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Summa technologiae faßt die zur Zeit greifbaren Ergebnisse der futurologischen Wissenschaft zusammen und entwickelt neue, bei uns bis dahin noch nicht bekannte Konzeptionen.
Das Buch handelt von einigen möglichen »Zukünften« der menschlichen Zivilisation. Die Futurologie ist keine Wissenschaft, sondern Schlachtfeld widerstreitender Interessen. Wenn künftige Entwicklungen eng mit künftigen wissenschaftlichen Entdeckungen zusammenhängen, kommt ihre Prognose der Antizipation dieser Entdeckungen gleich. Das ist logisch unmöglich. Wir können allein die Invarianten unserer Welt aufdecken und mit ihnen die Grenze abstecken, die das Mögliche (Erlaubte) vom Unmöglichen (Verbotenen) trennt.
Was können wir aus der Welt machen, was ist möglich? Fast alles – nur das nicht: daß sich die Menschen in einigen zigtausend Jahren überlegen könnten: »Genug – so wie es jetzt ist, soll es von nun an immer bleiben. Verändern wir nichts, erfinden und entdecken wir nichts, weil es besser, als es jetzt ist, nicht sein kann, und wenn doch, dann wollen wir es nicht.«
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Seitenzahl: 798
Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
Stanisław Lem
Summa technologiae
Mit einem Vorwort des Autorszur deutschen AusgabeAus dem Polnischen übersetztvon Friedrich Griese
Suhrkamp
Titel der polnischen Originalausgabe:
Summa technologiae
Kraków: Wydawnictwo Literackie 1964
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© by Stanisław Lem 1964
Alle Rechte an der deutschen Ausgabe vorbehalten durch Insel Verlag Frankfurt am Main 1976, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-74338-6
www.suhrkamp.de
Vorwort zur deutschen Ausgabe
I. Dilemmata
II. Zwei Evolutionen
Einleitung
Ähnlichkeiten
Unterschiede
Die erste Ursache
Einige naive Fragen
III. Kosmische Zivilisationen
Formulierung des Problems
Formulierung der Methode
Statistik kosmischer Zivilisationen
Kosmische Katastrophentheorie
Metatheorie der Wunder
Einmaligkeit des Menschen
Die Intelligenz: Zufall oder Notwendigkeit?
Hypothesen
Votum Separatum
Perspektiven
IV. Intel(l)ektronik
Rückkehr zur Erde
Die Megabit-Bombe
Das Große Spiel
Mythen der Wissenschaft
Der Intelligenzverstärker
Die Black Box
Über die Moral von Homöostaten
Gefahren der Elektrokratie
Kybernetik und Soziologie
Glaube und Information
Experimentelle Metaphysik
Die Glaubensvorstellungen der Elektronengehirne
Der Geist in der Maschine
Schwierigkeiten mit der Information
Zweifel und Antinomien
V. Prolegomena der Allmacht
Vor dem Chaos
Chaos und Ordnung
Szylla und Charybdis — oder vom rechten Maß
Das Schweigen des Konstrukteurs
Wahnsinn mit Methode
Der Neue Linné oder Von der Systematik
Modelle und Realität
Plagiate und Kreationen
Der Bereich der Imitologie
VI. Die Phantomologie
Grundlagen der Phantomatik
Die phantomatische Maschine
Periphere und zentrale Phantomatik
Grenzen der Phantomatik
Die Cerebromatik
Teletaxie und Phantoplikation
Persönlichkeit und Information
VII. Das Erzeugen von Welten
Einleitung
Die Züchtung von Informationen
Ingenieurkunst der Sprache
Ingenieurkunst der Transzendenz
Kosmogonische Ingenieurkunst
VIII. Pasquill auf die Evolution
Einleitung
Rekonstruktion der Gattung
Konstruktion des Lebens
Konstruktion des Todes
Konstruktion des Bewußtseins
Konstruktion auf der Grundlage von Irrtümern
Bionik und Biokybernetik
Aus der Sicht des Konstrukteurs
Rekonstruktion des Menschen
Cyborgisierung
Die Autoevolutive Maschine
Außersinnliche Phänomene
Schluß
Anmerkungen
Jede geschichtliche Periode hat ihre eigene Zukunft in Gestalt der herrschenden Vorstellung darüber, was auf sie folgt. Diese Vorstellung ist, bildlich gesprochen, die von einem Spiegel zurückgeworfene Gegenwart. Allerdings bedient sich das antizipierende Denken unterschiedlicher Spiegel. Solange die historischen Veränderungen allmählich und in Zeiträumen vor sich gingen, die die Lebenszeit einer Generation überstiegen, war der Spiegel flach: die Zukunft mußte eine Verlängerung der Gegenwart, deren getreues Abbild sein. Zuweilen benützte man konvexe Spiegel, welche die Bedeutung der jeweiligen Probleme verminderten, zuweilen konkave, die alles vergrößern. Nicht anders ging es in unserem Jahrhundert – wobei aber die Wahl der Spiegel eine Institutionalisierung erfuhr, weil es zur Mode wurde, alles zu institutionalisieren – gemäß der herrschenden Auffassung, die kollektive Arbeit ergebe die vollkommensten Resultate. Deshalb entstand die Futurologie.
Die ersten Futurologen, die in dem großen Land der großen Dinge, den Vereinigten Staaten, tätig wurden, hielten der Welt einen gewaltigen, die Gegenwart vergrößernden Spiegel vor. Ihre europäischen Kollegen taten dasselbe. Die Euphorie dieser Forscher war ansteckend. Durch die Darstellung einer von Elefantiasis und Gigantismus geprägten Zukunft wurde die Futorologie berühmt. Machtvolle, beim Jahre 2000 aufgestellte Spiegel übertrieben alles: den Wohlstand, die Nationaleinkommen, die Produktion, die Erfindungstätigkeit der Technik, die Wissenschaft. Sie übertrieben auch die Konflikte – z. B. die atomaren, mit denen sich insbesondere der von der Eschatologie begeisterte Futurologe H. Kahn befaßte. Diese prächtigen Spiegel sind heute spurlos verschwunden. Wo ist die berüchtigte »postindustrielle« Gesellschaft von Bell und Kahn, da das größte Ding, welches die USA heute besitzen, ihr Haushaltsdefizit ist (70 Milliarden Dollar)? Wo ist die mit Lebensmitteln gesättigte Welt eines Fritz Baade? Letzthin empfahl man uns, in neue Spiegel zu schauen, die speziell die gegenwärtigen Krisen vergrößern. Sie vergrößern sie derart stark, daß sie das Ende der Welt anzeigen.
All diese Unternehmungen beruhten auf der Überzeugung, die Zukunft sei vorhersehbar. Diese Ansicht kommt dem Historizismus nahe, wie Karl Popper ihn versteht. Nach Auffassung des Historizismus weist die Geschichte verläßliche Gesetzmäßigkeiten auf. Und insofern ist sie vorhersehbar. Darauf setzte die Futurologie.
Vor 16 Jahren, als ich dieses Buch schrieb und man von der Futurologie noch nichts gehört hatte, nahm ich an, daß die Geschichte unvorhersehbar sei. Daß man nicht feststellen könne, was in fünf, zehn oder fünfzig Jahren passieren würde. So kam die Aufgabe, die ich mir stellte, einem Paradoxon gleich: Vorherzusehen, was man nicht vorhersehen kann. Ich bin Antihistorizist – wie Popper, der meint, die Geschichte sei ebenso unvorhersehbar wie der Verlauf der natürlichen Evolution der Arten. Darin bin ich mit ihm einig.
Geschichte und Evolution sind Spiele von ein und demselben Typus. In beiden wechseln die Spieler, die physischen Umweltbedingungen, unter denen das Spiel abläuft, ja sogar die Spielregeln. Und wenn auch in der Geschichte die Menschen miteinander kämpfen und in der Evolution die Arten miteinander konkurrieren, so ist ihr Hauptgegner doch die Natur. Evolution und Geschichte sind Spiele, bei denen die Natur wegen ihrer Unberechenbarkeit ein merkwürdiger Partner ist. Mal scheint er feindselig, mal wohlwollend zu sein. Das aber nur, weil es sich um einen unpersönlichen Partner handelt, einen, dem »alles gleich« ist, einen Partner, dem die Siege der lebenden Spieler ebenso gleichgültig sind wie ihre Niederlagen.
Die evolutionäre Zukunft der Arten ist eine Resultante von zwei unabhängigen Variablen: der Physik des Planeten und der Dynamik des Lebens. Diese Variablen sind nicht gänzlich unabhängig voneinander. Aber ihre gegenseitige Abhängigkeit ist selber eine Variable. Häufig eine Zufallsvariable. Deshalb läßt sich weder der künftige Erfolg der einen noch der Untergang der anderen Arten vorhersehen.
Die geschichtliche Zukunft der Menschen ist gleichfalls unvorhersehbar. Sie ist, wenn man so sagen darf, sogar in höherem Maße unvorhersehbar als der Verlauf der Evolution, weil es in der Evolution weniger Variablen gibt als in der Geschichte. Eine Invariante des Evolutionsspiels ist die Strategie des Lebens, das um sein Überdauern stets nach der Regel kämpft: »catch as catch can«. In der Geschichte dagegen werden die Strategien der Menschen durch den kulturellen Faktor und durch die technologische Variable der Handlungsmöglichkeiten modifiziert. Diese Variable und diesen Faktor hat man eine Zeitlang als »Fortschritt« bezeichnet. Das war immer eine Übertreibung (siehe die Krematorien und Hiroshima). Eine evolutionäre Invariante ist die Gesamtbilanz des Spiels: Die Masse der lebenden Organismen ist eine konstante Größe, die von den astronomischen Bedingungen des Planeten abhängt (Sonneneinstrahlung, Atmosphäre, Gewässer etc). Einer muß sterben, damit ein anderer entstehen kann.
Den zitierten Satz Poppers möchte ich etwas anders formulieren als er.
Es ist richtig, daß man weder in der Geschichte noch in der Evolution mit Gewißheit oder Exaktheit etwas über die Zukunft erfahren kann. Das heißt aber nicht, daß man überhaupt nichts erfahren oder erraten kann. Mag es sich auch um ein Zufallsspiel handeln, so kann man doch hier und dort die Entwicklungschancen untersuchen. Niemals werden diese Chancen in der Prognose zur Gewißheit. Sie bleiben zwangsläufig Möglichkeiten mit einer unbestimmten Realisierungswahrscheinlichkeit. Die Umrisse ferner Möglichkeiten zu erkennen ist jedoch mehr als nichts.
Möglichkeiten erforschen bedeutet, Denkmodelle von nicht-existierenden Dingen aufzustellen. Um ein Denkmodell aufzustellen, muß man irgendein Ausgangsmuster haben. Die Futurologie bediente sich traditionell des Spiegels und wählte als Muster die bisherigen Errungenschaften sowie die aktuellen Zustände der irdischen Politik, Wissenschaft, Ökonomie und Technik. Doch sind diese Errungenschaften allzu jämmerlich und diese Zustände allzu unbeständig, als daß man sie in die Zukunft hinein verlängern und zum Fundament einer weitreichenden Vision machen könnte. Darüber, wie die Zukunft aussehen wird, kann man von den Menschen weder in ihrer Vergangenheit noch in ihren gegenwärtigen Ansichten, Hoffnungen und Ängsten etwas erfahren.
Auf der Suche nach Modellen muß man über die Zivilisation, die Gesellschaft und die Kultur hinausgehen. Die Denkmodelle sind in der natürlichen Evolution zu suchen – denn nur so halten wir uns zugleich von Größenwahn und Misanthropie fern. Dabei meine ich mit den evolutionären Denkmodellen nicht nur die technologischen Muster, die Produktionsanweisungen, welche die Evolution beim Bau lebender Organismen benützte. Die wichtigste Lehre ist die, welche man der Evolution insgesamt entnehmen kann. Es geht also nicht darum, ihr die konstruktiven Erkenntnisse, sondern das Verfahren abzuschauen, nach dem sie diese Erkenntnissegesammelt hat. Erkenntnisse – das sind wahre Informationen. Die Evolution ist eine milliardenjährige Zucht solcher mit konstruktiven Absichten gesammelten und überprüften Informationen. Ließe sich diese Aufgabe nicht derart generalisieren, daß man nach der evolutionären Methode jegliche Information züchtet? Jegliche Art von Wissen? Wenn ich das sage, formuliere ich keine Aufgabe, sondern stelle nur eine Frage. Aber schon eine so gestellte Frage schafft Raum für neue Chancen.
Was ich hier gesagt habe, ist nach meiner Ansicht weder eine Entdeckung noch auch nur die Ankündigung einer solchen. Es ist lediglich ein Beispiel, das deutlich machen soll, welche Verfahren ich benützt habe, um den Spiegel zu zerschlagen, den wir vor uns aufstellen, um in die Zukunft zu blicken. Wir leben in einer Epoche des Niedergangs und verzweifeln über ihren Niedergang, weil vom Ende einer Epoche her die nächste wegen ihrer Ungewißheit stets als bedrohliches Dunkel erscheint. Man kann dieses Dunkel nicht erhellen, doch man kann es zumindest mit Vermutungen so weit durchdringen, wie der begriffliche Horizont reicht, der das Denken begrenzt. Dieses Buch ist weder ein Bekenntnis des Glaubens an eine herrliche Zukunft der Menschheit noch eine Vorhersage ihres schrecklichen Endes. Es ist ein riskanter Versuch, den ich unternommen habe, weil die Alternative dazu in Untätigkeit, im Verzicht auf den Gebrauch der Vernunft besteht. Ich denke, für diesen Verzicht ist es immer zu früh.
Aus dem Gesagten wird, glaube ich, auch deutlich, warum ich nach dem Feuerwerk des futorologischen Schrifttums nichts an diesem Buch geändert habe.
Krakau, im März 1976
Es soll von der Zukunft die Rede sein. Aber ist das Vorhaben, von den künftigen Rosen zu sprechen, nicht zumindest unangebracht für jemanden, der sich in den leicht entflammbaren Wäldern der Gegenwart verloren hat? Und die Dornen dieser künftigen Rosen, die Schwierigkeiten unserer Ururenkel untersuchen zu wollen, wo wir schon mit dem heutigen Übermaß an Schwierigkeiten nicht fertig werden – grenzt eine solche Scholastik nicht ans Lächerliche? Wenn wir uns wenigstens damit rechtfertigen könnten, daß wir nach Mitteln suchen, die unseren Optimismus nähren oder daß wir aus Liebe zur Wahrheit handeln, die erst richtig deutlich erkennbar wäre in einer Zukunft, die infolge der Beherrschung des Klimas frei wäre von Stürmen auch im wortwörtlichen Sinne! Die folgenden Äußerungen sind jedoch weder durch eine akademische Leidenschaft noch durch einen unerschütterlichen Optimismus motiviert, der uns zu glauben verhieße: was auch immer geschehen mag, das Ende wird gut sein. Das Motiv ist zugleich einfacher, nüchterner und wohl auch bescheidener, denn wenn ich mir vornehme, über das Morgen zu schreiben, tue ich lediglich das, worauf ich mich verstehe, und dabei zählt nicht einmal, wie gut ich es verstehe, da dies ohnehin meine einzige Fähigkeit ist. Meine Arbeit wird demnach nicht mehr und nicht weniger überflüssig sein als jene andere Arbeit, denn schließlich geht doch jede davon aus, daß die Welt existiert und weiterexistieren wird.
Fragen wir nun, nachdem wir uns derart vergewissert haben, daß die Absicht nichts Anstößiges hat, nach dem Umfang des Themas und der Methode. Es wird die Rede sein von verschiedenen denkbaren Aspekten der Zivilisation, die sich aus heute bekannten Voraussetzungen ableiten lassen, so gering auch die Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung sein mag. Die Grundlage unserer hypothetischen Konstruktionen sollen demnach Technologien sein, d. h. die von dem Stand der gesellschaftlichen Kenntnisseund Fähigkeiten abhängigen Verfahren der Verwirklichungvon Zielen, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, aber auch solcher, die niemand im Auge hatte, als man ans Werk ging.
Die Einzelheiten bestimmter – sowohl bestehender wie auch möglicher – Technologien interessieren mich nicht, und ich müßte mich nicht mit ihnen befassen, wenn die schöpferische Tätigkeit des Menschen – wie die göttliche – frei wäre von jeglichen Verunreinigungen durch das Ungewollte – wenn wir, die methodologische Präzision der Schöpfung erreichend, jetzt oder irgendwann unsere Absicht rein zu realisieren vermöchten, wenn wir sagen könnten: »Es werde Licht«, und als Endprodukt erhielten wir nichts als die reine Helligkeit, ohne unerwünschte Beimengungen. Typischerweise weichen jedoch, wie oben erwähnt, die Ziele voneinander ab, ja, es treten andere, oft sogar ungewollte, an die Stelle der beabsichtigten Ziele. Querulanten wollen sogar im göttlichen Werk ähnliche Störungen erkennen, insbesondere seit der Prototyp eines vernunftbegabten Wesens geschaffen wurde und dieses Modell, der Homo sapiens, in die Massenproduktion gegangen ist – doch überlassen wir derartige Erwägungen lieber den Theo-Technologen. Kurz: der Mensch weiß, was auch immer er tut, fast nie, was er in Wirklichkeit tut – jedenfalls weiß er es nicht genau. Um gleich ein extremes Beispiel zu wählen: keiner der Entdecker der Atomenergie hat als Ziel die heute mögliche Vernichtung des Lebens auf der Erde angestrebt.
Ich muß mich daher fast zwangsläufig für die Technologien interessieren, denn zu einer bestimmten Zivilisation gehört sowohl alles, was die Gesamtheit wünschte, wie auch das, was niemand gewollt hat. Gelegentlich, ja sogar häufig, ging eine Technologie vom Zufall aus, so zum Beispiel, als man auf der Suche nach dem Stein der Weisen das Porzellan entdeckte, doch wächst mit fortschreitender Erkenntnis der Anteil der Absicht, der bewußten Zielsetzung, an den Bemühungen, die zu einer Technologie führen. Freilich können Überraschungen, auch wenn sie seltener werden, dafür nahezu apokalyptische Ausmaße annehmen. Das wurde ja oben schon gesagt.
Es gibt kaum eine Technologie, die nicht zweischneidig ist, wie das Beispiel der Sensen zeigt, welche die Hethiter an den Rädern ihrer Kampfwagen befestigten, oder die sprichwörtlichen zu Schwertern umgeschmiedeten Pflugscharen. Im Grunde ist jede Technologie eine künstliche Verlängerung der natürlichen, allem Lebendigen angeborenen Tendenz, die Umwelt zu beherrschen oder ihr doch zumindest nicht im Kampf ums Dasein zu unterliegen. Die Homöostase – so der gelehrte Ausdruck für die Tendenz zu einem Gleichgewichtszustand, zum Überdauern von Veränderungen – entwickelte die der Schwerkraft widerstehenden Kalk- und Chitinskelette, die Beweglichkeit verleihenden Beine, Flügel und Flossen, die das Fressen erleichternden Eckzähne, Hörner, Kiefer und Verdauungssysteme, die vor ihnen Schutz bietenden Panzer und täuschenden Formen, bis hin zur Verselbständigung der Organismen gegenüber der Umgebung durch die Regulierung einer konstanten Körpertemperatur. So entstanden Inselchen abnehmender Entropie in einer Welt mit allgemein wachsender Entropie. Dabei bleibt die biologische Evolution nicht stehen, denn aus den Organismen, Typen, Klassen und Arten von Pflanzen und Tieren errichtet sie wiederum höhere Ganzheiten, die schon keine Inselchen mehr, sondern Inseln der Homöostase bilden und das Gesicht der gesamten Oberfläche und Atmosphäre des Planeten bestimmen. Die belebte Natur, die Biosphäre, bedeutet zugleich Zusammenarbeit und gegenseitiges Auffressen, ist ein unauflöslich mit dem Kampf verwachsenes Bündnis, wie sich an allen, von den Ökologen untersuchten Hierarchien zeigt: es handelt sich, besonders bei den tierischen Formen, um Pyramiden, an deren Spitze große Raubtiere thronen, die sich von kleineren Tieren ernähren, die wiederum andere Tiere fressen, und erst ganz unten, am Fuße des Lebensreiches, arbeitet der auf dem Lande und in den Meeren allgegenwärtige grüne Transformator, der die Sonnenenergie in biochemische Energie verwandelt und mit Billionen von unscheinbaren Halmen die über ihm sich erhebenden, veränderlichen, da in den Formen vergänglichen, aber beständigen, da als ganze nie vergehenden Massive des Lebens unterhält.
Die homöostatische, sich der Technologien als spezifischer Organe bedienende Tätigkeit des Menschen machte ihn zum – allerdings nur in den Augen des Apologeten, der er ist, machtvollen – Herrn der Erde. Gegenüber klimatischen Störungen, Erdbeben und der seltenen, aber realen Gefahr des Herabstürzens großer Meteore ist der Mensch im Grunde genauso hilflos wie in der letzten Eiszeit. Gewiß, er hat eine Technik entwickelt, um den von dieser oder jener Katastrophe Betroffenen Hilfe zu bringen. Einige vermag er, wenn auch ungenau, vorherzusehen. Bis zur Homöostase im Weltmaßstab ist es noch weit, von einer Homöostase in stellaren Dimensionen ganz zu schweigen. Im Gegensatz zu der Mehrheit der Tiere paßt sich der Mensch nicht so sehr der Umwelt an, sondern verändert vielmehr die Umwelt entsprechend seinen Bedürfnissen. Wird das irgendwann auch im Hinblick auf die Sterne möglich sein? Kann – und sei es in der allerfernsten Zukunft – eine Technologie der Fernsteuerung der Umwandlungsprozess e innerhalb der Sonne entstehen, so daß Wesen, die im Verhältnis zur Sonnenmasse unvorstellbar winzig sind, beliebig den milliardenjährigen Brand der Sonne zu steuern vermögen? Mir scheint, daß das möglich ist, doch sage ich das nicht, um den auch ohne mich genügend gepriesenen menschlichen Genius zu rühmen, sondern im Gegenteil, um den Blick für den Kontrast frei zu machen. Unermeßliche Größe hat der Mensch bisher nicht erreicht. Ins Unermeßliche sind lediglich seine Möglichkeiten gewachsen, dem Nächsten Gutes oder Böses zuzufügen. Derjenige, der einmal imstande sein wird, Sterne anzuzünden und auszulöschen, wird ganze bewohnte Planeten vernichten können und damit aus einem Astrotechniker zu einem Sternenmörder, einem Verbrecher von unerhörtem, weil kosmischem Rang. Falls das erstere, so ist auch das letztere, wie unwahrscheinlich es auch sein mag, wie gering die Chance seiner Verwirklichung auch ist, möglich.
Die Unwahrscheinlichkeit – diese unerläßliche Erläuterung sei gleich hinzugefügt – entspringt nicht meinem Glauben an den unausweichlichen Triumph Ormuzds über Ahriman. Ich vertraue nicht auf Versprechungen und glaube nicht an Versicherungen, die sich auf einen sogenannten Humanismus berufen. Gegen eine Technologie hilft nur eine andere Technologie. Der Mensch weiß heute mehr über seine gefährlichen Neigungen als noch vor hundert Jahren, und nach weiteren hundert Jahren wird sein Wissen noch vollkommener sein. Möge er dann davon Gebrauch machen.
Die Tatsache, daß die wissenschaftlich-technische Entwicklung sich beschleunigt, ist bereits so deutlich, daß man kein Spezialist zu sein braucht, um sie zu bemerken. Ich glaube, daß die dadurch hervorgerufene Veränderlichkeit der Lebensbedingungen einer der Faktoren ist, welche die Entwicklung homöostatischer sittlich-normativer Systeme in der modernen Welt beeinträchtigen. Wenn das Leben der nächsten Generation in nichts mehr dem Leben der Eltern gleicht, welche Empfehlungen und Lehren kann dann die Alterserfahrung der Jugend bieten? Die Verwischung der Handlungsmuster und Ideale allein durch den unaufhörlichen Wandel wird allerdings verschleiert durch einen anderen Prozeß, der sehr viel eindeutiger und gewiß in seinen unmittelbaren Auswirkungen ernster ist, nämlich die immer rascheren Schwingungen jenes sich selbst erregenden Systems, das eine positive Rückkoppelung mit einer sehr schwachen negativen Komponente aufweist – des Ost-West-Systems, das während der letzten Jahre zwischen einer Reihe von weltweiten Krisen- und Entspannungsphasen hin und her schwingt.
Der erwähnten Beschleunigung des Wissenszuwachses und der Entstehung neuer Technologien verdanken wir es natürlich, daß wir uns ernsthaft mit unserem Hauptthema beschäftigen können. Denn daß die Veränderungen rasch und plötzlich auftreten, bestreitet niemand. Beschriebe jemand das Jahr 2000 so, als gliche es völlig unserer Zeit, so würde er sich prompt der Lächerlichkeit aussetzen. Früher war eine solche Projektion des (idealisierten) Zustandes der Gegenwart in die Zukunft für die Zeitgenossen kein absurdes Unterfangen, wie das Beispiel der Utopie Bellamys belegen mag, der das zweite Jahrtausend aus der Sicht der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieb, wobei er von allen Erfindungen, die zwar zu seiner Zeit noch nicht bekannt, aber möglich waren, wohl bewußt absah. Als ein echter Humanist war er der Auffassung, die durch die Technoevolution hervorgerufenen Veränderungen seien weder für das Funktionieren der Gesellschaft noch für die Psyche des einzelnen wesentlich. Heute braucht man nicht mehr bis zu den Enkelkindern zu warten, damit sich jemand an derartigen Naivitäten der Prophezeiung belustigen kann, denn den Spaß kann sich jeder selbst machen, indem er das, was augenblicklich als ein getreues Abbild des Morgen bezeichnet wird, für einige Jahre in die Schublade legt.
Das lawinenartige Tempo der Veränderungen, das zum Anstoß für Erörterungen wie die unsere wird, vermindert also gleichzeitig die Chancen jeglicher Vorhersage. Ich denke dabei nicht einmal an die vollkommen unschuldigen Popularisatoren, denn ihre Lehrmeister, die Gelehrten, sind es, die sündigen. P.M.S. Blackett, ein bekannter britischer Physiker und als einer der Mitschöpfer des Operations Research – einer Vorarbeit für die mathematische Strategie – gewissermaßen ein berufsmäßiger Prognostiker, hat in einem Buch aus dem Jahre 1948 die künftige Entwicklung der Atomwaffen und ihre militärischen Konsequenzen bis zum Jahre 1960 derart falsch vorhergesagt, wie man es sich kaum vorstellen kann. Selbst ich konnte das 1946 erschienene Buch des österreichischen Physikers Thirring auftreiben, der als erster offen die Theorie der Wasserstoffbombe beschrieb. Blackett meinte jedoch, die Atomwaffe werde über den Kilotonnenbereich nicht hinausgelangen, da es für Megatonnen (notabene: als er schrieb, existierte dieser Begriff noch nicht) keine vernichtungswürdigen Ziele gebe. Heute beginnt man bereits von »Begatonnen« zu sprechen (Billionen Tonnen TNT, d. h. eigentlich Milliarden, da die Amerikaner unsere Milliarde, also tausend Millionen, als »Billion« bezeichnen). Nicht besser erging es den Propheten der Astronautik. Natürlich kam es auch zu entgegengesetzten Irrtümern; so glaubte man 1955, die bei den Sternen abgeschaute Synthese von Wasserstoff zu Helium werde schon in allernächster Zukunft industriell nutzbare Energie liefern. Jetzt siedelt man den Wasserstoffreaktor in den neunziger Jahren unseres Jahrhunderts an, wenn nicht später. Aber es geht nicht darum, wann diese oder jene Technologie anläuft, sondern um die unbekannten Konsequenzen.
Bisher haben wir die Entwicklungsvorhersage schlechtgemacht und damit gewissermaßen an dem Ast gesägt, auf dem wir eine Reihe gewagter Übungen durchführen und insbesondere einen Blick in die Zukunft werfen möchten. Nachdem wir gezeigt haben, wie hoffnungslos ein solches Unternehmen gemeinhin ist, müßten wir uns eigentlich mit etwas anderem befassen, doch geben wir so leicht nicht auf, denn das aufgezeigte Risiko kann durchaus für unsere weiteren Überlegungen eine Würze sein, und wenn uns im übrigen eine Reihe gigantischer Irrtümer unterlaufen wird, werden wir uns in bester Gesellschaft befinden. Von den unzähligen Gründen, die aus der Vorhersage ein undankbares Geschäft machen, werde ich einige, für den Künstler besonders unangenehme aufzählen.
Zunächst: Oftmals treten Veränderungen, die für eine plötzliche Umwälzung der bestehenden Technologien entscheidend sind, zur Verwunderung aller, besonders der Spezialisten, wie Athene aus dem Haupt des Zeus hervor. Das 20. Jahrhundert wurde schon einige Male durch neu auftretende Mächte, etwa die Kybernetik, überrascht. Einen solchen deus ex machina kann der Künstler nicht ausstehen, der die Sparsamkeit der Mittel überaus schätzt und nicht ganz zu Unrecht der Auffassung ist, solche Tricks gehörten zu den Todsünden wider die Kunst der Komposition. Aber was können wir tun, wenn die Geschichte sich als so wenig wählerisch erweist?
Zweitens sind wir stets geneigt, die Perspektiven neuer Technologien gradlinig in die Zukunft hinein zu verlängern. Deshalb entwarfen die Utopisten und Zeichner des 19. Jahrhunderts eine uns heute urkomisch erscheinende »allerorten von Ballons beflogene« oder auch »allseits mit Dampfkraft betriebene Welt«, deshalb auch werden heute die interstellaren Weiten mit kosmischen »Schiffen« bevölkert, an deren Bord sich eine wackere »Mannschaft« mit »Wachhabenden« und »Steuerleuten« und ähnlichem befindet. Ich will nicht sagen, daß man so nicht schreiben darf; nur ist das eben phantastische Literatur, gewissermaßen der »umgekehrte« historische Roman des 19. Jahrhunderts, denn so wie damals den Pharaonen Motive und Psyche zeitgenössischer Monarchen zugeschrieben wurden, stellt man heute »Korsaren« und »Piraten« des 30. Jahrhunderts dar. Das kann man natürlich machen, sofern man bedenkt, daß es sich eben nur um ein Spiel handelt. Mit der Geschichte allerdings haben derartige Vereinfachungen nichts zu tun. Wir erkennen in ihr keine geraden Bahnen der Entwicklung, sondern vielmehr Zickzackformen einer nicht linearen Evolution, und deshalb müssen wir auch leider von den Kanons einer eleganten Konstruktion Abstand nehmen.
Drittens schließlich hat das literarische Werk einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Bisher haben die Verwirrung der Handlungsfäden, die Umkehrung der Zeiten und andere Bemühungen um eine Modernisierung der Prosa diese fundamentale Einteilung noch nicht aufheben können. Überhaupt neigen wir dazu, jedes Phänomen in ein geschlossenes Schema einzuordnen. Man stelle sich bitte einen Denker der dreißiger Jahre vor, den wir mit der folgenden fiktiven Situation konfrontieren: Im Jahre 1960 ist die Welt in zwei antagonistische Bereiche aufgeteilt, von denen jeder eine schreckliche Waffe besitzt, mit der er die andere Hälfte dieser Welt vernichten kann. Was wird das Resultat sein? Unfehlbar würde der Denker antworten: völlige Vernichtung oder vollkommene Abrüstung (doch gewiß würde er nicht versäumen hinzuzufügen, unsere Vorstellung sei melodramatisch und unglaubwürdig und daher schwachsinnig). Von einer solchen Prophezeiung ist indessen bis heute nichts eingetroffen. Ich erinnere daran, daß seit der Entstehung des »Gleichgewichts des Schreckens« bereits über fünfzehn Jahre verflossen sind* – mehr als dreimal soviel Zeit, wie die Herstellung der ersten Atombomben beanspruchte. In einem gewissen Sinne ist die Welt wie ein Kranker, der glaubt, er müsse entweder alsbald gesunden oder in Kürze sterben, und dem es nicht einmal in den Sinn kommt, daß er – bei zeitweiligen Besserungen und Verschlechterungen seines Zustands – kränkelnd ein hohes Alter erreichen könnte. Der Vergleich hinkt allerdings; denken wir uns also ein Mittel, das diesen Menschen gründlich von seiner Krankheit kuriert, ihm dafür aber neue Sorgen einträgt, weil er nun zwar ein künstliches Herz hat; das ist jedoch auf einem Wägelchen untergebracht, welches durch ein biegsames Röhrchen mit ihm verbunden ist. Das ist natürlich Unsinn, aber es dreht sich um den Preis der Gesundung: Zahlen muß man für die Befreiung aus der Klemme (beispielsweise dafür, daß die Menschheit sich mit Hilfe des Atoms von den begrenzten Erdöl- und Kohlevorräten unabhängig macht) immer; dabei sind Höhe und Fälligkeitstermin dieser Zahlung wie auch die Formen ihrer Eintreibung meistens eine Überraschung. Eine massenhafte Anwendung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken bringt das ungeheure Problem der radioaktiven Abfälle mit sich, von denen man bis heute nicht so recht weiß, was man mit ihnen anfangen soll. Was dagegen die Entwicklung der nuklearen Waffen betrifft, so kann sie uns unverhofft in eine Situation bringen, in der die heutigen Abrüstungsvorschläge genau wie die »Vernichtungsvorschläge« wie ein Anachronismus klingen. Ob das eine Veränderung zum Guten oder zum Bösen sein wird, ist schwer zu beurteilen. Möglich, daß die Gefahr der totalen Vernichtung wächst (etwa durch wachsende Zerstörungskraft der Waffen, welche Schutzbunker erfordert, die mit meilenstarken Betonwänden gepanzert sind), daß aber die Chance ihrer Verwirklichung abnimmt – oder umgekehrt. Möglich sind auch andere Kombinationen. Jedenfalls befindet sich das globale System in einem Ungleichgewicht, nicht nur in dem Sinne, daß es umkippen und in einen Krieg münden kann – das ist durchaus kein »Novum« –, sondern vor allem, weil es als Ganzes einer Entwicklung unterliegt. Gegenwärtig ist es gewissermaßen »schrecklicher« als zur Zeit der Kilotonnen, da es bereits die Megatonnen gibt; aber auch das ist nur eine vorübergehende Phase, und man muß – auch wenn der Schein dagegenspricht – nicht glauben, daß die Zunahme der Sprengkraft der Ladungen sowie der Schnelligkeit ihrer Beförderung und das »Antiraketen-Raketen«-Programm den einzigen möglichen Gradienten dieser Evolution darstellen. Unaufhörlich steigt das Niveau der militärischen Technologie, und dadurch werden nicht nur die konventionellen Panzer und Bomber, nicht nur die Strategien und Stäbe, sondern der weltweite Antagonismus selbst zu einem Anachronismus. In welcher Richtung er sich entwickeln wird, weiß ich nicht. Statt dessen möchte ich fragmentarisch einen Roman von Stapledon vorstellen, der die »Handlung« von zwei Milliarden Jahren menschlicher Zivilisation umfaßt.
Die Marsbewohner, eine Art von Viren, die sich zu halb gallertartigen »vernünftigen Wolken« zusammenschließen konnten, überfielen die Erde. Lange kämpften die Menschen mit den Invasoren, ohne zu wissen, daß sie es mit einer intelligenten Form des Lebens und nicht mit einer kosmischen Katastrophe zu tun hatten. Die Alternative »Sieg oder Niederlage« trat nicht ein. Nach jahrhundertelangen Kämpfen veränderten sich die Viren derart tiefgreifend, daß sie zum Bestandteil des Erbplasmas des Menschen wurden, und auf diese Weise entstand die neue Art des Homo sapiens.
Dies ist meiner Meinung nach ein ausgezeichnetes Modell eines historischen Phänomens von bisher unbekannter Tragweite. Die Wahrscheinlichkeit des Phänomens selbst ist unwesentlich; mir geht es um seine Struktur. Der Geschichte sind geschlossene dreigliedrige Schemata von der Art »Anfang, Mitte und Ende« fremd. Nur im Roman erstarren vor dem Wort »Ende« die Schicksale der Helden zu einer Figur, die den Autor mit ästhetischer Befriedigung erfüllt. Nur der Roman muß ein Ende haben, ein gutes oder ein böses, das die Sache aber jedenfalls kompositorisch abschließt. Derartige definitive Abschlüsse nun, derartige »letztendliche Enden« hat die Geschichte der Menschheit bisher nicht gekannt und wird sie, wie ich hoffe, auch nicht kennenlernen.
* Geschrieben im Jahr 1961.
Wir verstehen kaum, wie die ersten Technologien der Vorzeit entstanden sind. Ihre Nützlichkeit und ihre teleologische Struktur stehen außer Zweifel, und doch hatten sie keine individuellen Schöpfer oder Erfinder. Ihre Anfänge liegen im Dunkel. Die »theoretische Grundlage« erfolgreicher Technologien war in der Regel der Mythos, das Vorurteil: entweder ging ihrer Anwendung ein magisches Ritual voraus (man glaubte beispielsweise, Heilkräuter verdankten ihre Fähigkeit der Formel, die bei ihrer Einnahme oder ihrer Applikation ausgesprochen wurde), oder sie wurden selbst zu einem Ritual, in dem das pragmatische sich unauflöslich mit dem mystischen Element verknüpft (das Ritual des Bootsbaus, bei dem die Produktionsanweisung in liturgischer Form ausgeführt wird). Was die Bewußtmachung des Endziels betrifft, so mag es heute sein, daß ein kollektives Projekt in ähnlicher Weise realisiert wird wie eine individuelle Absicht; einst war das nicht der Fall, und deshalb kann von technischen Zielvorstellungen vorzeitlicher Gemeinschaften nur in übertragenem Sinne die Rede sein.
Der Übergang vom Paläolithikum zum Neolithikum, die neolithische Revolution, die in ihrer kulturbildenden Bedeutung der atomaren Revolution gleichkommt, erfolgte nicht in der Weise, daß irgendein Einstein der Steinzeit »auf die Idee kam«, den Acker zu bestellen, und seine Zeitgenossen von dieser neuen Technik »überzeugte«. Es war das ein überaus langsamer Prozeß, der sich über die Lebenszeit vieler Generationen erstreckte, ein unmerklich langsames Übergehen von der Nutzung bestimmter vorgefundener Pflanzen als Nahrung über das immer mehr zurückweichende Nomadentum bis hin zur Seßhaftwerdung. Die während der Lebenszeit einzelner Generationen auftretenden Veränderungen waren praktisch gleich Null; anders gesagt, fand jede Generation eine Technologie vor, die scheinbar unverändert und so »natürlich« war wie der Aufgang und Untergang der Sonne. Dieser Typus der Herausbildung einer technologischen Praxis ist nicht völlig verschwunden, denn jede bedeutende Technologie besitzt einen kulturbildenden Einfluß, der über die Lebensdauer von Generationen weit hinausreicht, und deshalb sind sowohl die in der Zukunft liegenden Konsequenzen dieser die gesellschaftliche Verfassung, die Bräuche und die Ethik berührenden Einflüsse als auch die Richtung, in welche sie die Menschheit drängen, nicht nur kein Gegenstand bewußter Absicht, sondern entziehen sich darüber hinaus erfolgreich dem Versuch, sich das Vorhandensein derartiger Einflüsse bewußt zu machen und ihr Wesen zu bestimmen. Mit diesem (stilistisch, nicht inhaltlich) schrecklichen Satz leiten wir einen Abschnitt ein, der der Metatheorie der Gradienten der technologischen Evolution des Menschen gewidmet ist. »Meta«theorie deshalb, weil es uns vorläufig noch nicht darum geht, die Richtungen dieser Evolution abzustecken oder die Natur der von ihr hervorgerufenen Folgen zu bestimmen, sondern um ein allgemeineres, übergeordnetes Phänomen. Wer bewegt wen? Bewegt die Technologie uns oder wir sie? Führt sie uns, wohin sie will, und sei es ins Verderben, oder können wir sie zwingen, sich unseren Bestrebungen zu fügen? Was aber bestimmt diese Bestrebungen, wenn nicht das technologische Denken? Ist das Verhältnis »Menschheit – Technologie« immer dasselbe, oder ändert es sich historisch? Wenn ja – welche Richtung schlägt diese unbekannte Größe ein? Wer wird die Überlegenheit, den strategischen Spielraum für das Zivilisationsmanöver erringen: die Menschheit, die aus dem Arsenal der ihr verfügbaren technologischen Mittel nach freiem Belieben auswählt, oder die Technologie, die den Prozeß der Entvölkerung ihres Herrschaftsbereichs mit der Automatisierung krönt? Gibt es Technologien, die zwar denkbar, aber jetzt und für immer unrealisierbar sind? Läge der entscheidende Grund dieser Unmöglichkeit in der Struktur der Welt oder in unseren Beschränkungen? Gibt es für die Zivilisation außer der technologischen noch eine andere mögliche Entwicklungsrichtung? Ist die Richtung, die wir eingeschlagen haben, etwas Typisches im Kosmos, ist sie die Norm, oder ist sie eine Aberration?
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