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Eine mutige Frau und die Schatten der Vergangenheit: Der bewegende Roman »Tage der Kirschblüte« von Kerstin Hohlfeld jetzt als eBook bei dotbooks. Ihr Leben scheint perfekt: ein Traumjob als Berliner Radiomoderatorin und noch dazu ein erfolgreicher Mann an ihrer Seite. Doch dann erreicht Irina von Lehnberg ein Brief, der alles verändert. Zwanzig Jahre, nachdem sie die DDR verlassen hat, kann sie nicht länger leugnen, was sie für die Flucht aus ihrem Heimatdorf opfern musste. Als sie nun dorthin zurückkehrt, in das alte Haus unter dem Kirschbaum, lässt Irina zum ersten Mal die Frage zu, ob etwas fehlt in ihrem glanzvollen Leben. Warum ist dort, wo Lachen und Glück sein sollte, so eine schmerzliche Leere? Die Antwort könnten ihr ausgerechnet die Menschen geben, die sie hier zurückgelassen hat: die alte Gräfin von Lehnberg, ihre beste Freundin Viola – und Ben, der ihr ungezähmtes Herz schon damals besser zu kennen schien als sie selbst ... Eindringlich und bewegend fängt Kerstin Hohlfeld die Zeit vor der Wende in einem kleinen deutschen Dorf ein: die Enge, die Zerrissenheit – und den Drang nach Freiheit und Leben! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der berührende Familiengeheimnisroman »Tage der Kirschblüte« von Kerstin Hohlfeld. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 350
Über dieses Buch:
Ihr Leben scheint perfekt: ein Traumjob als Berliner Radiomoderatorin und noch dazu ein erfolgreicher Mann an ihrer Seite. Doch dann erreicht Irina von Lehnberg ein Brief, der alles verändert. Zwanzig Jahre, nachdem sie die DDR verlassen hat, kann sie nicht länger leugnen, was sie für die Flucht aus ihrem Heimatdorf opfern musste. Als sie nun dorthin zurückkehrt, in das alte Haus unter dem Kirschbaum, lässt Irina zum ersten Mal die Frage zu, ob etwas fehlt in ihrem glanzvollen Leben. Warum ist dort, wo Lachen und Glück sein sollte, so eine schmerzliche Leere? Die Antwort könnten ihr ausgerechnet die Menschen geben, die sie hier zurückgelassen hat: die alte Gräfin von Lehnberg, ihre beste Freundin Viola – und Ben, der ihr ungezähmtes Herz schon damals besser zu kennen schien als sie selbst …
Eindringlich und bewegend fängt Kerstin Hohlfeld die Zeit vor der Wende in einem kleinen deutschen Dorf ein: die Enge, die Zerrissenheit – und den Drang nach Freiheit und Leben!
Über die Autorin:
Kerstin Hohlfeld wurde in Magdeburg geboren, studierte Theologie in Naumburg und Berlin und verließ die Hauptstadt kurz vor dem Mauerfall, um später zurückzukehren und in verschiedenen Berufen, u.a. als Autorin, zu arbeiten. Sie radelt, wandert und reist leidenschaftlich gern und verbringt mit Vergnügen einen Teil ihrer Freizeit hinter dem Herd und im Garten. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern.
Bei dotbooks veröffentliche Kerstin Hohlfeld bereits ihren Roman »Die Apfelkuchen-Freundinnen«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2021
Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Ein Weg zurück« bei Bookshouse.
Copyright © der Originalausgabe 2014 at Bookshouse Ltd., Villa Niki, 8722 Pano Akourdaleia, Cyprus
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Masson / Inni / New Africa / Andrius Zemaitis / Sanit Fuangnakhon / NATALLIA B / ysuel
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-907-2
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Kerstin Hohlfeld
Tage der Kirschblüte
Roman
dotbooks.
»Niemand kann dir die Brücke bauen,
auf der gerade du über den
Fluss des Lebens schreiten musst,
niemand außer dir allein.«
Friedrich Nietzsche
Für Anna
»Guten Morgen, Berlin. Fünf Uhr fünf. Es ist Zeit, die Augen aufzumachen. Ich bin Irina von Lehnberg und möchte Sie heute gern mitnehmen. Keine Eile! Sie haben noch ein bisschen Zeit. Rekeln Sie sich ruhig noch einmal! Trinken Sie Ihren ersten Kaffee! Aber dann besuchen Sie mich bitte! Ja, richtig gehört. Ich möchte Sie gern treffen, und zwar am Gendarmenmarkt. Hier wird heute der Laden meiner Träume aufgemacht. Und Ihrer auch, da bin ich mir sicher. Aber jetzt erst mal rekeln.«
Sie drückte auf die Tastatur. Der nächste Musiktitel – »Material Girl« von Madonna – lief ab. Irina streckte sich, ließ kurz die Schultern kreisen, um die leichte Verspannung in ihren Schultern zu lockern. Sie war es gewohnt, so früh auf den Beinen zu sein und es störte sie nicht. Seit fast zehn Jahren moderierte sie die Morgenshow von Berlin-Live-Radio. Und sie liebte ihren Job.
In einer Stunde würden sie das Studio verlassen und vom Gendarmenmarkt weitersenden, zur Eröffnung eines neuen dreistöckigen Schuh- und Taschenladens. In dem Spätbarockbau – innen ein Traum aus edlen Hölzern, mannshohen goldenen Spiegeln und weichen Sesseln – standen keine Taschen, sondern Kultobjekte wie Prada, Chloè, Vuitton – kurz: unbezahlbare Träume in Leder.
Irina begutachtete ihr Outfit. Sie trug ein knappes, eng anliegendes Designersommerkleid, für das sie erst vor ein paar Tagen ein kleines Vermögen ausgegeben hatte. Ihre ohnehin stattliche Größe von 1,75 Metern unterstrich sie durch zehn Zentimeter hohe Absätze. Wie immer, wenn sie von draußen sendeten, würde es ein großes Menschengedränge geben. Die Berliner kannten und liebten Irinas Morgenshow und viele strömten zum Live-Termin. Irina wollte gut für sie aussehen.
Sie genoss das Bad in der Menge – die strahlenden, ihr zugewandten Gesichter, die Menschen, die freudig, manchmal aber auch sichtlich aufgeregt reagierten, wenn die Moderatorin sie ansprach und ein bisschen mit ihnen plaudern wollte. Sie alle kamen, um die Frau, die sie jeden Morgen aus dem Bett holte, einmal live zu sehen.
Irina fand Außentermine großartig. Ein besseres Publikum als die Berliner konnte sie gar nicht haben, die meisten waren offen, schlagfertig und für jeden Spaß zu haben.
»Was grinst du denn so?«, fragte Kai, ihr Co-Moderator und knuffte sie kurz in die Seite.
»Ich freu mich. Das wird lustig heute.«
Kai verdrehte die Augen.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich finde es stressig draußen«, antwortete er. »Seid umschlungen Millionen ist einfach nicht mein Ding.«
»Ach, komm schon! Weißt du noch beim letzten Mal, als wir dich im Wannsee getauft haben?« Irina lachte. »Das war doch urkomisch.«
»Ich weiß, meine Liebe, Witze auf meine Kosten liebst du besonders.«
Sie zwinkerten sich zu. Als der Musiktitel endete, plauderten sie fröhlich drauflos.
»Du, Iri«, sagte Kai. »Was ich dich fragen wollte …«
»Ja?«
»Muss ich wirklich mitkommen?«
»Ich ahnte schon, dass du kneifen willst. Sag mal, hast du etwas gegen Schuhe und Handtaschen?«
»Ich kenne dich und weiß genau, wie das ablaufen wird. Du kaufst die ganze Zeit ein, und ich mache unsere Morgenshow allein.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Na, Frauen plus Schuhe plus Taschen ist gleich psychischer Ausnahmezustand. Ganz einfache Rechnung. Lernt Mann schon in der Schule.«
»Ach, die alte Leier. Hat er recht, liebe Berlinerinnen? Sollen wir das auf uns sitzen lassen? Rufen Sie mich an! Sagen Sie Kai, der auf eine Schule gegangen ist, in der man echt komische Sachen lernt, warum er mitkommen muss.«
Zwei Stunden später sendeten sie vom Ü-Wagen am Gendarmenmarkt.
Viele Hörerinnen hatten angerufen und Kai »überredet« zur Shop-Eröffnung mitzukommen. Sogar seine Freundin hatte sich eingeschaltet: »Wenn du nicht dahin fährst und mir so’n geiles Teil mitbringst, drehe ick dir den Hals um.«
Nettes Spiel. Wie erwartet machte Irina die Sendung großen Spaß.
Gerade interviewte sie eine prominente Berliner Schauspielerin, die ebenfalls zur Shop-Eröffnung gekommen war.
»Mal unter uns. Wie viele Taschen besitzen Sie eigentlich?«
Die Schauspielerin beugte sich vor und flüsterte Irina lächelnd etwas ins Ohr.
»O mein Gott! Hundertzwanzig?«, posaunte Irina. »Ich hab nicht mal zehn, und die sind alle von Tchibo.« Sie wandte sich an ihr Publikum. »Ich würde gern so ein Prachtexemplar von Prada haben. Sie auch? Dann lade ich Sie jetzt ein zu unserem lustigen Taschenfilzen!«
Bei dem Spiel sollten zwei Einkaufsgutscheine über 600 Euro für den neuen Laden verlost werden. Unter einer Bedingung. Die Teilnehmer mussten, um in den Lostopf zu gelangen, ihre Taschen ausleeren. Kai wurde zum Taschenfilzer ernannt. Im Nu reihte sich vor ihm eine lange Schlange auf. Irina griff Leute aus dem Publikum heraus und stellte deren Tascheninhalt vor.
»Hallo, wem gehört denn dieses Täschchen hier?«
»Hi, ich bin Jennifer.«
Ihre Tasche war tatsächlich winzig. Umso erstaunlicher war, was sie alles daraus hervorholte. Zwei Kulis, eine Monatskarte, Tampons, Geld, Taschentücher, Schlüssel, Lippenstift und Lidschatten, MP3-Player, ein Smartphone und einen Notizblock.
»Erstaunlich, was in so eine kleine Tasche passt. Brauchst du das alles?«
»Klar.« Jennifer nickte.
»Und das hier?«
Bei diesen Worten grinste Irina breit und förderte ein paar Handschellen zutage. »Du bist wohl bei der Polizei?«
Die junge Frau wurde knallrot.
»Na ja …«
Das Publikum johlte.
Im Laufe des Morgens kamen Irinas Zuhörer in den Genuss von allerlei skurrilen Tascheninhalten. Von Medikamenten über Einmalschlüpfer bis hin zu Sexspielzeug und Hundekeksen gab es beinahe nichts, was die Berliner nicht mit sich spazieren trugen. Die Leute, die den neuen Laden in dichten Massen umlagerten, lachten und klatschten oft.
»Ganz ehrlich«, meinte Irina kurz vor Ende der Sendezeit lachend. »Ich könnte noch hundert Taschen ausleeren. Das macht mir einen riesigen Spaß. Liebe Berliner, Sie haben die besten, lustigsten und verrücktesten Taschen der Welt! Eine noch und dann sage ich Tschüss für heute.«
»Kannst du Mama drannehmen?«, fragte in diesem Augenblick ein piepsiges Stimmchen. Irina spürte, dass jemand an ihrem Kleid zog. Ein schmales, vielleicht fünfjähriges Mädchen sah bittend zu ihr herauf. Sie konnte die Kleine, umringt von Menschen, natürlich nicht ignorieren.
»Hallo, wer bist du denn?«, fragte sie also.
»Carlotta.«
Da es nun Aufmerksamkeit bekam, lächelte das Mädchen breit und legte ein schokoladenverschmiertes Händchen vertrauensvoll auf Irinas Hüfte. »Wie süß«, wisperten ein paar Stimmen im Publikum.
O Gott, mein Kleid, dachte Irina, der jedoch nichts anderes übrig blieb, als mitzuspielen.
Sie bückte sich, nahm das Kind auf den Arm und verkniff sich angestrengt weiteres Nachdenken darüber, was die ungewaschenen Finger der Kleinen auf dem edlen Stoff anrichten würden.
Eigentlich hatte Irina die Tasche eines attraktiven, jungen Mannes leeren wollen, der schon die ganze Zeit offen mit ihr flirtete. Das hatte sich soeben erledigt. Jetzt war das Kind an der Reihe.
»Carlotta! Was für ein hübscher Name! Wo ist denn deine Mama?«
»Da!«
Irina blickte dem ausgestreckten Zeigefinger des Kindes nach und erstarrte. Carlottas Mutter war eine große, ungepflegte Frau, die aussah, als hätte sie mehrere Tage weder sich selbst noch ihre Klamotten gewaschen.
Irina spürte einen Kloß im Hals, aber sie war zu sehr Profi, um sich etwas anmerken zu lassen. Fröhlich lächelnd bahnte sie sich einen Weg durch die Menge zu der Frau, die sich prompt für ihre kleine Tochter entschuldigte.
»Sie ist immer so ungestüm.«
»Das ist doch vollkommen in Ordnung«, gab Irina lächelnd zurück und ignorierte das Gefühl von Enge in ihrer Brust.
»Ich wette, Iri war als Kind genauso«, brüllte Kai dazwischen und alle lachten. »Dann mal her mit dem guten Stück. Wir sind gespannt.«
Irina blieb freundlich. »Als Mutter muss man für alle Eventualitäten gerüstet sein, nicht wahr?«, sagte sie lachend, während Kai die Tasche langsam ausleerte.
Die Sendung ging ein paar Minuten später zu Ende. Irina war zufrieden. Wieder einmal hatte sie ihrem Ruf als Berlins unterhaltsamste Morgenmoderatorin alle Ehre gemacht.
Allerdings schüttelte sie sich noch Stunden später auf dem Nachhauseweg bei dem Gedanken an den hässlichen braunen Kunstledersack der Frau. Unmengen Kram waren daraus zum Vorschein gekommen. Windeln, Feuchttücher, Fieberzäpfchen, Zopfgummis, klebrige Bonbons zwischen Krümeln und benutzten Taschentüchern und am Ende sogar ein Stück in Papier eingewickelter Parmesankäse. Angeblich hatte die abgehetzt wirkende Frau, die neben Carlotta noch ein Kleinkind im Buggy dabeihatte, ihn gerade gekauft und in ihre Tasche gestopft, um die Plastiktüte zu sparen.
Irina begriff nicht, wie sich eine junge Frau derartig gehen lassen konnte. Sie hatte doch Kinder! Denen war sie es schuldig, gepflegt und sauber auszusehen.
Sie öffnete ihre Wohnungstür, streifte mit einem Seufzer die hochhackigen schwarzen Pumps von den Füßen und blieb erschöpft auf der Bank in ihrem Flur sitzen. Sie fühlte sich neuerdings manchmal müde und schlapp. Dass jeden Morgen um 4.00 Uhr der Wecker klingelte, war sicherlich ein Grund. Jedoch hatte ihr der wenige Schlaf bisher nie etwas ausgemacht.
Ihr weißer Perserkater Wuschel kam angelaufen und schmiegte seinen breiten Kopf an ihre Beine. Irina hockte sich hin, streichelte sein weiches Fell und ging dann in die Küche, um ihm Futter zu geben.
Zufrieden blickte sie sich um. Ewa, ihre Putzfrau, hatte die Wohnung auf Vordermann gebracht. Sie kam dreimal in der Woche, immer wenn Irina im Sender war, räumte auf, putzte, bügelte und hinterließ die gesamte Wohnung in einem Zustand klinischer Reinheit. Irina genoss es, nach Hause zu kommen und alles aufgeräumt, sauber und frisch vorzufinden.
Irina schnupperte und verzog ihr Gesicht. Der milde Zitronenduft, den die Putzmittel normalerweise hinterließen, wurde heute von Essensdunst überlagert. Ewa hatte Bigos gekocht – einen kräftigen polnischen Eintopf aus Fleisch und Kohl, nach einem streng gehüteten Spezialrezept ihrer Großmutter, wie sie stets versicherte. Kochen gehörte eigentlich nicht zu den Aufgaben der mütterlichen Mittfünfzigerin, doch gelegentlich setzte sie sich darüber hinweg, insbesondere wenn sie der Meinung war, dass Irina viel zu dünn und blass aussah und unbedingt etwas Anständiges essen musste.
Leicht angewidert schüttelte sich Irina. Sie wollte Ewa nicht vor den Kopf stoßen, deshalb sagte sie ihr nicht, dass sie das Bigos und sämtliche anderen gehaltvollen Spezialitäten der osteuropäischen Küche niemals essen würde. Ewa meinte es gut. »Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen«, behauptete sie und hatte nur wenig Verständnis für Irinas strenge Ernährungsregeln.
Irina fiel es nicht schwer, sich zu beherrschen. Sie hatte gelernt, dass einem die guten Dinge im Leben nicht in den Schoß fielen, sondern Mühe, Arbeit und manchmal Verzicht bedurften. Nur gelegentlich, wenn Irina an der süß duftenden Bäckerei im Nachbarhaus vorbeiging, lief ihr beim Anblick der gezuckerten Streuselschnecken das Wasser im Mund zusammen. Sie ertappte sich dabei, während sie ihr Vollkornbrot bestellte, wie hypnotisiert auf den Kuchen zu starren.
Der smarte Verkäufer, der sie schon ein paar Jahre kannte, neckte sie gern ein bisschen.
»Na, heute vielleicht eine süße Sünde und ein schönes Tässchen Kaffee dazu?«
»Heute nicht«, gab sie dann lachend zurück und zwinkerte ihm zu.
»Aber beim nächsten Mal.«
»Beim nächsten Mal.«
Irina hatte zu ihrem letzten Geburtstag von ihren Kollegen einen Korb voller Gemüse geschenkt bekommen. Es war ein prächtiger Korb und er war liebevoll gepackt, aber Irina konnte den Spott dahinter nicht ganz übersehen. Als sie abends die gesamte Mannschaft zum Italiener einlud, um zu feiern, verspeiste sie ausnahmsweise eine ganze Pizza. Dafür fühlte sie sich am nächsten Morgen wie der Wolf, der die berühmten Wackersteine im Bauch hatte.
Ihre Kolleginnen gingen mit dem Essen viel entspannter um als Irina. Allerdings war nicht eine von ihnen so schlank wie sie.
Irina betrachtete ihr Spiegelbild. Sechzig Kilo und davon kein Gramm Fett. Natürlich war sie dünn und blass, aber mit festem Po und vollen Brüsten. Genauso wollte sie aussehen und mindestens die Hälfte der Frauen auf dem Erdball teilte diesen Wunsch. Die andere Hälfte log dreist.
Irina riss das Küchenfenster auf. Sie mochte den Kohlgeruch nicht, und am liebsten hätte sie Ewa gebeten, kein Bigos mehr für sie zu kochen.
Aber da war Jens. Und der freute sich, wenn Ewa kochte. Jens, der attraktive Zwei-Meter-Mann, der polnisch deftige Kochkunst überaus zu schätzen wusste. Er hatte als Personalchef eines großen Berliner Energieversorgers einen nervenaufreibenden und verantwortungsvollen Posten, was ihn aber nicht davon abhielt, sein Leben in jeder freien Minute nach Kräften zu genießen. Gutes Essen, Reisen, Kunst und Kultur – er konnte von den schönen Dingen des Lebens nie genug bekommen. Irina genoss es, mit ihm zusammen zu sein. Er bereicherte ihr Leben, und er liebte sie!
Sie waren in ihrer Stadt gern gesehene Gäste auf vielerlei Events. Irina und Jens liebten es, unter die Leute zu gehen, zu plaudern, zu tanzen und bis in die Nacht hinein zu feiern.
Der Schlaf kam ein wenig zu kurz dabei, aber das war Irina egal. Wann sollte sie leben, wenn nicht jetzt?
Irina füllte die Futterschale ihres Katers und stellte für sich selbst den Kaffeeautomaten an, den Jens ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Er wusste, wie sehr sie einen guten Kaffee zu schätzen wusste und wie dringend sie zuweilen das Koffein brauchte, um den permanenten Schlafmangel nicht zu spüren. In manchen Nächten bekam sie nicht mehr als drei Stunden Schlaf.
Wenn Jens und sie einmal nicht ausgingen, lag Irina spätestens um 21 Uhr gähnend und völlig erschöpft auf der Wohnzimmercouch.
Im vergangenen Winter war sie drei Wochen krank gewesen. Am Anfang hatte es wie eine harmlose Erkältung ausgesehen. Sie war unverdrossen, mit Grippemitteln vollgestopft, zur Arbeit gegangen, bis sie im Sender zusammengebrochen war. Der eilig herbeigerufene Notarzt hatte absolute Ruhe verordnet und ihr dringend angeraten, sich öfter mal eine Pause zu gönnen. Hoch fiebernd versprach sie, besser auf sich aufzupassen, doch kaum fühlte sie sich besser, begann sie sich zu langweilen. Sie telefonierte, chattete, sah fern oder schlief den ganzen Tag. Wenn sie eins nicht ertrug, dann war das Stille.
Nach ihrer Genesung nahm sie den gewohnten Lebensstil wieder auf.
Die Kaffeemaschine zischte und riss Irina aus ihren Gedanken. Sie löffelte Stevia in ihren Espresso und nahm sich die Post vor, die Ewa fein säuberlich auf den Küchentisch gestapelt hatte. Jede Menge Rechnungen wie immer, Werbung natürlich, eine Einladung zum Empfang in der britischen Botschaft. Irina gähnte. Sie würde noch einen Kaffee brauchen.
Ihr Blick blieb an einem schlichten weißen Briefumschlag hängen. Sie hörte plötzlich ihr Herz laut und ahnungsvoll schlagen, als sie nach dem Brief griff. Die Adresse war von Hand geschrieben, fein säuberlich in einer steil nach links geneigten Handschrift. Diese auffällige Schrift hatte sie bisher nur bei einem Menschen gesehen. Und nur dieser eine Mensch brachte es fertig, seine Handschrift über Jahrzehnte hinweg kein bisschen zu verändern.
Langsam drehte Irina den Umschlag um. Viola! Der Brief stammte von ihrer alten Schulfreundin. Was sie wohl wollte? Sie hatten fünfundzwanzig Jahre kein einziges Wort mehr voneinander gehört.
Irinas Hände zitterten. Sie verspürte plötzlich Lust auf eine Zigarette. Irgendwo musste eine übrig gebliebene Schachtel von der letzten Party liegen. Aber wo? Wahrscheinlich von Ewa sehr gut weggeräumt.
Irina brühte sich einen weiteren Kaffee auf. Die Maschine zischte und gurgelte.
Viola. Das netteste Mädchen des Dorfes. Gut in der Schule. Beliebt bei Jung und Alt. Sie hatten sich eine Ewigkeit nicht gesehen.
Irina registrierte erstaunt, wie sich ihr Puls beschleunigte. Der schlichte weiße Brief machte sie nervös. Für einen Moment fühlte sie sich zurückversetzt in ihre Kindheit. Sie sah ein kleines blondes Mädchen, das mit Viola in alten Kleidern Prinzessin spielte.
Sie eilte ins Bad, warf sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, dann sah sie in den Spiegel. Da war kein Kind! Da war sie, Irina von Lehnberg. Ihr Gesicht zeigte erste Spuren des Alterns, vor allem, weil sie die Angewohnheit nicht ablegen konnte, beim Nachdenken die Stirn zu runzeln. Wahrscheinlich war auch ihr temporeicher Lebensstil nicht ganz unschuldig an den ersten Falten. Oder einfach die Tatsache, dass sie im nächsten Jahr vierundvierzig wurde.
Fünfundzwanzig Jahre hatte sie ihre Freundin Viola nicht gesehen. Was für eine lange Zeit!
Irina löste die Hochsteckfrisur und betrachtete ihr offenes blondes Haar. Waren da wirklich »die ersten Grauen«, wie ihr neulich eine Friseurin ziemlich keck ins Gesicht gesagt hatte? Wenn das stimmte, müsste sie demnächst mit dem Färben beginnen. Sie lächelte sich im Spiegel an. Atmete tief ein und aus. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Das Leben hatte es gut mit ihr gemeint, es lief fantastisch.
Sie setzte sich zurück an den Küchentisch, nippte am Kaffee und öffnete den Brief.
Liebe Irina,
ich akzeptiere, dass du alle Brücken zu uns abgebrochen hast. Doch das solltest du wissen: Die Gräfin liegt im Sterben.
Liebe Grüße von deiner alten Freundin Viola
Das war alles. Irina zerknüllte den Brief und warf ihn über den Tisch.
Verdammt, Viola!
Mit Irinas Ruhe war es endgültig vorbei. Verdrängte Bilder nisteten sich in ihrem Kopf ein, wie ein ungebetener Gast auf einer Party, der nicht merkte, dass er störte.
Da half nur eins. Sie musste den Störenfried vertreiben – raus, laufen und dabei dröhnend laut Musik von ihrem MP3-Player hören. Eilig zog sie sich aus und warf ihre Sachen achtlos auf den Boden. Dann schnappte sie sich ihre Turnschuhe und schlüpfte in ihre Joggingsachen.
Laufen. Einatmen. Ausatmen. Alles vergessen.
Am Abend fand Jens den Brief. Sie waren gerade dabei, sich zu Tisch zu begeben. Er hatte ihr Sushi mitgebracht und sie ihm Ewas Eintopf aufgewärmt. Neugierig betrachtete er das zusammengeknüllte Papier unter seinem Stuhl und hob es auf.
»Was Wichtiges?«, fragte er.
»Schmeiß es einfach weg«, antwortete Irina.
Jens hörte nicht auf sie, sondern begann den Brief auseinanderzufalten.
»Aus Biebersleben«, las er vor. »Wo in Gottes Namen ist Biebersleben?«
»Genau da, wo du es vermutest«, erwiderte Irina leicht gereizt. »Am Arsch der Welt.«
»So vulgär heute?«, spottete Jens und sah sie amüsiert an. »Ist es Fanpost?«
Irina rollte die Augen. »Können wir jetzt essen?«
Jens musterte Irina interessiert. Dann begann er zu lesen. »Von einer alten Freundin?«, fragte er. »Viola. Du hast mir nie von ihr erzählt.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Eine Freundin. Kinderzeit. Lange her. Alte Geschichten«, entgegnete Irina genervt.
»Irgendetwas sagt mir, dass dir das Thema nicht behagt.«
Irina legte ihr Besteck auf den Teller. »An dir ist ein Psychologe verloren gegangen«, spottete sie. »Können wir jetzt bitte essen?«
»Gern! Und du erzählst mir dabei von … Wie hieß das Dorf doch gleich?« Er nahm den Briefumschlag und las noch einmal. »Biebersleben. Ich bin gespannt.«
Irinas Lächeln gefror. Wider Erwarten begann ihre Stimme zu zittern, als sie antwortete. Sie schluckte. »Wolltest du dich gern ein bisschen lustig über mich machen?« Sie registrierte seinen verwunderten Blick.
»Natürlich nicht! Du bist empfindlich heute.«
»Und du machst einen Aufstand wegen eines Stückes Knüllpapier.« Irinas Stimme klang brüchiger, als ihr lieb war. Sie räusperte sich, vermied den Blickkontakt zu Jens und konzentrierte sich auf ihr Essen.
Jens legte seine Hand unter Irinas Kinn und hob sanft ihren Kopf. »Alles okay mit dir?«
Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. »Es ist alles in Ordnung«, antwortete sie ruhig. Er würde nicht aufhören zu fragen, wenn sie sich jetzt nicht zusammennahm. »Das sind alte Geschichten und vollkommen unwichtig.« Zufrieden sah sie, dass Jens den Brief endlich hinlegte und sich schweigend dem polnischen Eintopf zuwandte.
Später lag Irina wach. Sie konnte nicht schlafen und gab dem Espresso, den sie kurz vor dem Zubettgehen getrunken hatte, die Schuld. Insgeheim wusste sie, dass es an Violas albernen drei Zeilen lag.
Jens war gegangen, nachdem er ein weiteres Mal Anlauf genommen hatte, mit ihr über den Brief zu reden. Irina konnte und wollte nichts erzählen. Jens hatte enttäuscht ausgesehen, als er aufbrach, um wie oft in letzter Zeit in seiner eigenen Wohnung zu übernachten. Sie hatte nicht versucht, ihn aufzuhalten.
Seufzend warf Irina einen Blick auf ihren Wecker. Zwei Uhr. In dieser Nacht würde sie nicht mehr schlafen.
Noch zehn Minuten! Kathrin hatte während der Schulstunde wohl an die fünfzig Mal auf ihre zerkratzte Armbanduhr gesehen. Aufgeregt zappelte sie mit ihren Beinen unter der Schulbank herum. Gleich kam der große Moment. Alle Kinder mussten aufstehen, und Frau Berger würde das Geburtstagslied anstimmen. Die Kinder würden singen, klatschen und das Geburtstagskind hochleben lassen. Kathrin liebte Geburtstage. Einmal im Jahr war man der Mittelpunkt der Klasse.
Und heute war es so weit. Sie wurde zehn!
In ihrem Schulranzen steckte eine Überraschung – eine braune Papiertüte mit neunundzwanzig genau abgezählten Pfeiflutschern. Einen für jedes Kind in der Klasse.
Pfeiflutscher waren einfach herrlich. Man konnte wunderbar Krach mit ihnen machen. Alle Kinder liebten die klebrige Süßigkeit. Deshalb war sie im Konsum manchmal ausverkauft und wochenlang nicht zu haben. Was Kathrins Überraschung nur perfekter machte.
Eisern hatte sie gespart, denn so viele Lutscher waren ziemlich teuer. Ihre Eltern konnten ihr kein Geld geben. Das Wenige, das sie hatten, brauchten sie selbst. Also hatte Kathrin einen kleinen Handwagen aus dem Schuppen gezerrt und war zu den Nachbarn klingeln gegangen. Für ein Kilo alte Zeitungen gab es in der Altstoffsammlung 25 Pfennige und für eine Weinflasche 5 Pfennige. Manche Nachbarn hatten sie böse angeschaut und gesagt, dass sie ihr Papier gerade selbst weggebracht hätten, aber einige gaben ihr etwas. Mal ein paar Blätter Papier, mal ein leeres Gurkenglas. So war Pfennig für Pfennig zusammengekommen.
Endlich war es so weit. Kathrin durfte aufstehen und zu Frau Berger nach vorn kommen. Beim Gehen zog sie ihr Kleid ein bisschen nach unten, damit niemand das große Loch in der Strumpfhose sah. Ihre Mutter hatte noch nicht geschafft, es zu stopfen und Kathrin konnte es nicht. In den Handarbeitsstunden in der Schule lernten sie gerade erst Knöpfe annähen.
Frau Berger gratulierte der aufgeregten Kathrin zu ihrem Ehrentag und stimmte endlich das Geburtstagslied an.
»Weil heute dein Geburtstag ist,da haben wir gedacht,wir singen dir ein kleines Lied,weil dir das Freude macht.«
Die Klasse klang ein bisschen dünn heute. Michael in der ersten Reihe sah so aus, als bewegte er nur die Lippen und Matthias in der zweiten auch.
Aber das war Kathrin egal. Sie hatte sowieso keine Jungen zu ihrer Feier eingeladen. Es sollten selbstverständlich nur Mädchen kommen. Saskia und Carmen, Annegret und Mandy.
»Und wenn du einen Kuchen hast,so groß wie’n Mühlensteinund Schokolade auch dazu,dann lad uns alle ein.«
Ihre Mutter würde einen Kuchen backen. Das hatte sie versprochen. Anschließend könnte sie mit den Freundinnen zum Spielen in den Garten gehen. Im Haus sah es nicht schön aus, weil Mutter das Aufräumen nicht schaffte und zu wenig Zeit zum Saubermachen hatte. Aber im Garten, da blühten gerade die Sommerblumen, und sie konnten Kirschen von Frau Lehnbergs Baum stibitzen.
Vor lauter Vorfreude auf ihre Feier hopste Kathrin fröhlich auf und ab, obwohl Frau Berger missbilligend die Stirn runzelte.
Mit dem letzten Takt des Liedes klingelte es, und Kathrin stürmte zu ihrem Platz. Sie riss die braune Tüte aus der Schulmappe, stellte sich an die Tür und hielt den Klassenkameraden, die eilig ins Freie drängten, strahlend ihre große Überraschung entgegen.
Dann geschah das Unfassbare.
Entsetzt sah Kathrin, wie ein Kind nach dem anderen an ihr vorbeilief, ohne in die Tüte hineinzugreifen. Sie sahen nicht einmal zu ihr hin. Niemand wollte einen ihrer mühsam zusammengesparten Pfeiflutscher haben.
Frau Berger registrierte Kathrins bestürztes Gesicht und sprang ihr bei. »Schaut mal, die Kathrin hat Süßigkeiten für euch mitgebracht.«
Aber es nützte nichts. Gerade gingen Saskia und Annegret vorbei, ohne Kathrin auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann kam Mandy, blickte in die Tüte und wedelte kurz mit der Hand vor ihrer Nase, als müsste sie einen üblen Geruch verscheuchen.
Nur der dicke Jens griff zu. Dem war alles egal. Hauptsache, es gab Süßigkeiten. Nicole, die Streberin, musste einen Lutscher nehmen. Schließlich war Frau Berger ihre Mutter.
Die Klasse war fast leer. Kathrins Tränen liefen. Die anderen waren so verdammt gemein. Sie behandelten Kathrin fast immer schlecht, aber heute war ihr Geburtstag, und sie hatte allen etwas mitgebracht. Was stimmte denn nur nicht mit ihr?
Kathrin bemerkte, dass Frau Berger sie mitleidig musterte, und sah an sich hinab. Ihr Kleid war fleckig und zu kurz, die Strumpfhose an den Knien ausgebeult. Die Sandalen besaß sie schon zwei Jahre. Das Leder war schmutzig und Kathrins große Zehen standen vorn über. Lag es an der Kleidung?
Vielleicht hätte sie sich die Haare nicht abschneiden sollen, da, wo die Bürste beim Kämmen gar nicht mehr durchging. Jetzt hatte sie eine kahle Stelle am Hinterkopf. Annegret und Saskia hatten sie deshalb laut ausgelacht.
Alle anderen Mädchen besaßen schöne Kleider und neue Lackschuhe. Ihre Mütter kämmten ihnen die Haare und kauften hübsche bunte Gummis für ihre Zöpfe. Kathrins Mutter konnte das alles nicht machen. Sie war oft traurig und fühlte sich schlecht. Die Leute sagten: Sie trinkt zu viel und ihr Mann genauso. Die Neumanns sind Assis und stinken.
»Jetzt geh besser nach Hause, Kathrin«, sagte Frau Berger und schob das Kind sanft aus der Klasse.
»Warte«, rief plötzlich eine helle Stimme. »Ich habe noch keinen Lutscher.«
Als sich Kathrin umdrehte, stand Viola hinter ihr und lächelte aufmunternd. Die zarte Viola mit den wilden braunen Locken, die alle nur Pippi nannten und die mit ihren zehn Jahren aussah wie sieben. Sie hatte selten Zeit zum Spielen, weil sie nachmittags in der Bäckerei ihrer Eltern aushalf. Aber sie war beliebt in der Klasse, und zu ihrem Geburtstag hatten sich alle gierig auf die mitgebrachten Streuselschnecken gestürzt.
Annegret und Saskia, die noch vor der Tür standen, schauten überrascht.
»Willst du etwa was aus dem Stinkehaus nehmen, Viola?«, ätzte Annegret. »Komm, wir gehen lieber ins Eiscafé.«
Viola schüttelte energisch den Kopf. »Ich hab keine Lust auf Eis«, sagte sie und blickte Annegret gerade an. »Ich will lieber Kathrins Pfeiflutscher.« Sie hakte sich bei Kathrin unter und zog sie weg.
»Ich habe Saskia und Annegret eingeladen«, schluchzte Kathrin.
»Ich weiß«, entgegnete Viola und nickte. »Mandy und Carmen genauso. Die werden aber nicht kommen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Kathrin trotzig und wischte sich mit dem Ärmel die Nase.
»Alle wissen es«, antwortete Viola schlicht. »Die wollen nichts mit dir zu tun haben. Oder warst du letzte Woche zu Saskias Feier eingeladen?«
Viola sagte die Wahrheit. Und das tat weh. Fast alle Mädchen waren letzte Woche bei Saskia, dem beliebtesten Mädchen der Klasse, eingeladen gewesen, nur sie selbst und Jana nicht. Die konnte ebenfalls keiner leiden.
Am nächsten Tag hatten alle begeistert von der Feier erzählt. Sie hatten Himbeer-Biskuittorte mit Schlagsahne gegessen und später zusammen Topfschlagen und Sackhüpfen gespielt. Am Abend waren sie mit leuchtenden Lampions durch das Dorf gelaufen.
Seitdem hatte Kathrin von ihrer Feier geträumt. Die sollte genauso schön werden wie Saskias. Und jetzt?
»Soll ich zu dir kommen?«, fragte Viola, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Ich bringe gefüllte Streuselschnecken mit.«
»Ehrlich?« Kathrin konnte es kaum glauben. Gefüllte Streusel waren der absolute Renner in Königs Bäckerei. Die waren immer ganz schnell ausverkauft. Es war ewig her, dass Kathrin Kuchen gegessen hatte. Ihre Eltern hatten kein Geld dafür.
»Also abgemacht?«, hakte Viola noch einmal nach. »Am besten bringe ich noch Jana mit.«
»Jana?« Kathrin hielt die Luft an. Was hatte sich Viola denn da ausgedacht? Jana, die Witzfigur.
»Gudn Dach. Ich bin die Joona aus Dräsdn.«
Wenn sie den Mund aufmachte, lag die halbe Klasse am Boden vor Lachen. Kathrin dachte kurz nach. Jana hatte kaum noch gesprochen in letzter Zeit. Sie war sehr still geworden in den drei Monaten, nachdem sie von Sachsen nach Biebersleben gezogen und in ihre Klasse gekommen war. Freunde hatte sie keine. Seitdem sie nicht mehr sprach, hatten die Kinder vergessen, dass es Jana gab. Alle, außer Viola.
Kathrin zuckte die Schultern. Sollte Jana ruhig mitkommen.
»Einverstanden«, gab sie sich geschlagen. »Bis heute Nachmittag!«
Nachdem sich Viola im Sauseschritt auf den Weg nach Hause begeben hatte, trödelte Kathrin noch ein Weilchen herum. Ihr Schulweg war weit und so konnte der leichte Sommerwind ihre Tränen endgültig trocknen. Sie würde eine Geburtstagsfeier haben, zwar nicht mit den Mädchen, die sie sich gewünscht hatte, aber sie würde Besuch bekommen und vielleicht sogar Geschenke.
Als sie an den dichten Holunderbüschen am Ortsrand vorbeilief, raschelte es. Hinter ihr sprang jemand aus dem Gestrüpp.
Kathrin quiekte. »Mensch Hase! Du hast mich erschreckt.«
Ein hoch aufgeschossener, dünner Elfjähriger trat neben sie und grinste sie leicht verlegen an. Kathrin hätte auf ihn gefasst sein müssen, denn er wartete fast immer an dieser Stelle auf sie. Manchmal saß er auf einer kleinen morschen Bank. Meist jedoch hielt er sich im Gebüsch versteckt, falls irgendeiner der Dorfjungs hier vorbeikam. Aber das geschah selten. In der kleinen Siedlung außerhalb des Dorfes wohnten nicht viele Leute.
»Ich hab was für dich«, sagte Hase, der eigentlich Benjamin hieß, aber von niemandem so genannt wurde. Seine Aussprache klang schleppend, so als wäre ihm seine eigene Zunge zu schwer. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Scheu lächelnd hielt er Kathrin einen Blumenstrauß entgegen. Feldblumen, von ihm selbst gepflückt.
Kathrin wusste, dass Hase meist querfeldein zur Schule hin und zurück ging, denn auf den normalen Wegen lauerten die anderen Jungs, die Lehmklumpen nach ihm warfen oder ihm seine Schulmappe wegrissen, um sie an einem hohen Ast aufzuhängen oder auf ein Garagendach zu schmeißen.
»Danke«, sagte sie froh und nahm ihm den kleinen bunten Strauß aus Kornblumen, Kamille, Klatschmohn und ein paar Weizenähren ab. Der Mohn würde schon in ein paar Minuten seine Blüten verlieren, aber das war Kathrin egal. Sie freute sich trotzdem über ihren Geburtstagsstrauß.
Eilig ließ sie ihre Schulmappe vom Rücken fallen und kramte die braune Tüte hervor. Bei ihrem Anblick hätte sie beinahe wieder geweint. Fast alle Pfeiflutscher waren noch drin. Die ganze Mühe war umsonst gewesen. Die anderen Kinder mochten sie nicht. Sie wollten nicht einmal eine Süßigkeit von ihr annehmen.
Aber Hase wollte.
Er war ihr bester, genau genommen ihr einziger Freund. Sie trafen sich fast jeden Nachmittag – meist an geheimen Plätzen, wo nie jemand hinkam. Sie brauchten einander, weil niemand anders sie haben wollte.
Strahlend griff der Junge in die Tüte. Kathrin nahm sich zwei Lutscher, wickelte sie aus und pustete kraftvoll hinein. Ein schrilles Pfeifen erklang. Auch Hase entlockte seinem Lutscher einen schiefen Ton. Kathrin ignorierte tapfer, dass dabei ein bräunlicher Speichelfaden über sein Kinn troff. Hase konnte nichts dafür, dass sich sein Mund nicht richtig schließen ließ, sodass man immer seine Schneidezähne sah. Die Leute im Dorf erzählten sich, dass er bei seiner Geburt weitaus schlimmer ausgesehen hatte. Schon als kleines Kind war er operiert worden, aber seinem Äußeren hatte der Eingriff nicht viel genützt. Manchmal ekelte sich Kathrin vor ihm. Dann drehte sie den Kopf zur Seite, um ihn nicht ansehen zu müssen. Aber heute war ihr sein Aussehen egal.
Sie überlegte kurz, ob sie Hase zu ihrer Feier einladen sollte, doch sie verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Was würden Viola und Jana zu seiner Anwesenheit sagen? Hase war ihr Freund, aber sobald andere Kinder in Sichtweite kamen, mied sie ihn. Erstens, weil sie zusammen noch mehr geärgert wurden und zweitens, weil sie mit ihm an ihrer Seite keine Chance auf andere Freunde hatte. Denn mit »Hase«, dem Dorfgespött, wollte wirklich niemand etwas zu tun haben.
An ihrer Haustür angekommen, schenkte Kathrin dem Jungen die restlichen Lutscher. Überglücklich trollte er sich. Sie winkte und sah ihm nach, bevor sie ins Haus ging, dessen Tür wie immer nicht verschlossen war. Kathrin benötigte keinen Schlüssel, weil sich ihre Eltern nicht die Mühe machten abzuschließen. Niemand betrat ihr Grundstück, nur ab und zu Onkel Rüdiger, der ihren Vater zum Schnapstrinken in die Kneipe abholte.
Die Dorfbewohner mieden den grauen Flachbau inmitten des großen, ungepflegten Grundstücks. Das Haus hatte früher Kathrins Großmutter gehört. Die war nach dem Tod ihres Mannes zu ihrer Freundin nach Berlin gezogen und hatte ihr Zuhause Kathrins Mutter überlassen. Seitdem die dreiköpfige Familie dort wohnte, verfiel der Bungalow zusehends.
Letztes Jahr an Kathrins Geburtstag war Oma zu Besuch gekommen, hatte sich jedoch so sehr mit Kathrins Vater gestritten, dass sie ein paar Stunden eher als geplant wieder abgefahren war. Während sich die Erwachsenen anschrien, hockte Kathrin draußen neben den leeren Kaninchenställen und hielt sich die Ohren zu. Nur ein paar Worte drangen zu ihr durch. Saustall. Eine Schande. Mutter hatte leise geweint.
Kathrins Eltern stritten selten. Meist saßen sie schweigend zusammen am Küchentisch und tranken Bier, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Lippen. Für Geräusche sorgte allein der Tag und Nacht eingeschaltete Fernseher.
Wenn Kathrin aus der Schule nach Hause kam, schaute sie zuerst nach, ob ihre Mutter etwas zu essen für sie hingestellt hatte. Manchmal fand sie ein Wiener Würstchen und ein Stück Brot an ihrem Platz vor. Sie bestrich die Wurst so dick mit scharfem Senf, dass ihr beim Kauen fast die Tränen kamen. Oft war jedoch außer Brot nichts zu essen im Haus. Dann streute sich Kathrin Zucker auf ihre Schnitte und setzte sich kauend vor den Fernseher. Sie erledigte ihre Hausaufgaben und blickte ab und zu auf den flimmernden Bildschirm. Der Fernseher war genauso verstaubt und altersschwach wie die gesamte Einrichtung des Hauses, aber was Kathrin auf dem grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bild sah, reichte zum Träumen.
Einige Kinder in der Klasse durften kein West-Fernsehen schauen. Andere nur abends für kurze Zeit. Kathrin sah fern, sobald das Testbild samt dem nervigen Pfeifton erlosch und das Programm begann. Aber Musik, Nachrichten oder Serien interessierten sie nicht. Sie liebte einzig und allein die Werbespots zwischen den Sendungen, gelegentlich unterbrochen durch einen Streich der niedlichen Mainzelmännchen.
Kathrin wusste, wie alle anderen Kinder in der Schule, dass Deutschland in zwei Teile gespalten war. Frau Berger erzählte im Unterricht oft, dass es den Menschen im Westteil Deutschlands, im Gegensatz zu den glücklichen Bewohnern des Arbeiter- und Bauernstaates, sehr schlecht erging. Sie erklärte, dass viele Leute weder Arbeit noch Ausbildung fanden und dass ein Brot ganze drei Mark kostete. Dass manche Menschen dort zwar reich waren, ihr Vermögen jedoch einzig der Ausbeutung der Arbeiter verdankten, die wiederum zum Streik auf die Straße gingen, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Kathrin mochte Frau Berger, aber sie glaubte ihr nicht. Wie konnte man unzufrieden sein in einem Land, in dem es Jeans, Barbiepuppen und Sarotti-Schokolade gab?
Die Großmutter ihrer Mitschülerin Annegret lebte im Westen. Sie schickte regelmäßig Pakete an ihre Familie in der DDR. Alle Mädchen der Klasse beneideten Annegret um ihre schönen Kleider, die riesigen Packungen kunterbunter Filzstifte, Füller, die nie ausliefen, die unglaublich leckere Schokolade – und Haribo!
Kathrin hatte erst ein einziges Mal eine Tafel West-Schokolade geschenkt bekommen. Von ihrer Großmutter.
Sie erinnerte sich noch genau, wie sehr sie sich darüber gefreut hatte. Das bunt glänzende Papier. Die hauchdünne knisternde Alufolie, die die kostbare Süßigkeit umschloss. Kathrin hatte die ganze Tafel mit einem Mal aufgegessen, konnte sich nicht beherrschen, bis das letzte Stückchen verzehrt war. Diese Schokolade schmeckte so viel besser als alles, was sie bisher gegessen hatte. Das bunte Papier hatte sie sorgfältig glatt gestrichen und bewahrte es bis heute in ihrer Schatzkiste unter dem Bett auf.
Ob ihre Großmutter heute zu Besuch kommen würde? Im Haus war es ganz still.
Kathrin schnupperte. Der allgegenwärtige Zigarettengeruch wurde durch einen süßen Duft überlagert. Kuchen! Ihre Mutter hatte Wort gehalten und für sie gebacken. Der Tag zeigte endlich ein sonniges Gesicht.
Achtlos ließ Kathrin ihre Schulmappe im Flur fallen. Hefte und Bücher rutschten heraus, mitten hinein in ein Chaos aus kaputten Schuhen, alten Zeitungen und leeren Bierflaschen. Kathrin nahm sich vor, die Schulsachen später einzuräumen und stürmte in die Küche.
»Mama«, rief sie laut. »Papa?«
Es war niemand zu Hause. Da fiel ihr ein, dass ihre Mutter heute zur Arbeit gefahren war. Dreimal in der Woche half sie nachmittags im großen Fischladen am Alten Markt in Magdeburg aus.
Für Kathrin waren das gute Tage, denn wenn Mutter arbeiten ging, begann sie erst spät abends Bier zu trinken. Bevor sie zum kleinen eingleisigen Bahnhof des Dorfes lief, wusch sie sich, legte ihren unsäglichen Morgenmantel, den sie sonst tagaus tagein trug, ab und zog sich stattdessen ein schlichtes Kleid und eine Feinstrumpfhose an.
Früher hatte Kathrin den dunkelblauen, mit leuchtenden Sonnenblumen bedruckten Hausmantel ihrer Mutter geliebt. Wenn sie miteinander kuschelten, knisterte es und Kathrins Haare standen zu Berge. Dann hatten sie herzhaft über den »elektrischen Mantel« gelacht. Aber das war, bevor Großmutter nach Berlin gezogen war, als ihre Mutter noch nicht so oft kränkelte und Vater noch auf dem Bau arbeiten ging. Kathrin erinnerte sich nur dunkel daran. Heute war der Morgenmantel schmutziggrau und muffig, und die Sonnenblumen leuchteten nicht mehr.
Trotzdem freute sich Kathrin, denn wenn Mutter arbeiten ging, gab es abends ein richtiges Essen. Sie brachte jedes Mal etwas Fisch und eine kleine Schüssel Kartoffelbrei oder Nudelsalat von der Arbeit mit. Kathrin deckte den Tisch, während ihre Mutter den Fisch in heißer Margarine briet. Sie aßen zusammen und es sah aus, als wären sie, so wie alle anderen im Dorf, eine normale Familie. Vater jedoch wollte den Fisch nicht essen. Er könnte auf Almosen verzichten, polterte er jedes Mal und verschwand in die Kneipe. Kathrin verstand nicht genau, was er meinte. Sie vermutete, dass es etwas damit zu tun hatte, was vor ein paar Monaten im Fischladen passiert war.
Vater war mit ihr nach Magdeburg zum Weihnachtsmarkt gefahren. Kathrin hatte bis zuletzt gebangt, ob er sein Versprechen, mit ihr dort Karussell zu fahren, einhalten würde. Sie war lange nicht in der Stadt gewesen und dementsprechend aufgeregt. Glücklich lief Kathrin an der Hand ihres Vaters über den festlich beleuchteten Markt, bestaunte einen Wagen mit knallroten kandierten Äpfeln sowie gebrannten Nüssen und Mandeln. Es duftete überall verlockend nach Bratwürstchen, Zuckerwatte und Tannengrün. Aus Lautsprechern klangen Weihnachtslieder. Kinder drängten sich an Karussells und bunten Schießbuden.
Kathrin bettelte so lange, bis ihr Vater frisch gebackene Schmalzkuchen kaufte. Sie steckte selig lächelnd ihre Nase in die Tüte und sog den Duft des heißen Gebäcks ein, das unter einer dicken Schicht Puderzucker fast nicht zu sehen war. Gierig verschlang Kathrin die Schmalzkuchen. Danach wollte sie Kettenkarussell fahren, ein paar Lose ziehen und eine Runde auf dem Pferdekarussell drehen. Aber ihr Vater erlaubte es nicht. Vielmehr nahm er seine letzte Mark und gab sie für einen Grog aus. Kathrin verkniff sich das Weinen nur mit Mühe. Erst, als Vater ihr den Becher reichte und sie ein paar Schlucke von dem heißen, gezuckerten Alkohol trinken ließ, sah die Welt nicht mehr ganz so traurig aus.
Warum schüttelte die alte Frau, die sie schon eine Weile beobachtete, den Kopf? Sie war mit ihren Enkeln da, einem Jungen und einem Mädchen. Alle drei starrten unverhohlen zu ihr herüber, während die Kinder an kandierten Äpfeln knabberten und ihre Großmutter einen Strauß bunter Papierblumen in der Hand hielt. Kathrin wusste, dass die drei von der Schießbude kamen. Dafür besaßen Vater und sie nun kein Geld mehr. Sie war neidisch und streckte den Kindern die Zunge heraus. Endlich drehten sich die drei um und gingen ihrer Wege. Kathrin lachte. Papas süßscharfes Getränk verlieh anscheinend Mut.