Störfall - Christa Wolf - E-Book

Störfall E-Book

Christa Wolf

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Beschreibung

Im Frühling 1986, auf dem mecklenburgischen Land, sind die Blüten an den Kirschbäumen förmlich explodiert – aber das Wort vom Explodieren wagt man nicht einmal mehr zu denken, seit die Nachricht sich verbreitet: Im Kernreaktor von Tschernobyl hat eine Explosion stattgefunden. Und während die Erzählerin den stündlichen Warnungen im Radio lauscht, muß sich ihr Bruder einer riskanten Gehirnoperation unterziehen. Zwei Störfälle, eine kollektive und eine individuelle Katastrophe, an einem Tag: Christa Wolfs Erzählung schildert den Einbruch des Unfaßbaren in das menschliche Leben, entfesselte Kräfte, über die wir keine Kontrolle mehr haben.

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Seitenzahl: 138

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Im Frühling 1986, auf dem Mecklenburgischen Land, sind die Blüten an den Kirschbäumen förmlich explodiert – aber das Wort vom Explodieren wagt man nicht einmal mehr zu denken, seit die Nachricht sich verbreitet: Im Kernreaktor von Tschernobyl hat eine Explosion stattgefunden. Und während die Erzählerin den stündlichen Warnungen im Radio lauscht, muß sich ihr Bruder einer riskanten Gehirnoperation unterziehen. Zwei Störfälle, eine kollektive und eine individuelle Katastrophe, an einem Tag: Christa Wolfs Erzählung schildert den Einbruch des Unfaßbaren in das menschliche Leben.

Christa Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), starb am 1. Dezember 2011 in Berlin. Ihr Werk, das im Suhrkamp Verlag erscheint, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis und dem Deutschen Bücherpreis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (st 4275).

Christa Wolf

Störfall

Nachrichten eines Tages

Suhrkamp

Die Erstausgabe von Störfall erschien 1987 im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar.

Der Text, der dem 2001 erschienenen Band 9 der von Sonja Hilzinger herausgegebenen Werke in zwölf Bänden folgt, wurde für diese Ausgabe neu durchgesehen und korrigiert.

Umschlagfoto: © Isolde Ohlbaum

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-79710-5

www.suhrkamp.de

Die Verbindung zwischen Töten und Erfinden hat uns nie verlassen. Beide entstammen dem Ackerbau und der Zivilisation.

Carl Sagan

Das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen sind wir.

Konrad Lorenz

Für H.

Keine der Figuren dieses Textes ist mit einer lebenden Person identisch. Sie sind alle von mir erfunden.

C.W.

Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. Ich werde vermieden haben, zu denken: »explodiert«; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen konnte. Das Grün explodiert: Nie wäre ein solcher Satz dem Naturvorgang angemessener gewesen als dieses Jahr, bei dieser Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter. Von den viel später sich herumsprechenden Warnungen, die Früchte zu essen, deren Blüte in jene Tage fiel, habe ich an dem Morgen, an dem ich mich wie jeden Morgen über das Treiben der Nachbarshühner in unserer frischen Grassaat ärgern mußte, noch nichts gewußt. Weiße Leghorn. Das beste, was man von ihnen sagen kann, ist, daß sie auf mein Klatschen und Zischen hin angstvoll, wenn auch verwirrt reagieren, immerhin ist eine Mehrheit von ihnen aufgescheucht in Richtung auf das Nachbargrundstück gelaufen. Eure Eier, habe ich gedacht, schadenfroh, werdet ihr womöglich für euch behalten können. Und jener Instanz, die von früh an begonnen hat, mich aus einer sehr fernen Zukunft aufmerksam zu betrachten – ein Blick, nichts weiter –, habe ich zu verstehen gegeben, daß ich mich von nun an an nichts mehr gebunden fühlen würde. Frei, zu tun und vor allem zu lassen, was mir beliebt. Jenes Ziel in einer sehr fernen Zukunft, auf das sich bis jetzt alle Linien zubewegt hatten, war weggesprengt worden, gemeinsam mit dem spaltbaren Material in einem Reaktorgehäuse ist es dabeigewesen zu verglühen. Ein seltener Fall –

Sieben Uhr. Da, Bruder, wo du jetzt bist, fängt man pünktlich an. Deine Beruhigungsspritze wirst du schon vor einer halben Stunde bekommen haben. Jetzt haben sie dich von der Station in den Operationssaal geschoben. Ein Befund wie der deine kommt als erster unters Messer. Jetzt spürst du, denke ich mir, ein nicht unangenehmes Drehen in deinem geschorenen Kopf. Es ist ja darauf angelegt, daß du keinen scharfen Gedanken fassen, kein allzu deutliches Gefühl empfinden sollst, zum Beispiel Angst. Alles geht gut. Dies ist die Botschaft, die ich dir, ehe sie dich in den Narkoseschlaf versetzen, als einen gebündelten Energiestrahl übermittle. Nimmst du ihn wahr? Alles geht gut. Jetzt lasse ich deinen Kopf vor meinem inneren Auge erscheinen, suche den verletzlichsten Punkt, den mein Gedanke durchdringen kann, um dein Gehirn zu erreichen, das sie gleich freilegen werden. Alles geht gut.

Da du nicht fragen kannst: Die Art Strahlen, lieber Bruder, von denen ich rede, sind gewiß nicht gefährlich. In einer mir unbekannten Weise durchqueren sie die verseuchten Luftschichten, ohne sich anzustecken. Das Fachwort ist: kontaminieren. (Während du schläfst, Bruder, lerne ich neue Wörter.) Steril, garantiert steril erreichen sie den Operationssaal, deinen hilflos, bewußtlos hingestreckten Körper, tasten ihn ab, erkennen ihn in Sekundenbruchteilen. Würden ihn auch erkennen, wenn du noch stärker entstellt wärst, als du es zu sein behauptest. Mühelos durchdringen sie die dichte Abwehr deiner Bewußtlosigkeit, auf der Suche nach dem glühenden, pulsierenden Kern. Auf eine Weise, die sich der Sprache entzieht, stehen sie jetzt deiner schwächer werdenden Kraft bei. Darauf sollst du dich verlassen, so ist es verabredet. Es gilt –

Nicht unvorbereitet, doch ahnungslos werden wir gewesen sein, ehe wir die Nachricht empfingen. War uns nicht, als würden wir sie wiedererkennen? Ja, habe ich eine Person in mir denken hören, warum immer nur die japanischen Fischer. Warum nicht auch einmal wir.

Die Vögel und der Test.

Leichtfertig und unbesorgt habe ich das Wasser beim Duschen an mir herunterrinnen lassen. Jeder einzige der zahllosen Experten, die jetzt wie Pilze aus der Erde schießen (Pilze! ungenießbar für diese Saison!), hat das Grundwasser für noch lange, lange nicht – vielleicht diesmal überhaupt noch nicht! – gefährdet erklärt. In einem Bächlein helle. Es ist eine Unart, beim Duschen zu singen. Auch erschwert es, aus dem kleinen Radiogerät Marke Sanyo die Nachrichten zu empfangen, in welche DIE NACHRICHT jede Stunde umgemünzt und zerkleinert wird. Die launische Forelle. Speicherfisch für radioaktive Zerfallsprodukte. Je nachdem, welcher der Parteien, in die auf vorhersagbare Weise die Öffentlichkeit zerfällt, der Experte angehört hat und ob er Optimist oder Pessimist gewesen ist, hat er gesagt: Nein. Keinesfalls wird der Reaktorkern durchschmelzen. Oder: Aber doch. Doch, doch: Auch das ist gar nicht ausgeschlossen. Dann wäre jene Erscheinung zu erwarten gewesen, die der Humor der Wissenschaftler so anschaulich »Chinasyndrom« getauft hat. Solange der Brand nicht gelöscht gewesen ist – und Graphitbrände, Bruder, das wirst du nicht wissen, sind, so schwer sie entstehen mögen, unglaublich schwer zu löschen, haben wir erfahren müssen –, solange die Kettenreaktion weitergeht, kann der Reaktorkern, sich durch den Erdmittelpunkt durchschmelzend, aktiv bleiben, bis er, verwandelt sicherlich, aber immer noch strahlend, bei den Antipoden wieder herauskäme. Entsinnst du dich, Bruder, an das tiefe Loch, das wir auf dem Sandberg vor unserem Haus gruben und in das wir, gehörig mit Warnschildern versehen, eine Bierflasche voller Salzsäure versenkten, der wir zutrauten, daß sie sich zu den Antipoden durchfressen würde? Erinnerst du dich an den Brief, den wir, in Zellophan wasserdicht eingewickelt, am Hals der Flasche festgebunden hatten? An seinen Inhalt? Brüder und Schwestern – so redeten wir die Antipoden an und baten sie dringlich, uns an unsere Adresse, die wir natürlich angaben, den Empfang unserer Flaschenpost zu bestätigen.

Direkt dankbar ist man ja gewesen, wenn man sich etwas bildlich hat vorstellen können. Dem Einfall, ob wir uns nicht beizeiten bei den Antipoden entschuldigen sollten, habe ich nicht nachhängen können, weil ich zuhören mußte, was ein Radiosprecher einen anscheinend jüngeren Experten gefragt hat, der freundlicherweise zu ihm ins Studio gekommen war: Was denn er heute mit seinen Kindern machen würde, gesetzt den Fall, er hätte welche. Er hat welche. Er, hat er gesagt, hat seiner Frau nahegelegt, den Kindern heute keine Frischmilch, keinen Blattspinat und keinen grünen Salat zu geben. Auch nicht in den Park oder in den Sandkasten mit ihnen spielen zu gehn, vorsichtshalber. Da habe ich, während ich die Zahnpasta auf die Zahnbürste gedrückt hab, jemanden sagen hören: So. Soweit hat es kommen müssen.

Die da geredet hat, das bin ich gewesen. Der Test, wie lange ich allein sein kann, ohne anzufangen, mit mir selbst zu reden, hat schon am dritten Tag erste Brocken von lautem Selbstgespräch herausgetrieben, von der Art: So. Jetzt mach ich die Wäsche noch fertig, dann ist aber Schluß! Das ist heute der fünfte Tag gewesen, unter verschärften Bedingungen, da hab ich begonnen, nicht vorhandene Leute laut anzureden: Das könnte euch so passen! zum Beispiel –

Welche Art von Sägen man benutzt, die Hirnschale aufzusägen, das weiß ich nicht. Es heißt, man folge den Nähten, die ja den Schädel in mehrere Segmente teilen. Wenn wir wollen, hat dir dein Arzt gesagt, um dich durch die Vollkommenheit seiner Technik zu beruhigen, dann können wir Ihnen die Schädeldecke einfach hochnehmen wie eine Pudelmütze und sie später wieder aufsetzen. Wolln wir ja aber bei Ihnen gar nicht. Das, was sie wollen – ein einziges Segment hochklappen, und zwar dasjenige rechts über der Stirn –, das werden sie jetzt wohl gemacht haben. Da liegt deine Hirnmasse offen vor ihnen da. Für mich wird es Zeit, mich auf die Hände des Chirurgen zu konzentrieren. Auf seine Fingerspitzen. Impulse, für die es keine Worte gibt. Du, in deiner immer tiefer werdenden Bewußtlosigkeit, sollst beruhigt sein. Leidest du? Wohin gerät das Leiden, dessen wir nicht gewahr werden können –

Das Leben als eine Folge von Tagen. Frühstücken. Den Kaffee mit dem orangefarbenen Meßlöffel in den Filter messen, die Kaffeemaschine anstellen, den Duft genießen, der sich in der Küche entfaltet. Gerüche stärker, bewußter wahrzunehmen als bisher ist mir noch nicht eingefallen, noch habe ich nicht gewußt, daß sie dir verlorengehen werden. Ausfälle, hat dir dein Arzt gesagt, sind nicht in jedem Fall zu vermeiden, aber wir halten sie so geringfügig wie möglich. Das Ei genau fünf Minuten kochen lassen, das Kunststück täglich erneut fertigbringen trotz des Defekts in der Minutenuhr. Die haltbaren Genüsse. Das Gerüst, welches das Leben auch über tote Zeiten trägt. Die Schnittfläche des dunklen mecklenburgischen Brotes. Angeschnittene Roggenkörner. Wann eigentlich und auf welche Weise lagern sich Nuklide – auch ein Wort, das ich gerade zu lernen begonnen habe – in Getreidekörner ein. Das riesige Getreidefeld hinter unserem Haus, das ich, da die Holunderbüsche noch licht gewesen sind, von meinem Platz am Küchentisch habe sehen können, in seinem satten Grün. Ich habe das Wort gesucht für seinen Zustand. »Matte«. Eine grüne Matte. Auf dem Lande ist man immer in Gefahr, auf veraltete Vokabeln zurückzugreifen.

Der Himmel ist an jenem Tag wolkenlos gewesen. (Warum habe ich eben »tote Zeit« gedacht?) In deinem kühlen Schatten / Auf deinen weichen Matten / du liebster Aufenthalt / du liebster Aufenthalt. Lieder, die mir jahre-, jahrzehntelang nicht in den Sinn gekommen sind. Jener Instanz, die ihr kritisches Auge auf alles geworfen hat, was ich zu mir genommen habe, habe ich mitgeteilt, die Eier in meinem Kühlschrank seien vor dem Unfall im Hühnerleib gewachsen, mit unbestrahltem Gras, unbestrahlten Körnern ernährt worden, direkt im Konsum abgeliefert und daher ungestempelt und garantiert frisch. Aber eben auch nicht zu frisch. Nicht etwa von gestern.

O Himmel, strahlender Azur.

Nach welchen Gesetzen, wie schnell breitet sich Radioaktivität aus, günstigenfalls und ungünstigenfalls. Günstig für wen? Und nützte es denn den unmittelbar am Ort des Ausbruchs Wohnenden wenigstens, wenn sie sich, durch Winde begünstigt, verbreitete? Wenn sie aufstiege in die höheren Schichten der Atmosphäre und sich als unsichtbare Wolke auf die Reise machte? Zu meiner Großmutter Zeiten hat man sich unter dem Wort »Wolke« nichts anderes vorstellen können als kondensierten Wasserdampf. Weiß, womöglich, ein mehr oder weniger schön geformtes, die Phantasie anregendes Gebilde am Himmel. Eilende Wolken, Segler der Lüfte / Wer mit euch wanderte, wer mit euch schiffte ... Der käm woandershin. Kommentar unserer Großmutter, die niemals reiste, wenn man sie nicht aussiedelte. Warum, Bruder, sind wir so bewegungssüchtig?

Das Pflaumenmus, das wir voriges Jahr, stöhnend unter der Last der Pflaumenernte, selbst hergestellt haben, fände ihren Beifall. Sie pflegte es mit Zimt zu überpudern, das haben wir ihr nicht nachgetan. Sie wiederum würde nicht den trockenen Brotkanten in Plaacks Futtereimer stecken, wie ich es nach kurzem Zögern getan habe. Sie würde aus dem harten Brot zum Wochenende eine Brotsuppe kochen, mit Rosinen, auf polnische Art, das einzige Gericht, das mir bei ihr nicht schmeckte. Sündhaft, sagte sie – ein Wort, das sie sonst nicht brauchte –, sündhaft wäre es, Brot wegzuwerfen, das solle ich mir merken. Ihr einziger Merksatz. Bescheiden ist sie gewesen, unsere Großmutter, Bruder –

Wir leben. Nicht gerade üppig im Augenblick, das würde ich dir zugestehen, soweit es dich betrifft. Vielleicht nicht gerade an einem seidenen, aber an irgendeiner Art von Faden hängt dein Leben doch. Am Perlonfaden, nehme ich an. Zu denken, daß ein metallenes Instrument gerade jetzt an deiner Hirnhaut entlangfährt, vermutlich die Hirnmasse beiseite schiebt, um Platz zu schaffen für ein anderes Instrument, an dessen Ende sich ein Mikroskop befindet ... Gestern, als wir noch einmal miteinander telefonierten, habe ich dir nicht erzählt, was ich kürzlich im Fernsehen sah: einen Computer, speziell für Operationen am menschlichen Gehirn entwickelt, auf eine Genauigkeit von hundertstel Millimeterschnitten programmiert, unfehlbarer als die menschliche Hand, so hieß es. Wir aber haben uns gegenseitig versichert, auf die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl deines Chirurgen könne man sich hundertprozentig verlassen –

Ich bin stehengeblieben, die Tasse in der Hand, die ich in den Abwasch stellen wollte, und habe mehrmals hintereinander so stark ich konnte gedacht: Du kannst dich auf die Erfahrung und das Fingerspitzengefühl deines Chirurgen verlassen. Auf dem Weg zur Post habe ich beim alten Weiß haltgemacht und habe wieder denken müssen, daß er eher wie ein abgemusterter Kapitän aussieht und nicht wie ein ehemaliger Stallarbeiter. Ehemaliger? hat er gesagt. Von wegen! Auch dieses Jahr wieder werde er seine Anzahl Kälber in Pflege nehmen, ganz davon abgesehen, daß er die Mildenitz beangeln und die Koppeln am Dorfsee nach Champignons absuchen werde. Dreiundachtzig sei doch kein Alter. Ob er es allerdings schaffe, neunzig zu werden wie sein Vater ... Na was denn! hat seine Frau gesagt, die mit den Wassereimern aus der Tür trat. Ob er etwa auf einmal sterben wolle! – Der Winter? Ach, hat sie gesagt, schlimm, schlimm sei der gewesen. Diese Heizerei mehrmals am Tag, und daß die Kälte überhaupt kein Ende habe nehmen wollen. Und daß man nicht weggekommen sei, nichtmal zum Sohn in die Stadt, es sei ja partout kein Bus gegangen, und »unser Vater«, so hat sie den alten Weiß, ihren Mann, genannt, lasse sie über Nacht nicht weg, sie lebe hier wie in Gefangenschaft. Da hat der alte Weiß behaglich gesagt, das wäre ja auch noch schöner! Die Frau gehöre ins Haus. Da hören Sie es selbst, hat da seine Frau gesagt, so gehe es nun seit vierzig Jahren.

Die Bilder sollten wir doch kennen, Bruder. Ich jedenfalls kenne nur zu genau die Bilderserie vom Flüchtlingsmädchen, das mit seiner Mutter auf einem gottverlassenen Gutsdorf in einer Kate unterkriecht, wo nur die Landarbeiterfrau ist, die dann fast gleichzeitig mit der Mutter des Mädchens am Typhus stirbt, der, wir wissen es ja, gleich nach dem Krieg den mecklenburgischen Landstrich heimgesucht hat, so daß der Katenbesitzer, der Stallarbeiter Weiß, nur dieses fremde Mädchen vorfindet, als er aus der Gefangenschaft kommt: blutjung, mutterseelenallein, verschüchtert, heimatlos, ohne ein anderes Unterkommen als seine Kate. Da geht es denn, wie es gehen muß, das Leben, sagt Frau Weiß in dem gleichen Ton, in dem sie sagen würde: das Unglück, und da ich dazu neige, großes Unglück aus den vielen kleinen Unglücken herzuleiten, neige ich auch dazu, kleine Unglücke bessern zu wollen, und denke, man müßte sich um eine regelrechte tägliche Buslinie kümmern. Ach, hat Herr Gutjahr gesagt, der sich selbst gern »Postminister« nennt, was man nicht alles müßte! Er ist stolz auf seine Umsicht, immer eine kleine Geldreserve bereit zu haben, falls jemand, wie ich heute, eine gewisse Summe abheben möchte. Geht alles, sagt er. Geht immer, man muß nur wollen, hab ich recht oder hab ich recht! Und ob ich denn nachts keine Angst hätte, so alleine in dem Haus. Vor wem denn, habe ich gefragt, und da hat er gesagt: Da haben nun Sie wieder recht. Wie es ihn, einen Invaliden, aus dem Sächsischen hierher verschlagen hat; wie er Lohn und Brot fand für sich und seine große Familie, das habe ich mir alles gerne noch einmal angehört. Gerne habe ich ein paar Rote-Kreuz-Lose aus dem langen schmalen Kasten gezogen, den Millionengewinn habe er aber gut versteckt, hat Herr Gutjahr gesagt, und wir haben gelacht, dann habe ich das zweite Los aufgerissen und ihm hingehalten: Fünf Mark. Dunnerlittchen! hat Herr Gutjahr gesagt. Er hat nicht wissen können, wie sehr ich diesen Gewinn gebraucht habe, abergläubisch, wie ich an dem Tag gewesen bin. Und daß ich für die fünf Mark dann fünf Nieten gezogen habe, das hat mir überhaupt nichts mehr ausgemacht. Wie gewonnen, so zerronnen, hat Herr Gutjahr gesagt, und er hat schnell zwischendurch einen jungen Kollegen