Der Fall Collini - Ferdinand Schirach - E-Book
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Der Fall Collini E-Book

Ferdinand Schirach

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Beschreibung

Was treibt einen Menschen, der sich ein Leben lang nichts hat zuschulden kommen lassen, zu einem Mord?

Vierunddreißig Jahre hat Fabrizio Collini als Werkzeugmacher bei Mercedes gearbeitet. Unauffällig und unbescholten. Und dann tötet er in einem Berliner Luxushotel einen alten Mann. Grundlos, wie es aussieht. Ein Albtraum für den jungen Anwalt Caspar Leinen, der die Pflichtverteidigung übernimmt: Das Opfer, ein hoch angesehener deutscher Industrieller, ist der Großvater seines besten Freundes. Schlimmer noch, Fabrizio Collini schweigt beharrlich zu seinem Motiv. Leinen beginnt zu recherchieren und stößt auf eine Spur, die ihn mitten hineinführt in ein erschreckendes Kapitel deutscher Justizgeschichte.

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FERDINAND VON SCHIRACH

DER FALL COLLINI

ROMAN

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btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Zuerst erschienen im Piper Verlag, München, 2011 Copyright © 2016 Ferdinand von Schirach Umschlaggestaltung: buxdesign | München nach einem Motiv von © plainpicture/Millenium/Davies Marcus Klü · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-20325-2V004
www.btb-verlag.de www.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de www.penguinrandomhouse.de

»Wir sind wohl alle für das geschaffen, was wir tun.«

Ernest Hemingway

Inhaltsverzeichnis

CopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19AnhangDanksagung

1

Später würden sich alle daran erinnern, der Etagenkellner, die beiden älteren Damen im Aufzug, das Ehepaar auf dem Flur im vierten Stock. Sie sagten, dass der Mann riesig war, und alle sprachen von dem Geruch: Schweiß.

Collini fuhr in die vierte Etage. Er suchte die Nummern ab, Zimmer 400, »Brandenburg Suite«. Er klopfte.

»Ja?« Der Mann im Türrahmen war fünfundachtzig Jahre alt, aber er sah viel jünger aus, als Collini erwartet hatte. Schweiß rann Collini den Nacken runter.

»Guten Tag, Collini vom ›Corriere della Sera‹.« Er sprach undeutlich und fragte sich, ob der Mann einen Ausweis verlangen würde.

»Ja, freut mich, kommen Sie doch bitte rein. Wir machen das Interview am besten hier.« Der Mann streckte Collini die Hand hin. Collini wich zurück, er wollte ihn nicht anfassen. Noch nicht.

»Ich schwitze«, sagte Collini. Es ärgerte ihn, dass er das gesagt hatte, es klang komisch. So etwas würde niemand sagen, dachte er.

»Ja, wirklich sehr schwül heute, es müsste bald regnen«, sagte der alte Mann freundlich, obwohl es nicht stimmte: Die Räume hier waren kühl, die Klimaanlage hörte man kaum. Sie gingen in das Zimmer, beiger Teppich, dunkles Holz, große Fenster, alles teuer und solide. Vom Fenster aus konnte Collini das Brandenburger Tor sehen, es kam ihm merkwürdig nah vor.

Zwanzig Minuten später war der Mann tot. Vier Projektile waren in seinen Hinterkopf eingedrungen, eines hatte sich im Gehirn gedreht, war wieder ausgetreten und hatte das halbe Gesicht weggerissen. Der beige Teppich saugte das Blut auf, der dunkle Umriss wurde langsam größer. Collini legte die Pistole auf den Tisch. Er stellte sich neben den Mann am Boden, starrte auf die Altersflecken auf dessen Handrücken. Mit dem Schuh drehte er den Toten um. Plötzlich trat er mit dem Absatz in das Gesicht des Toten, er sah ihn an, dann trat er wieder zu. Er konnte nicht aufhören, wieder und wieder trat er zu, Blut und Gehirnmasse spritzten auf seine Hosenbeine, auf den Teppich, gegen das Bettgestell. Der Gerichtsmediziner konnte später die Anzahl der Tritte nicht rekonstruieren, Wangen-, Kiefer-, Nasen- und Schädelknochen brachen unter der Wucht. Collini hörte erst auf, als der Absatz seines Schuhs abriss. Er setzte sich auf das Bett, Schweiß lief ihm über das Gesicht. Sein Puls beruhigte sich nur langsam. Er wartete, bis er wieder gleichmäßig atmete. Er stand auf, bekreuzigte sich, verließ das Zimmer und fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss. Er humpelte, weil der Absatz fehlte, die herausstehenden Nägel kratzten auf dem Marmor. In der Lobby sagte er der jungen Frau hinter der Theke, sie solle die Polizei rufen. Sie stellte Fragen, gestikulierte. Collini sagte nur: »Zimmer 400, er ist tot.« Neben ihm, auf der elektronischen Tafel in der Lobby, stand: »26. Mai 2001, 20 Uhr, Spreesaal: Verband der Deutschen Maschinenindustrie«.

Er setzte sich auf eines der blauen Sofas in der Lobby. Ob er ihm etwas bringen dürfe, fragte der Kellner, Collini antwortete nicht. Er starrte auf den Boden. Seine Schuhabdrücke konnten auf dem Marmor im Erdgeschoss, im Lift und bis in die Suite zurückverfolgt werden. Collini wartete auf seine Festnahme. Er hatte sein ganzes Leben gewartet, er war immer stumm geblieben.

2

»Notdienst der Strafverteidiger, Rechtsanwalt Caspar Leinen.« Das Display des Telefons zeigte eine Nummer aus dem Strafgericht.

»Amtsgericht Tiergarten, Köhler, ich bin Ermittlungsrichter. Hier sitzt ein Beschuldigter ohne Verteidiger. Die Staatsanwaltschaft beantragt Haftbefehl wegen Mordes. Wie lange brauchen Sie, um ins Gericht zu kommen?«

»Etwa fünfundzwanzig Minuten.«

»Gut, ich lasse den Beschuldigten in vierzig Minuten vorführen. Melden Sie sich in Raum 212.«

Caspar Leinen legte auf. Wie viele junge Anwälte hatte er sich in die Liste für den Notdienst der Strafverteidigervereinigung eintragen lassen. Am Wochenende bekamen die Anwälte ein Handy und mussten in Bereitschaft bleiben. Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter hatten diese Telefonnummer. Wurde jemand festgenommen und verlangte einen Anwalt, konnten die Behörden dort anrufen. Junge Anwälte bekamen so die ersten Mandate.

Leinen war seit zweiundvierzig Tagen Rechtsanwalt. Nach dem zweiten Staatsexamen hatte er sich ein Jahr treiben lassen, er war durch Afrika und Europa gefahren, meist hatte er bei ehemaligen Schulfreunden aus seinem Internat gewohnt. Seit ein paar Tagen hing sein Schild am Hauseingang: »Rechtsanwalt Caspar Leinen«. Er fand es etwas zu pompös, aber es gefiel ihm trotzdem. Die Kanzlei, zwei Zimmer, lag im Hinterhaus einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. Es gab zwar keinen Aufzug und die Mandanten mussten durch ein enges Treppenhaus, aber Leinen war sein eigener Herr und nur sich selbst verantwortlich.

Es war Sonntagvormittag, seit Stunden räumte er das Büro auf. Überall standen offene Umzugskartons, die Besucherstühle stammten von einem Flohmarkt, der Metallschrank für die Akten war vollkommen leer. Den Schreibtisch hatte ihm sein Vater geschenkt.

Nach dem Anruf des Richters suchte Leinen sein Jackett. Er fand es unter einem Stapel Bücher. Die neue Robe zog er vom Fenstergriff, stopfte sie in seine Aktentasche und rannte los. Zwanzig Minuten nach dem Anruf stand er im Zimmer des Ermittlungsrichters.

»Rechtsanwalt Leinen, guten Tag, Sie hatten mich angerufen.« Er war etwas außer Atem.

»Ah, vom Notdienst, ja? Gut, gut. Köhler.« Der Richter stand auf, um ihm die Hand zu geben. Ungefähr fünfzig Jahre alt, Salz-und-Pfeffer-Jackett, Lesebrille. Er sah freundlich aus, vielleicht etwas zerstreut. Aber das täuschte.

»Mordsache Collini. Wollen Sie noch mit Ihrem Mandanten sprechen? Wir müssen sowieso noch auf den Staatsanwalt warten. Der Abteilungsleiter, Oberstaatsanwalt Reimers, kommt selbst, obwohl es ein Wochenende ist … Na ja, wahrscheinlich eine Berichtssache. Also, wollen Sie mit ihm sprechen?«

»Gerne«, sagte Leinen. Für einen Moment überlegte er, was so wichtig an dieser Mordsache sein könnte, dass Reimers selbst kam, aber er vergaß diesen Gedanken, als der Wachtmeister eine Tür öffnete. Direkt dahinter führte eine schmale Steintreppe steil abwärts. Die Gefangenen wurden über diese Treppe aus der Haftanstalt zum Richter gebracht. Auf dem ersten Absatz stand im Halbdunkel ein riesiger Mann, er lehnte an der gekalkten Wand und verdeckte mit seinem Kopf beinahe vollständig die einzige Leuchte. Seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gebunden.

Der Wachtmeister ließ Leinen durch und schloss die Tür hinter ihm. Leinen war mit dem Mann allein. »Guten Tag, mein Name ist Leinen, ich bin Rechtsanwalt.« Es war nicht viel Platz auf dem Absatz, der Mann stand zu nahe.

»Fabrizio Collini.« Der Mann sah Leinen nur kurz an. »Ich brauche keinen Anwalt.«

»Doch, den brauchen Sie. Nach dem Gesetz müssen Sie sich in einer solchen Sache von einem Anwalt verteidigen lassen.«

»Ich will mich nicht verteidigen«, sagte Collini. Auch sein Gesicht war riesig. Breites Kinn, der Mund nur ein Strich, die Stirn vorgewölbt. »Ich habe den Mann getötet.«

»Haben Sie bei der Polizei schon ausgesagt?«

»Nein«, sagte Collini.

»Dann sollten Sie auch jetzt schweigen. Wir reden, wenn ich die Akte kenne.«

»Ich möchte nicht sprechen.« Seine Stimme war dunkel und fremd.

»Sind Sie Italiener?«

»Ja. Aber ich lebe seit fünfunddreißig Jahren in Deutschland.«

»Soll ich Ihre Familie benachrichtigen?«

Collini sah ihn nicht an. »Ich habe keine Familie.«

»Freunde?«

»Es gibt niemanden.«

»Dann fangen wir jetzt an.«

Leinen klopfte, der Wachtmeister öffnete wieder die Tür. Im Verhandlungszimmer saß Oberstaatsanwalt Reimers bereits am Tisch, Leinen stellte sich kurz vor. Der Richter zog aus dem Stapel vor sich eine Akte. Collini setzte sich auf eine Holzbank hinter einem niedrigen Gitter, neben ihm stand der Wachtmeister.

»Bitte nehmen Sie dem Beschuldigten die Handschellen ab«, sagte Köhler. Der Wachtmeister schloss sie auf, Collini rieb sich die Handgelenke. Leinen hatte noch nie so große Hände gesehen.

»Guten Tag. Mein Name ist Köhler, ich bin heute der für Sie zuständige Ermittlungsrichter.« Er deutete auf den Staatsanwalt. »Das ist Oberstaatsanwalt Reimers, Ihren Verteidiger kennen Sie ja bereits.« Er räusperte sich, sein Ton wurde sachlich, er sprach jetzt ohne jede Betonung. »Fabrizio Collini, Sie sind heute hier, weil die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen Sie wegen Mordes beantragt hat. Das ist der Termin, an dem ich entscheide, ob ich den Haftbefehl erlasse. Verstehen Sie ausreichend Deutsch?«

Collini nickte.

»Bitte nennen Sie Ihren vollen Namen.«

»Fabrizio Maria Collini.«

»Wann und wo sind Sie geboren?«

»26. März 1934 in Campomorone bei Genua.«

»Staatsangehörigkeit?«

»Italienisch.«

»Wo sind Sie gemeldet?«

»In Böblingen, Taubenstraße 19.«

»Welchen Beruf haben Sie?«

»Ich bin Werkzeugmacher. Ich habe vierunddreißig Jahre beim Daimler gearbeitet, zuletzt als Meister. Seit zwei Jahren bin ich pensioniert.«

»Danke.« Der Richter schob Leinen den Haftbefehl über den Tisch, zwei Seiten auf rotem Papier. Er war noch nicht unterschrieben. Die Angaben stammten aus dem Bericht der Mordkommission. Der Richter las ihn vor. Fabrizio Collini habe Jean-Baptiste Meyer in der Suite 400 im Hotel Adlon getroffen und ihn mit vier Schüssen in den Hinterkopf getötet. Er habe sich bisher nicht geäußert, werde aber durch die Fingerabdrücke an der Schusswaffe, die Blutanhaftungen an seiner Kleidung und seinen Schuhen, die Schmauchspuren an seinen Händen und die Aussagen von Zeugen überführt.

»Herr Collini, haben Sie den Vorwurf verstanden?«

»Ja.«

»Nach dem Gesetz steht es Ihnen frei, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Wenn Sie schweigen, kann das nicht gegen Sie verwendet werden. Sie können Beweiserhebungen beantragen, zum Beispiel Zeugen benennen. Sie können sich jederzeit mit einem Rechtsanwalt beraten.«

»Ich möchte nichts sagen.«

Leinen musste immer wieder auf Collinis Hände sehen.

Köhler wandte sich an seine Protokollführerin. »Bitte schreiben Sie: Der Angeklagte will sich nicht äußern.« Zu Leinen sagte er: »Möchten Sie etwas für den Beschuldigten erklären, Herr Verteidiger?«

»Nein.« Leinen wusste, dass es im Moment keinen Sinn hatte, etwas zu sagen.

Richter Köhler drehte seinen Stuhl zu Collini. »Herr Collini, ich erlasse gegen Sie den Haftbefehl, den ich Ihnen eben vorgelesen habe. Sie haben die Möglichkeit, gegen meine Entscheidung Beschwerde einzureichen oder Haftprüfung zu beantragen. Besprechen Sie das mit Ihrem Anwalt.« Während er sprach, unterzeichnete er den Haftbefehl. Dann sah er kurz zu Reimers und Leinen auf. »Noch Anträge?«, fragte er.

Reimers schüttelte den Kopf und packte seine Akten zusammen.

»Ja. Ich beantrage Akteneinsicht«, sagte Leinen.

»Ist im Protokoll vermerkt. Noch etwas?«

»Ich beantrage Haftprüfung in mündlicher Verhandlung.«

»Ebenfalls vermerkt.«

»Und ich beantrage, mich dem Beschuldigten als Pflichtverteidiger beizuordnen.«

»Jetzt schon? Na gut. Hat die Staatsanwaltschaft Einwände?«, fragte Köhler.

»Nein«, sagte Reimers.

»Dann ergeht folgender Beschluss: Rechtsanwalt Leinen wird dem Beschuldigten Fabrizio Collini als Pflichtverteidiger in diesem Verfahren beigeordnet. Das ist alles?«

Leinen nickte. Die Protokollführerin zog aus dem Drucker ein Blatt und gab es Köhler. Er überflog es kurz und reichte es Leinen weiter. »Das Protokoll der Sitzung. Ihr Mandant soll es bitte unterzeichnen.«

Leinen stand auf, las es und legte es auf die hölzerne Schreibunterlage, die auf das Gitter vor die Beschuldigtenbank geschraubt war. Der Kugelschreiber war mit einer dünnen Schnur an das Holzbrett gebunden. Collini riss sie ab, stammelte eine Entschuldigung und unterschrieb das Papier. Leinen gab es dem Richter zurück.

»So, das war’s dann für heute. Herr Wachtmeister, bitte bringen Sie Herrn Collini rüber. Auf Wiedersehen meine Herrn«, sagte der Richter. Der Wachtmeister schloss die Handschellen wieder um die Hände Collinis und verließ mit ihm das Richterzimmer. Leinen und Reimers standen auf.

»Ach, Herr Leinen«, sagte Köhler. »Bleiben Sie noch einen Moment.«

Leinen drehte sich im Türrahmen um. Reimers verließ das Zimmer.

»Ich wollte das nicht vor Ihrem Mandanten fragen: Wie lange sind Sie jetzt Rechtsanwalt?«

»Ungefähr einen Monat.«

»Ihre erste Haftbefehlsverkündung?«

»Ja.«

»Dann will ich Ihnen das nachsehen. Aber tun Sie mir doch den Gefallen und schauen Sie sich einmal hier in diesem Zimmer um. Sehen Sie irgendwo Zuhörer?«

»Nein.«

»Sie sehen richtig: Es gibt hier keine Zuhörer, es gab noch nie welche und es wird nie welche geben. Haftverkündungen und Haftprüfungen sind nämlich nicht öffentlich. Das wissen Sie doch noch, oder?«

»… Ja …«

»Und warum, zum Teufel, tragen Sie dann in meinem Verhandlungszimmer eine Robe?«

Für eine Sekunde schien der Richter Leinens Unsicherheit zu genießen. »Schon gut, für’s nächste Mal. Viel Glück bei der Verteidigung.« Er nahm die nächste Akte vom Stapel.

»Wiedersehen«, murmelte Leinen, der Richter antwortete nicht.

Vor der Tür stand Reimers und wartete auf ihn. »Sie können die Akte am Dienstag auf meiner Geschäftsstelle abholen, Herr Leinen.«

»Danke.«

»Waren Sie nicht Referendar bei uns?«

»Ja, vor zwei Jahren. Ich habe seit Kurzem meine Zulassung.«

»Ich erinnere mich«, sagte Reimers. »Und jetzt schon den ersten Mord, gratuliere. Wohl aussichtslos für die Verteidigung … Aber irgendwann muss man ja anfangen.«

Reimers verabschiedete sich und verschwand in einem Seitenflügel. Leinen ging langsam den Flur runter in Richtung Ausgang. Er war froh, endlich allein zu sein. Er sah sich die Supraporten an, Reliefs aus Gips: Ein weißer Pelikan hackt sich die Brust auf, um mit seinem Blut die Jungen zu nähren. Er setzte sich auf eine Bank, las den Haftbefehl noch einmal, zündete sich eine Zigarette an und streckte seine Beine aus.

Er hatte immer Strafverteidiger werden wollen. Während des Referendariats hatte er in einer der großen Wirtschaftskanzleien gearbeitet. In der Woche nach dem Examen bekam er vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen, er ging zu keinem der Interviews. Leinen mochte diese Achthundert-Anwälte-Büros nicht. Die jungen Leute dort sahen aus wie Bankiers, sie hatten erstklassige Examina, kauften Autos, die sie sich nicht leisten konnten, und wer am Ende der Woche den Mandanten die meisten Stunden in Rechnung stellte, war der Sieger. Die Partner solcher Sozietäten hatten ihre zweite Ehe hinter sich, sie trugen am Wochenende gelbe Kaschmirpullover und karierte Hosen. Ihre Welt bestand aus Zahlen, Aufsichtsratsposten, einem Beratervertrag mit der Bundesregierung und einer nicht endenden Reihe von Konferenzräumen, Flughafenlounges und Hotellobbys. Für alle dort war die größte Katastrophe, wenn ein Fall vor Gericht ging, Richter galten als Risiko. Aber genau das war es, was Caspar Leinen wollte: Er wollte eine Robe anziehen und seine Mandanten verteidigen. Und jetzt war er hier.

3

Caspar Leinen hatte den Rest des Sonntags an einem See in Brandenburg verbracht. Über den Sommer hatte er dort ein kleines Haus gemietet. Er hatte auf dem Steg gelegen, gedöst und den Jollen und Windsurfern zugesehen. Auf dem Rückweg war er noch einmal in der Kanzlei vorbeigegangen, und jetzt hörte er zum zehnten Mal den Anrufbeantworter ab.

»Hallo Caspar, hier ist Johanna. Bitte ruf mich sofort zurück.« Dann sagte sie ihre Nummer, das war alles. Er setzte sich zwischen die Kartons auf den Boden neben das Gerät, drückte immer wieder die Wiederholungstaste, lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Es war stickig in dem kleinen Zimmer, seit Tagen stand die Luft in der Stadt.

Johannas Stimme hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch weich, noch immer etwas zu gedehnt, und plötzlich war alles wieder da: Roßthal, das helle Grün unter den Kastanienbäumen, der Geruch des Sommers, als er noch ein Junge war.

Sie lagen auf dem flachen Dach der Gärtnerei und sahen in den Himmel. Die Teerpappe war warm unter ihnen, die Jacken hatten sie unter die Köpfe gelegt. Philipp sagte, er habe Ulrike, die Tochter des Bäckers, geküsst.

»Und?«, fragte Caspar. »Durftest du mehr?«

»Hmm«, sagte Philipp und ließ es lieber offen.

Die Thermoskanne mit kaltem Tee stand zwischen ihnen, sie war mit ausgeblichenem Peddigrohr umwickelt. Philipps Großvater hatte sie aus Afrika mitgebracht. Von der Terrasse des Hauses hörten sie die Köchin nach ihnen rufen. Sie blieben trotzdem liegen. Hier im Schatten der alten Bäume, die Philipps Urgroßvater gepflanzt hatte, bewegte sich alles langsamer an diesem Spätsommernachmittag. Wenn es so weitergeht, werde ich nie ein Mädchen küssen, dachte Caspar. Er war zwölf Jahre alt, Philipp und er gingen auf das gleiche Internat am Bodensee.

Caspar war froh, in den Ferien nicht nach Hause fahren zu müssen. Sein Vater besaß etwas ererbten Wald in Bayern, es reichte zum Leben. Er wohnte alleine in einem dunklen Forsthaus aus dem 17. Jahrhundert. Die Wände waren dick, die Fenster winzig, geheizt wurde nur mit Kaminen. Überall hingen Geweihe und ausgestopfte Vögel. Caspar hatte seine ganze Kindheit in dem Haus gefroren. Haus und Vater rochen nach weicher Lakritze im Sommer – es war der Geruch von Ballistol, einem Öl, mit dem die Jagdwaffen gereinigt wurden. Mit Ballistol wurden auch alle Krankheiten behandelt, es wurde auf Wunden geschmiert, auf schmerzende Zähne und selbst wenn Caspar Husten hatte, bekam er ein Glas heißes Wasser mit diesem Öl. Die einzige Zeitschrift, die es zu Hause gab, war »Wild und Hund«. Die Ehe von Caspars Eltern war ein Irrtum gewesen. Vier Jahre nach der Hochzeit reichte seine Mutter die Scheidung ein. Der Vater sagte später, eigentlich habe sie es nur nicht ertragen, dass er immer mit Gummistiefeln herumlaufe. Seine Mutter lernte einen anderen Mann kennen, der zu Hause nur »Der Herr Parvenü« genannt wurde, weil er eine Uhr trug, die mehr kostete als der Wald im Jahr einbrachte. Die Mutter zog mit dem neuen Mann nach Stuttgart, sie bekamen zwei weitere Kinder. Caspar blieb bei seinem Vater im Forsthaus, bis er ins Internat kam. Damals war er zehn gewesen.

»Okay, wir müssen wohl«, sagte Philipp. »Ich hab Hunger.«

Sie kletterten vom Dach und gingen hoch zum Haus.

»Sollen wir nachher schwimmen?«, fragte Philipp.

»Lieber angeln«, sagte Caspar.

»Stimmt, angeln ist besser. Wir können die Fische grillen.«

Nachdem die Köchin geschimpft und die Jungen ihr gesagt hatten, dass sie zu weit weg gewesen seien, um sie zu hören, gab es lange Brote mit Schinken und Butter. Sie aßen wie immer in der Küche und nicht bei Philipps Eltern oben. Caspar war gerne hier unten. Es gab unzählige weiße Schubladen, beschriftet mit schwarzer Tinte: Salz, Zucker, Kaffee, Mehl, Kümmel. Wenn der Postbote morgens kam, setzte er sich mit an den Tisch. Alle sahen gemeinsam die Absender der Briefe durch und lasen die Postkarten, bevor sie zu Philipps Eltern hochgebracht wurden.