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Eine Familie stößt im Urlaub auf ein Rätsel, ein Großvater lässt Erinnerungen an die letzten Kriegstage aufleben und erzählt den Enkeln, was wirkliche Dankbarkeit bedeutet. Ein Junge wird plötzlich zum Helden und ein anderer lässt sich von seiner Phantasie weit in die Vergangenheit tragen. In Karl-Heinz Teichmanns Sammlung an emotionalen Kurzgeschichten sind es die kleinen Helden, deren Abenteuer mit viel Witz und Charme erzählt werden. Abgerundet wird das Ganze mit diversen Späßen und Witzen, die einfach nur Vergnügen bereiten. Charmante Kurzgeschichten, die Kinder ernst nehmen und als das beschreiben, was sie eigentlich sind: Kleine Erwachsene, die den großen eine unbändige Phantasie voraushaben!
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Seitenzahl: 58
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Inhaltsverzeichnis
Das blaue Dorf Kieselstein
I
II
III
IV
V
VI
Das Geschenk
Der ungewollte Held
Alex Noltes Besuch in der Vergangenheit
Fetenspäße, Pausenfüller, Partyknüller
Karl-Heinz Teichmann
Tatort: Dorfidylle
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
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Lektorat: Gerrit Koehler
Titelbild: Sebastian Unrau/ unsplash.com
ISBN 978-3-8372-1947-0
Das blaue Dorf Kieselstein
I
Eigentlich will Mutter Bollner am Haus der Schwester vorbeifahren. Aber im letzten Augenblick überlegt sie es sich anders. „Nur auf einen kurzen Sprung“, sagt sie.
„Wär Glück, wir träfen Ella an.“ Vater Bollner nimmt es, wie es kommt. Fast gleichzeitig sehen die Kinder vor dem Haus der Tante deren Fahrrad.
„Volltreffer,“ ruft Ralf, „Tante Ellas Drahtesel steht in der Spur.“
„Hab’s zuerst gesehen!“ Der kleine Klaus versucht, sich abzugurten.
„Stimmt’s, Papi?“
Vater Bollner nickt abwesend.
„Na siehste!“
„Hab ich was gesagt?“
Mutter Bollner schüttelt den Kopf. „Großer! – Musst du stets streiten?“
Ralf seufzt: „Hast das Rad zuerst gesehen, Kläuschen.“
„Sag ich doch.“
Sie sind noch nicht aus dem Auto gestiegen, da blickt die Tante um die Hausecke.
Sie ist ungehalten. „Konntet ihr euch nicht anmelden?“
„Mein Fehler, Schwesterchen“, behauptet Mutter Bollner. „War nicht geplant, der Halt hier.“
„Wollten nur mal gucken“, fügt Vater Bollner hinzu.
„Schade, kein Stück Kuchen hat unsereins im Haus.“
„Muss nicht sein.“ Vater Bollner gibt sich galant.
„Sind nicht hungrig“, erklärt Mutter Bollner.
„Nicht hungrig“, plappert Klaus der Mutter nach.
Tante Ellas Gesicht wird freundlicher. „Gehen wir hinein.“
„Wie gesagt, nur auf einen Sprung, Schwesterchen. Sind auf Urlaubstour.“
„Wie alle Jahre?“
Mutter Bollner nickt. „Vor allem wegen der guten Luft dort. Und überhaupt: Es gefällt uns eben in Kieselstein.“
„Warum nicht.“
„Warum nicht“, wiederholt der kleine Klaus.
Die Tante lacht. „Ganz schön kess für dein Alter.“
„Bin drei Jahre!“ Klaus versucht, seine Finger zu ordnen.
„Das sind zwei“, erklärt der Bruder.
„Lass Kläuschen machen“, braust die Mutter auf. „Er kann das.“
„Ich kann das“, kommt es wie ein Echo von unten her.
„Sind immer noch nur zwei“, lacht Ralf.
„Großer, muss das sein?“ Mutter Bollner richtet des Jüngsten Finger. „So ist es gut. Guck, Tante Ella! Das sind drei.“
Klaus bestätigt: „Sind drei.“
Die Tante führt den Besuch in die gute Stube. Sie stellt eine Glasschüssel voll Kekse auf den Tisch und geht Kaffeewasser ansetzen. Man hört sie dichten. „Niemand ist schneller, als die fuchsige Ella.“
Die Bollners setzen sich der Größe nach auf das Ledersofa.
Nicht mal Vater Bollner wagt, einen der abgedeckten Stühle zu benutzen.
„Kenne mein Schwesterherz“, behauptet Mutter Bollner. „Und trotzdem: Harte Schale, weicher Kern.“
Der Gatte seufzt: „Wenn’s nur so wär.“
Wie stets, wenn sie bei Tante Ella sind, blickt Ralf fasziniert auf das große Ölbild gegenüber dem Fenster. Dessen Leinwand nimmt fast die ganze Breite des Zimmers in Anspruch. Der Rahmen reicht vom Ofen bis kurz unter die Decke. Und von der Kommode bis zum Schornstein. Verewigt ist darauf ihr Urlaubsziel – Kieselstein. Das kleine, saubere Dörfchen inmitten der Wälder, tief im Tal.
Ralf kennt die Geschichte von dem Bild. Sein Großvater malte es. Er, der Großvater, war ein begnadeter Künstler. Anerkannt weit über die Grenzen. Er malte das Bild im Auftrag.
Der Gemeinderat von Kieselstein wollte es für seine Amtsräume.
Doch dann kam alles anders, denn der Schöpfer verewigte Kieselstein, wie er es sah: Blaue Häuser unter ebensolchem Himmel. Das war für jene Männer und Frauen, die in Kieselstein das Sagen haben, zu viel. Noch nie hatte jemand von ihnen das eigene Haus blau gesehen. Zu keiner Tages- und Nachtzeit. Selbst der wuchtige Kirchturm am Rande des Marktplatzes leuchtete ihnen von der Leinwand strahlendblau entgegen. Welcher Unfug!
Nach heftigen Debatten im Dorfparlament kam man zu dem Beschluss: Fünfzig Prozent des ausgehandelten Honorars sind genug.
Jemand sagte sogar: „Nur fort mit dem Gekleckse für immer und ewig auf einen Dachboden.“
Als der Künstler von diesen Debatten und dem Beschluss hörte, lachte er nur. Er stand sich gut. Brauchte das ehrlich verdiente Geld nicht unbedingt zum Bestreiten der kommenden Tage. So sagte er zum Bürgermeister: „Geld wie vereinbart, oder das Bild bleibt im Familienbesitz.“
Der Bürgermeister gab sich schlau. „Das Letztere soll sein.“
Ralf ist ein Junge, der alles und allem auf den Grund will. „Ich steig’ dahinter“, ruft er.
Die Mutter sieht ihn schräg von der Seite an. „Nicht zu hoch gepokert?“
„Bestimmt nicht. Das blaue Bild –ich lüfte sein Geheimnis.“
„Du? Lass uns mal lachen.“
„Mal lachen“, echot der kleine Klaus.
II
Nur eine halbe Stunde hat der Abstecher zur Tante gedauert. Nun geht es zügig Richtung Berge. Vater Bollner hat den Atlas auf dem Schoß und gibt fleißig Anweisungen, obwohl sie schon viele Male hier lang gefahren waren. Mutter Bollner seufzt: „Könnt man dich nur zum Führerschein ablegen bewegen ...“
„Hab im Moment andere Sorgen. Vielleicht später“, erwidert der Mann.
„Bist bald zweiunddreißig – später ist sicher zu spät. Augenblicklich wäre der Schein notwendig.“
„Genau“, ruft Ralf.
„Großer“, kontert der Vater, „musst du dich stets einmischen?“
„Der Junge spricht aus, was er denkt“, beschwichtigt Mutter Bollner.
Sie will es mit dem Gatten nicht verderben und fügt deshalb hinzu:
„Weiß ja, hattest es in der Jugend nicht leicht.“
„Solche Eltern ...“
Mutter Bollner wird böse. „Großer! Zum letzten Mal! Und überhaupt: Ihr könnt euch nicht beschweren. Zu euch sind Oma und Opa lieb – war halt Soldat, euer Großvater.“
„Unteroffizier, um genau zu sein“, erklärt der Vater.
Mutter Bollner sinnt: „Das wäre mir was. Essen auf Kommando.“
Vater Bollner bestätigt: „War so. Arbeit und Familie konnte der alte Herr nie auseinanderhalten.“
„Man sieht es an dir. Fielst nicht weit weg vom Baum. Und was kam zustande? Ein Maurer.“
„Und Umweltschützer! Wenn ich da an die Lehrjahre denke. Eine ausgelebte Zeit.“
„Trauerst ihr wohl nach?“
„Ein bisschen.“
„Mehr als genug“, ruft Ralf. „Weshalb noch heute zu jeder Demonstration?“
„Liegt im Blut“, sagt Vater Bollner.
„Hoffentlich bringt’s dir mal was ein.“ Mutter Bollner wirkt nachdenklich.
Ralf horcht auf. „Haben wir dann kein Geld mehr?“
„Jedenfalls nicht mehr so viel“, erklärt die Mutter.