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Eine ebenso mutige wie sehr persönliche Erzählung, ein literarisches Spiel an der Grenze zwischen Bühnenfigur und Autor.
Ferdinand von Schirachs neues Buch »Regen« ist eine Erzählung in Form eines Theatermonologs, den Ferdinand von Schirach ab Herbst 2023 im Rahmen einer großen Premierentournee auf zahlreichen deutschen Bühnen selbst sprechen und aufführen wird: Ein Mann kommt durchnässt aus dem Regen in eine Bar – auf die Bühne – und denkt über Verbrechen und Strafen nach, über das Großartige und das Schreckliche unserer Zeit, über die Würde des Menschen, die Einsamkeit, die Liebe, den Verlust und das Scheitern.
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Seitenzahl: 73
Buch:
Er ist Schriftsteller, wenn auch ein Autor ohne Werk: Seit 17 Jahren hat er nichts mehr geschrieben. Doch als er eines Tages in einem Prozess um eine Beziehungstat zum Schöffen berufen wird, bricht die jahrelange Erstarrung auf. Durchnässt vom Regen, setzt er sich nach dem ersten Verhandlungstag in eine Bar und denkt nach: über Verbrechen und Strafen, über das Großartige und Schreckliche unserer Zeit, über die Würde des Menschen und über sein Leben. Über den Verlust und die Einsamkeit, das Scheitern und die Liebe.
Regen ist ein ebenso mutiges wie sehr persönliches Buch, das Ferdinand von Schirach ab Oktober 2023 im Rahmen einer großen Premierentournee auf zahlreichen deutschen Bühnen selbst aufführen wird.
Ergänzt wird der Band durch ein Interview mit dem Autor.
Autor:
Der SPIEGEL nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, die Financial Times mit Raymond Carver, und der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Bücher – zuletzt die Erzählsammlung Nachmittage – wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Seine Theaterstücke Terror und Gott zählen weltweit zu den erfolgreichsten und meistdiskutierten Dramen der Gegenwart.
Ferdinand von Schirach
Eine Liebeserklärung
Luchterhand
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Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © 2023 Ferdinand von Schirach
Copyright © des Interviews: Sven Michaelsen
Covergestaltung buxdesign / München
unter Verwendung eines Motivs von © Ruth Botzenhardt nach einer Vorlage von »Das Mädchen von Beroia«
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-30324-2V004
www.schirach.de
www.luchterhand-literaturverlag.de
www.facebook.com/luchterhandverlag
Eine Liebeserklärung
Mögen Sie Regen?
Ich bin klatschnass. Ich stand zwanzig Minuten draußen, da drüben vor dem blauen Haus. Und die ganze Zeit regnet es schon.
Regen, das ist White Noise, weißes Rauschen. Es gibt mittlerweile eine Fülle von Regenaufnahmen. Die hören Sie, wenn Sie nachts nicht einschlafen können. Regen in Cornwall, Regen in Bhutan oder – sehr selten, weil es da ja fast nie regnet –: Regen im Köcherbaumwald in Namibia. Kann ich stundenlang hören. Am besten ist natürlich der Klassiker: Regen im Regenwald. Liegt auch nahe. Wenn es da nicht mehr regnet, ist es sowieso vorbei.
Inzwischen gibt es auch Pink Noise. Pink Noise ist wie White Noise, nur wärmer. Aber ich bleibe beim Klassiker.
Wissen Sie, ob man hier rauchen darf? Ah ja, danke.
In Berlin darf man noch im Restaurant rauchen. Also nicht offiziell natürlich. Offiziell ist das längst verboten, wie überall. Aber ab elf Uhr abends, nachdem alle gegessen haben, stellt man Ihnen eine Untertasse auf den Tisch. Aschenbecherersatz.
Wenn die Anti-Raucher-Fraktion das wüsste, die würde durchdrehen. Aber solche Leute gehen ja nie ins Restaurant. Die gehen auch nicht ins Café. Die gehen in die Natur, in den Wald und umarmen die Bäume.
Schauen Sie mal aus dem Fenster. Das blaue Haus, die Nummer 5. Die Treppe. Vor sechs Monaten wurde sie dort umgebracht. Deshalb bin ich hier.
Ich bin nämlich jetzt Schöffe. Wissen Sie, was das ist? Laienrichter, ja. Zum Schöffen wird man »berufen«. So nennen die das. Und wenn Sie einmal berufen wurden, kommen Sie da nicht mehr raus. Ich hab’s versucht, glauben Sie mir. Auf dem Berufungsschreiben war eine Telefonnummer angegeben. Ich habe dort angerufen, obwohl ich nicht gerne telefoniere. Das Telefonieren ist ja immer zu direkt.
Eigentlich bin ich Schriftsteller, müssen Sie wissen. Das ist ein sehr langweiliger Beruf. Da passiert nichts, was man sehen kann. Der Schriftsteller im Film sieht deshalb auch nie gut aus. Im Film muss er vor einer Schreibmaschine sitzen. Auch in ganz neuen Filmen muss er auf einer Royal Quiet Deluxe oder einer Underwood Standard herumtippen. Eine Zumutung ist das, niemand schreibt doch noch auf so einem Ding.
Sobald er dort sitzt, vor der Schreibmaschine, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder er starrt, rauchend und trinkend, auf das eingespannte leere Blatt Papier und ihm fällt nichts ein. Oder er schreibt in einer einzigen Nacht einen ganzen Roman. Der wird dann ein Weltbestseller, natürlich. Am Ende tippt der Schriftsteller »Ende« darunter. In Großaufnahme: »Ende«. Ist auch meistens das Ende des Films. Ich kann Ihnen versichern, ich habe noch nie »Ende« am Ende geschrieben. Und noch nie einen Roman in einer einzigen Nacht. Leider.
Es ist unverständlich, warum es überhaupt Filme über Schriftsteller gibt. Das, was sie tun, ist kein bisschen romantisch oder aufregend. Das Herstellen eines Tisches ist weitaus interessanter. Oder eine Autojagd. Oder ein Luftröhrenschnitt mit einem Steakmesser, wenn einer im Restaurant gerade eine Gräte verschluckt hat. Alles gute Szenen. Aber das Schreiben? Taugt nicht als Bild.
Beim Schreiben können Sie Lücken lassen. Ihr Leser füllt diese Lücken mit den Bildern aus seinem Kopf. Beim Film geht das nicht, da müssen Sie alles zeigen. Das ist der große Unterschied.
Stellen Sie sich vor, eine Frau überquert mit ihrem Hund die Straße. Sehen Sie? Es geht gar nicht anders. Tatsächlich sind jetzt eine Frau und ein Hund in Ihrem Kopf. Aber schon mein Hund sieht ganz anders aus als Ihr Hund. Ist es ein Pudel oder ein Pitbull? Oder ist es ein chinesischer Faltenhund mit spitzen Zähnen? Im Film aber sehen wir alle die gleiche Frau und den gleichen Hund.
Und so ist das immer. Selbst bei Marcel Proust können Sie sich sicher sein: Die Madeleine in seinem Kopf riecht anders als die Madeleine in Ihrem Kopf. Sie denken vermutlich nicht gleich an Combray und die Tanten und an Monsieur Swann. Aber vielleicht erinnern Sie sich an die Ferien in Florenz, als Sie 14 Jahre alt waren und zum ersten Mal Botticellis Primavera gesehen haben und glücklich waren.
Wenn man schreibt, ist man alleine. Etwas anderes ist gar nicht möglich. Das Schreiben ist kein demokratischer Prozess. Es ist das Gegenteil. Aber später gehören die Bücher nicht mehr dem, der sie geschrieben hat. Sie gehören jetzt dem, der sie liest.
Denken Sie nur an Frühstück bei Tiffany. Truman Capote, der das Buch geschrieben hat, wollte für die Rolle der Holly Golightly unbedingt Marilyn Monroe. Können Sie sich das vorstellen? Er wollte nicht Audrey Hepburn, sondern eine Frau, die in jeder Beziehung das Gegenteil war. Er hatte ein ganz anderes Holly-Golightly-Bild in seinem Kopf. Ein völlig falsches, wenn Sie mich fragen. Genau das ist der Zauber der Literatur – sein Bild spielt für mich keine Rolle.
Bücher sind ja oft klüger als ihre Autoren. Das ist beruhigend.
Ich sagte der Dame vom Gericht, die ich wegen der Sache anrief, ich wäre als Schöffe vollkommen ungeeignet. Ich sei Schriftsteller, mein Beruf sei das Schreiben. Vielleicht, so sagte ich, sei das Schreiben ja auch so etwas wie das Urteilen, weil man beim Schreiben ebenfalls entscheiden müsse, nämlich welche Worte man verwende und welche nicht. Aber beim Schreiben würde man doch nur über Worte urteilen und nicht über Menschen. Ich sei jetzt 59 Jahre alt, der weitaus größte Teil meines Lebens läge also hinter mir, und trotzdem könne ich von keinem einzigen Menschen sagen, ich würde ihn vollständig kennen. Am allerwenigsten könne ich das von mir selbst behaupten. Das Urteilen über Menschen komme mir deshalb heute nur noch wie eine große Dummheit vor.
Obwohl das alles sehr interessant sei, sagte die Dame, sei es doch unerheblich. Es gibt nicht viele Menschen, die noch das Wort unerheblich verwenden. Das mochte ich.
Ich sagte, dass Urteile oft furchtbare Folgen hätten. Sie solle nur an den jungen Paris denken, dessen Urteil die stolze Stadt Troja in einen zehn Jahre dauernden Krieg stürzte. Oder an Sokrates, den griechischen Philosophen. 500 athenische Richter hätten ihn, den freundlichsten und klügsten Menschen, zum Tode verurteilt. Oder an Jesus Christus. Oder an Galilei. Oder an Dreyfus. Ich sagte noch eine ganze Menge andere Dinge über das Schreiben und das Urteilen, bis sie mich unterbrach.
Der Dienst als Schöffe, sagte die Dame, sei Bürgerpflicht. Sie war sehr streng und sehr bestimmt.
Mein Einwand, dass es doch nicht sinnvoll sein könne, ausgerechnet mich, der ich ja kaum mit meinem eigenen Leben zurechtkäme, über ein fremdes Leben entscheiden zu lassen, wurde auch als unerheblich zurückgewiesen.
Das Wort unerheblich gefiel mir jetzt nicht mehr so gut.