Sühne - Steffen Jacobsen - E-Book

Sühne E-Book

Steffen Jacobsen

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Beschreibung

Der von schwerer Krankheit gezeichnete Pharmaunternehmer Frank Linden will auspacken. Er heuert einen Journalisten an, der hochbrisante Informationen über Lindens Unternehmen veröffentlichen soll. Doch bei der Übergabe des Materials werden beide erschossen. Michael Sander, der mit dem Journalisten befreundet war, ermittelt auf eigene Faust. Er schafft es, in den Besitz des Geheimmaterials zu gelangen. Parallel wird Kommissarin Lene Jensen auf den Fall angesetzt und recherchiert im privaten Umfeld des Pharmaunternehmers. Sie stößt auf eine Spur, die in einen ungeheuerlichen Verdacht mündet. Unterdessen ist Michael Sander in tödliche Gefahr geraten.

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Das Buch

Der erfolgreiche und skrupellose Pharmaunternehmer Frank Linden will auspacken. Eine schwere Krebserkrankung scheint ihn im Alter milde gestimmt zu haben. Er heuert den Journalisten und Ghostwriter Simon Hallberg an, um hochbrisante Informationen über sein Unternehmen zu veröffentlichen. Doch bei der Übergabe des Materials werden beide erschossen. Michael Sander, der mit dem Journalisten befreundet war, ermittelt auf eigene Faust. Er schafft es, in den Besitz des geheimen Materials zu gelangen. Die Polizei wiederum setzt pikanterweise Kommissarin Lene Jensen auf den Fall an, die im privaten Umfeld des Pharmaunternehmers recherchiert. Sie stößt auf eine Spur, die in einen ungeheuerlichen Verdacht mündet. Unterdessen gerät Michael Sander in tödliche Gefahr. Eine abenteuerliche Verfolgungsjagd bis über Schwedens Grenzen hinaus beginnt.

Der Autor

Steffen Jacobsen, 1956 geboren, ist Chirurg und Autor. Seine Bücher sind unter anderem in den USA, England und Italien erschienen. Er ist verheiratet, hat fünf Kinder und lebt in Kopenhagen. Nach »Trophäe«, »Bestrafung«, »Lüge« und »Hybris« ist »Sühne« der fünfte Roman um Kommissarin Lene Jensen und Ermittler Michael Sander.

STEFFEN JACOBSEN

SÜHNE

THRILLER

Aus dem Dänischenvon Maike Dörries

Die Originalausgabe erschien unter dem TitelGhostwriterbei Lindhardt og Ringhof Forlag, Kopenhagen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Steffen Jacobsen

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com(Potapov Alexander, Bart Sadowski) und photocase.de (en.joy.it)

Redaktion: Angela Volknant

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-25389-9V002

www.heyne.de

Anna & Frank Lindens Sommerresidenz, Vedersølund, Jütlands Westküste – Montag, 27. August 2018

Die Morgensonne fiel auf die Föhren, die ihre gezackten Schatten über große, gepflegte Rasenflächen warfen, bis hin zu den Wirtschaftsgebäuden und nach Westen, hoch an die weißen Wände des Gutshauses.

Nach einer weiteren schlaflosen Nacht war Frank Linden mit der Sonne aufgestanden. Er hatte ein warmes, linderndes Bad genommen und sich mit großer Sorgfalt angekleidet: schneeweißes Hemd, blaue Seidenkrawatte von Hermès, schwarze Lackschuhe und anthrazitfarbener Anzug von Bond Street.

Er war überzeugt, dass dieser Tag sein letzter sein würde, und er hatte vor, ihm so elegant wie möglich entgegenzutreten.

Der früher so energische, dynamische Mann krümmte sich um einen vom Zwerchfell ausstrahlenden Dauerschmerz. Einer seiner Ärzte hatte ihm weismachen wollen, dass man sich an chronische Schmerzen gewöhnen könne.

Das stimmte nicht.

Krebs. Ein treffender Name für das, was ihn sehr bald ins Grab bringen würde. Das Tier bohrte seine Scheren immer tiefer in seine Eingeweide, ins Rückenmark, seine Leber und Lungen.

Unersättlich. Blind. Verfressen. Ein Wesen aus dem Morast.

Sein Hemdkragen war zwei Nummern zu weit geworden, das Gesicht aufgedunsen. Frank Linden schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse und atmete so tief ein, wie die Schmerzen es zuließen. Dann ging er vom Bad über das gebohnerte Parkett zum Schlafzimmer.

Er schob die Tür auf und betrachtete seine schlafende Frau.

Ein leichtes Lächeln umspielte Annas Lippen. Die Augäpfel zuckten unter den dünnen Augenlidern. Sie träumte. Das kräftige, graue Haar war über dem Kopfkissen aufgefächert. Winzige Staubkörner schwebten im Licht der Morgensonne. Er weckte sie nicht, saugte nur die Düfte des Zimmers ein.

»Leb wohl, mein Herz.«

Im Büro traf der Schmerz ihn mit voller Wucht am Solarplexus. Er musste sich auf dem Schreibtisch abstützen, ehe er mit seinem Tun fortfahren konnte: dem langsamen und umständlichen Zusammenpacken der Dinge, die nötig waren, um ihn wie geplant durch diesen letzten Tag zu bringen. Eine volle Packung Morphinpflaster, ein Blister Morphintabletten, eine kleine Walther PPK Selbstladepistole und ein zusätzliches Magazin. Er nahm aufmerksam jeden einzelnen Gegenstand in Augenschein, ehe er ihn in die Aktentasche legte. Alles, was er früher automatisch erledigt hatte, forderte nun seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft. Das Gehirn war träge geworden, das war der Preis des Morphins. Ohne es würde er sich zusammengekrümmt wie ein angeschossenes Tier am Boden winden, außerstande, sich um sich selbst, seine Pläne oder seine Familie zu kümmern.

Er kniete sich hin und öffnete eine auf den ersten Blick nicht sichtbare, in das Parkett eingelassene Klappe, danach den darunterliegenden Tresor und entnahm ihm ein speckiges, grünes Tagebuch, ein dickes Bündel mit Geldscheinen und einen silberfarbenen USB-Stick.

Dann trank er mit geschlossenen Augen ein Glas Wasser, setzte sich an den Tisch, schraubte den Verschluss vom Füllfederhalter, nahm einen Bogen Briefpapier und schrieb:

Anna, meine Anna,

ich bin gezwungen, Dich zu verlassen. Ich kann die Dinge nicht ungeschehen machen, aber ich will wenigstens versuchen, das Unrecht wiedergutzumachen, das ich verursacht habe. Dieser Tag ist meine letzte Chance. Die will ich ergreifen. Ich will Thomas finden und ihn um Verzeihung bitten. Sollte mir das nicht gelingen und er eines Tages zu Dir kommen, musst Du alles tun, um ihm und seiner Familie zu helfen.

Du bist immer das Beste gewesen, was einem Menschen wie mir widerfahren konnte. Ich habe Dich zu keinem Zeitpunkt verdient, aber ich habe Dich immer geliebt.

Frank

Er nahm eine Rose aus der Vase und legte sie auf den Brief, richtete sich auf und betrachtete das Arrangement.

Dann nahm er seine Aktentasche und verließ das Büro.

Hinter ihm verwischte das Wasser vom Rosenstängel die Unterschrift auf dem Brief und machte sie unleserlich.

Automatisch öffneten sich die schwarzen Tore in der Mauer, die den Gutshof umgaben, und ließen Frank Lindens nachtblauen Mercedes passieren. Er bog links auf die Schotterstraße ab und erreichte wenige Minuten später die Landstraße nach Ringkøbing, wo er Gas gab.

Es war wenig Verkehr, und der große Mercedes, eins der wenigen Dinge, die er noch beherrschte, brummte leise und sonor.

Fünfunddreißig Minuten später erreichte er die mitteljütländische Bundesstraße, verband das Mobilgerät mit der Freisprechanlage und betätigte die Kurzwahl. Nach fünf Freizeichen antwortete die schläfrige Stimme eines jungen Mannes:

»Hmm? Simon Hallberg …«

»Können wir uns bereits um elf Uhr statt um zwölf Uhr treffen? Ich bin früher als geplant von zu Hause losgekommen.«

Die Stimme des Journalisten klang schlagartig hellwach.

»Natürlich geht das. Und Sie sind wirklich entschlossen, das durchzuziehen? Ich meine …«

Frank Linden presste die geballte Faust aufs Zwerchfell und blinzelte in die Sonnenreflexe auf der Motorhaube. Er nahm alles gestochen klar und zugleich verschwommen wahr. Die Welt um ihn herum begann sich eigenwillig aufzuführen.

Jetzt übernahm der Unternehmer in ihm. Er hatte im Laufe seiner Karriere Milliardendeals gemanagt, da würde er ja wohl am Festzurren einiger simpler Bedingungen für sein Vermächtnis nicht scheitern.

»So wie wir es verabredet haben«, sagte er. »Sie bekommen eine Story von mir, und Ihr Freund findet Thomas Schmidt.«

Er setzte seine Sonnenbrille auf.

»Ich hätte mich schon längst dazu durchringen sollen, aber ich bin ein Feigling«, murmelte er.

»Das ist wohl kaum die vorherrschende Meinung über Sie«, wandte der Journalist ein.

»Nichtsdestotrotz ist es die Wahrheit.«

Simon Hallberg räusperte sich. Linden hörte im Hintergrund ein Glucksen und sah sich nach seiner Wasserflasche um.

»Michael Sander findet alles und alle, seien Sie versichert«, sagte Simon. »Und wenn wir das hier tatsächlich zu Ende bringen, kriegen wir Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Danach wird Ihre Branche nicht mehr dieselbe sein.«

»Das wird auch höchste Zeit.«

Frank Lindens Blick sprang zwischen der Straße vor ihm, dem Rückspiegel und den Seitenspiegeln hin und her. Er war sicher, dass er beschattet wurde. Falls nicht, machten seine Widersacher eine schlampige Arbeit. Und er zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich um die Besten handelte, die für Geld zu kriegen waren. Vermutlich Experten der düstersten Sorte, vermittelt von einer kleinen, exklusiven Sicherheitsfirma. Eine von denen, die nicht über Google zu finden waren.

»Ich will ganz bestimmt nicht undankbar sein«, versicherte Simon ihm. »Das Honorar ist fabelhaft. Es scheint mir nur so … endgültig.«

Frank Linden blinzelte gereizt. »Verdammt, Hallberg, Sie sind Journalist. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie nicht von einer Story wie dieser geträumt haben. Aber gehen Sie behutsam damit um … Und sorgen Sie dafür, dass niemand Ihnen folgt. Sie sind irgendwo da draußen. Glauben Sie mir.«

»Ich nehme das Rad«, sagte Simon Hallberg.

»Gut. Bis gleich.«

Linden beendete das Gespräch und beobachtete resigniert den verdreckten weißen Ford Mondeo drei oder vier Wagen hinter sich, den er seit fünf Minuten im Rückspiegel hatte.

Die Kabine des Ford Mondeo sah aus, als hätte eine Horde Vierzehnjähriger darin gecampt. Pappbecher mit kalten Kaffee- und Colaresten, fettfleckige Bäckertüten und ein paar leere Pizzaschachteln. Genau die Kombi aus gemütlichem Chaos und wüsten Ausdünstungen, die der Verfolger so liebte. Ein bisschen wie in seiner Wohnung in Hamburg, bis auf den Beo, um den sich seine Nachbarin Frau Schimmelmann kümmerte, wenn Joachim Bachmann auf »Geschäftsreise« war.

Aus der Stereoanlage tönte Shania Twain.

Der korpulente, fünfundfünfzigjährige Privatdetektiv gähnte, schob eine Hand unter den Hosenbund und kratzte sich am Gemächt. Er schloss genießerisch die Augen. Der Wagen näherte sich um Haaresbreite der Leitplanke, worauf er die Hand aus der Hose zog, den Wagen wieder in die Spur brachte und erneut gähnte. Bachmann rieb sich über die grauen Bartstoppeln, tippte eine Nummer in sein Satellitentelefon und richtete sich im Sitz auf, als die flache, monotone Stimme des Verbindungsoffiziers aus den Lautsprechern rieselte. Sie verwendeten Stimmverzerrer, und Bachmann wusste, dass seine Stimme am anderen Ende ebenso monoton und träge ankam – irgendwo in England vermutlich.

»Ja?«

»Wir durchqueren gerade Fünen«, teilte der Deutsche mit.

Hundert Meter vor ihm glitt Frank Lindens Mercedes lässig durch den Morgenverkehr.

»Halten Sie Abstand«, ermahnte der Verbindungsoffizier ihn überflüssigerweise.

»Was hat Linden vor? Ich meine, was ist der Zweck seiner Reise und wo führt sie hin?«

»Eine Pilgerfahrt, würde ich sagen. Vergebung seiner Sünden. Etwas, woran Frank schon sehr viel früher hätte denken sollen.«

Trotz des Stimmverzerrers deutete Bachmann die kurzen Konsonanten und die leicht schleppende Stimme als das gediegene Produkt traditioneller englischer Oberklasse: Eton oder Rugby, Oxbridge, mit anschließendem Offizierspatent in einem ruhmreichen Regiment.

»Aha«, sagte Bachmann.

»Und das können wir nicht zulassen«, sagte der Verbindungsoffizier.

»Das können wir wohl nicht. Wie gehe ich ab jetzt vor?«

»Folgen Sie ihm weiter. Wir haben eine Vermutung, was sein Ziel ist, wollen aber gerne ganz sichergehen. Und seien Sie um Gottes willen vorsichtig. Frank Linden ist todkrank. Er hat nichts zu verlieren und wird sich vor nichts fürchten. Und er ist ein großer Mann, das kann man drehen und wenden, wie man will. Bedauerlicherweise sind wir gezwungen, Frank Lindens Geschichte abzuschließen.«

»Warum überlassen Sie das nicht einfach dem Lauf der Natur?«, fragte der Deutsche.

Die Tonlage des Verbindungsoffiziers veränderte sich. Wurde klanglos.

»Bis zum allerletzten Atemzug kann er für unseren Klienten alles zerstören. Außerdem hat er diesen verfluchten Ghostwriter ins Spiel gebracht. Typisch Frank. Wir müssen jetzt eingreifen. Und ich verfüge zufällig über die passende lokale Expertise.«

»Lokal?«

Bachmann bekam keine Antwort. Der Verbindungsoffizier hatte das Gespräch beendet.

Der Verfolger schüttelte die letzte Zigarette aus dem Päckchen und hoffte, dass Frank Linden auf seiner Pilgerfahrt eine kurze Pause eingeplant hatte.

Am liebsten irgendwo, wo es Camel Blue gab.

In einer eleganten Altbauwohnung in der Nähe der Kopenhagener Marmorkirche klingelte das Telefon. Die Operatorin war schlagartig hellwach, streckte sich nach dem Handy auf dem Nachttisch aus und setzte sich auf.

»Ja?«

Sie blinzelte, als sie die körperlose Stimme des Verbindungsoffiziers hörte, und beugte sich vor.

»Sind Sie wach?«

»Ja.«

Sie fuhr sich mit den Fingern durch das kurze, fast schwarze Haar. Spürte das Adrenalin.

»Wir haben grünes Licht.«

Sie schlug die Bettdecke beiseite und warf einen Blick auf den jungen Mann, den sie am Vorabend aufgegabelt hatte und mit dem sie nun das Bett teilte. Mark? Martin? Morten? Er war nackt und muskulös. Glatte Haut, unbehaart und braun gebrannt – genau so, wie sie es am liebsten mochte.

Und er schlief friedlich wie ein Kind. Nichts ahnend.

Die Operatorin stieg aus dem Bett und stellte sich nackt vor die hohen Schlafzimmerfenster, zog die langen Vorhänge auf und begrüßte das majestätische Kuppeldach der Marmorkirche wie üblich mit einem Lächeln. An diesem Morgen sah das Kupferdach massiv und wehrhaft aus wie der Helm eines Kreuzritters. Zu anderen Zeiten – besonders an späten Sommernachmittagen – wirkte es leicht und licht wie Luft. Schwebend.

Tauben flogen von Gesimsen und Mauervorsprüngen auf und schraubten sich hinauf zum Himmel.

»Wo finde ich ihn?«, fragte sie.

»Nach unserer aktuellen Einschätzung ist er mit seinem Ghostwriter am Meer verabredet.«

»Am Sund, meinen Sie. Streng genommen ist das kein Meer.«

»Danke. Beide sollen liquidiert werden. Und Sie vernichten bitte sämtliches Material in Lindens Besitz.«

»Selbstverständlich.«

Die Stimme des Verbindungsoffiziers rutschte eine Oktave tiefer in eine onkelhafte Tonlage, die ihr aus tiefster Seele zuwider war.

»Was den jungen Mann in Ihrem Bett betrifft …«

Die Operatorin seufzte.

»Was ist mit ihm?«

Sie wusste, was jetzt kommen würde, während ihr Blick nach wie vor liebevoll auf der schönsten Aussicht Kopenhagens ruhte. Die Kirche und ihre Wohnung waren die festen Anker in ihrem Leben, seit sie die rote Linie überschritten hatte – seit dem Ende ihrer Militärkarriere und dem Neustart als Freelancerin.

Die Operatorin war Tochter eines unfähigen amerikanischen Vaters und einer ebenso unfähigen dänischen Mutter. Aufgewachsen in einem Trailerpark in Florida mit nur einem einzigen Ausweg: das Militär. Die Alternative wäre eine Karriere als seelenlose Stripperin am Hunters Creek gewesen. Methamphetamin, verkrachte Existenzen und Abtreibungen.

Die Operatorin hatte sich fürs Militär entschieden und war die erste Frau, die die Aufnahmeprüfung für die Offiziersschule der US Marines absolvierte. Schultern und Rücken trugen immer noch Narben von den schweren Rucksäcken und Baumstämmen, die sie sieben endlose Wochen Tag und Nacht mit sich rumgeschleppt hatte, Zeugnisse von Selbstverleugnung und Ausdauer.

»Ihnen ist schon klar, dass er nicht der Anwalt und Investitionsberater ist, für den er sich ausgibt, sondern ein chronisch arbeitsloser, begrenzt talentierter Schauspieler? Seinem Armani-Auftritt und der Panerai-Uhr zum Trotz … übrigens eine Kopie.«

Sie betrachtete den schlafenden Adonis in ihrem Bett und lächelte.

»Ich hatte nicht vor, mich finanziell beraten zu lassen … Und was seine Talentlosigkeit betrifft, kann ich Ihnen nicht zustimmen, zumindest nicht in allen Bereichen.«

Der Verbindungsoffizier schnaufte genervt.

»Schmeißen Sie ihn raus. Sie müssen sich jetzt um andere Dinge kümmern.«

»Verstanden«, murmelte sie.

Der Verbindungsoffizier hatte natürlich recht. Sie würde heute ihr Bestes geben müssen. Wie immer. Fehler wurden in ihrer Welt weder toleriert noch verziehen.

Eine Tankstelle östlich von Odense

Der Beschatter hatte seinen Mondeo auf der Rückseite des flachen, weißen Tankstellengebäudes geparkt. Von seinem Platz aus sah er den rechten Kotflügel von Lindens Mercedes.

Er ging an den Fenstern des Cafés vorbei und sah Linden an einem der Tische sitzen, wo er nachdenklich in einem Pappbecher rührte. Bachmann ging weiter zum Kiosk des Rastplatzes und kaufte eine große Packung Donuts mit unterschiedlichen Glasuren, sechs eiskalte Dosen Cola und zwei Schachteln Camel Blue.

Er lächelte die Verkäuferin freundlich an. In seinem Arm hielt er alles, was sein Herz begehrte.

Als er wieder am Café vorbeilief, bemerkte er, dass Frank Linden nicht mehr an seinem Platz saß. Aber aus dem Pappbecher stieg Dampf auf, weshalb Bachmann annahm, dass Linden auf die Rasthaustoilette gegangen war.

Armer Kerl.

Wieder zurück in der heimeligen Kabine des Mondeo, arrangierte der Deutsche liebevoll die Delikatessen um sich herum – kleine Freuden eines Menschen, der die meiste Zeit seines Lebens allein verbringt.

Er hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und die erste Cola geöffnet, als die Beifahrertür aufgerissen wurde. Frank Linden setzte sich neben ihn und knallte die Tür zu.

Überrumpelt hustete der Deutsche, verstummte jedoch augenblicklich, als er einen halben Meter vor seiner fleischigen Nase in einen Pistolenlauf blickte. Die Pistole wurde von einer knochigen, aber unerschütterlich ruhigen Hand gehalten.

Der Unternehmer sprach den Verfolger auf Englisch an, obwohl der Wagen ein dänisches Kennzeichen hatte. Mit kratziger Stimme, aber deutlich.

»Seien Sie so freundlich und legen Sie beide Hände aufs Lenkrad.«

Bachmann folgte der Aufforderung und ließ sich nicht von Lindens höflichem Tonfall täuschen. Der Blick des Unternehmers war bleigrau und todernst.

Linden zog den Zündschlüssel aus dem Lenkradschlitz und steckte ihn in die Jackentasche.

»Ersatzschlüssel?«

Der Deutsche schüttelte den Kopf.

Frank Linden öffnete das Handschuhfach und fand die Ersatzschlüssel. Bachmann seufzte resigniert.

»Brieftasche, Telefon?«

Der Verfolger überreichte die geforderten Gegenstände.

Linden stieg aus, beugte sich vor und sah Bachmann an.

»Wenn ich Sie noch ein Mal sehe, sind Sie ein toter Mann. Haben Sie mich verstanden?«

»Vollkommen. Danke.«

Bachmann war so perplex, dass er auf Deutsch geantwortet hatte.

Die Operatorin nahm eine rasche Dusche und stellte ihrem schwarzen Kater Belphegor etwas zu fressen hin. Sie stand vor der Espressomaschine, als sie von hinten in eine unerwünschte Umarmung gezogen wurde. Die Hände ihres Lovers wanderten von ihren Hüften hoch zu ihren Brüsten.

Sie packte seinen Daumen und kugelte ihn fast aus dem Gelenk aus, während sie sich blitzschnell umdrehte und ihn von sich stieß. Entgeistert blickte der junge Mann sie an. Der jähe Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen.

»Sorry, aber du hast mich erschreckt. Alles okay mit dir?«, fragte sie gleichgültig.

Er schaute auf seine Hände.

»Wie wär’s mit einem Guten Morgen, ehe man sich verstümmelt?«

»Nur im engsten Familienkreis.«

»Damit meinst du deinen Kater?«

»Genau.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ ihren Blick von seiner kunstvollen Man-Bun-Frisur und dem Hipsterbart über die breiten Schultern und die muskulöse Brustpartie gleiten – und weiter abwärts zu seinem ansehnlichen, wohlgeformten Schwanz. Das dichte Schamhaar war auf ein dunkles V getrimmt.

V für Vendetta, dachte sie.

Verlegenheit war ein Fremdwort für sie. Während ihrer dreijährigen Ausbildung hatte sie die Baracke mit zwanzig jungen Männern geteilt. Da hatte es nie Probleme gegeben: Sie war einer von ihnen gewesen. Immer.

»Ich muss dich rausschmeißen, Martin. Ich habe was Dringendes zu erledigen in der Welt, die wir Realität nennen, während du zurück ins La-La-Land gehst. Habe ich das richtig mitbekommen, dass du Schauspieler bist?«

»Mark! Ich heiße Mark, verdammt noch mal.«

Er funkelte sie wütend an, während er sich den Daumen massierte. Es gibt vermutlich nicht viele Frauen, die diesen Halbgott nach einer gemeinsamen Nacht rauswerfen, dachte die Operatorin. Kein Wunder, dass ihm das nicht schmeckte.

Seine Mundwinkel zitterten.

»Du bist mir eh viel zu alt«, sagte er.

Sie lächelte.

»Okay, wenn du meinst. Und jetzt pack deinen Schwanz, deine Klamotten und deine Fake-Panerai ein und geh.«

»Und wenn ich noch keine Lust habe zu gehen?«

Die Operatorin gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. Der Kater durchbohrte den Mann mit grünen, ausdruckslosen Augen.

»Ziehst du ein bestimmtes Krankenhaus vor?«

»Fucking bitch!« Kleine Speicheltropfen spritzten von seinen geschwungenen Lippen.

Er verließ die Küche, und gleich darauf hörte sie, wie sich ein Reißverschluss mit einer energischen Bewegung schloss. Harte Schritte auf dem Parkett, dann knallte die Wohnungstür zu.

Sie nahm den Kater auf den Arm.

»Warum stehe ich nur immer wieder auf solche Arschlöcher, Belphegor?«

Der Kater blinzelte.

Sie sah nachdenklich aus dem Fenster.

»Der letzte anständige Mann, den ich gevögelt habe, war der Arzt. Ein Poet in einer gottverlassenen Wüste. Eine scheißtraurige Geschichte. Aber wenn du darauf bestehst, werde ich sie dir irgendwann erzählen.«

Der Kater bohrte seine Krallen in ihren Unterarm, wand sich los und sprang auf den Boden. Er huschte auf den Flur und ließ sie allein mit der fauchenden Espressomaschine zurück. Die Operatorin schaute dem Tier hinterher und fühlte sich merkwürdig verlassen.

Als sie angezogen war, ging sie gemächlich mit dem Kaffeebecher in der Hand durch ihre geliebte Wohnung. Sie schaute in die Vitrinen mit der Sammlung antiker Leica-Kameras, den Glasschrank mit dem #10 FC Barcelona-Fußballtrikot, persönlich signiert von Lionel Messie, und öffnete die verborgene Tür zum Waffenraum.

Es war ein sonniger Sommermorgen wie so viele andere in dem Haus in Charlottenlund. Michael Sanders Frau Lene wirbelte durchs Haus und sammelte ihre Sachen für einen langen Arbeitstag im Dezernat der Reichspolizei für personengefährdende Kriminalität. Michael starrte gedankenversunken in seinen Kaffeebecher, während seine fünfjährige Tochter Maria Haferflocken mit Milch löffelte und Orangensaft dazu trank. Das Haus war gemütlich und nicht übertrieben ordentlich. Der einzige, peinlich aufgeräumte Raum in der alten Villa war Michael Sanders Kellerbüro, wo er seine Einmannfirma betrieb, die sich im Lauf der Zeit auf die Identifikation und Verhinderung von Industriespionage spezialisiert hatte. Außerdem auf wenige, extrem spezielle Projekte, die er komplett vor seiner Umwelt geheim hielt und nicht offiziell in Rechnung stellen konnte.

Er war inzwischen nicht mehr hundertfünfzig Tage im Jahr in der Weltgeschichte unterwegs. Hatte er seinen Klienten früher Gesamtpakete angeboten, die von Geiselverhandlungen über Sicherheitskonzepte für wertvolle Installationen bis hin zur Unschädlichmachung unerwünschter Personen reichten, bestand seine Arbeit inzwischen vorzugsweise aus Beratertätigkeiten vom heimischen Computer aus. Lene erlaubte ihm nichts anderes.

Vernünftig, nachdem sie Eltern geworden waren.

Und zum Kotzen langweilig.

Was er mit fortgesetztem, dienstbeflissenem Nahkampftraining und dem Handling unterschiedlicher Waffensysteme zu kompensieren versuchte.

Obgleich Michael inzwischen seinen fünfzigsten Geburtstag hinter sich hatte, war sein kurzes Haar bislang nur kleidsam grau meliert, an seiner Kondition war nichts auszusetzen, und er konnte sich rühmen, nach wie vor das zu sein, was er immer gewesen war: ein menschliches Schweizermesser.

Von seinem Stammplatz neben Marias Stuhl aus observierte der kanadische Entenhund Skipper jeden Löffel, der in ihren Mund wanderte.

Lene Jensens hektische Schritte waren erst in der oberen Etage zu hören, dann im Keller, gleich darauf wieder in der Küche. Sie schob ihre 9-mm-Pistole ins Halfter über der Hüfte, schnappte sich ihren Autoschlüssel, stand lange vor dem offenen Kühlschrank, hatte aber offensichtlich vergessen, wonach sie suchte, und knallte die Tür wieder zu. Die Kriminalhauptkommissarin war athletisch und schlank. Sie bewegte sich blitzschnell und geschmeidig, fühlte sich aber ständig von den Wechseljahren bedroht wie von verirrten Planeten, die alles Leben auf der Erde auslöschen würden.

»Verdammt, mein Hirn ist ein Sieb!«, platzte sie heraus und starrte Michael anklagend an. »Meinst du, das ist der Anfang?«

Er sah in das Gesicht, das für ihn nach wie vor das hübscheste auf der Welt war.

»Von Alzheimer? Klar.«

Sie machte den Mund auf, schloss ihn aber gleich wieder.

»Ich glaube, Skipper wäre ein super Astronaut«, sagte Maria mit einem liebevollen Blick auf ihren Hund und stellte die Schüssel mit Haferflocken auf den Boden.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Michael und bereute es im gleichen Augenblick. Am Vortag war es noch ein Hirnchirurg gewesen. Diese Gespräche mit Maria waren die sinnlosesten, die man sich vorstellen konnte.

»Maria, wie oft soll ich dir noch sagen, dass Skipper keine Haferflocken mit Zucker verträgt. Du weißt ganz genau, dass ich veterinärgeprüftes Vollwertfutter für ihn kaufe, das so viel kostet wie argentinisches Rinderfilet.«

»Er ist so ruhig«, erklärte Maria.

Michael sah seine Tochter an. »Aber er kann nicht einmal rückwärtsgehen. Und das ist eine Grundvoraussetzung für Astronauten. Unter anderem.«

»Kann er wohl!«, sagte Maria.

Sie tätschelte Skipper.

»Er ist gestern auf der Treppe ausgerutscht«, sagte Michael.

»Armer Skipper«, murmelte seine Tochter und vergrub die Nase tief in dem Hundepelz.

Lene drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Das war ungewöhnlich, weshalb er sie misstrauisch musterte.

»Du wirst das Elterngespräch im Kindergarten übernehmen müssen, Schatz. Ich habe heute bis um zehn Uhr Besprechungen.«

Michael stöhnte.

»Neeeiiin! … Kinderkult, Mom-Bloggerinnen samt ihren unausstehlichen Nachkommen mit Narnia-Namen, die noch nie das Wort Nein gehört haben. Mütter, die jeden verfluchten Morgen die gleiche Titanic-Abschiedsszene durchziehen, als würden ihre Gören zum Nierenspenden nach Albanien geschickt.«

Er suchte den Esstisch nach einem Zigarettenpäckchen ab und vergaß für einen kurzen Augenblick völlig, dass er vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte.

Auch dieses harmlose Vergnügen hatte Lene ihm verboten.

Ihr gnadenloser, grüner Blick wich keinen Millimeter.

»Ich war letztes und vorletztes Mal bei dem Gespräch, okay? Hast du was Wichtigeres vor?«

Michael starrte finster vor sich hin. Er hatte diesen Tag tatsächlich für einen der sehr anspruchsvollen und speziellen Aufträge verplant, von denen er niemandem etwas erzählte.

»Das Auto muss zur Inspektion.«

»Und das dauert … wie lange? Eine halbe Stunde?«

»Ja!«

Seine Tochter legte ihre kleine Hand auf seine.

»Ich kann alleine dorthin gehen, Papa.«

Michael sah sie dankbar an.

»Das wäre toll.«

»Michael!«

Er holte tief Luft. »Ist ja gut!«

Lene schloss die Schultertasche, klopfte ein letztes Mal ihre Taschen ab und sah Maria und Michael an.

»Georgina kommt vorbei und passt auf dich auf, Maria, solange Papa im Kindergarten ist.«

Maria bekam große Augen, und ihr kleiner Körper versteifte sich, als der Name der Babysitterin fiel. Georgina war eine wortkarge, handfeste Sechzehnjährige, deren hackenbetonter Gang durchs ganze Haus dröhnte. Sie war Gruppenleiterin bei den Pfadfindern, Starathletin und liebte nichts so sehr, wie im Februar unter einem nassen Regencape auf einem gefrorenen Acker zu übernachten. Und für diese spartanischen Tugenden versuchte sie, auch Maria zu begeistern. Bislang ohne größeren Erfolg.

»Ich beeile mich auch, schnell wieder nach Hause zu kommen, Schatz«, tröstete Michael sie.

»Versprochen, Papa?«

Lene schüttelte den Kopf.

»Ihr zwei wieder! An Georgina ist wirklich nichts auszusetzen. Im Gegenteil.«

»Die Fremdenlegion würde sich über eine wie sie freuen«, murmelte Michael.

Auf Michaels Mobilgerät klingelte eine eingehende SMS. Er runzelte die Stirn, als er den Absender sah. Simon Hallberg. Es war mindestens ein Jahr her, dass er den Journalisten gesehen hatte.

Michael, das hier ist extrem wichtig: Ich habe zwei Jobs für Dich. Du sollst für Frank Linden eine Person finden. Bei Erfolg 1 Mio. USD. Können wir uns später am Tag bei mir treffen? Simon.

Michael rechnete im Kopf nach.

Passt 15:30?

Die Antwort kam wenige Sekunden später.

Super. Bis nachher. Simon.

Skodsborg, Parkplatz am Struckmannpark

Der Treffpunkt war in vielerlei Hinsicht ideal. Der Parkplatz am Sund war nach drei Seiten von einem Park und dem dichten Wald um den Bøllemose-See vor neugierigen Blicken abgeschirmt.

Frank Linden schaltete den Motor aus und öffnete das Seitenfenster. Obgleich die Klimaanlage auf höchster Stufe lief, schwitzte er aus allen Poren. Er lockerte die Krawatte, nahm eine Morphintablette, trank den Rest aus der Wasserflasche, knöpfte das Hemd am Hals auf und wechselte das Morphinpflaster auf der Brust.

Zwei Minuten später entdeckte er Simon Hallberg auf dem Waldweg, der zu dem Parkplatz hinunterführte. Der Journalist stellte sich auf die Pedale seines Mountainbikes und winkte.

Linden winkte müde zurück.

Simon lehnte das Rad an einen Baum, nahm den Helm ab und hängte ihn an den Lenker. Er ging zu Lindens Mercedes, setzte sich auf den Beifahrersitz und öffnete seinen Rucksack.

Als er sich lächelnd zu dem Unternehmer umdrehte, gefror sein Lächeln und wurde von einem besorgten, schockierten Ausdruck abgelöst. Frank Linden strich sich selbstbewusst über den fast kahlen Schädel. Er wusste nur zu gut, dass er seit ihrem letzten Treffen vor wenigen Wochen dramatisch abgebaut hatte.

»Chemotherapie«, sagte er. »Sie schlägt nicht an.«

»Das tut mir leid.«

»Wenn ich die Zeit hätte, würde ich Anzeige erstatten.«

»Gegen wen?«

»Gott. Es ist weiß der Himmel wie lange her, dass ich mir das letzte Mal etwas einverleibt habe, das nicht bio ist. Ich bin sechs verfluchte Marathons unter dreieinhalb Stunden gelaufen. Und ich trinke höchstens zwei Glas Rotwein zum Abendessen. Trotzdem habe ich jetzt Bauchspeicheldrüsenkrebs. Was zum Teufel soll das? Worauf kann man sich denn überhaupt noch verlassen?«

»Das ist ungerecht«, stimmte Simon ihm zu.

»Das ist es. Ich wurde übrigens auf meinem Weg hierher beschattet.«

Simon nahm ein digitales Aufnahmegerät aus dem Rucksack und schaltete es ein.

»Um sicherzustellen, dass ich nichts vergesse«, murmelte er. »Was ist passiert?«

»Ich habe den Typen ausgebremst, einen fetten und reichlich indiskreten Deutschen. Ich muss schon sagen, dass es mich ziemlich enttäuscht, dass sie solches Billigpersonal auf mich ansetzen.« Linden hustete und krümmte sich. Dann sah er den Journalisten mit zusammengekniffenen Augen an.

»Dieser Michael Sander – ist der wirklich so gut, wie Sie behaupten?«

»Erinnern Sie sich an den niederländischen Industriellen Pieter Henryk? Die Geschichte liegt vielleicht fünf Jahre zurück und ist durch sämtliche Medien gegangen.«

Linden nickte und nahm eine frische Flasche Mineralwasser aus dem kühlen Handschuhfach.

»Seine Tochter wurde entführt, wenn ich mich recht entsinne«, sagte er. »Vergewaltigt und misshandelt. Sie haben vier Millionen Euro für sie gefordert, richtig? Haben sie die Kidnapper gefunden?«

»Nicht offiziell. Inoffiziell hat Michael Sander sie auf einem Hof in der Nähe von Nijmegen aufgespürt. Er hat das Mädchen buchstäblich in letzter Sekunde da rausgeholt. Aber da war sie bereits innerlich zerbrochen. Drei Wochen nach ihrer Befreiung hat sie sich in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung das Leben genommen«, sagte Simon.

»Und was ist mit den Entführern passiert?«

»Sander hat sie vor die Wahl gestellt, sich selbst mit einem Revolver zu richten oder lebendig eingemauert zu werden. Vor dem Haus stand ein Anhänger mit den nötigen Backsteinen, Zement und Mörtel bereit. Alle drei haben den Revolver vorgezogen.«

Linden pfiff beeindruckt.

»Michael Sander hat einen herausragenden Lebenslauf«, fuhr Simon fort. »Wenn jemand Ihren Freund finden kann, dann er.«

»Thomas Schmidt ist seit sechs Jahren wie vom Erdboden verschluckt«, sagte Frank Linden skeptisch. »Und er ist kein Freund im traditionellen Sinn. Ich habe zwei Anläufe gemacht, ihn zu liquidieren. Das ist eine recht komplizierte Freundschaft.«

Der Journalist hörte stumm zu, aber Frank Linden wusste, dass es hinter Simon Hallbergs junger, glatter Stirn brodelte.

»Wer ist er, und wieso haben Sie mich ausgesucht?«, fragte der Journalist.

Linden drehte sich auf seinem Sitz zu Hallberg.

»Sie waren drei Jahre Journalist bei The Economist. Ihre Beiträge, insbesondere der Artikel über die amerikanische Waffenlobby, waren großartig. Wirklich großartig.«

Der Journalist errötete.

»Was Thomas Schmidt betrifft … Er ist ein wandelndes Rätsel. Ich habe ihn nie verstanden, aber ich habe ihn respektiert. Er ist Arzt und mit einer grenzenlosen Liebe für die Verdammten dieser Welt ausgestattet. Das Salz der Erde. Er hat für eine katholische Organisation gearbeitet, vorrangig in Krisengebieten.«

Simon runzelte die Stirn.

»Däne?«

»Wie Sie und ich. Er ist ausgebildeter Chirurg mit einer blendenden Karriere. Dann ging seine Ehe vor die Hunde, und er verwandelte sich in einen Eremiten. Verbittert. Es konnte ihm gar nicht einsam, riskant und schwierig genug sein. Er nahm alle Aufträge an, die andere Ärzte wie die Pest meiden. Todessehnsucht könnte man es nennen. Am Ende landete er in einer Missionsstation in Äthiopien, wo er junge Mädchen zusammenflickte, deren Beckenböden bei der Geburt viel zu großer Kinder in viel zu jungen Jahren zerrissen worden waren. Die meisten sind gerade mal dreizehn oder vierzehn Jahre alt! Sie werden inkontinent, haben oft Totgeburten und werden von ihren Familien und Clans ausgestoßen, gelten als unrein. Nicht mehr zu gebrauchen.«

»Wie heißt die katholische Organisation?«

Linden wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete angeekelt das feuchte Taschentuch. Er zog das speckige, grüne Tagebuch aus der Aktentasche und strich mit den Fingerkuppen über den ausgeblichenen Umschlag.

»Herz-Jesu-Schwestern. Das hier ist Thomas Schmidts afrikanisches Tagebuch. Ich möchte, dass Sie es lesen und Ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen.«

Danach holte Frank Linden einen USB-Stick und einen großen Umschlag aus der Tasche.

»Da ist alles drin«, murmelte er und zeigte Simon den Inhalt des Umschlags. »Die ganze Katastrophe. Und hundertfünfzigtausend Schweizer Franken für Thomas. Passen Sie gut darauf auf.«

Simon machte große Augen.

»Ich habe noch nie so viel Bargeld gesehen, geschweige denn in der Hand gehabt. Woher kennen Sie Schmidt?«

Das grüne Lämpchen des Aufnahmegerätes blinkte unverdrossen auf der Armlehne zwischen den Sitzen.

»Linden Pharma hat ein Pilotprojekt in Äthiopien gesponsert. Wir haben dafür gesorgt, dass das Missionshospital mit der besten Ausrüstung ausgestattet wurde, die für Geld zu kriegen war. Und Thomas hat einen neuen Wirkstoff gegen Bilharziose für uns getestet.«

»Was ist das?«

»Eine Wurmerkrankung. Ausgelöst durch einen kleinen bösartigen, egelartigen Parasiten, der in tropischen Flüssen mit langsam strömendem Wasser lebt. Jedes Jahr sterben mindestens zweihunderttausend Menschen an Bilharziose. Der Parasit kann effektiv mit Praziquantel behandelt werden, wenn man sich das Medikament leisten und es beschaffen kann. Inzwischen sind die Egel vielerorts gegen Praziquantel immun geworden, besonders in Afrika.«

Linden klopfte mit einem Nagel auf den USB-Stick.

»Formeln, Patentanträge, die nie abgeschickt wurden, statistisches Material. Für ein Mittel, das Praziquantel ablösen sollte. Wir haben es Rivaquantel genannt. Ungeheuer kostengünstig zu produzieren. Gedacht als Linden Pharmas Geschenk an die Welt. Nobelpreiswürdig.«

»Hat es gewirkt?«

Frank Linden setzte zur Antwort an, verstummte dann jedoch und spitzte wie Hallberg die Ohren. Oben vom Strandvejen ertönte laute Rapmusik und ein angestrengt jaulender Automotor. Kurz darauf bog ein verdrecktes, weißes Wohnmobil auf den Parkplatz ein. Die Musik schallte aus den offenen Fenstern. Der Wagen war mit bunten Surfbrettern bepackt. Zwei junge Männer und zwei etwa gleichaltrige Frauen drängten laut lachend nach draußen. Die langhaarigen, muskulösen und braun gebrannten Männer in ihren sonnenverblichenen Cargoshorts sahen aus wie aus einer Bacardi-Werbung. Die jungen Frauen trugen Bikinitops, Sarongs und Shamballa-Armbänder.

Sie torkelten angeschickert ins Gebüsch, um diverse Geschäfte zu erledigen, während die Jungs sich mit ihren GoPro-Kameras beschäftigten.

»Die Zukunft unseres Landes«, murmelte Linden.

»Gott steh uns bei«, sagte Simon.

Hundert Meter entfernt und gut verborgen hinter den tief hängenden Ästen eines Baumes saß die Operatorin auf ihrem Motorrad. Durch ihr kleines, aber extrem starkes Fernglas hatte sie eine ausgezeichnete Sicht auf die beiden Männer in dem Mercedes. Das Wohnmobil mit den vulgären und schrill kichernden Mädchen machte ihr natürlich einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Andererseits: Wer sich nicht in der Lage sah, unter erschwerten Bedingungen zu improvisieren, war schnell weg vom Fenster in dieser Branche. Ihre Lehrmeister – vierschrötige, kampferprobte, nüchtern-pragmatische Unteroffiziere der US Marines – sprachen niemals von Problemen, grundsätzlich nur von Herausforderungen.

Frank Lindens Stimme wurde schwächer. Simon musterte ihn mitfühlend. Die knochigen Finger des Unternehmers bohrten sich in seinen Unterarm.

»Die Branche, der ich angehöre, trachtet Thomas Schmidt nach dem Leben. Wir sind Menschen, die nur auf das Ergebnis schauen. Dazu wurden wir ausgebildet. Das ist es, was wir wollen. Wir lassen nichts anderes zu. Thomas kann nicht mehr als Arzt arbeiten, weil wir ihn dann finden würden.«

»Wir?«

Simon schluckte. Die Gedanken schwirrten wie gefangene Insekten in seinem Kopf herum. Der einzig klare Gedanke, den er fassen konnte, war, dass durch irgendein kosmisches Schweineglück die Wahl auf ihn gefallen war. Das hier war monumental. Es würde ihm den größten Journalistenpreis einbringen. Mindestens. Verdammt ärgerlich nur, dass er laut seinem Vertrag als Autor anonym bleiben musste.

»Ich selbst … und meine Kollegen, also die Pharmaindustrie, wenn Sie so wollen, wir sind allmächtig. Wir sind eine Loge. Obgleich wir Konkurrenten sind, verfolgen wir in hohem Maße gemeinsame Interessen gegen Vorstöße aus unserem Umfeld, unseren Absatzmarkt in der Dritten Welt zu regulieren. Alle sollen auf uns angewiesen bleiben.«

Er sah Simon mit einem dünnen Lächeln an.

»Die Pharmaindustrie wollte Thomas aus dem Weg schaffen und so schnell wie möglich vergessen. Ich habe unterdessen in den vergangenen sechs Jahren im Geheimen für seinen Unterhalt gesorgt, indem ich ihm zweimal jährlich beträchtliche Geldsummen zukommen lasse. Immer in bar. Die nächste Übergabe soll übermorgen stattfinden. An dieser Stelle kommen Sie ins Spiel. Sie und dieser … Michael.«

»Sind Sie bei diesen Treffen dabei?«

»Thomas würde sich eher ohne Narkose kastrieren lassen, als mit mir zu sprechen. Er gibt in der Nacht vor dem Treffen, und zwar exakt eine Minute nach Mitternacht, Vorgehensweise, Zeit und Ort auf YouTube unter Adigrat2012 bekannt.«

»Clever.«

»Ja, Thomas ist ein cleverer Mann. Er traut generell weder elektronischen Überweisungen noch dem Diskretionsversprechen der Banken. Aber langfristig wird er damit nicht durchkommen. Weil es schlicht eine Frage der Ressourcen ist. Es ist im Grunde ein Wunder, dass er es so lange geschafft hat. Dead man walking, sagt man nicht so?«

»Hat Ihr Wundermittel denn gewirkt wie geplant? Konnten die Erkrankten geheilt werden?«

»Absolut. Aber es gab unerwünschte Nebenwirkungen. Und die hat Thomas erkannt.«

»Was für Nebenwirkungen?«

Frank Linden krümmte sich unter einer anhaltenden Schmerzattacke zusammen. Simon legte ihm eine Hand auf die Schulter. Hemd und Jacke waren schweißnass.

»Verflucht … nicht mehr«, japste Linden zwischen zusammengepressten Zähnen. »Ich kann verdammt noch mal nicht …«

Er legte das Buch, den USB-Stick und das Geld auf Simons Schoß.

»Gehen Sie. Jetzt! Hier finden Sie alles. Lesen Sie. Und machen Sie damit, was Sie für richtig halten, in meinem Namen, hören Sie?!«

Er zog den Journalisten näher zu sich.

»Finden Sie Thomas! Und sagen Sie, dass es mir leidtut … unendlich leid.«

Er beugte sich über Simon, öffnete die Beifahrertür und schob ihn aus dem Wageninnern.

Simon stand reglos auf dem warmen Asphalt des Parkplatzes in der Sonne. Hilflos blickte er den sterbenden Mann im Innern seines Wagens an. Lindens Hand hob sich zu einem letzten, beinahe zeremoniellen Gruß.

Simon beantwortete mechanisch die Geste des Unternehmers.

Dann verstaute er Thomas Schmidts afrikanisches Tagebuch, das Geld und den USB-Stick in seinem Rucksack. Er ging zu seinem Rad und schloss es auf, wobei er sich noch einmal zum Auto umdrehte.

Sollte er einen Arzt rufen?

Aber was würde das bringen?

Frank Linden würde ihn dafür hassen.

Die Operatorin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tank ihres Motorrads. Die Chance eines kurzen chirurgischen Eingriffs in das Treffen der beiden Männer hatte sich rasch erledigt. Das rote T-Shirt des Ghostwriters verschwand zwischen den Bäumen und mit ihm die wertvollen Informationen in seinem Rucksack. Frank Linden schien das Bewusstsein verloren zu haben, und die verfluchten Surfer, die zweifellos auf dem Weg nach Cold Hawaii bei Thyborøn waren, torkelten noch immer über den sonnenheißen Asphalt.

Sie kaute energisch auf ihrem Kaugummi.

Undiszipliniertes, primitives Pack.

Irgendwann bequemten sich die Surfer in ihr Wohnmobil. Die abgenudelten pneumatischen Bremsen heulten auf, aus den offenen Fenstern dröhnte 2 Chainz.

Die Operatorin hasste Rap.

Der Wagen fuhr auf den Strandvejen und würde sicher noch eine geraume Zeit die Anwohner mit dem hämmernden Puls aus South Central, L. A., beschallen.

Sie startete ihr Motorrad und rollte gemächlich über den Parkplatz. Neben Lindens nachtblauem Mercedes blieb sie stehen, klappte den Seitenständer herunter und schwang das Bein über den Sattel.

Trotz des lähmenden Schmerzes nahm Frank Linden ihre Anwesenheit aus dem Augenwinkel wahr und zwang sich, tief und ruhig einzuatmen. Die heranschlendernde, elegante Erscheinung strahlte eine Bösartigkeit aus, der nicht zu entrinnen war.

Sie war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und die Personifizierung von Schönheit und Gesundheit. Linden erkannte sie sofort wieder, trotz Helm und runtergeklapptem Visier. Frauen wie sie waren selten wie Einhörner.

Er umfasste den Griff seiner Pistole.

Wie aus dem Nichts tauchte eine Glock 9 mm mit langem Schalldämpfer in ihrer Hand auf. Sie klappte das Visier hoch und sah Frank Linden mit ihren freundlichen nussbraunen Augen an.

Die Mündung der Pistole war auf sein Gesicht gerichtet.

»Sara … Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin. Ich hätte Sie allerdings früher erwartet. Sie oder einen anderen durchgeknallten, mörderischen Soziopathen.«

Sie antwortete nicht. Der Blick der braunen Augen mit den schwarzen, dichten Wimpern blieb unverändert.

Frank Linden drückte sich seine Pistole in die Mulde unter dem Kinn. Er hätte es mit einem schnellen Fluchtschuss durchs Seitenfenster probieren können, ging aber davon aus, dass sie unter ihrer Ledermontur eine schusssichere Weste und einen kevlarverstärkten Helm trug und damit praktisch unverwundbar war.

»Sie kommen zu spät«, sagte er. »Es ist alles in die Wege geleitet, und weder Sie noch Ihre Auftraggeber werden die Aktion stoppen können. Alles kommt irgendwann ans Licht.«

»Das werden wir ja sehen«, sagte sie. »Außerdem sind Sie der Letzte, der sich moralisch überlegen fühlen dürfte.«

Er spannte den Hahn.

»Sie gestatten?«

Sie betrachtete ihn einen Augenblick und nickte leicht.

»Auf Wiedersehen, Frank.«

Linden drückte ab, und sein Hinterkopf explodierte in einer bordeauxfarbenen Wolke.

Die Operatorin durchsuchte Frank Lindens Mercedes. Sie fand ein Notizbuch und ein Handy, das mit Sicherheit von hier bis zur Hölle und zurück verschlüsselt war. Da entdeckte sie Simon Hallbergs Aufnahmegerät auf der Mittelkonsole, dessen grünes Lämpchen unverdrossen blinkte.

Sie schüttelte den Kopf in stiller Verwunderung, schaltete das Gerät aus und schob es in eine der vielen Taschen ihrer Lederjacke.

Auf der ersten steilen Steigung hinter dem Parkplatz stand Simon kurz vorm Umkippen in den Pedalen und fluchte lange und laut. Er hatte sein Diktafon im Wagen liegen lassen.

Also machte er kehrt und wollte gerade zurückfahren, als etwas unten auf dem Parkplatz ihn voll in die Bremse treten ließ. Das Wohnmobil mit den Surfern war nicht mehr da. Stattdessen spazierte eine schlanke Gestalt in schwarzer Ledermontur und mit einer Pistole in der Hand auf ein Motorrad zu.

Die Scheiben des Mercedes sahen wie mit roter Lackfarbe besprayt aus. Frank Linden lag reglos über dem Lenkrad.

»Jesus …«

Simon hielt die Luft an, fischte das Handy aus der Tasche, aktivierte die Kamera und schoss mit zitternden Fingern ein paar Bilder von der Szenerie unter sich. Die schwarz gekleidete Gestalt erstarrte mitten in der Bewegung. Sie konnte unmöglich das leise Klicken der digitalen Kamera gehört haben, schien aber mit einem sensiblen sechsten Sinn ausgestattet zu sein.

Simon konnte das Gesicht der Person nicht sehen, spürte aber die Intensität des suchenden Blickes.

»Fuck, fuck, fuck …«, murmelte er.

Die Gestalt sprintete das letzte Stück zum Motorrad, und Simon wusste, dass er soeben zur Zielscheibe geworden war.

Das malerische alte Haus, von einem königlichen Baubeamten für einen königlichen Kammersänger entworfen, lag vornehm in der diplomatischen Enklave des Ryvangsviertels und erzählte von Bewohnern, die ihr Leben in vollen Zügen genossen. Die Einrichtung war vollkommen anders als in Michaels Zuhause, in dem sich das Treibgut aus Lenes und seinem früheren Leben zufällig mischte. Die hohen Räume hier waren stilsicher von weiblicher Hand in einer geschmackvollen Mischung aus futuristischen italienischen Designermöbeln und dänischen Klassikern arrangiert. An der grellen, bewusst provokanten Farbgestaltung der Räumlichkeiten schieden sich die Geister. Es gab aber durchaus auch ein paar stillere, meditative Bereiche in beruhigenden Sand- und Erdtönen. Das Haus eignete sich sowohl für hedonistische Künstlerfeste als auch für akademische, geistige Vertiefung.

Es gehörte dem erfolgreichen Kunstmaler Flemming Brandt, ein Mann mittleren Alters und Mitglied im Staatlichen Kunstfonds und im Neuen Carlsberg-Fonds. Er war Professor an der Kunstakademie und gehörte zum Inner Circle jener Clique, die sich untereinander Kunstfördergelder, Stipendien und internationale Einladungen zuschoben.

Brandt war zum vierten Mal verheiratet. Die Frucht seiner Lenden in Gestalt von neun Kindern war gleichmäßig zwischen seinen Exfrauen und seiner derzeitigen jungen Ehefrau – einst Fotomodel, jetzt Koch- und Gartenbuchautorin – verteilt.

Michael befand sich in Brandts Atelier. Fotos von seinen Kindern, in Altersklassen vom Säugling bis zu jungen Erwachsenen in den Zwanzigern, standen auf den diversen Arbeitstischen. Alle waren sie mit der charakteristischen Hakennase ihres Vaters gesegnet.

Der Kunstmaler selbst wirkte auf Michael überraschend konventionell für einen Bohemien. Wobei er nicht genau hätte sagen können, was er eigentlich erwartet hatte. Der Maler trug weite Kaki-Chinos, ein ausgewaschenes Tanktop, aus dessen Ausschnitt die ergraute Brustbehaarung wucherte, rote, jugendliche Converse Sneakers ohne Socken. Dazu ein gepflegter Vollbart, Ohrringe, Architektenbrille in grauem Titan und dunkle Augen unter buschigen Augenbrauen.

Diese Augen betrachteten ihre Umgebung jetzt aus einem ungewöhnlichen Winkel. Die Kakihose des Akademieprofessors war vom Schritt bis zu den Aufschlägen nass, und das Atelier roch nach Urin. Die unnatürliche Neigung des Halses war dem Nylonstrick geschuldet, den Michael in einer sich selbst zuschnürenden Schlinge um den Hals des Malers gelegt hatte. Der Strick führte von Brandts Hals zu einem freiliegenden Dachbalken. Der Künstler balancierte auf Zehenspitzen auf einem kippeligen Schreibtischstuhl mit frisch geschmierten Rädern.

Zwischen dem Sockel des Stuhls und Michaels rechter Hand war eine dünne Leine gespannt.

Für den Augenblick hing sie noch in einem lockeren Bogen über dem Boden, aber ein kurzer Ruck würde den sicheren Tod des Professors bedeuten.

Brandt starrte den ihm unbekannten Mann an, der mit übergeschlagenen Beinen in dem grünen Gästesessel saß, der normalerweise ausländischen Käufern und Galeristen vorbehalten war. Der Fremde war wie ein Bestatter gekleidet, schwarze Lackschuhe, schwarzer Anzug und weißes Hemd. Er sprach langsam, aber deutlich, und sein Gesicht war unter einer Skimaske verborgen. Brandt testete erneut die weichen, aber unnachgiebigen Neoprenmanschetten hinter seinem Rücken. Er ging davon aus, dass das Material bewusst gewählt worden war, damit es keine Striemen oder Abdrücke hinterließ, wenn er …

O Gott!

Er hatte den Fremden nicht hereinkommen hören. Aus den Lautsprechern der Bose-Anlage hatte in voller Lautstärke Tosca gedröhnt, während er an einem neuen Bild mit dem Arbeitstitel Blaue Vulva arbeitete, eine Auftragsarbeit des Staatlichen Museums für Kunst, das von einer alten Freundin geleitet wurde.

Michael empfand sich selbst als recht geschickt in diesen Schock-Verhören, deren Ziel es war, das ahnungslose Opfer innerhalb kürzester Zeit aus einer vermeintlichen Sicherheit in einen Zustand surrealer Angst zu versetzen.

Er befand sich in dem imposanten Wohnsitz im Auftrag von Pinkie Pixie, ein Deckname für eine Person oder eine Gruppe Personen, die sich weltweit uneingeschränkt Zugang zu den sensibelsten und privatesten Informationen verschaffte, unter der Voraussetzung, dass die betreffende Person einen Computer benutzte. Pinkie Pixie war Aladins frei durchs Cyberspace schwebender Flaschengeist, allwissend und allmächtig, und dieses anonyme Geisterwesen hatte nach ausgiebiger und delikater Werbung Michael als Schergen gewonnen, die Distributoren, Produzenten und Nutzer gewaltsamer Pädophilie zu richten.

Michael hatte keine Ahnung von Pinkie Pixies wahrer Identität, vermutete allerdings, dass es sich um einen untergeordneten, aber hochtalentierten IT-Techniker handelte, der sich selbst zum Richter und Schöffen ernannt hatte. Pinkie Pixies Informationen waren äußerst präzise, und obgleich die Exkursionen Michael auf die finstersten Höllenpfade führten, trainierten sie seine Fertigkeiten und hielten sein Gehirn auf Trab, nachdem Lene ihm außer den Elternabenden im Kindergarten alle anderen riskanten Unternehmungen untersagt hatte.

Davon abgesehen sympathisierte er stark mit der Sache. Es ging hier nicht um konventionelle Kinderpornografie, die in obskuren Chatrooms auf TOR von älteren Männern in Unterhosen geteilt wurde. Diese Hintermänner finanzierten, konzipierten und choreografierten Filme von ausgesuchter Qualität, gedreht an fernen Orten wie Thailand, Indonesien oder auf den Philippinen. Sie bezahlten die Familienmitglieder der Opfer oder den westlichen Abschaum dafür, die oftmals unter Zehnjährigen zu vergewaltigen, zu verstümmeln und bisweilen sogar zu töten.

Viele von ihnen waren in Marias Alter.

Die Filme wurden an wohlhabende Aficionados in den USA, Russland, China und Europa verkauft. Pro Kunde wurde nur ein einziges Exemplar produziert und zu Preisen einer Ming-Vase bei Sotheby’s gehandelt.

Snuff-Filme waren Flemming Brandts Haupteinnahmequelle. Die Nachfrage nach seinen filmischen Werken war noch größer als nach seinen Gemälden.

Pinkie Pixie hatte ihn aufgespürt.

Michael nahm ein silbergerahmtes Foto von der Arbeitsplatte, auf dem ein lächelndes Mädchen mit Pferdeschwanz, Reithelm und Milchzahnlücken zu sehen war. Sie stand vor einer Reitbahn voller Mädchen und Ponys und niedrigen, weißen Hindernissen.

»Wie heißt sie, und wie alt ist sie?«, fragte er.

Die Venen am Hals des Künstlers traten deutlich hervor. Seine Lippen waren rot und feucht, die Stimme kiekste hungrig nach Luft.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie vorhaben … Ich kann nur sagen, dass Sie sich irren. Sie verwechseln mich …«

»Beantworten Sie meine Frage.«

Michael zog an der um den Bürostuhl geknoteten Leine, und Flemming Brandt musste seitwärts ausweichen, um den Kontakt zu der übel riechenden Sitzfläche zu bewahren. Er wimmerte laut, und seine Arme wackelten wie Takelage.

»Rosa … Rosa Victoria Nirvana.«

»War Elton John Taufpate, oder was?«

Der Maler blinzelte sich den Schweiß und Tränen aus den Augen.

»Sie ist acht Jahre … gerade mal acht … Gott im Himmel … Warum?«

Michael unterbrach ihn.

»Angelica Torres war acht Jahre alt, als sie starb. Sie starb, weil ihr jemand die Kehle durchgeschnitten hat. Flemming? Kommen Sie, das ist noch keine drei Monate her. Daran müssen Sie sich doch erinnern?«

Brandt stierte Michael entgeistert an. Das war unmöglich. Das hier geschah nicht wirklich. Niemand wusste etwas von Angelica Torres.

Brandt sah die langsame, über mehrere Stunden in die Länge gezogene Verstümmelung des Mädchens als sein filmisches Meisterwerk an, genau wie der polnische Kameramann und der geradezu ekstatische norwegische Tonmeister. Brandt hatte auf dekadente Barockmöbel für die Szenografie in einem Winkel der Lagerhalle bestanden, auf einen Hintergrund aus dickem, blauem Samt und einen mit cremefarbenem Leder bezogenen Operationstisch. Das Mädchen war als Kia Hentai zurechtgemacht, ein populärer Pornomanga.

Der Kunde war ein chinesischer Milliardär aus der Provinz Yunnan, der Rohware an die hippen Streetfood-Imbisse exportierte, die gerade in den westlichen Kreativgettos wie Pilze aus dem Boden schossen.

Ohne Brandt eines Blickes zu würdigen, fasste Michael leidenschaftslos das Schicksal des Mädchens zusammen.

»Angelica Torres wurde an einem Nachmittag vor drei Monaten auf dem Heimweg von der Schule in der Nähe ihres Zuhauses in einem Slumviertel bei Quezon City auf den Philippinen entführt. Drei Tage später wurde ihre in einen Plastiksack verpackte Leiche auf einer Mülldeponie entdeckt. Dort gab es Ratten.

Sie sind am 22. Juni mit Singapore Airlines in Manila gelandet und am 24. Juni zurückgeflogen. Laut Ladungs- und Zollmanifest hatten Sie eine wertvolle Filmausrüstung in gepolsterten Aluminiumkoffern dabei. Ist das korrekt? Die Ausrüstung war von Vista Productions geleast. Dort sind Sie Stammkunde, stehen auf ihrer Weihnachtskartenliste.«

Alle natürliche Farbe war aus dem Gesicht des Künstlers gewichen. Michael ruckte noch einmal an der Leine. Brandts rote Sneaker balancierten nun auf dem äußeren Rand des rotierenden Sitzes. Seine Beine zitterten.

»Klingelt immer noch nichts, Professor?«, fragte Michael.

»Doch.«

Michael legte eine Hand hinters Ohr.

»Entschuldigung?«

»DOCH! Herrgott noch mal. Aber was soll ich machen …? Was verlangen Sie von mir …?«

Michaels Körper schrie nach einer Zigarette. Er befand sich jenseits aller abgrundtiefen Verachtung für den überprivilegierten Professor auf dem wackeligen Bürostuhl und wollte nur noch raus und so schnell wie möglich nach Hause. Degeneration und Bösartigkeit lagen wie ein zäher Klebefilm auf allem: den Möbeln, dem englischen Herd mit drei Öfen, den italienischen Sofas. Den Ponys. Der Trophäengattin. Das alles wurde finanziert durch den Missbrauch armer Kinder aus den schwarzen Löchern der überbevölkerten Regionen der Welt.

»Namen, Adressen, Kontonummern Ihres Netzwerks.«

»Sind Sie wahnsinnig! Die bringen mich um! Begreifen Sie doch, das sind mächtige, unfassbar reiche Menschen!«

Brandt klang so ehrlich verzweifelt, dass Michael unter seiner Skimaske lächeln musste.

»Was glauben Sie, wer ich bin? Mutter Teresa? Sie sind derjenige, der nichts begriffen hat.«

»Ich gebe Ihnen mein ganzes Geld. Ich schwöre.«

»Kein Geld. Namen, Adressen, Kontonummern …«, wiederholte Michael monoton.

Der Professor schluchzte.

Michael sah sich um. Im Atelier herrschte künstlerisches Chaos – unmöglich, es in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, zu durchsuchen. Auf einem Stapel Manuskripte und Zeichnungen stand ein aufgeklappter Laptop, aber dort würde er auf keinen Fall finden, was er suchte. Der Abschaum, der Kinderpornografie auf diesem Niveau produzierte und verbreitete, wusste mehr über IT-Sicherheit als die Experten bei der dänischen Polizei.

Er wickelte die Leine um seine behandschuhte Hand.

Brandt beobachtete die Bewegung mit Augen, die aus ihren Höhlen zu treten drohten.

»Sie wollen mich umbringen!«

Michael schielte auf seine Armbanduhr.

»Kommt drauf an, für welchen Grad der Zusammenarbeit Sie sich entscheiden. Sie gehen mir allmählich wirklich auf die Nerven.«

Brandt schloss die Augen.

»Und was wollen Sie mit den Informationen machen?«, fragte er.

»Wir bearbeiten sie und sorgen für eine gerechte Strafe und deren Vollzug. Ich gehöre einer Organisation an, Flemming, genau wie Sie.«

Die »Organisation«, das war Pinkie Pixie und er.

Michael wusste nicht, was konkret Pinkie Pixie mit den Informationen machte, aber momentan waren die internationalen Medien voll von bestens recherchierten Berichten über pädophile Netzwerke und Anzeigen gegen Personen, die ziemlich hoch auf der gesellschaftlichen Leiter standen.

Seine Stimme wurde sanft und vertraulich.