinzelte. »Mit schönen Grüßen von mir. Für den Fall des Falles.« Er stapfte davon. Ein winziger Rest seines nach Ozean duftenden Aftershaves wirbelte durch die Luft und verflog.

2. Die Künstlerin

Die Katastrophe schlug am nächsten Tag zu. Es war ein Freitag. Wie alle Katastrophen brach sie sich zu nachtschlafender Zeit Bahn, als penetrantes Klingeln des Telefons. Noch am Abend zuvor war es Katinka mit unerwarteter Leichtigkeit gelungen, ihren Freund Tom zu einem verlängerten Wochenende zu überreden. Üblicherweise weigerte er sich, seinen Schreibtisch, an dem er als freiberuflicher Programmierer schuftete, länger als für eine Mahlzeit oder einen Kinobesuch zu verlassen. Außergewöhnlich genug, dass er diesmal entspannt reagiert hatte. Er lag bei dem Auftrag, an dem er gerade arbeitete, gut in der Zeit. Sie beschlossen, gleich am folgenden Nachmittag nach Thüringen zu fahren und eine Rennsteigwanderung bis Sonntag oder Montag in Angriff zu nehmen. Das schlechte Wetter wollten sie ignorieren. »Schafskälte hin oder her«, sagte Tom. »Es ist nur einmal Juni im Jahr.«

Doch nun läutete sich das Desaster in den erwachenden Tag. Katinka streckte den Arm aus und tastete nach dem Apparat. Vor ihren kurzsichtigen Augen verschwammen die Gegenstände auf ihrem Nachtkästchen zu konturlosen Wassertieren. Ein leises Klirren verriet, dass ihre Brille auf den Boden gerutscht war. Stocksteif blieb Katinka halb im Bett sitzen. Nur ja nicht drauftreten. Es dauerte eine Weile, bis sie das schnurlose kleine Telefon erwischte. Neben ihr rumorte Tom.

»Palfy?«

»Katinka? Ich muss den Jungen sprechen.«

Katinka erkannte sofort die Stimme von Toms Vater. Sie nahm den flirrenden Unterton wahr. Während sie über den Flickenteppich vor ihrem Bett nach ihrer Brille tastete, sagte sie:

»Moment, ich gebe das Telefon weiter.«

Tom starrte sie verschlafen an.

»Dein Vater.«

»Hallo?«

Es brauchte nur wenige Sätze, bis er die Aus-Taste drückte.

»Meine Mutter ist ins Krankenhaus gekommen. Sie hat einen Schlaganfall. Heute Nacht ist es passiert.« Verwirrt starrte Tom auf das Telefon in seiner Hand.

Katinkas tastenden Finger blieben über dem Teppich schweben.

»Wie … wie geht’s ihr?«

»Mein Vater rief vom Krankenhaus an. Ich muss nach Berlin fahren!«

Tom war, wie er gerne betonte, als Berliner im fränkischen Bamberg auf verlorenem Posten. Dennoch fuhr er fast nie zu seinen Eltern. Katinka war nur zweimal mit ihm dort gewesen, in einer unterschwellig aufgeladenen Stimmung, ohne dass sie den Grund dafür kannte. Alle sprachen höflich und freundlich miteinander, doch eine hauchfeine Kälte lauerte stets im Raum, wie ein zu früh herbeigewehter Herbst. Tom sprach nicht gerne über seine Kindheit und seine Familie. Katinka nahm an, dass irgendwelche unausgegorenen Konflikte aus alten Zeiten in den Kellern gärten.

Endlich hatte sie die Brille zwischen ihren Fingern. Sie setzte sie auf. Nun sah sie Toms Haar gestochen scharf von seinem Kopf abstehen wie Igelstacheln.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Tom saß nur da und starrte auf die Bettdecke.

»Sie hatte schon immer hohen Blutdruck. Mit ihrer Gesundheit ging sie völlig unvorsichtig um. Sie interessierte sich nicht dafür. Und jetzt …« Er boxte mit der Faust auf sein Kissen.

Katinka strich mit dem Zeigefinger über sein blasses Gesicht. Über die Augenbrauen, seine hohen Wangenknochen, sein Kinn. Winzige Bartstoppeln kitzelten sie.

»Wenn sie schnelle Hilfe bekommen hat, stehen die Chancen gut, dass sich alles wieder einrenkt«, sagte sie leise.

»Jaja«, sagte Tom. »Dreißig Minuten, sagt man. Was länger dauert, ist schon fast ein Todesurteil. Oder die Verurteilung, als Krüppel vegetieren zu müssen.«

Katinka wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kuschelten sich zwischen die Decken. Um halb sechs standen sie auf. Tom duschte, und Katinka kochte Kaffee. Kater Vishnu lag auf dem Küchentisch und leckte sein rotgetigertes Fell.

»Ich fahre gleich«, sagte Tom. »Ich bin unruhig.«

»Wenn du willst, komme ich mit.«

»Lieb von dir.« Tom küsste sie auf die Wange. Es war ein flüchtiger Kuss, wie eine kurze Bewegung, um Krümel vom Tisch zu wischen. »Aber ich denke, ich fahre allein. Es gibt Dinge zu klären.«

Katinka wollte fragen, welche Dinge, aber sie ließ es bleiben. Tom würde keinen Nerv haben, gerade jetzt darauf zu antworten.

»Jedenfalls kann ich nachkommen. Wenn es nötig ist. Ruf einfach an.«

Er nickte, schnappte sich eine Tasse Kaffee, klickte sich ins Internet und suchte sich einen Zug heraus. Fluchte, weil der Drucker die Fahrkarte nicht gleich ausspuckte. Katinka brachte ihn zum Bahnhof. Sie war erleichtert, dass er nicht mit dem kränkelnden Ford Fiesta fuhr. Der hätte es wahrscheinlich nicht mal mehr bis Hof geschafft. Irgendetwas klapperte hinterhältig im Motor. Sie parkte, und Tom sprang aus dem Wagen, seine Sporttasche über der Schulter.

»Ruf an«, bat sie und küsste ihn zum Abschied. Es war ihr, als ob er sie gar nicht hörte.

Sie fuhr nach Hause. Noch betäubt von Toms plötzlicher Abreise, der kurzen Nacht und dem Schreck über den Schlaganfall seiner Mutter, stellte sie das Auto im Anwohnerbereich ab und trabte über die Straße. Die Zeitung lag wie immer auf der Treppe. Katinka schloss die Wohnung auf und ging hinein. Soviel also zu der Idee, Urlaub zu machen, dachte sie. In der leeren und stillen Wohnung spürte sie der Traurigkeit über das unerwartete Alleinsein, das zerstörte Wochenende nach. Natürlich schob sie nicht Tom den Schwarzen Peter für diese Sache zu, im Gegenteil, sie empfand tiefes Mitleid und sehnte sich nach ihm, stellte sich vor, wie er in vier Stunden am Bahnhof Zoo ankäme, in die Klinik fuhr, sich vor dem fürchtete, was ihn dort erwartete. Jetzt bedauerte sie, nicht mitgefahren zu sein. Es mag alles nochmal aufzufangen sein, dachte Katinka.Aber sie wusste genau, dass auch das Gegenteil zutreffen könnte. Seine Mutter mochte von heute auf morgen ein Pflegefall werden oder gar sterben. Katinka fragte sich, wie sie dann weitermachen würden. Ob Tom zurück nach Berlin ziehen würde. Britta hatte sie vor kurzem gefragt, weshalb sie und Tom eigentlich nicht heirateten. Nicht einmal davon redeten. Nichts planten. Katinka würde im September dreißig, Tom war zwei Jahre älter. Britta fand, dass man ab der 3 vor der zweiten Zahl mal näher wissen sollte, wie man weiter vorging.

»Ihr lebt in den Tag hinein, als könnte alles immer so beschaulich bleiben«, hatte sie gemahnt. »So eine Beziehung ist Schwerstarbeit. Man braucht klare Grundlagen.«

Katinka schnaubte. Britta hatte gut reden. Sie lebte von einer lockeren Beziehung zur nächsten, genoss die glücklichen Momente, betrog auch mal einen Lebensabschnittsgefährten mit einem anderen Mann, wenn ihr der nur attraktiv oder exotisch genug schien. Nun war sie allerdings bereits mehr als zwölf Monate so gut wie durchgehend mit ihrem Journalistenkollegen Alban Hanke zusammen. Vielleicht plant sie was, dachte Katinka, während sie die wenigen Frühstücksreste aufräumte. Vielleicht heiratet sie Alban. Selbstverständlich gibt es dann eine gigantisch inszenierte, glamourmäßige, absolut stilsichere Hochzeitsfeier. Insgeheim bewunderte Katinka den Geschmack ihrer Freundin, wenn sie sich auch mittlerweile damit abgefunden hatte, einen anderen Typ Frau zu repräsentieren: den Kumpel, nicht den Vamp. Aber wenigstens auch nicht das Lieschen, dachte Katinka, grinste und schlug die Zeitung auf.

Mysteriöse ›Käfer-Morde‹ in Bamberg – Bisher schon zwei Cabriolets erdolcht

Katinka überflog Brittas Artikel. Die Quintessenz war, dass die Polizei noch keine heiße Spur hatte, jedoch Verbindungen zum aktuellen Youngtimer-Treffen in Bamberg vermutete.

Youngtimer, dachte Katinka, was sind denn Youngtimer. Sie fand die Antwort auf der folgenden Seite.

Einst Papas ganzer Stolz – Youngtimer-Bewegung hegt und pflegt die Autogeneration von den späten Sechzigern bis zu den frühen Achtzigern.

Zum ersten Mal hörte sie davon, dass sich in der Youngtimer-Szene Leute zusammengefunden hatten, die die Automodelle der Vätergeneration restaurierten. Manche von ihnen Schickimickis, die den Trend zum älteren Auto zur Mode machen wollten, andere wieder Liebhaber mit schmalem Geldbeutel, deren Herzen für den Opel Olympia oder den Ford Granada schlugen, möglichst garniert mit Häkelmütze und besticktem Sofakissen auf der Hutablage. Katinka musste grinsen, als sie die Fotos studierte. Die eckigen Formen der Autos waren ihr noch seltsam vertraut. Wenn sie als Kind ein Auto gezeichnet hatte, dann sah es aus wie eine Schuhschachtel auf Rädern. Während sie sich einen frischen Kaffee aufbrühte, dachte sie darüber nach, in welchem Zusammenhang die Youngtimer-Freaks mit den Käfermorden stehen konnten. Autofans, die Autos zerstörten? Noch dazu den Käfer, Sinnbild des unbeschwerten Lebens im Wohlstand, der gleichzeitig als alter Kumpan des Menschen gesehen wurde, zumal seit den Herbie-Filmen? Oder ging es genau darum? Ein Symbol für das Wirtschaftswunder zu ›ermorden‹? Warum die teuren Schwerter? Gab es wildgewordene Samurais in der Stadt, die, statt Harakiri zu begehen, Cabrios erdolchten? Wozu so eine aufwändige Beschädigung? Bei Autos genügte es in der Regel, sie gegen eine Wand zu fahren.

Es juckte sie in den Fingern, Hardo anzurufen. Aber sie unterließ es. Nicht so früh morgens, wo er doch Urlaub hatte.

Apropos, Urlaub. Katinka beschloss, sich ihr ganz privates, verlängertes Wochenende zu gönnen. Der Tag glänzte, ein kühler, aber dennoch endlich sonniger Junitag. Sie trank ihren Kaffee aus, warf die Zeitung auf den Altpapierhaufen, wischte die Müdigkeit beiseite, packte ihre Badesachen zusammen und verließ das Haus.

So früh morgens lag das Hainbad fast verwaist da. Katinka suchte sich einen Platz nah am Fluss. Noch behielt sie ihren Pullover an, aber die Sonnenstrahlen neckten und lockten und nährten die Hoffnung, dass das Wetter bald sommerlicher und wärmer würde.

Sie hatte sich ein Buch mitgenommen, konnte sich jedoch auf die Figuren in den Erzählungen nicht konzentrieren. Sie sah wieder das eingetrocknete Ketchup auf der Karosserie und den schön geformten Griff des Schwertes vor sich, den glatten Schnitt im Dach des Cabrios. Entnervt legte sie das Buch mit den Seiten nach unten auf ihre Isomatte, rollte sich auf den Bauch und sah den wenigen Eisenbereiften zu, die sich in das braune, kalte Flusswasser wagten.

Die Käfermorde strahlten etwas Beklemmendes aus. Es kam ihr vor, als reflektierte in ihnen Bösartigkeit und Heimtücke, etwas, das noch nicht ins Sichtfeld gekrochen war, aber nur darauf lauerte, bei passender Gelegenheit sein brutales Gesicht zu zeigen. Wer ein Auto rituell ›ermordete‹, ging der unter Umständen auch auf Menschen los? Sollte das Ganze ein Vorspann sein? Eine aufwendige Warnung mit scharfen Umrissen, direkter und angsteinflößender als ein Drohbrief? Katinka fragte sich, warum der Täter Käfer gewählt hatte. Warum Cabrios. Vermutlich, weil das Schwert besser ins Dach eindrang.

»Youngtimer«, murmelte sie vor sich hin. »Käfer. Wagen fürs Volk. Papas Autogeneration. Samurai-Schwert. Ketchup. Zwei Leichen pro Woche.«

»Katinka?«

Sie schrak zusammen, wälzte sich auf die Seite und richtete sich auf. Vor ihrer Matte stand eine Frau ihres Alters, mit unsicherem Gesichtsausdruck und schwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren.

»Helfen Sie mir mal auf die Sprünge?« Katinka stand auf und wischte sich die Hände an den Shorts ab.

»Es wird ein Satz reichen, damit du mich erkennst«, sagte sie. »Oder schau meine Hände an. Solche Schwielen findest du nicht häufig, nicht bei einer Frau.«

»Dani!« Der unverwechselbare, weiche Wiener Akzent, Klang ihrer Kindheit, schmeichelte Katinkas Ohren. »Hat’s dich mal wieder nach Franken verschlagen? Warum hast du nicht angerufen!«

Sie fielen einander um den Hals. Katinka konnte es kaum glauben: Ihre alte Freundin aus Kindertagen, Dani Zanini, wie Katinka selbst gebürtige Wienerin, stand vor ihr.

»Letztes Mal hattest du aber blonde Haare«, grinste Katinka.

»Walnussbraun«, verbesserte Dani. »Ich probiere ab und zu mal was anderes aus. Jetzt habe ich meiner Naturfarbe ein wenig die Hand gereicht. Und du hattest längere Haare.«

Katinka fuhr sich durch den braunen Haarschopf. »Die Länge ist eine Sache des Lebensgefühls«, sagte sie. »Je kürzer, desto frischer.«

»Du bist also absolut gut drauf«, stellte Dani lachend fest. »Stehen dir gut, die Fransen.«

»Bist du zum Schwimmen hergekommen?«, fragte Katinka.

»Und du bist hergekommen, um mit den Flussgeistern zu verhandeln? Oder warum sprichst du mit dir selbst!«

Katinka lachte. »Das kommt später. Erzähl du zuerst.«

Dani warf ihre Sachen auf das Gras. Sie rollte eine Bastmatte aus, schlüpfte aus ihrem Kleid und machte es sich im knappen Bikini auf ihrer Unterlage bequem. Ungeduldig setzte Katinka sich wieder hin. Gedankenfetzen wirbelten durch ihren Kopf. Dani, die schöne, erfolgreiche Dani.

»Bist du Bildhauerin geblieben?«, fragte sie, immer noch atemlos vor Überraschung. Beim Anblick von Danis perfekten Formen erinnerte sie sich wieder, wie Dani während ihrer Studienzeit Katinka als Aktmodell gewonnen hatte. Beide mussten sich in jenem Januar erst ein wenig Mut antrinken, bevor sie in einer Werkstatt des Lehrstuhls für Kunstpädagogik an die Arbeit gegangen waren. Eine halbe Flasche Cognac war draufgegangen, und sie hatten gekichert wie die Teenager. Die fertige Plastik hatte Dani nie zum Verkauf gegeben. Katinka besaß sogar ein Foto von ihrem Ebenbild aus Speckstein.

Dani ölte ihre Beine mit Sonnenschutz ein.

»Weißt du noch, deine Plastik? Damals war ich ein paar Wochen in Bamberg, weil ich ein Seminar über Bildhauerei an der Uni gegeben habe. Jedenfalls, die nackte Katinka, die steht in meinem neuen, eigenen Haus.«

»Ich habe eben auch dran gedacht. Aber wieso eigenes Haus?«

»Das ist der Grund meines Besuches in Bamberg«, sagte Dani und lächelte sybillinisch. »Soll ich von Anfang an erzählen? Oder holen wir uns erst einen Kaffee!«

»Den Kaffee hole ich«, sagte Katinka. Danis Vorbereitungen dauerten ihr entschieden zu lange.

Als sie wenige Minuten später wieder zurück war, hatte Dani sich wie hingegossen auf ihrer Matte platziert. Ihre kräftigen Armmuskeln standen in eigentümlichem Gegensatz zu ihrem grazilen, schlanken Körper. Katinka wusste, dass Bildhauer unter großem Körpereinsatz arbeiteten. Dani sah man die Kraft an.

Katinka stellte die Tassen ab.

»Schieß los.«

Träge griff Dani nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck.

»Hm, feines Stöffchen. Also. Eigentlich bin ich die letzten Jahre so durch die Welt getingelt. Du hast meine Mails wohl bekommen.«

»Eine pro Jahr, wenn’s hoch kommt«, lachte Katin-

ka. »Außerdem waren das Massenmails, so eine Art detaillierter Lebensbericht für circa hundert Freunde in aller Welt.«

»Du hast schon recht, das ist nicht die feine Art. Aber ich hatte wenig Zeit. Ich war in Berlin, in Kiew, in Warschau. Seit meine Eltern gestorben sind, hat es mich nicht mehr in Wien gehalten. Ich habe Ausstellungen meiner Plastiken gemacht. Es ging immer um das Thema ›Frau‹. Ich bin keine erklärte Feministin, aber für Frauenthemen kriegst du in der Kunst überall Förderungen.«

»Klingt spannend.« Katinka nippte an ihrem Kaffee und verbrannte sich prompt die Lippen. Sie wusste, dass Danis Eltern vor vier Jahren bei einem Fährunfall im Mittelmeer umgekommen waren. Gänsehaut kroch über ihre Schultern, wenn sie an Danis lange Trauerzeit dachte und an die Krisen, die sie der Reihe nach durchmachte, ohne Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Umso besser, dass sie mittlerweile in ihrem Beruf Erfüllung gefunden hatte.

»Inzwischen wurden mir ziemlich viele Stücke weggekauft. Ich habe echt viel Geld verdient, also fragte ich mich, ob ich eine teure Studienreise nach Vietnam mache, wo ich schon immer mal hinwollte, oder ob ich in meine berufliche Zukunft investiere.«

Dani räkelte sich und blickte auf den Fluss.

»Sag bloß, die schwimmen da drin. Der Fluss muss ja voller Wasserratten sein.« Sie warf einen zweifelnden Blick auf die wenigen Badenden, die sich in der braunen Strömung treiben ließen.

»Und Bisamratten«, sagte Katinka ernsthaft.

Dani nickte anerkennend.

»Tolle Fauna, die ihr hier habt. Also: Ich habe mich für meine berufliche Zukunft entschieden. Meine Investition ging von der Überlegung aus, dass ich ein neues Konzept für zukünftige Ausstellungen brauchte. Die nächste findet im Oktober in Straßburg statt. Immer nur im Frauenbrei rumrühren, das ist nichts für mich. Und nach langem Überlegen habe ich mein Motto gefunden.«

Katinka reagierte nicht. Dani käme schneller ohne Zwischenfragen zum Thema.

»Ich packe das Frauenfähnlein ein und konzentriere mich auf Mensch und Natur. Doziere ich dir zuviel?«

»Keineswegs.« Katinka unterdrückte ein Grinsen.

»Ich verbinde in meinen Skulpturen Mensch und Natur. Der Mensch geht in Muster, Konturen und Formen aus der Natur über. Kannst du dir eine Vorstellung machen? Sag schon!«

»Nein. Gib mir ein Beispiel.«

»Ein Menschentorso. Die Schultern werden ganz allmählich zu Flügeln eines Schmetterlings. Alles Überflüssige wird weggelassen. Das meiste ist überflüssig. Nur der Kern, das lebende Innere der Form, wird dargestellt.«

Katinka tat so, als habe sie eine ungefähre Vorstellung.

»Das Motto heißt: ›Mensch – Kontur – Natur‹. Ich habe drei Prototypen geschaffen, zwei aus Gips, eine aus Holz, alles eingeschickt und bin vom Straßburger Kunstverein genommen worden. Sie waren regelrecht enthusiastisch. Brrr.« Sie zog fröstelnd die Schultern hoch. »Doch noch ein bisschen kalt fürs Ganzkörper-Sonnenbad.«

»Ein toller Erfolg. Aber wo kommt Bamberg ins Spiel, und was ist das für ein Haus?« Katinka krempelte schaudernd die Ärmel ihres Pullovers wieder herunter. Wie Dani im Bikini herumsitzen konnte, war ihr völlig unverständlich.

»Du bist immer noch so neugierig und ungeduldig wie früher«, lächelte Dani und genoss es sichtlich, Katinka auf die Folter zu spannen. »Deswegen hast du dir auch einen neuen Beruf gesucht, richtig? Wegen der Neugier.«

»Erzähl du mir deins, dann erzähl’ ich dir meins«, sagte Katinka beherrscht. Sie mochte es nicht, wenn man ihr Neugier als Motivation für die Tätigkeit als Privatdetektivin vorwarf. Das war fast so schlimm wie die Bezeichnung ›Schnüffelnase‹ und hatte mit ihrem Beruf überhaupt nichts zu tun. Es mochte zwar stimmen, dass sie von Wissensdurst und einer permanenten Angespanntheit durch ihre Fälle getrieben wurde. Aber sie war ganz bestimmt kein Voyeur, und wenn im Verlauf von Ermittlungen das Privatleben anderer Leute zur Sprache kam, war ihr das meistens hochnotpeinlich.

Dani trank ihren Kaffee aus und stellte die Tasse ab.

»Ich habe, wie gesagt, viel Geld verdient. Ich wollte es in meine Zukunft investieren. Ich hatte diese Idee mit Mensch und Natur und ich hatte die Zusage aus Straßburg. Nun kommt der harte Teil der Erfolgsstory: Ich muss ausreichend Skulpturen machen, außerdem ziemlich viel theoretischen Unterbau für den Katalog zusammenstellen, ein bisschen in die Organisation eingreifen und so weiter.« Sie fuchtelte mit ihren großen Händen in der Luft herum. »Also brauchte ich ein Refugium. In Franken war ich ja immer nur kurz, nur auf Besuch, aber es hat mir hier einfach prächtig gefallen. Die sanften Hügel, die Dörfer, wie alles so fließend zueinander findet … Im Sommer glänzt hier ein ganz warmes, hinreißendes Licht. Die Landschaft schmeichelt meinem Sinn für Formen. Übrigens, ganz in der Nähe von Bamberg, Richtung Jura, hat sich auch gerade eine Künstlerclique eingenistet. Holzhof heißt das Kaff. Die Gegend hier hat wohl was, das uns Künstlervolk besonders anspricht.«

Dani rieb mit den Händen über ihre Arme.

»Also sah ich mal in ein paar Zeitungen, und da wurde ein altes Holzhaus zum Verkauf angeboten.« Sie zog die Schultern hoch und suchte sich ein Handtuch aus ihrer Tasche. »In der Fränkischen Schweiz. Es diente früher einem Gutshof als Scheune. Der Hof ist vor zwanzig Jahren abgebrannt, und der Erbe hat die Scheune zu einem Ferienhaus umgebaut. Alles sehr einfach, aber funktionstüchtig, inklusive Bad, Küche und Internetanschluss. Nun ist der Besitzer alt und grau und wollte das Haus loswerden. Tja, so bin ich Datschenbesitzerin geworden.«

Katinka staunte. Dani erzählte so locker flockig, als würden Träume von Natur aus einfach irgendwann wahr, kämen auf den Flügeln von Nachtfaltern angeschwebt.

»Ich bin beeindruckt«, sagte Katinka schließlich. Ärgerlich spürte sie, wie sie ein wenig neidisch wurde. Es musste himmlisch sein, weit ab vom Schuss mit den eigenen Gedanken zu arbeiten und etwas Neues zu erschaffen. Schnell schluckte sie das dumme Gefühl herunter. »Und dort verschanzt du dich jetzt, bis deine Kunstwerke fertig sind?«

»Ich habe vor, bis Ende September zu bleiben. Dann wird das Sommerhaus für eine Weile geschlossen. Ach, Katinka, es ist ein Traum, liegt total abseits, keine Nachbarn, kein Lärm, keine Rasenmäher, nur Vogelgesang, der Wind summt in den Wipfeln der Buchen und Birken. Ich habe zwei Wohnräume, eine große Küche, ein winziges Bad. Dann einen riesigen Raum, den ich als Atelier nutze. Perfekte Lichtverhältnisse. Das Grundstück endet irgendwo weit unten an der Straße.« Sie schlang sich das Handtuch um die Schultern. »Was fehlt, ist ein See oder irgendein anderes Wasser, zum Baden. Ich fuhr heute Morgen nach Bamberg, weil ich ein bisschen shoppen wollte, und bei der Parkplatzsuche geriet ich hier in diese Ecke. Und ich traf dich.«

»Du hättest ruhig mal anrufen können!«, sagte Ka-tinka. Sie schaffte es nicht ganz, einen vorwurfsvollen Ton anzustimmen. Sie freute sich zu sehr, Dani wiederzusehen. Schon war da etwas Leichtes, Fröhliches in ihrem Bauch.

Dani ignorierte den Einwurf.

»Jetzt zu dir. Du bist Privatdetektivin. Wie viele Mörder hast du schon überführt?«

»Drei!«, sagte Katinka und rechnete demonstrativ an den Fingern ihrer rechten Hand nach. »Außerdem habe ich eine Menge unspektakuläre Fälle geklärt. Chefs verdächtigen ihre Mitarbeiter, für die Konkurrenz zu arbeiten. Senioren kehren von einem Spaziergang ins falsche Altenheim zurück. Dann gibt’s Fälle von Unterschlagung, Betrug oder Diebstahl. Neulich musste ich einen Kaufhausdetektiv unterstützen: Da sackte eine Bande Markenklamotten ein. Die gingen ganz schön professionell vor.« Sie blickte auf die Gänsehaut an Danis Beinen.

»Und deine große Liebe? Die Archäologie?«

»Ich bin eine Archäologin der modernen Zeit«, sagte Katinka und grinste. Nach dem Geschichts- und Archäologiestudium war ihr fast nichts anderes übriggeblieben, als in die Arbeitslosigkeit abzuwandern. Ihr Vater, der von Wien aus in ganz Europa Häuser baute und sich als Stararchitekt einen Namen gemacht hatte, bot ihr in regelmäßigen Abständen Geld als Überbrückung an. Aber Katinka hatte immer abgelehnt. Stattdessen hatte sie ihre Lizenz als Detektivin erworben, eine Weile als Praktikantin bei einem anerkannten Detektivbüro ihre Erfahrungen gesammelt und sich schließlich in die Selbständigkeit gewagt. Der Job war als Notlösung geboren. Inzwischen wurde er zur Passion. Manchmal. Es gab auch jene grauen Tage, an denen sie sich am liebsten ihrer Detektei in der Hasengasse gar nicht nähern wollte. Und es hatte Tage voller Angst und Selbstvorwürfe gegeben. Katinka dachte an jene Frau zurück, die sich ihrem Schutz anvertraut hatte, die Katinka aber nicht vor einem Mörder hatte schützen können. Dabei war es nicht einmal ihre Schuld. Mit der Heimtücke des Täters und seiner eiskalten Brutalität hatte sie gar nicht rechnen können. Hauptkommissar Uttenreuther hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, um ihr auszureden, eine Schuld auf sich zu nehmen, die gar nicht die ihre war. Gerade mal 300 Meter von der Wiese entfernt, wo sie nun mit Dani in der Sonne lag, war die Frau mit einem Messer erstochen worden. Katinka erzählte es Dani. Es kam nicht so aus ihrem Hals, wie sie es damals wirklich empfunden hatte, aber sie hatte den Eindruck, Dani verstand. Katinka spürte wieder den Vorwurf des Versagens. Die Selbstverurteilung, die Depression, die dem Ganzen gefolgt war. Reue und die knallharte Erkenntnis, dass nichts mehr wieder gutzumachen war.

»Ist es schwer, mit dieser Belastung zu leben?«, wollte Dani wissen.

»Ja. Und nein. Es bessert sich. Wie alles.«

Sie schwiegen beide eine Weile. Dann fragte Ka-tinka:

»Männer?« Das Thema war problematisch, aber nicht ganz im selben Maße wie Morde.

»Ich habe keinen Freund, wenn du das meinst. Ich bin seit zwei Jahren Single. Man kann besser arbeiten, ohne Ablenkung durch absurde Konflikte und Sex.«

Katinka grinste.

»Und bei dir?«, wollte Dani wissen.

»Tom und ich wohnen seit fast einem Jahr zusammen. Es läuft gut.«

»Aber?« Dani hatte ein feines Gehör für die Zwischentöne.

Katinka zögerte. Es konnte nicht schaden, Dani von heute Morgen zu erzählen und würde helfen, die diffusen Ängste loszuwerden. Sie berichtete von dem nächtlichen Anruf, Toms Abreise, dem geplatzten Urlaubswochenende und der großen Unsicherheit, die nun über allem schwebte.

»Was sollte das eurer Beziehung schaden, wenn seine Mutter krank ist?«, fragte Dani entgeistert.

»Ich weiß nicht«, antwortete Katinka. »Tom hat eine konfliktbeladene Beziehung zu seinen Eltern. Die paar Male, die ich mit ihm in Berlin bei seiner Familie war, gab es so eine vorsichtige und gleichzeitig miese Stimmung. Als ob eine ganze Menge unausgesprochen im Raum steht.«

»Was zum Beispiel?«

»Vorwürfe, Schuldzuweisungen. Ich habe ja keine Ahnung. Ab und zu habe ich versucht, mehr aus Tom rauszulocken, aber er schaltet auf stur. Bislang hielt er einfach räumlichen Abstand. Er sitzt in Bamberg, seine Eltern in Berlin. Naja.«

»Du bist dir deiner Gefühle nicht sicher, meine Liebe«, sagte Dani. Der Wiener Akzent wurde noch weicher.

»Was meinst du damit?«, fuhr Katinka auf.

»Gibt es einen anderen?«

»Hast du sie nicht mehr alle? Wie kommst du darauf!« Katinka rupfte an ein paar Grasbüscheln.

»An der Art von Verträumtheit, die in deinen Augen leuchtet. Willst du dir noch ein paar Optionen offen halten? Ehrlich gesagt, das ist doch ganz legitim. Man sagt zwar immer ›früh gefreit, nie gereut‹, aber eine allzu frühzeitige Festlegung kann auch schädlich sein. Am Ende siehst du die Welt nur noch durch die Brille deines einen und einzigen Partners.«

»Vor Tom gab es einen anderen«, sagte Katinka knapp. »Ich bin gottfroh, diesen Lebensabschnitt hinter mich gebracht zu haben. Und ich weiß wirklich, was ich an Tom habe.«

Sie fühlte Zorn hochkochen. Sie hätte die Klappe halten sollen. Die Beziehung zwischen ihr und Dani war nicht mehr so eng, so eins in eins. Britta hätte das alles sagen dürfen. Bei Dani klang es nach Besserwisserei. Sie wischte sich die Grasfetzen von den Handflächen.

»Du kannst nichts für deinen Freund tun«, sagte Dani schließlich. »Du kannst für ihn dasein, wenn er dich anruft und sich wünscht, dass du kommst. Der Schlaganfall seiner Mutter ist traurig und mag dich erschüttern. Aber es ist sein ganz eigener Weg. Zunächst mal. Und egal, zu welchem Ende er kommt.«

Katinka nickte.

»Sprechen wir von etwas anderem. Hast du schon die Geschichte mit den Käfermorden gehört?«

»Ich lese keine Zeitung und höre kein Radio. Der Schmutz der Welt belastet meine Kunst nur unnötig.«

Katinka meinte zunächst, Dani habe es scherzhaft gemeint. Das klang ihr zu salbungsvoll und untypisch für Dani, die sich noch nie mit Starallüren geschmückt hatte. Sie sah Katinka ernst an. »Deswegen habe ich auch kein Handy. Ich brauche die Stille, um kreativ sein zu können.«

Klingt wie auswendig gelernt, dachte Katinka.

»Dann erzähle ich dir die Story. In Bamberg werden Käfer-Cabrios erdolcht.«

Dani machte so ein entgeistertes Gesicht, dass Ka-tinka doch lachen musste. Sofort stellte sich das Gefühl von Befreiung ein. Sie erzählte von ihrem Besuch am Tatort.

»Komisch«, sagte Dani und sah in die Ferne. »Sehr komisch. Ich glaube nicht, dass Autofreaks sich gegenseitig ihre Käfer in der Erbsensuppe versenken.«

»Eben!«

»Ermittelst du?«

»Nein. Ich habe ja keinen Auftraggeber. Ich frage mich nur so manches.«

»Die Neugier«, neckte Dani. Sie versuchte ein Lächeln. Starrte wieder in die Ferne.

»Exakt«, bestätigte Katinka kurz und fuhr wieder über das kurze, stachelige Gras. Es gab diese Momente, in denen man sich fragte, ob man sich eigentlich in seinem eigenen Leben befand.

»Vielleicht ist es ein erklärter Autogegner, einer, der die Umwelt schützen und ökologisch denken will. Dem sind die Oldtimerfetischisten ein Dorn im Auge.«

»Youngtimer heißen die. Sie sind noch zu jung, um in die Oldtimerklasse aufzusteigen. Ich habe den Gedanken gestreift, aber ein überkandidelter Luftreinhalter würde die Autos sonstwie kaputtmachen. Gegen die Wand fahren, Lack zerkratzen, zur Not das Dach aufschlitzen, was weiß ich. Aber wer kauft teure Schwerter, um damit dann zwei Käfer abzuschlachten?«

Dani antwortete nicht gleich. Sie konnte ihren Blick nicht vom Fluss losreißen. Dann sagte sie: »Sag mal, wenn du auf einer Brücke stehst, schaust du in die Richtung, in die der Fluss fließt, oder in die, aus der der Fluss kommt?«

Katinka blickte sie erstaunt an.

»Ich denke, in die Richtung, in die der Fluss fließt. Und du?«

»Merkst du doch, oder? Ich schaue immer zur Quelle.«

Katinka verstand nicht, worauf Dani hinauswollte. Plötzlich wirkte sie nachdenklich, fast verträumt.

»Hör mal«, begann Dani wieder. »Wenn du dein Wochenende sowieso anders geplant hattest: Komm doch für ein paar Tage zu mir raus. Meine Traumhütte ist gerade mal eine knappe Stunde von Bamberg entfernt. Ich zeige dir meine neuen Plastiken. Du kannst den ganzen Tag in der Sonne liegen, während ich gipse und klopfe.«

Überrascht sah Katinka auf. »Du, da sage ich glatt zu.«

Dani lachte. Die Tristesse, die über ihr Gesicht gezüngelt war, verlosch. »Super. Gleich morgen schaust du vorbei. Und jetzt komm: Wir schwimmen.«

»Ich denke, du frierst?«, lachte Katinka. Mit einem Mal fühlte sich alles ganz leicht an.

»Egal. Ich will die Bisamratten kennen lernen.«

Sie rannten kichernd über den Holzsteg und sprangen mit lautem Hallo kopfüber in das eiskalte Wasser.

3. Ein einsames Haus

Katinka steuerte Toms Ford Fiesta durch die fränkischen Hügel. Am frühen Morgen glänzten die Dörfer in den spärlichen, verhalten durch die Wolkendecke spitzenden Sonnenstrahlen. Sie prahlten mit ihrer farbigen Blumenpracht, den Fachwerkhäusern und liebevoll gepflegten Gärten. Hügel und Wälder spreizten sich wie in einem Merian-Heft. Selbst das durchwachsene Wetter vermochte dem Reiz der Landschaft nichts anzuhaben.

Katinka stellte den Klassiksender ein. Sie hatte wieder wenig geschlafen. Erst spät am Abend war es ihr gelungen, Tom an die Strippe zu kriegen. Bis elf Uhr hatte er bei seiner Mutter im Krankenhaus verbracht. Es ging ihr sehr schlecht. Ihre rechte Körperhälfte war gelähmt, sie konnte nicht sprechen und war die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein.