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Ferdinand Schirach

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Beschreibung

Sebastian von Eschburg verliert als Kind durch den Selbstmord seines Vaters den Halt. Er versucht, sich durch die Kunst zu retten. Er zeigt mit seinen Fotografien und Videoinstallationen, dass Wirklichkeit und Wahrheit verschiedene Dinge sind. Es geht um Schönheit, Sex und die Einsamkeit des Menschen. Als Eschburg vorgeworfen wird, eine junge Frau getötet zu haben, übernimmt Konrad Biegler die Verteidigung. Der alte Anwalt versucht, dem Künstler zu helfen – und damit sich selbst.

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FERDINAND VON SCHIRACH

TABU

ROMAN

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btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Zuerst erschienen im Piper Verlag, München, 2013 Copyright © 2016 Ferdinand von Schirach Covergestaltung: buxdesign | München nach einem Motiv von © Getty Images/Martin Barraud Klü · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-20331-3V005
www.btb-verlag.de www.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de www.penguinrandomhouse.de

Sobald sich das Licht der FarbenGrün, Rot und Blauin gleicher Weise mischterscheint es uns als Weiß.

Farbenlehre nach Helmholtz

An einem hellen Frühlingstag des Jahres 1838 wurde in Paris auf dem Boulevard du Temple eine neue Wirklichkeit erschaffen. Sie veränderte das Sehen, das Wissen und die Erinnerung der Menschen. Und schließlich veränderte sie die Wahrheit.

Daguerre war ein französischer Theatermaler. Er wollte Kulissen herstellen, die aussahen wie die Wirklichkeit selbst. Durch ein Loch in einem Holzkasten ließ er Licht auf jodierte Silberplatten fallen. Quecksilberdämpfe machten sichtbar, was sich vor dem Kasten befand. Aber es dauerte lange, bis die Silbersalze reagierten: Pferde und Spaziergänger waren zu schnell, Bewegung war noch unsichtbar, das Licht gravierte nur Häuser, Bäume und Straßen auf die Platten. Daguerre hatte die Fotografie erfunden.

Auf seinem Foto von 1838 ist in den diffusen Schatten der Kutschen und Menschen merkwürdig deutlich ein Mann zu erkennen. Während alles um ihn rast, steht er still, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Nur sein Kopf ist verschwommen. Der Mann wusste nichts von Daguerre und seiner Erfindung, er war ein Passant, der sich die Schuhe putzen ließ. Der Apparat konnte ihn und den Schuhputzer sehen – es waren die beiden ersten Menschen auf einem Foto.

Sebastian von Eschburg hatte oft an den bewegungslosen Mann und seinen zerfließenden Kopf gedacht. Aber erst jetzt, erst nachdem alles geschehen war und niemand die Dinge mehr rückgängig machen konnte, verstand er es: Dieser Mann war er selbst.

Inhaltsverzeichnis

CopyrightGrün
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RotBlau
12345678910
WeißHinweis

Grün

1

Auf der halben Strecke zwischen München und Salzburg, etwas abseits der großen Straßen, liegt das Dorf Eschburg. Von der Burg, die dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, gab es oben auf dem Hügel nur noch ein paar Steine. Einer der Eschburgs war im 18. Jahrhundert bayerischer Gesandter in Berlin gewesen, und als er zurückkam, hatte er das neue Haus am See gebaut.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Eschburgs das letzte Mal Geld gehabt. Damals besaßen sie eine Papiermühle und eine Spinnerei. 1912 ertrank der erstgeborene Sohn und Erbe beim Untergang der Titanic, worauf man in der Familie später ein wenig stolz war. Er hatte eine Erste-Klasse-Kabine gebucht und war nur mit seinem Hund gereist. Er hatte darauf verzichtet, in ein Rettungsboot zu steigen, vermutlich weil er zu betrunken war.

Sein jüngerer Bruder verkaufte die Unternehmen der Familie, spekulierte und verlor während der Inflation der Zwanzigerjahre den größten Teil des Vermögens. Danach war immer zu wenig Geld da, um das Haus richtig zu renovieren. Der Putz blätterte von den Mauern, die beiden Seitenflügel wurden im Winter nicht geheizt und auf den Dächern wuchs Moos. Im Frühjahr und im Herbst standen auf den Speichern Blecheimer, die den Regen auffingen.

Fast alle Eschburgs waren Jäger und Reisende gewesen und 250 Jahre lang hatten sie die Zimmer des Hauses mit den Dingen gefüllt, die sie mochten. In der Eingangshalle standen drei Schirmständer aus Elefantenfüßen, daneben hingen mittelalterliche Saufedern an der Wand – lange Spieße, die zur Wildschweinjagd benutzt wurden. Zwei ausgestopfte Krokodile lagen ineinander verbissen im oberen Flur, eines hatte ein Glasauge verloren, dem anderen fehlte ein Teil seines Schwanzes. Ein riesiger Braunbär stand im Hauswirtschaftsraum, am Bauch waren ihm fast alle Haare ausgefallen. In der Bibliothek hingen die Schädel von Kudus und Oryxantilopen, auf einem Regal stand zwischen Goethe und Herder der Kopf eines schielenden Gibbons. Neben dem Kamin lagen Trommeln, Naturhörner und Lamellophone aus dem Kongo. Zwei afrikanische Fruchtbarkeitsgötter aus Ebenholz, schwarz und ernst, saßen neben dem Eingang zum Billardzimmer.

In den Fluren hingen Heiligenbilder aus Polen und Russland neben vergrößerten Briefmarken aus Indien und Tuschzeichnungen aus Japan. Es gab chinesische Pferdchen aus Holz, Speerspitzen aus Südamerika, die gelben Fangzähne eines Eisbären, den Kopf eines Schwertfisches, einen Hocker mit den vier Hufen einer Säbelantilope, Straußeneier und hölzerne Truhen aus Indonesien, zu denen die Schlüssel längst verloren gegangen waren. In einem Gästezimmer standen gefälschte Barockmöbel aus Florenz, in einem anderen ein Vitrinentisch mit Broschen, Zigarettenetuis und einer Familienbibel mit silbernem Schloss.

Ganz hinten im Park war ein kleiner Stall mit fünf Pferdeboxen. An den Wänden wuchs Efeu und zwischen den Pflastersteinen im Hof Gras. Die Farbe war von den Fensterläden abgeplatzt, der Rost hatte das Wasser braun werden lassen. In zwei Boxen trocknete Kaminholz, in einer anderen wurden im Winter Pflanzenkübel, Streusalz und Wildfutter aufbewahrt.

Sebastian kam in diesem Haus zur Welt. Eigentlich wollte seine Mutter im Krankenhaus in München entbinden, aber der Wagen hatte zu lange in der Kälte gestanden und sprang nicht an. Während der Vater weiter versuchte, den Wagen zu starten, setzten ihre Wehen ein. Der Apotheker und seine Frau kamen aus dem Dorf, Sebastians Vater wartete auf dem Flur vor ihrem Zimmer. Als der Apotheker ihn zwei Stunden später fragte, ob er die Nabelschnur durchschneiden wolle, brüllte er ihn an, der Anlasser sei doch kaputt. Später entschuldigte er sich dafür, aber im Dorf rätselte man noch lange, was das bedeuten sollte.

Kinder waren in Sebastians Familie noch nie der Mittelpunkt gewesen. Man brachte ihnen bei, wie man das Besteck beim Essen hält, wie ein Handkuss gegeben wird und dass ein Kind möglichst wenig reden sollte. Aber die meiste Zeit kümmerte man sich nicht um sie. Als Sebastian acht Jahre alt wurde, durfte er das erste Mal bei seinen Eltern am Tisch essen.

Sebastian konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben. Wenn er mit seiner Familie in die Ferien fuhr, fühlte er sich fremd in den Hotels. Er war froh, wenn er zurückkam und alles noch da war: die dunklen Dielen auf den Fluren, die heruntergetretene Steintreppe und das weiche Licht am Nachmittag in der schiefen Kapelle.

In Sebastians Leben hatte es schon immer zwei Welten gegeben. Die Netzhaut seiner Augen nahm elektromagnetische Wellen zwischen 380 und 780 Nanometer wahr, sein Gehirn übersetzte sie in 200 Farbtöne, 500 Helligkeiten und 20 verschiedene Weißanteile. Er sah, was andere Menschen sehen. Aber in ihm waren die Farben anders. Sie hatten keine Namen, weil es nicht genug Worte für sie gab. Die Hände des Kindermädchens waren aus Cyan und Amber, seine Haare leuchteten für ihn violett mit einer Spur Ocker, die Haut des Vaters war eine blasse, grünblaue Fläche. Nur seine Mutter hatte keine Farbe. Lange Zeit glaubte Sebastian, sie bestehe aus Wasser, und erst wenn er in ihr Zimmer komme, nehme sie die Gestalt an, die alle kannten. Er bewunderte die Schnelligkeit, mit der ihr jedes Mal die Verwandlung gelang.

Als er lesen lernte, bekamen auch die Buchstaben Farben. Das »A« war so rot wie die Strickjacke der Lehrerin in der Dorfschule oder wie die Fahne der Schweiz, die er letzten Winter auf der Berghütte gesehen hatte, ein dickes, kräftiges, unmissverständliches Rot. Das »B« war viel leichter, es war gelb und roch wie die Rapsfelder auf dem Weg zur Schule. Es schwebte im Raum über dem hellgrünen »C«, höher und freundlicher als das dunkelgrüne »K«.

Da alle Dinge neben der sichtbaren noch die andere, die unsichtbare Farbe hatten, begann Sebastians Gehirn diese Welt zu ordnen. Nach und nach entstand eine Landkarte aus Farben, sie hatte Tausende Straßen, Plätze und Gassen, und jedes Jahr kam eine neue Ebene dazu. Er konnte sich in dieser Karte bewegen, er fand durch die Farben seine Erinnerungen. Die Karte wurde zu einem vollständigen Bild seiner Kindheit. Der Staub des Hauses hatte dort die Farbe der Zeit: ein dunkles, sanftes Grün.

Er redete nicht darüber, er glaubte noch, alle Menschen würden so sehen. Er ertrug es nur nicht, wenn seine Mutter ihm bunte Pullover anzog, dann wurde er wütend, zerriss sie oder vergrub sie im Garten. Schließlich konnte er durchsetzen, nur noch die dunkelblauen Bauernkittel aus der Gegend tragen zu dürfen, und bis er zehn Jahre alt war, blieben sie seine tägliche Kleidung. Manchmal zog er im Sommer eine Mütze auf, nur weil sie die richtige Farbe hatte. Das Au-pair-Mädchen ahnte, dass Sebastian anders war. Er bemerkte, wenn sie ein neues Parfum oder einen neuen Lippenstift trug. Manchmal rief sie ihren Freund in Lyon an, sie sprach dann französisch am Telefon, aber es schien ihr, als würde Sebastian die fremde Sprache verstehen, als reiche ihm dafür der Klang ihrer Stimme.

Mit zehn Jahren kam Sebastian ins Internat. Sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren schon dort gewesen und da die Familie kein Geld mehr hatte, bekam er ein Stipendium. Die Internatsleitung schickte einen Brief nach Hause. Es war genau festgelegt, welche Kleidung jeder Junge mitbringen durfte, wie viele Hosen, Pullover und Schlafanzüge. Überall musste die Köchin Nummern einnähen, damit die Wäscherei des Internats die Sachen der Kinder auseinanderhalten konnte. Die Köchin weinte, als sie den Koffer vom Speicher holte, und Sebastians Vater sagte ärgerlich, sie solle aufhören mit dem Getue, der Junge komme ja nicht ins Gefängnis. Sie weinte trotzdem, und obwohl der Brief das ausdrücklich verbot, legte sie ein Glas Marmelade und etwas Geld zwischen die frischen Hemden.

Eigentlich war sie keine Köchin, Personal gab es in dem Haus längst nicht mehr. Sie gehörte zur Familie, eine weit entfernte Tante, die in besseren Tagen Hausdame und Geliebte eines deutschen Konsuls in Tunesien gewesen war. Der Konsul hatte ihr nichts hinterlassen. Sie war froh, bei den Eschburgs unterzukommen. Manchmal wurde ihr ein Gehalt bezahlt, aber meistens blieb es bei freiem Wohnen und Essen.

Als Sebastian von seinem Vater ins Internat gebracht wurde, hätte er gerne die weißen Blüten des Hahnenfußes mitgenommen, die auf dem See schwammen, und die Bachstelzen und die Platanen vor dem Haus. Sein Hund lag in der Sonne, sein Fell war warm und Sebastian wusste nicht, was er zu ihm sagen sollte. Der Hund starb ein halbes Jahr später.

2

Während der Autofahrt ins Internat durfte Sebastian vorne sitzen, hinten in dem alten Wagen wurde ihm auf längeren Strecken schlecht. Er sah aus dem Fenster, er stellte sich vor, dass die Welt eben erst erbaut würde und dass der Vater nicht zu schnell fahren dürfe, sonst würde sie nicht rechtzeitig fertig.

Nach den Obstgärten am großen See, den der Vater das Schwäbische Meer nannte, kamen sie an die Schweizer Grenze. Zwischen Deutschland und der Schweiz sei Niemandsland, sagte der Vater. Sebastian überlegte, wie die Menschen im Niemandsland aussehen, welche Sprache sie sprechen und ob sie überhaupt eine Sprache haben.

Der Grenzbeamte wirkte würdevoll in seiner Uniform. Er kontrollierte Sebastians neuen Pass, er fragte den Vater sogar, ob er etwas zu verzollen habe. Sebastian starrte die Pistole des Beamten an, sie steckte in einem abgegriffenen Halfter, und er bedauerte es, dass der Mann sie nicht ziehen musste.

Auf der anderen Seite der Grenze wechselte der Vater Geld und kaufte Schokolade an einem Kiosk. Er sagte, man müsse das immer tun, wenn man in die Schweiz fahre. Jeder Riegel war einzeln verpackt, das Stanniolpapier war mit winzigen Fotos beklebt: der Rheinfall bei Schaffhausen, das Matterhorn, Kühe und Milchkannen vor einer Scheune, der Zürichsee.

Sie fuhren höher in die Berge, es wurde kühler, sie kurbelten die Scheiben hoch. Die Schweiz sei eines der größten Länder der Erde, sagte der Vater, man müsste nur die Berge flach ziehen, dann wäre das Land so groß wie Argentinien. Die Straßen wurden enger, sie sahen Bauernhöfe, Kirchtürme aus Feldstein, Flüsse, einen Bergsee.

Als sie durch ein Dorf kamen, das besonders ordentlich aussah, sagte der Vater, Nietzsche habe hier gewohnt. Er zeigte auf ein zweistöckiges Haus, Geranien standen auf den Fensterbänken. Sebastian wusste nicht, wer dieser Nietzsche war, aber der Vater hatte es so traurig gesagt, dass er sich den Namen merkte.

Sie fuhren zwischen den Felsen noch etwa dreißig Kilometer weiter und schließlich parkten sie auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt. Weil sie etwas zu früh angekommen waren, gingen sie noch durch die Gassen. Es gab zwei- und dreistöckige Bürgerhäuser mit winzigen Fenstern, Torbögen und dicken Mauern gegen die harten Winter. Von hier aus konnten sie die Gebäude des Internats sehen, eine barocke Klosteranlage. Arkaden umschlossen einen Marienbrunnen, dahinter standen die beiden Türme der gewaltigen Stiftskirche.

Der Internatsleiter empfing sie, er trug die schwarze Kutte der Benediktiner. Sebastian saß neben seinem Vater auf dem Sofa. Eine Madonna stand in einem Wandauslass hinter Glas. Sie hatte einen winzigen Mund und trübe Augen, das Kind auf ihrem Arm sah krank aus. Sebastian war unruhig. In seiner Hosentasche war eine Vogelpfeife, ein sehr glatter Stein, den er letztes Jahr am Strand gefunden hatte, und der Rest einer Orangenschale. Während die Männer Dinge besprachen, die Sebastian nicht verstand, zerriss er mit Daumen und Zeigefinger die Orangenschale in seiner Tasche in immer kleinere Stücke. Als die Erwachsenen endlich fertig waren und Sebastian aufstehen durfte, verabschiedete sich der Vater von dem Pater. Auch Sebastian wollte dem fremden Mann die Hand geben, aber der sagte nur: »Nein, nein, du bleibst jetzt hier.«

Die winzigen Stücke der Orangenschale waren aus Sebastians Tasche gefallen, sie hatten sich auf dem

3

Das Leben im Kloster war seit Jahrhunderten auf das Lesen und Schreiben ausgerichtet. Die Stiftsbibliothek war ein hoher Saal mit hellem Eichenboden, hier standen über 1400 Handschriften und über 200 000 gedruckte Bücher, die meisten in Leder gebunden. Die Mönche hatten im 11. Jahrhundert eine Schreibschule gegründet, im 17. Jahrhundert kam eine Druckerei dazu. Für die Schüler gab es eine zweite Bibliothek, einen Raum mit dunklen Holztischen und Messingleuchten. Unter den Kindern gab es Gerüchte über geheime Räume im Keller des Klosters mit verbotenen Büchern: Aufzeichnungen über Folter, über Hexenprozesse, Anleitungen zur Zauberei. Die Patres förderten das Lesen nicht, sie wussten, dass es sich für manche Kinder von alleine ergeben und für die anderen uninteressant bleiben würde.

Sebastian begann in der Abgeschiedenheit des Klosters zu lesen. Nach einiger Zeit störten ihn die Regeln im Internat nicht mehr, er gewöhnte sich an Früh- und Abendmessen, an den Unterricht, den Sport, die Lernzeiten. Es war dieser immer gleiche Rhythmus der klösterlichen Tage, der ihm die Ruhe gab, in den Büchern zu leben.

In den ersten Wochen vermisste er das Haus am See. Zwischen den Ferien durften die Kinder nicht nach Hause fahren, Telefonate mussten umständlich angemeldet werden. An jedem zweiten Sonntag rief Sebastian zu Hause an. Er stand dann in einer der kleinen Holzkabinen in der Eingangshalle des Klosters und der Pater an der Pforte stellte das Gespräch durch.

An einem der Sonntage war seine Mutter am Apparat. Sebastian wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Vater sei krank, sagte sie, aber es sei nicht schlimm. Als Sebastian auflegte, zitterten seine Knie. Plötzlich war er überzeugt, dass nur er den Vater retten könne. Er müsste dazu alleine durch die Viamalaschlucht wandern. Sebastian hatte Angst vor der Schlucht, vor dem Dunklen dort, den engen Wegen. Auf die Klassenwanderung war er nicht mitgekommen. »Via mala« – der »schlechte Weg«: 300 Meter hohe Felswände, glatt geschliffen und kalt, Steinstufen und Brücken.

Sebastian ging sofort los, er meldete sich nicht ab. Vor dem Internat nahm er den Bus. Erst unterwegs merkte er, dass er nur dünne Halbschuhe trug und keine Jacke mitgenommen hatte. Er war zwölf Jahre alt, er hatte Höhenangst, aber er musste es schaffen. Er ging sehr langsam. Auf den Brücken hielt er sich in der Mitte, er sah nicht in die Tiefe. Unter sich hörte er den Fluss. Er war so bleich, dass er mehrmals von Wanderern gefragt wurde, ob sie ihm helfen könnten. Nach drei Stunden hatte er es geschafft. Er fuhr zurück ins Kloster. Sie hatten ihn gesucht und natürlich verstand der Präfekt die Sache mit dem Vater nicht. Sebastian bekam eine Ohrfeige. Es machte ihm nichts: Er hatte den Vater gerettet.

Die Schule lag fast 2000 Meter hoch, die Winter begannen früh und dauerten lange. Im Internat wurde erst spät geheizt, die hohen Räume wurden nie richtig warm und auf den langen Fluren zog es. Sebastian freute sich immer über die ersten Tage im Schnee. Die Schlitten wurden aus den Kellern geholt und am Wochenende fuhren die Kinder Ski. Morgens lag eine dünne Schicht Raureif auf den Bettdecken und im Waschsaal kamen aus den Hähnen winzige Eiskristalle.

Jedes Jahr wurde Sebastian zu Beginn des Winters krank, er bekam eine Mittelohrentzündung und Fieber. In der Praxis des Arztes aus dem Dorf hing ein großes Schaubild von einem Ohr. Der Arzt zeigte Sebastian darauf die Haut, die Knorpel, Knochen und Nerven. Seine Haut sei vielleicht zu dünn, sagte der Arzt. Auf seinem Tisch lagen chromglänzende Instrumente, sie waren kalt und taten weh in dem kranken Ohr. Sebastian dachte an die Köchin zu Hause, die ihm die Umschläge mit fein geschnittenen Zwiebeln gegen die Schmerzen gemacht hatte. Sie hatte gesagt, von den Zwiebeln müsse man weinen, aber sie könnten auch heilen. Die Köchin hatte an seinem Bett gesessen, sie hatte von Tunesien erzählt, von den Gewürzen auf den Märkten in der Medina, von dem Wüstenluchs, der Ohren hatte, die wie Pinsel aussahen, und von der Hitze des Saharawindes, den sie Chehili nannte.

In den dunklen Monaten im Internat, wenn die Bücher nicht mehr ausreichten, wenn Gärtnerei, Sportplätze und Bänke vom Schnee bedeckt waren, retteten Sebastian die Farben in seinem Kopf.

4

Es war der erste Tag der großen Ferien. Sebastian hatte kaum geschlafen. Sie fuhren um vier Uhr früh ins Revier. Nachts hatte es geregnet, die Wiesen waren feucht, die Erde klebte an den Gummistiefeln und machte sie schwer. Der Vater trug die Doppelbüchse über der Schulter. Der Schaft rieb am Lodenmantel, der Stoff dort war mit den Jahren dünn geworden. Die Rosen und Goldlinien der englischen Gravuren waren kaum noch sichtbar, der Schaft war fast schwarz. Der Lodenmantel roch nach Kaninchen und Tabak. Sebastian dachte an das Gewehr, das ihm sein Vater zur Jagdprüfung versprochen hatte. Mit 17 könnte er die Prüfung machen, aber bis dahin würde es noch lange dauern.

Er ging gerne neben seinem Vater. Jagen ist eine ernste Sache, hatte der Vater oft gesagt, und Sebastian verstand, was er meinte. Nur auf den Treibjagden war es anders. Im Hof des Jagdhauses gab es dann Kartoffelsuppe, es war laut. Oft kamen neue Gäste, »Frischlinge«, wie die Treiber sie heimlich nannten. Sie trugen neue Mäntel und hatten neue Gewehre. Man brachte die »Frischlinge« zu besonderen Plätzen, wo sie mit ihren Gewehren nichts anstellen konnten. Sie redeten immer, auch während sie auf das Wild warteten. Sie sprachen über ihre Arbeit in der Stadt oder über Politik oder über irgendetwas anderes, und Sebastian wusste, dass sie die Jagd nicht begriffen. Später wurde vor dem Jagdhaus die Strecke gelegt, die Tiere waren tot und schmutzig. Sebastian ging nicht mehr mit auf die Treibjagden. Aber wenn sie alleine waren und der Vater kaum sprach, gehörte ihnen der Wald und das Wild und es gab nichts Schmutziges und nichts Falsches.

Sie stiegen auf den Hochsitz und warteten, bis der Frühnebel sich aufgelöst hatte. Als der Rehbock auf das Feld trat, gab der Vater Sebastian das Fernglas. Es war ein kapitaler Sechserbock, er war groß und stolz und er war sehr schön. »Wir haben noch Zeit«, flüsterte der Vater. Sebastian nickte. Es war Anfang August, die Schonzeit würde erst Mitte Oktober beginnen. Er überlegte, warum der Vater überhaupt ein Gewehr dabeihatte, wenn er es nicht benutzen wollte. Aber dann dachte er, dass er später auch immer sein Gewehr mitnehmen würde.

Der Vater zog eine Zigarre aus dem Etui, das Leder war fleckig und alt, so wie alles alt war, was der Vater besaß. Von hier oben konnten sie weit ins Tal sehen, bis zu dem Kirchturm des Dorfes und an klaren Tagen noch weiter, bis zu den Alpen. Sebastian würde sich später an jede Einzelheit erinnern, an den Rauch der Zigarren, an den Geruch von Harz und von nasser Wolle und an den Wind in den Bäumen.

Sie wechselten sich mit dem Fernglas ab, es war so schwer, dass Sebastian sich mit den Ellbogen auf dem Querbalken abstützen musste. Lange beobachteten sie die Rehe.

Dann legte der Vater kurz an und schoss. Sie kletterten vom Hochsitz, Sebastian rannte über das Feld. Die Vorderläufe des Rehs sahen aus, als würde es noch laufen, sie waren abgeknickt und klein, die Augen standen offen, halbrund gewölbt und trüb, die rote Zunge war seltsam verdreht. Sebastian kannte die alte Sprache der Jäger, sie sagten Lichter anstelle von Augen und Äser anstelle von Maul. Der Vater hatte gesagt, Jäger seien abergläubisch und man dürfe im Wald keine normalen Worte benutzen, das Wild würde sonst gewarnt. Aber jetzt war das Reh tot und die Worte spielten keine Rolle mehr.

Der Vater beugte sich über das Tier, spreizte dessen Hinterläufe und kniete sich darauf. Er schnitt die Bauchdecke vom Darmausgang bis zur Kehle auf. Blut und Gedärme quollen hervor. Der Vater zog Pansen, Herz, Milz und Lunge aus dem Körper und legte sie neben sich ins Gras.

Sebastian fühlte sich wie damals, als er auf einer Wanderung in eine Schlucht geschaut hatte, er hatte sich nicht mehr lösen können. Er hatte in die Tiefe gestarrt, immer weiter, wehrlos und ohne Willen, bis der Vater ihn zurückgerissen hatte. Und jetzt war es dieser Schnitt, der Schnitt mit dem Messer seines Vaters. Er zog Sebastian an und stieß ihn gleichzeitig ab. Er konnte sich nicht mehr bewegen, er sah das Weiße in dem Körper des Rehs, die Muskelfasern und die Knochen. Endlich war der Vater fertig und legte das Reh über seine Schultern. Sebastian trug den Rucksack, er ging hinter dem Vater zurück zum Wagen. Es würde ein heißer Tag werden, die Wiesen begannen zu dampfen, das Licht wurde hart und es war besser, im Schatten der Bäume zu bleiben.

Zu Hause saß Sebastians Mutter draußen an dem Eisentisch unter den Kastanien und frühstückte, ihre beiden Hunde dösten auf dem Rasen. Es war Donnerstag, sie würde heute noch auf ein Reitturnier fahren, Sebastian hatte den Pferdetransporter gesehen. Vor ein paar Jahren hatte die Mutter den Stall renovieren lassen, jetzt standen ihre zwei Dressurpferde dort. Sebastian küsste die Mutter auf beide Wangen, dann rannte er nach oben in sein Zimmer und holte ihr Geschenk aus dem Koffer. Im Werkraum des Internats hatte er einen Nussknacker gebastelt, er hatte weiße Zähne, einen roten Bart und einen schwarzen Hut mit einer Fasanenfeder aus Holz. Sebastian hatte lange an ihm gearbeitet, die Feder hatte er braun-grün angemalt. Aber jetzt kam ihm das Geschenk dumm vor. Er sah zu Boden, als er es ihr gab. An den Händen hatte er noch das Harz vom Hochsitz und nun klebte es an dem Nussknacker, weil er nicht aufgepasst hatte. Die Mutter bedankte sich. Sie öffnete zweimal den Mund des Nussknackers. Dann las sie weiter die Ausschreibungen in der »Reiter Revue«. Auf dem Tisch lagen die Meldescheine für ihre Turniere. Sebastian erzählte die Neuigkeiten aus dem Internat. Manchmal stellte sie eine Frage, ohne von den Papieren aufzusehen. Nach einiger Zeit sagte sie, dass sie nun losmüsse. Sie faltete ihre Serviette zusammen, sorgfältig, bis die Enden exakt aufeinanderlagen. Sie küsste ihn auf die Stirn. Die Hunde sprangen auf und trotteten neben ihr die Allee zum Stall hinunter.

Sebastian blieb im Schatten der alten Kastanien sitzen. Die großen Ferien lagen vor ihm. Vielleicht würde er den Holzkahn im Bootshaus ausbessern, er musste neu gestrichen werden. Sebastian erinnerte sich, wie sie in dem Boot zu dritt über den See gefahren waren, der Vater hatte gerudert, während er auf dem Bauch gelegen hatte, das Kinn auf die Bordwand gestützt. Er war noch sehr jung gewesen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Seine Mutter hatte ein helles Leinenkleid getragen und steif auf der Mittelbank gesessen. Damals hatte sie noch viel gelacht, sie hatte aufgeschrien, wenn das Boot schwankte und der Vater sie mit den Paddeln nass spritzte. Sebastian hatte seine Hände in den kalten See getaucht, er hatte Forellen, Barsche und Renken gesehen und manchmal hatte er das warme Parfum seiner Mutter riechen können: Rosen, Jasmin und Orangen auf Wasser.