Fratzenmond - Friederike Schmöe - E-Book

Fratzenmond E-Book

Friederike Schmöe

4,0

Beschreibung

Privatdetektivin Katinka Palfy wird von der 76-jährigen Ida Schenck um Hilfe gebeten. Angeblich schleicht allabendlich ein als der berühmte „Bamberger Reiter“ verkleideter Mann um ihr Haus und jagt ihr Angst und Schrecken ein. Katinka glaubt zunächst an eine etwas zu üppige Fantasie der alten Dame, doch als sie sich im Garten auf die Lauer legt, bemerkt sie, dass kein Spuk umgeht, sondern ein Mörder ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 304

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (30 Bewertungen)
15
5
4
6
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Friederike Schmöe

Fratzenmond

Katinka Palfys dritter Fall

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2008

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Friederike Schmöe

Gesetzt aus der 9,6/13 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3244-6

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Widmung

Für Fritz

Vorbemerkung

Alle Handlungen und Charaktere in diesem Kriminalroman sind freie Erfindungen der Fantasie. Sollten sich Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen mit Handlungen oder Personen des wirklichen Lebens herausstellen, so wäre dies auf ein Wunder zurückzuführen. Soll es ja ab und zu geben.

Zitat

Soothe me with your caress

sweet lotus blossom, lotus blossom

help me in my distress

sweet lotus blossom

please do

Julia Lee

1. Ida und Vishnu

»Moaaaaaar!«

Katinka duckte sich instinktiv. Der Angreifer schoss an ihrer Schulter vorbei. Sie keuchte auf. Um ein Haar hätten sich die Krallen des Fellklops in ihren Pullover vergraben.

»Ist das eine Killerkatze?«

»Killerkater!« Ida Schenck lächelte stolz. »Er heißt Vishnu. Vishnu, benimm dich anständig. Frau Palfy ist die Detektivin, die ich engagiert habe, damit endlich wieder Ordnung in unsere Nächte kommt.«

Sie drohte dem Kater mit dem Finger.

»Ab mit dir.«

»Puh«, machte Katinka und rückte ihre Brille zurecht. Vishnu gehorchte. Er bedachte Katinka mit einem milden Blick und machte sich in den Garten davon, um gemäß seiner göttlichen Aufgaben die kosmische Ordnung wiederherzustellen. So jedenfalls kam es Katinka vor, während sie dem rotgerippten Kater nachsah.

»Vishnu ist ein kluges Tier, nur leider machtlos gegen die Bosheiten, die aus dem Innern kommen.«

Katinka strich Katerhaare von ihrer Jeans und musterte Ida Schenck, ihre neue Auftraggeberin. Die alte Dame stellte Teegeschirr auf den Tisch und trug Kekse und Kuchen auf.

»In der Nacht wirkt Schwarztee Wunder«, verkündete sie.

Sie hatte Katinka angeheuert, um sich von einem Spuk zu befreien, der seit einigen Wochen des Nachts ihren Garten mit Beschlag belegte. Angeblich bewegte sich der berühmte Bamberger Reiter zwischen den Rosenbeeten, starrte durch die Fenster, rüttelte an den Rollläden und begehrte Einlass durch die Terrassentür. Katinka war sich ziemlich sicher, der echte Bamberger Reiter saß nach wie vor in Stein gehauen im Dom fest im Sattel. Bisher war sie sich nicht sicher gewesen, was sie von der Spukgeschichte halten sollte, die Ida Schenck ihr aufgetischt hatte. Es mochte tatsächlich vorkommen, dass jemand der alten Dame aus welchem Grund auch immer mit einer gruseligen Maskerade Ärger machte. Doch in der Atmosphäre dieser sonderbaren Villa wirkte die alte Dame wie das Klischee einer Frau im Herbst ihres Lebens, die die Bodenhaftung verloren hatte und sich mit Halluzinationen und Eingebungen interessant machen wollte.

»Ostfriesische Rose. Ein klassisches Motiv, finden Sie nicht?«

»Ja«, machte Katinka mit einem halbherzigen Blick auf das Porzellan. »Ich würde mich gerne im Haus umsehen.«

»O, ich begleite Sie! Der Tee bleibt ja heiß.«

Ida Schenck lächelte Katinka an und führte sie durch das Erdgeschoss.

»Ich bin beruhigt, dass Sie eine Waffe bei sich tragen. Ich meine, eine dieser Schusswaffen, mit denen man einen Gegner rasant niederstrecken kann, nicht wahr?« Ida Schenck holte Luft. »Ein Nudelholz tut es meiner Meinung nach auch, aber natürlich nur bei halbwegs nahem Körperkontakt. Ich persönlich traue meiner Schlaghand nicht mehr viel Wirkung zu. Bitte, Sie sehen ja, das Parterre besteht fast nur aus Wohnzimmer und Küche.«

»Ist der … Spuk schon einmal ins Haus gekommen?«

»Gott bewahre!« Ida Schenck hob die rechte Hand, als wolle sie sich bekreuzigen, ließ es dann aber sein. »Ich habe alles verrammelt. Vishnu … aber lassen wir das. Ich finde einfach nur, er hat eine Vorahnung! Jedes Mal, wenn der Reiter heranrückte, warnte er mich mit anhaltendem Gemaunze. Kommen Sie mit nach oben!«

»Augenblick noch.«

Katinka öffnete eine unauffällige Seitentür, die von der Küche wegführte. Eine hervorragend ausgestattete Speisekammer nahm sie in Empfang.

»Wie sieht es mit dem Keller aus?«, wollte Katinka wissen, während sie der kleinen Dame in den ersten Stock folgte. Die Wände des Treppenhauses waren gespickt mit Gemälden. Modernes hing neben dem Armen Poeten von Spitzweg. Getrocknete Blumensträuße baumelten von der Decke.

»Alle zu Mariä Himmelfahrt gepflückt, über Jahre.«

Katinka glaubte sich an den alten Brauch zu erinnern, am 15. August jeden Jahres Sträuße aus verschiedenen Kräutern zusammenzustellen.

»Haben Sie die selber gepflückt?«

»Ich, ja, und auch Grit, meine Großnichte. Sie ist ein patentes Mädchen. Einige Wochen wohnte sie in meiner Mansarde, dort habe ich eine Einliegerwohnung eingerichtet, aber Sie wissen ja, die jungen Leute, schließlich sind Sie selbst noch jung – sie wollen einfach ihre Freiheit, und die sollen sie auch alle haben!«

»Als Ihre Nichte auszog«, fragte Katinka schnell, »spukte da auch schon der Bamberger Reiter um Ihr Haus?«

Ida Schenck schloss die Tür auf, die den Weg zu den Zimmern der oberen Etage freigab. »Nein, das fing erst so zehn Tage später an. Aber Grit spielt nicht den Reiter. Ich würde sie sofort an ihren Bewegungen erkennen. Sie ist so eine Elfe.« Ida ging ein Stück zur Seite, damit Ka-tinka in den oberen Flur treten konnte. »Sie haben nach dem Keller gefragt. Dort stapeln sich alte Umzugskisten, ein paar blödsinnige Möbel und Konserven. Nichts wirklich Interessantes.«

Katinka grinste. Auf den zweiten Blick passte das Haus perfekt zu seiner Bewohnerin. Diese Dame, weit in den Siebzigern, mit ihrem adretten Kostümchen und der Bluse mit Rüschenkragen, der Gemme über dem oberen Knopf, gab sich nach außen konservativ, doch im Innern blühte eine Pflanze aus einer anderen Welt. Auch ihr Zuhause hatte sie nach exotischen Maßstäben eingerichtet. Dunkle Masken aus Holz schmückten die Wände, Schiffe in Flaschen standen auf den Regalbrettern, die ohnehin vor Büchern überquollen. Verrückte Skulpturen wechselten mit Musikinstrumenten, von denen Katinka bisher nicht gewusst hatte, dass es sie gab.

»Kennen Sie das hier?« Ida Schenck wies auf ein Instrument, das vage an ein Glockenspiel erinnerte. »Ein Ballaphon. Ich habe es in Westafrika gekauft. Ich glaube, in Mali.«

»Sie sind viel gereist?«, fragte Katinka, während sie schnell das Schlafzimmer überprüfte. Ein ungemachter Futon lag auf dem Fußboden in der Mitte des Zimmers, darum herum waren Bücher- und Zeitschriftenstapel aufgeschichtet.

»Unendlich viel«, freute sich Ida Schenck. »Ich zehre noch heute davon. Zwar bin ich noch halbwegs gut zu Fuß, aber eine Reise durch Afrika wäre inzwischen nicht mehr meins. Tja. Die Welt hat sich auch sehr verändert, nicht wahr? Als ich jung war, konnte ich als Frau sicher um den Globus reisen. Das mag Ihnen unvorstellbar erscheinen. Aber ich wurde immer mit Respekt behandelt. Mit wirklicher Wertschätzung.«

Katinka schob die Gardine zur Seite. Unter ihr lag der herbstliche Garten, still und friedlich. Beinahe wäre sie auf Vishnu getreten. Er fauchte böse und zog sich zurück. Katinka hätte nicht sagen können, wo er hergekommen war.

»Ich bin studierte Archäologin«, hörte sie sich sagen. »Aber gereist bin ich nicht so viel … bisher.«

»Ein Fehler, Frau Palfy, ein Fehler. Reisen ist die einzige Inspiration, von der man als junger Mensch wirklich profitiert.«

Ida Schenck griff ins Regal und zog eine Schachtel heraus. Sie war über und über mit Postkarten gefüllt.

»Hier, die habe ich mir selber geschrieben. Wenn ich dann heimkam, hatte ich das Tagebuch im Briefkasten.« Sie lachte. »Ich war sogar im Sudan. Hier, kennen Sie den Löwentempel von Musawwarat es Sufra? Auf der Karte erkennt man sogar die berühmte Reliefdarstellung des Königs Arnekhamani. Und wenn Sie Archäologin sind, wieso stehen Sie dann hier herum und hören sich die Lebensgeschichte eines Wracks an? Sie gehören da raus!« Ida Schenck machte ein unwirsche Handbewegung ins Nirgendwo. »In die Wüsten und Täler, wo es noch Schätze zu finden gibt.«

Katinka seufzte.

»Es ist nicht ganz so einfach … vom Arbeitsmarkt her. Also …« Sie stellte fest, dass sie sich verteidigte, und wurde rot vor Ärger. Inzwischen konnte sie ihren beruflichen Wechsel für sich selbst akzeptieren, aber es war eine andere Sache, Fremden klarzumachen, was sie dazu bewogen hatte. »Es hat sich einfach so ergeben. Aber Detektivin und Archäologin …«

»Das passt natürlich zusammen, ich sehe es ein«, lachte Ida Schenck. »Dennoch sollten Sie mehr reisen. Drei bis vier mal im Jahr, das ist der rechte Rahmen. Sie sind doch noch keine 30! Bis zum 40. Lebensjahr denken Sie, körperliche Gebrechen würden niemals eine Rolle spielen«, sagte Ida. »Aber dann tun Ihnen abends die Füße weh, und wenn Sie lange stehen, werden die Beine schwer. Damit fängt es an.« Sie fegte mit der Hand über ihren Rock. »Wobei ich sagen muss, Frau Palfy«, sie schwieg und genoss die Spannung, die im Raum hing, »wobei ich sagen muss, dass ich mit 40 beruhigt hätte von dieser Welt gehen können. Bis zu dem Zeitpunkt habe ich alle Gefühle gelebt, die ein Mensch nur imstande ist zu leben. Wirklich alles. Von Liebe und Hass bis Angst und Hoffnung. Tatsächlich bin ich zu jener Zeit immer mit dem Gedanken ins Bett gegangen, dass ich getrost abtreten kann, denn es gibt nichts mehr, was ich noch nicht kenne. Im Innern, meine ich.«

Unruhig ließ Katinka den Blick durchs Zimmer schweifen. Irgendwas an Idas Worten verunsicherte sie. Die Plastiken im Raum schienen ihr zwischen lebendig und tot zu schweben. Es war ein eigenartiges Gefühl, das sie ergriff. Sie las die Titel der Bände, die Ida übereinander und in zwei Reihen in die Bücherregale geschichtet hatte.

»Aber nun bin ich doch fast doppelt so alt geworden wie ich damals war, als ich meinte, ich hätte nichts dagegen einzuwenden, hinübergerudert zu werden. Mögen Sie Beethoven?«

Katinka nickte.

»Der Meister sagte einmal: O, es ist so schön, das Leben tausendmal leben! Können Sie sich das vorstellen? Wie er es ausrief, trunken vor Glück? Wahrscheinlich war er gerade im Liebesrausch.«

Katinka langte nach einem Gedichtband. »Rabindranath Tagore«, murmelte sie. »Den mag ich auch.«

»Nicht wahr? Er bekam 1913 den Literaturnobelpreis. Das war aber definitiv vor meiner Zeit. Seine Lyrik hatte ich immer auf meinen Reisen dabei. Sie hat mich mein Leben lang inspiriert.«

Ida trat nahe an Katinka heran.

»Ich verrate es nur Ihnen. Aber ich habe viele Menschen auf meinen Reisen kennen gelernt. Hier«, sagte sie und wies auf einen breiten Schreibtisch aus Eichenholz. »Hier bewahre ich meine Tagebücher auf. Kennen Sie Moleskine? Die berühmtesten Künstler haben diese Kladden als Reisenotizbücher benutzt. Tja, jetzt sind all die Jahre zwischen Pappdeckel gebannt. Dabei weiß ich nicht mal, ob jemand meiner eventuellen Erben die Muße finden wird, darin zu schmökern.«

Ida kicherte verschwörerisch und fummelte an ihrem Halskettchen.

»Sehen Sie?«

Ein kleiner goldener Schlüssel schimmerte zwischen ihren kurzen Fingern. »Der Zugang zu den Erinnerungen einer alten Schachtel.« Vielsagend deutete sie auf die Tür des rechten Seitenteils. Sie ließ den Schlüssel wieder unter ihrer Bluse verschwinden und klatschte in die Hände. »Haben Sie alles gesehen? Gehen wir wieder nach unten. Es ist gleich zehn. Bestimmt kommt er bald geritten.«

Sie beugte sich zum Schalter einer Stehlampe hinunter. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Katinka eine breite Laufmasche in Ida Schencks grauer Strumpfhose. Dann erlosch das Licht.

Schweigend folgte Katinka der alten Dame nach unten. Alle paar Minuten fragte sie sich erneut, ob Ida Schenck verrückt war oder nicht, und jedes Mal kam sie zu einer anderen Einschätzung. Nach einer kurzen Inspektion eines unaufgeräumten, muffigen Kellers ging sie durchs Wohnzimmer, erschrak, als eine eigentümliche Schlingpflanze sie streifte, und trat in den Garten hinaus. Wenn es stimmte und der Spuk jeden Abend zwischen 22 und 22 Uhr 30 begann, musste es bald soweit sein. Ob sie Hufgetrappel hören würde? Würde der Bamberger Reiter zu Pferd erscheinen? Ida hatte sein Kommen bisher weder gehört noch gesehen. Sie behauptete, er tauche einfach aus dem Dunkel auf.

Katinka atmete tief die frische Herbstluft ein. Sie war schwer von Feuchte und Erdgeruch. Ein perfekter Halbmond hing am Nachthimmel, wie eine in der Mitte durchgebrochene Calciumtablette. Einzelne Wolkenfetzen fegten über ihn hinweg.

Wenn ich mir eines wünsche, dachte Katinka, dann dass ich den Mond mal wieder scharf sehe. Trotz Brille nahm sie die halbe weiße Scheibe verschwommen wahr, wie ausgefranst. Die Kontaktlinsen standen ganz oben auf ihrer Erledigen-Liste, und mit Ida Schencks Honorar in diesem Oktoberspuk würde sie sich welche leisten können. Ihre private Detektei, beinahe nun ein Jahr als Unternehmen angemeldet, lief nach anfänglichen Startschwierigkeiten sehr gut. Beigetragen hatte dazu, dass sie in Zusammenarbeit mit Hauptkommissar Harduin Uttenreuther im vergangenen Sommer Bamberg vor einer Katastrophe bewahrt hatte. Ein Wahnsinniger hatte geplant, mit Hilfe eines biologischen Kampfgiftes die größte Kirchweih, das Partyereignis der Stadt, hopszunehmen. Viele tausend Menschen hätten sterben können. Die Presse überschlug sich in den Wochen danach, und die herausragende Kooperation zwischen Kripo und privater Ermittlerin wurde hoch gelobt. Inzwischen waren fast zwei Monate vergangen, und Katinka war so gut wie ausgebucht. (*Kirchweihmord)

Ein leises Rascheln neben ihr ließ sie zusammenfahren.

»Schon wieder Vishnu!«, flüsterte sie. Der Kater schritt würdevoll durch einen Haufen trockenen Laubs. »Wo du nur immer herkommst. Kannst du durch Wände gehen?«

Katinka machte einen Kontrollgang durch den dunklen Garten. Die Stille, nur unterbrochen durch das Aneinanderschlagen der beinahe kahlen Zweige bei einem plötzlichen Windstoß, kam ihr friedlich vor. Weit und breit war niemand zu sehen. Kein Reiter, kein Mensch, nicht einmal mehr Vishnu. Sie blieb lange am Zaun stehen und spähte zur Nachbarvilla hinüber. Hier im Haingebiet reihte sich ein herrschaftliches Haus an das andere. Die großen Gärten, oft mit altem Baumbestand, vermittelten ein Gefühl von Endlosigkeit. Ich schätze, heute Nacht wird kein Spuk aufkreuzen, dachte sie, morgen auch nicht, und irgendwann hat sich die Geisterstunde von selbst erledigt. Es mochte sein, dass Ida Schenck einfach zu viel allein war, mit ihren kuriosen Souvenirs und ihrer Grübelei über den Tod. Katinka machte sich von den Gedanken an Vergänglichkeit und Verlorensein los, kreidete sie kurzerhand dem nahenden Winter an und ging zum Haus zurück.

»Haben Sie eigentlich gar keine Fotos von sich und Ihren Reisen?«, fragte Katinka. Viele Reiselustige tapezierten quasi ihre Wände mit sich selbst vor den Sehenswürdigkeiten der Welt.

»Kaum. Die Bilder im Kopf bleiben schärfer. Nehmen Sie Tee?«, fragte Ida Schenck und goss sogleich Katinkas Tasse voll.

»Gerne. Aber mir wäre es ganz recht, wenn wir das Licht hier mal ausmachen könnten. Ich möchte nicht auf dem Präsentierteller sitzen, wenn … der Reiter kommt.«

»Sicher. Natürlich.«

Ida Schenck war schon aufgestanden und löschte das Licht. Katinka ging in die Küche und drückte ebenfalls auf alle Schalter. Nur eine kleine Tischlampe ließ sie brennen. Auf der anderen Straßenseite sangen die Bäume des Hains im Chor mit den Windböen. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Ida sich in einen Ohrensessel gesetzt hatte und eine Kerze entzündete.

»Ein kleines Kerzchen muss drin sein, Frau Palfy«, sagte sie und lächelte. »Meinen Hausschlüssel habe ich Ihnen gegeben, oder? Man wird ja so vergesslich …«

Ihr kleines Gesichtchen mit den dunklen Knopfaugen schimmerte koboldhaft im Schein der Flamme.

»Haben Sie. Ich werde mich aber auf alle Fälle bemerkbar machen, bevor ich einfach so hereinkomme!« Katinka nahm ihre Halbautomatik aus dem Holster und legte sie auf den Tisch.

»Genau das ist es, was ich von einer Detektivin erwartet habe«, erklärte Ida Schenck aus dem Hintergrund. »Deswegen habe ich in den Gelben Seiten auch eine Frau rausgesucht, keinen männlichen Detektiv. Frauen sind im Schießen treffsicherer, das habe ich mir von kompetenter Seite bestätigen lassen.«

Katinka hatte da ihre Zweifel. Ab und zu verabredete sie sich mit Kommissar Uttenreuther zum Trainieren, aber sie rechnete ohnehin mehr mit der abschreckenden Wirkung ihrer Beretta 9000S als mit ihren Schießkünsten, an denen sie auf Anraten ihrer Freunde bei der Polizei in den letzten Wochen allerdings intensiv gearbeitet hatte. In den meisten Fällen, in denen sie ermittelte, brauchte sie keine Waffe. Da verschwanden teure Uhren, legten sich Altenheimbewohnerinnen in falsche Betten oder erinnerten sich schwarzfahrende Teenies nicht mehr, wo sie die Autos ihrer Mütter abgestellt hatten. Alles keine Recherchen, für die man eine Handfeuerwaffe benötigte. Und wenn nun der Spuk ein Spuk war?

»Wie war das gleich mit Geistern«, hörte sich Katinka fragen. »Die kann man gar nicht erschießen, stimmt’s?«

Ida Schenck wiegte den Kopf hin und her.

»Geister wohl nicht. Aber der Reiter, der durch meinen Garten geschlichen kam, ist garantiert kein Geist.«

»Sie haben wirklich niemanden in Verdacht?«

»Absolut nicht. An wen sollte ich denken! Niemand will mir Böses. Meine Verwandten bestimmt am allerwenigsten. Ich habe eine Menge zu vererben. Wer lässt sich so was schon entgehen … Da versucht jeder, sich von seiner besten Seite zu zeigen.« Sie lachte herzlich. »Mit der Verwandtschaft ist das eine eigentümliche Sache. Hüten Sie sich vor Ihren Verwandten. Das sind die Leute, die Ihnen in Ihrem Leben am meisten Schwierigkeiten machen.«

Abgesehen von der Echtheit des spukenden Reiters hatte Katinka sich die Frage nach der Motivlage auch schon gestellt. Warum erschreckte jemand eine alte Dame, die allein in einer mit fremdartigen Souvenirs voll gestopften Villa lebte – pardon, in Kohabitation mit einem Hindu-Kater. In ihrer Fantasie konnte sie sich allerlei Szenarien ausmalen. Besonders jetzt, in der Dunkelheit des Hauses mit seinen müden Geräuschen, den knarzenden Holzdecken, den raschelnden Zweigen im Garten, den Tatzen des Katers, die den Parkettboden kaum zu berühren schienen. Beleuchtet von der Kerze sah Ida Schencks Gesicht maskenhaft aus und, da sie keine Miene verzog, beinahe leblos.

Katinka griff nach einem Stück Kuchen.

»Glenfiddich«, kam es aus dem Ohrensessel.

Katinka zuckte zusammen.

»Nichts Gefährliches, Frau Palfy, nur ein Whiskey-Kuchen, eine Delikatesse aus Schottland. Überhaupt eines meiner bevorzugten Reiseziele. Früher natürlich. Das Wetter macht’s. Bei den ständigen Wechseln von Regen, Sturm und Sonne wird Schottland nie von Touristen überlaufen sein.«

Katinka spürte nur den Lufthauch, als Vishnu zum Sprung ansetzte und neben ihrem Kuchenteller auf dem Tisch landete.

»Hej, verzieh dich«, wisperte sie.

»Er darf«, verkündete Ida. »Ich weiß, dass er ungezogen ist. Aber sehen Sie es ihm nach. Was habe ich schon davon, wenn er nicht auf den Tisch springt.« Sie kicherte. Katinka kam sich vor wie in einem Film von Almodóvar, umkreist von seinen spleenigen Figuren. Sie biss in den Glenfiddich-Kuchen und starrte hinaus in den Garten. Am Fenster stand der Bamberger Reiter und blickte zu ihr ins Zimmer.

2. Der Reiter

Katinka zuckte zurück. Während ihr Herz hämmerte, bemühte sie sich, von dem Gesicht des Spuks so viele Details wie möglich zu erkennen. Tatsächlich sah er aus wie das berühmte Reiterstandbild. Wahrscheinlich hatte er sich eine gute Maske besorgt, die die Züge der steinernen Figur aus dem Dom perfekt wiedergab. Auch die Wuschelhaare und die Kappe auf seinem Kopf sahen aus wie die des Originals. Einzig und allein das Abgeklärte, Ruhige fehlte bei dem Exemplar vor dem Fenster vollkommen. Die Maske hatte verzerrte Lippen und entblößte ein hämisches, gemeines Grinsen, das Katinka eiskalten Schweiß über den Rücken jagte.

Sie griff nach ihrer Waffe und lief geduckt durch das Wohnzimmer zur Terrassentür. Ida Schenck musste die Kerze ausgeblasen haben. Nur ihren Schatten konnte Katinka in dem Ohrensessel erkennen.

»Bitte schließen Sie die Tür hinter mir!«, flüsterte sie der alten Dame zu. Es kam keine Antwort.

Leise öffnete sie die Glastür und schlich sich in den Garten. Der Halbmond schickte ausreichend Licht, doch die Wolkenfetzen, die in dem kalten Wind trieben, bedeckten ihn ab und zu. Auf der Erde wechselten sich die Schatten ab: hell, dunkel, hell, dunkel. Katinka bemühte sich, regelmäßig zu atmen. Sie fühlte ihr Herz pochen, als sie um die Hausecke pirschte. Vorsichtig blickte sie die Kellertreppe hinunter, um den Spuk nicht plötzlich im Rücken zu haben. Irgendwo knirschte Kies. Sie blieb stehen, keuchend, wartete ab. Ging dann weiter.

Nun stand sie im Vorgarten. Sie konnte selber durch das Fenster sehen, durch das eben der Reiter gespäht hatte. Er hatte sie unmöglich sehen können, drinnen war alles dunkel. Das verschaffte ihr einen Vorteil. Er wusste nicht, dass jemand hinter ihm her war. Allen Ernstes fragte sich Katinka, ob er ein Pferd dabei hatte, wie sein kunstvolles Vorbild. Als sie den Gartenweg zur Hecke ging, um nachzusehen, hörte sie die Terrassentür schlagen. Einen Moment blieb sie wie angewurzelt stehen, dann raffte sie sich auf und lief um das Haus zurück. Der Reiter stand auf der Terrasse und spähte seelenruhig ins Haus. Er rüttelte am Türknauf. Kratzte mit den Fingernägeln über das Glas.

Katinka hob die Waffe. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie musste mit beiden Händen zufassen, um die Pistole gerade zu halten.

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, rief sie ihm zu. Ein Windstoß schien ihr die Silben vom Mund wegzublasen. Der Reiter wandte sich um. Im hellen Mondlicht sah sein Gesicht zum Fürchten aus. Sein Gewand flatterte im Nachtwind, als er vor Katinka davonlief. Sie flitzte ihm nach. Sie war sich sicher, ihn niederstrecken zu können, lange genug hatte sie in der Zwischenzeit Kampfkunst trainiert, doch kurz bevor sie ihn erreichte, drehte er sich um, packte sie und verdrehte ihr den Arm. Einen Moment roch sie seinen Atem. Sie holte aus und schlug ihm mit der Linken die Pistole mitten ins Gesicht. Ein knackendes Geräusch war zu hören. Sie sah, wie ein Riss in der Maske klaffte. Der Reiter ließ Katinka los und rannte zur Straße. Sie lief ihm nach, er setzte über das niedrige Gartentor, überquerte die Fahrbahn und verschwand auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Bäumen.

Katinka rannte den asphaltierten Weg in den Hain hinein und kämpfte ihren Atem unter Kontrolle. Unmöglich konnte sie erkennen, welchen Weg er genommen hatte. Zu viele Pfade führten in die unterschiedlichsten Richtungen. Sie blieb stehen und lauschte. Der Wind ließ die Wipfel der Bäume rauschen, das Herbstlaub raschelte. So angestrengt horchte sie in den Wald hinein, dass sie schon beinahe meinte, wirklich Hufgetrappel zu hören. Aber da war nichts. Nur ein Knirschen hinter ihr. Sie fuhr herum und zielte.

»Vishnu!«

Der Kater brachte sie heute Nacht um den Verstand. Mit unbeteiligtem Blick stand er majestätisch hinter ihr. Auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei. Normales Tempo, normale Geräusche.

»Komm, Kater«, sagte sie. »Raus hier.«

Die Schatten und Geräusche des Hains jagten ihr Angst ein. Sie musste sich zusammennehmen, fiel in einen leichten Trab, lief auf Idas Haus zu. Vishnu folgte ihr im Schweinsgalopp.

Das Haus lag vollkommen dunkel. Jetzt wäre es Katinka lieber gewesen, wenigstens eine Leselampe oder eine Kerze brennen zu sehen. Nichts. Sie klopfte von außen an das Fenster, durch das der Reiter vorhin gestarrt hatte.

»Frau Schenck! Sie können Licht machen! Er ist weg!«

Nichts rührte sich. Unruhig ging Katinka ums Haus zur Terrasse. Fast war es tröstlich, mit Vishnu zu reden. »Komm schon, Vishnu, gehen wir rein«, hörte sie sich sagen. Vishnu folgte bis zur Ecke, dann blieb er stehen und sah Katinka zu, die die Beretta zurück ins Holster verfrachtete und an die Terrassentür klopfte.

»Frau Schenck?«

Katinka wollte hinein. Nicht noch einmal ums Haus laufen und die Haustür aufschließen.

Nichts war zu hören. Katinka drückte gegen die Tür. Sie ging auf. Verflixt, dachte Katinka, ich hatte ihr gesagt, sie soll absperren. Was, wenn der Typ ins Haus eingedrungen wäre.

Sie trat ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich. Ob der Kater nachkam, interessierte sie momentan nicht. Tastend fuhr ihre Hand über die Tapete.

»Frau Schenck?«

Im Mondlicht schien das Wohnzimmer leer. Womöglich hatte sich Ida Schenck in den ersten Stock zurückgezogen. Könnte ich gut nachvollziehen, dachte Katinka und fühlte nach dem Schalter. Es knackte, als die Tür wieder aufging. Katinka zuckte zusammen. Vishnu

stolzierte herein. Sie spürte die Kälte eines Windstoßes. Irritiert drückte sie die Tür zu und drehte den Schlüssel.

Eine eiskalte Hand klammerte sich an Katinkas Unterarm. Der Griff war so fest wie der einer Schraubzwinge. Ungestüm wollte Katinka sich losmachen. Ida Schenck stand neben ihr, hielt ihren Arm fest und starrte sie an. Sie hatte den Kopf ein Stück gesenkt, die Blicke aus ihren dunklen Augen schossen wie Pfeile nach oben. Aus ihrem Haarknoten hatten sich ein paar Strähnen gelöst. Sie standen wild in alle Richtungen ab. In der anderen Hand hielt sie ein Küchenmesser. Katinka zählte unwillkürlich bis vier. Dann setzte ihr Herz mit einem Stolpern wieder ein.

»Lassen Sie mich los, um Himmels willen!«, rief sie. Ihre Stimme hörte sich dünn an. »Frau Schenck, ich bin’s, Katinka Palfy.« Sie schüttelte ihren Arm. »Er ist weg, Frau Schenck.« Ida hob das Messer. Katinka packte fest zu und drehte Idas Arm nach unten. Das Messer fiel polternd zu Boden. Sie zweifelte stark daran, dass ihre Auftraggeberin noch ganz richtig im Kopf war.

»Ganz ruhig, Frau Schenck!«

Betont vorsichtig ließ Katinka Idas Arm los und befreite sich aus ihrem Griff.

»Aber Sie haben ihn gesehen, nicht?«, sagte Ida Schenck. Sie hustete. »Sie haben ihn gesehen! Sagen Sie doch.« Ihr Atem ging hastig und stoßweise.

»Ich habe ihn gesehen, nur leider ist er mir entwischt.«

Peinlich, dachte Katinka, während sie endlich den Schalter fand und das Licht anknipste. So was von verdammt peinlich. Für einen kurzen Moment blendete die Deckenlampe.

»Das Messer brauchen Sie heute Abend nicht mehr«, sagte sie und hob es auf.

»Also ist er aus Fleisch und Blut«, betonte Ida. Sie ließ sich in den Ohrensessel fallen. Katinka ging in die Küche und füllte zwei Gläser mit Leitungswasser. Ihres trank sie in einem Zug aus. Das andere brachte sie der alten Dame.

»Er ist aus Fleisch und Blut. Aber davon waren Sie doch ohnehin überzeugt, Frau Schenck.«

Ida nickte. Sie nippte an dem Wasser. »Aber Sie vielleicht nicht ganz. Pfui Teufel, haben wir nichts Hochprozentiges im Haus?«

Katinka grinste. Ida Schenck wies auf die Kredenz an der hinteren Wand. Mehrere Flaschen Schnaps und Likör tummelten sich auf einem silbernen Tablett. Katinka wählte einen Averna und goss ein Schnapsglas voll.

»Wissen Sie, wenn man sein Gedächtnis verliert, sei es nur für einen Tag, dann fragt man sich immer, was an jenem Tag eigentlich passierte.« Ida Schenck griff nach dem Schnaps und trank ihn in einem Zug aus.

Katinka starrte sie an. Sie verstand überhaupt nichts mehr.

»Haben Sie … Wieso …«

Ida Schencks Gesichtsausdruck wurde wieder weich. Sie lächelte, stellte das Glas weg und sagte: »Ich würde Sie bitten, morgen wiederzukommen. So lange wiederzukommen, bis Sie den Menschen am Kragen gepackt haben.«

Katinka nickte. »Klar.«

»Ich zahle alles«, erklärte Ida und nickte wie zur Bestätigung.

Katinka setzte sich auf das Sofa.

»Frau Schenck, wie meinten Sie das eben, mit dem Gedächtnisverlust?«

Es dauerte eine Weile, bis Ida antwortete: »Ach, auch eine Detektivin muss nicht alles wissen!«

»Im Gegenteil, sie muss mehr als alles wissen«, erwiderte Katinka.

»Gute Nacht, Frau Palfy«, sagte Ida Schenck. Sie erhob sich, ging ins Treppenhaus. Katinka hörte sie die Stufen hochsteigen und die obere Tür zwischen Treppe und Zimmern verschließen.

3. Ein Mord

Verehrte Frau Palfy!

Ich erlaube mir, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Sie sind ja als tapfere und ehrgeizige Detektivin mittlerweile stadtbekannt und bestimmt die richtige Ermittlerin in meinem zugegeben schwierigen Fall. Als ältere Mitbürgerin von der Polizei zur Fantastin degradiert, habe ich wenige Möglichkeiten, mein Hilfegesuchen an der passenden Stelle zu artikulieren.

Seit Wochen werde ich vom Bamberger Reiter belästigt. Es ist jedoch keiner aus Stein, sondern ein lebendiger Mensch, der allabendlich um mein Haus schleicht – ich lebe allein –, an Fenstern und Türen rüttelt und mir Angst und Entsetzen einflößt. Gerne würde ich mich von diesem Spuk befreien, sehe mich selbst aber außerstande dazu. Nehmen Sie beiliegenden Schein als Anzahlung.

In Erwartung Ihrer baldigen Antwort verbleibe ich

mit vorzüglicher Hochachtung,

Ida Schenck

Tom legte den auf Büttenpapier geschriebenen Brief weg und sagte: »So fing das alles an?«

Katinka kaute an ihrem Steak. »Der kam ganz normal und ordentlich frankiert mit der Post.« Sie wedelte mit ihrer Gabel. »Zuerst dachte ich tatsächlich, die Frau hat einen an der Waffel, aber ich habe den so genannten Reiter gesehen. Mit meinen eigenen Augen. Hm, umwerfend gut, deine Vinaigrette!«

Voller Appetit spießte Katinka ein Salatblatt auf und dachte im Stillen, dass sich ihr Freund mit seinen herausragenden Kochkünsten immer mehr als Glücksgriff erwies. Natürlich nicht ausschließlich wegen seiner Begabung als Nachwuchsmeister der Haute Cuisine, schließlich besaß er noch andere Talente, fügte sie in Gedanken an und grinste.

»Muss ja eine lustige Begegnung gewesen sein«, meinte Tom und betrachtete amüsiert Katinkas Gesicht.

»Nein, nein«, sagte Katinka schnell, »ich habe mich nur eben gefragt, ob du statt Programmierer nicht Vier-Sterne-Koch werden könntest.«

»Vergiss es!«, seufzte Tom. »Jeden Tag in einer Küche in den Dämpfen aus Töpfen und Bratpfannen stehen? Ohne mich!«

Er ging zum Herd und bereitete die Caffetiera für einen abschließenden Espresso vor.

»Was wirst du jetzt weiter machen?«, fragte er.

Katinka blickte auf die Uhr. Fast Mitternacht. Das schwere Essen würde sie ebenso wenig schlafen lassen wie der nächtliche Kaffee, aber sie fühlte sich ohnehin nicht nach Ruhe. Komisch, dachte sie, eigentlich ist Vollmond vorbei.

»Morgen werde ich die Sache anders anstellen«, sagte sie. »Den Kerl erwische ich schon.«

»Ich frage mich«, sagte Tom und schraubte die Caffetiera zu, »wozu der Typ so einen Spuk auffährt.«

»Ida Schenck hat angeblich selber keine Ahnung. Ihre Nichte hat bis vor kurzem in ihrer Mansarde gewohnt. Am besten versuche ich mal, das Mädel auszuhorchen.«

»Du meinst, die Familie ist immer der verdächtige Nummer eins?«

Fauchend ergoss sich der Kaffee in die obere Hälfte des Kochers.

»Erstens das«, sagte Katinka. »Zweitens: Gehst du mit mir ins Internet? Ich will rauskriegen, wo man Masken herkriegt wie Idas Verfolger eine benutzt. Das muss ein Hightech-Teil sein, wie es in der Filmindustrie oder vielleicht auch beim Theater zum Einsatz kommt. Das Gesicht des Reiterstandbilds war wirklich perfekt nachgemacht.«

Tom nickte, leerte seine Tazzina und sagte: »Statt ins Netz gehe ich lieber mit dir ins Bett.« Schnell, bevor Katinka etwas sagen konnte, fügte er grinsend hinzu: »Und morgen suche ich dir sämtliche Masken-Angebote aus dem Internet raus, versprochen.«

Katinka hatte ihr Fahrrad ein gutes Stück weiter am Ende der Hainstraße geparkt. Ein strahlender Herbsttag ging zu Ende. Im letzten Licht des Tages glühten die wenigen verbliebenen Herbstblätter. Selten hatte Katinka den Himmel so blau gesehen, als habe jemand alles Preußisch Blau aus dem Farbkasten gekratzt und ans Firmament gespachtelt.

Ida Schenck wartete schon auf sie.

»Tee? Whiskey-Kuchen?«, fragte sie augenzwinkernd. Katinka fand es schwer, sich der Faszination der alten Dame zu entziehen. Sie war mit nichts und niemandem zu vergleichen, den sie kannte. In eine Schublade passt sie jedenfalls nicht, dachte Katinka, während sie Vishnu beobachtete, der um Ida Schencks Beine strich. Und das allein ist schon sympathisch.

»Er weicht mir schon den ganzen Tag nicht von der Seite!«, rief Ida ein bisschen genervt, als sie beinahe auf den Schwanz des Katers getreten wäre. »Wie ein quengeliges Kleinkind.«

Katinka folgte ihr in die Küche.

»Frau Schenck«, sagte sie, »ich werde mich jetzt im Garten verschanzen und zusehen, dass ich gut verborgen bleibe, bis der Reiter aufkreuzt.«

»Da müssen Sie ja beinahe vier Stunden ausharren!«

Resolut fingerte Ida Schenck eine Thermoskanne aus dem obersten Fach im Küchenschrank. »Im Herbst kann es kalt werden, Frau Palfy. Wir haben schon ganz frostige Nächte. Ich gebe Ihnen jedenfalls einen Tee mit. Was mögen Sie lieber: Darjeeling oder Assam?«

»Assam«, sagte Katinka zerstreut, ohne zu verraten, dass sie eher passionierte Kaffeetrinkerin war.

»Assam. Der Herrentee. Eine gute Wahl, der wird Ihre Lebensgeister mit seinem kräftigen Aroma aufrechterhalten.«

Sie setzte Wasser auf und streute die Teeblätter lose in eine Glaskanne.

»Haben Sie mal nachgedacht?«, fragte Katinka.

»Über den Herrentee?« Ida Schenck zwinkerte.

»Eher über den Reiter. Was ist mit Ihrer Großnichte? Könnte die etwas mit der Sache zu tun haben?«

»Aber nein. Habe ich Ihnen doch schon gesagt. Grit ist ein schlankes, rankes Mädchen, kein Ochsengestell wie der Kerl vor meinem Haus. Nein, Grit hat sicher nichts damit zu tun.«

»Warum ist sie eigentlich ausgezogen?«

Katinka sah zu, wie sich das sprudelnde Wasser über die Teeblätter ergoss.

»Eine lange und nicht eben erfreuliche Familiengeschichte. Sie will Literatur studieren und ein freies, ungebundenes Studentenleben ohne ihre alte Tante führen. Ihr Vater wollte sie allerdings auf Jura hetzen. Leblose Sache, diese Rechtsstudien, wenn Sie mich fragen. Mein Neffe ist selber Rechtsanwalt, und seine Betätigung besteht nur darin, die Gegenseite von genau der Perspektive der Wirklichkeit zu überzeugen, die ihn gewinnen und haufenweise Geld scheffeln lässt.«

Die Teeblätter trieben in der malzbraunen Flüssigkeit.

»Nehmen Sie ihn mit Milch?«

Katinka verneinte.

»Tja, Grit …«, fuhr Ida Schenck fort, goss den Tee ab und verschraubte die Thermoskanne. »Jetzt sitzt sie erstmal auf dem Trockenen. In der Langen Straße, mittendrin im Trubel, hat sie sich eine Wohnung gemietet. Da nun Papas Bares ausbleibt, muss sie zusehen, dass sie sich einen Job besorgt. Aber die Mädchen kriegen ja immer was als Bedienung, wenn sie schnell sind und clever.«

Vishnu sprang neben die Thermoskanne und maunzte lautstark. Ida vertrieb ihn. Nachdenklich blickte sie ihm nach, wie er aus der Küche stolzierte, sich im Flur vor die Türschwelle setzte und vorwurfsvoll zu ihnen hereinsah.

»Eine Katze soll der Mensch mal verstehen lernen«, sagte Ida und zupfte an ihrem Blusenkragen. »Ich frage mich, was diese Tiere sehen, das uns verborgen bleibt. Tja, sie sind göttlicher Abstammung. Möchten Sie sich ein paar Kekse mitnehmen?«

»Danke, lieber nicht. Ich lasse meine Aufmerksamkeit nicht gerne ablenken.«

»Manchmal«, sagte Ida Schenck und schüttelte die Teeblätter aus dem Sieb in den Biomüll, »frage ich mich wirklich, ob Katzen vielleicht in die Anderwelt hinübergehen können.«

Katinka stutzte. Die Anderwelt? Was meinte sie damit, die Welt der Toten? Während ihres Studiums hatte Katinka gerne Sartre gelesen, und sie erinnerte sich immer noch an einen seiner Romane, in dem die unsichtbaren Toten den Lebenden auf Schritt und Tritt folgen. Die Lektüre hatte sie fasziniert, aber sie erlag dabei wohl eher dem Rausch des Geheimnisvollen und hatte die Sache symbolisch verstanden.

Ida Schenck beobachtete Katinka mit gesenktem Kopf. Hektisch tanzten ihre Augen in alle möglichen Richtungen, ruhten für einen Moment auf Katinka und stoben wieder davon.

»Ich sehe mich um, Frau Schenck.«

Katinka kontrollierte das Haus, probierte alle Türen und Fenster.

»Öffnen Sie auf keinen Fall, wenn Sie nicht deutlich erkennen können, dass ich es bin, die hinein will«, bat sie Ida Schenck eindringlich. »Ziehen Sie sich doch nach oben zurück. Dann schonen Sie Ihre Nerven …«

»Vergessen Sie es«, rief Ida Schenck. Sie drückte Ka-tinka die Thermoskanne in die Hand. »Ich bin viel zu aufgeregt. Wissen Sie was? Es wäre doch ganz witzig, wenn Sie ihn heute Abend auch nicht kriegen. Dann kommen Sie morgen wieder und wir verbringen noch ein paar interessante Abende.« Ihre dunklen Knopfaugen funkelten.

Wenn ich den spukenden Reiter nicht gesehen hätte, dachte Katinka, ich würde denken, sie fantasiert. »Ich kann ja trotzdem mal zu Besuch kommen«, hörte sie sich sagen, und sofort setzte sich brummend ihr innerer Zensor in Bewegung. Wie eine Wespe umschwirrte sie die Stimme: Lass dich nicht auf solche Abmachungen ein. Es wird sowieso nichts draus. Du hast anderes zu tun. Katinka machte eine unwirsche Handbewegung.

»Sind noch Schnaken unterwegs?«, fragte Ida Schenck. »Die Biester waren in diesem Sommer wirklich nicht zu bändigen. Gott, wie viele Stiche ich hatte!«

Unruhig warf Katinka einen Blick auf die alte Dame. Schon wieder schlich Vishnu um ihre Beine. Als Katinka sich bückte, um ihn zu kraulen, zog er sich fauchend zurück.

»Nehmen Sie es nicht persönlich. Er ist ein ziemlich prätentiöser Zeitgenosse«, sagte Ida und blinzelte. »Sind Sie warm genug angezogen? Es zieht nachts ordentlich an.«

Katinka wandte sich zum Gehen. »Ich habe mein Handy auf Vibrieralarm geschaltet. Wenn sich irgendwas Eigenartiges tut, rufen Sie meine Nummer an.« Zur Vorsicht legte sie ihre Visitenkarte auf Idas Küchenbüfett.

Ida nickte zerstreut. Katinka verließ das Haus und ging durch den Garten. Es war kurz nach sieben. Meter für Meter schritt sie die Hecke und den Zaun ab. Sie unterzog die Kellertür einer genauen Untersuchung, ließ den Blick über die verwaisten Beete streifen. Ida Schencks Garten war schon winterfest, während anderswo noch die Dahlien letzte Farbe in die Natur tupften. In der hintersten Ecke des Grundstücks befand sich ein Komposthaufen. Daneben stand ein aus Stein gemauerter, weiß gekalkter Ofen. Hier roch es nach Resten von Rauch. Professionell, dachte Katinka. Ida Schenck verbrennt ihre Gartenabfälle gleich an Ort und Stelle. Darf man das eigentlich?

Das Geräusch von Schritten auf altem Laub surrte ihr durch die Ohren. Plötzlich wusste sie nicht, ob sie sie wirklich hörte oder ob sie nur in ihrem Kopf widerhallten. Ruckartig wandte sie sich um. Am Nachbarhaus ging die Außenbeleuchtung an. Jemand trat mit einer Zigarette hinaus und blickte in den Nachthimmel. Ka-tinka konnte den Mann im Lichtkreis der Gartenlaternen deutlich sehen. Wenn ein Nachbar …? Wenn jemand von nebenan um Idas Villa geisterte? Sie blieb ganz ruhig stehen. Dass ich darauf nicht gekommen bin, dachte Ka-tinka. Sie hörte ein Feuerzeug klicken. Eine Frau stellte sich zu dem Mann. Beide rauchten schweigend.