Tertullian. Der Roman - Michael Gärtner - E-Book

Tertullian. Der Roman E-Book

Michael Gärtner

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Beschreibung

Historischer Roman, Antike, Römisches Reich Der berühmte und reiche Redner Tertullian kommt aus Rom zurück in seine Heimatstadt Karthago. Alle erwarten von ihm ein Engagement für die öffentlichen Belange der aufstrebenden Stadt. Er aber schließt sich der christlichen Gemeinde an und zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Damit stößt er viele vor den Kopf und bringt sich und die Christen in der Stadt zusätzlich in Gefahr. Als schließlich der Kaiser selbst die Stadt besucht, kommt es zu einer erneuten Verfolgung, die auch vor der Familie Tertullians nicht Halt macht.

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Prolog

I. Teil

Quintas Vorwort

1 Rückkehr des Tertullian

2 Nartzalus

3 Besuch des Marcus Vibius

4 Tertullian und Nartzalus

5 Der Übergriff

6 Angst

7 Die Verteidigung

8 Das Gastmahl des Marcus Vibius

9 Sonntag

10 Gelobt seien die Römer

11 Katechumenen

12 Männerabend bei Marcus Vibius

13 Aufidius Victorinus

14 Ein Gespräch unter Brüdern

15 Salvia

16 Vor der Kurie

17 Beim Empfang des Prokonsuls

18 Das Hospitalium

II. Teil

19 Das Frühlingsfest der Magna Mater

20 Perpetua und Secundulus

21 Zwei Männer

22 Aspasius

23 Hermogenes

24 Die Enttäuschung

25 Die Taufe

26 Der Kaiser kommt

27 Des Kaisers Wohltaten

28 Vaters Machtwort

29 Getas Geburtstag

30 Schluss

Epilog

Anhang

Prolog

Das theologische Seminar der Universität Mainz war in einigen alten Gebäuden auf dem Campus untergebracht, denen man die Vernachlässigung der Geisteswissenschaften in der aktuellen Bildungspolitik ansah. Wer auch immer hier studierte oder lehrte, dem wurde unmissverständlich klar gemacht, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit ebenfalls derselben angehörte. Hier kämpften sich die Studierenden durch Hebräisch, Griechisch und Latein, und die Lehrenden um die stetig weniger werdenden einigermaßen angemessen besoldeten Lehrstühle.

Professor Hieronymus Adam war zuständig für die Geschichte der Alten Kirche. Er arbeitete an einem Ruf auf eine besser dotierte Professur, aber weil die vorhandenen Quellen zu seinem Spezialgebiet bereits mehrfach von vorne nach hinten und zurück ausgewertet worden waren, hatte er die Hoffnung auf eine spektakuläre Entdeckung nahezu aufgegeben. Wie sollte man zu neuen Aspekten im Verständnis der ersten Jahrhunderte der Christenheit kommen, wenn die Quellenlage seit Jahrzehnten unverändert war?

Umso mehr begann er sich seine Zukunft zunehmend rosig auszumalen, als ihm sein Assistent Dr. Johannes Berthold ein Konvolut leicht angeschmutzter Papiere unter die Augen hielt

„Wo haben Sie das her?“, fragte Professor Adam.

„Aus dem Müll?“

„Was soll das heißen – aus dem Müll?“

„Ich habe es aus der Mülltonne. Genauer gesagt aus einem Papierkorb unten in der Bibliothek. Der Papierkorb schien überzulaufen. Hat die Putzfrau mal wieder vergessen, ihn zu leeren, dachte ich. Doch da fiel mir auf, dass es nicht lauter einzelne Blätter waren, sondern oben drauf ein Stapel Blätter lag, der mit einem Bindfaden zusammengebunden war.“

„Mit einem Bindfaden?“

„Ja, mit einem Bindfaden. So einem, wie man ihn für Pakete benutzt. Ich bin neugierig geworden und habe es herausgenommen. Und da ist es nun.“

„Wie ist es in den Papierkorb gekommen?“, fragte Professor Adam.

„Das weiß ich nicht. Ich habe bei der Bibliotheksaufsicht gefragt, ob sie jemanden mit einem solchen Papierstapel gesehen habe. Aber die hat mich nur müde angelächelt und erklärt, dass die meisten in der Bibliothek mit Papierstapeln in der Hand herumliefen. Nun ja, da wird sie wohl recht haben.“

Professor Adam nahm den Papierstapel in die Hand und löste die Verknotung des Bindfadens. Er schaute sich einige der mit einer sauberen Handschrift beschriebenen Blätter an. Auf den ersten Blick konnte er das Alter des Papiers schlecht abschätzen. Die Sprache war Latein. Es ließ sich flüssig lesen. Einige ungewöhnliche Wörter fielen ihm auf.

„Ob es sich um die Abschrift eines alten Textes handelt? Wo aber ist das Original? Oder ist es einfach das Produkt neuzeitlicher Fantasie in einem antikisierten Latein? Das müssen wir uns auf jeden Fall genauer anschauen!“ Professor Adam hoffte auf eine wissenschaftliche Sensation, war sich aber keineswegs sicher. „Berthold, ich muss in die Vorlesung. Machen Sie sich eine Kopie und beginnen sie mit der Übersetzung! Das Original legen Sie mir bitte auf den Schreibtisch!“

Dr. Berthold machte sich noch am Abend an eine erste Übersetzung. Es handelte sich um ein in den meisten Passagen durchaus elaboriertes Latein mit typisch spätantiken Anklängen. Die gelegentlichen Semitismen1 überraschten ihn, sprachen aber letztlich eher für Originalität als für eine neuzeitliche Schöpfung. Am meisten überrascht war er, dass es sich beim Verfasser um eine Verfasserin handeln sollte. Das war eher ungewöhnlich und legte nahe, dass eine feministische Geschichtsfälschung zumindest als Hypothese im Blick behalten werden musste.

„Dies ist die Geschichte des Quintus Septimius Florens Tertullianus, wie sie aufgeschrieben wurde von Quinta, einer Tochter des Nartzalus, seines treuen Dieners und Freundes. Sie erzählt von einem Mann, der nach der Wahrheit suchte, sie fand und wieder verlor, der die Liebe seinem Glauben opferte, der den qualvollen Tod seines Kindes mit ansehen musste und darüber nicht klüger wurde. Geschrieben wurde sie nach Befragung vieler Zeugen jener Ereignisse und nach eingehendem Studium der überlieferten Schriften. Gewidmet ist sie dem Thascius Caecilius Cyprianus, einem der Großen unserer Zeit, auf dem die Hoffnungen der Christen Karthagos ruhen, damit er seinen Großvater besser kennenlernt.“

1 Anklänge an die hebräische Sprache

I. Teil

Quintas Vorwort

Mein lieber Cyprianus, du darfst in diesem Jahr deinen zwanzigsten Geburtstag feiern, und ich denke, es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit über deine Herkunft erfährst. Beginnen möchte ich meine Erzählung über deinen Großvater mit dem Tag, als er aus Rom in seine Heimatstadt zurückkehrte. Zu jener Zeit lebten sie alle noch, die in den unglücklichen Monaten nach deiner Geburt so viel Leid erfahren sollten. Inzwischen sind sie gestorben. Nur dein Großvater lebt vielleicht noch, aber keiner von uns hat ihn seit Jahren gesehen. Möglicherweise wird es dir gelingen, ihn zu finden, wenn du ihn überhaupt noch finden möchtest nach all dem, was ich dir zu erzählen habe. Seine Schriften jedoch sind fast alle noch vorhanden, und ich werde mich bemühen, sie dir in einer Sammlung zusammenzustellen. Sie sind es wert, gelesen zu werden, auch wenn du ihnen sicher nicht in jeder Hinsicht wirst folgen können.

Vielleicht muss ich eines noch voranschicken, bevor ich mit meiner Erzählung beginne. Vieles, was ich dir zu erzählen habe, weiß ich nur von meinem Vater, der ein treuer Freund und Diener deines Großvaters war, denn zu Beginn der Ereignisse war ich selbst noch ein Kind. Aber auch mein Vater wusste bis zu seinem Lebensende nicht um das Geheimnis deiner Herkunft. Die letzte Wahrheit erfuhr ich von deinem Großvater selbst kurz bevor er unsere Stadt verließ, um sich zurückzuziehen und ein christliches Leben nach seinen eigenen Regeln leben zu können.

1 Rückkehr2

Im dritten Jahr der Regierung des Kaisers Septimius Severus lief ein dunkelhäutiger kleiner Mann in einem der vornehmsten Häuser Karthagos aufgeregt hin und her, denn er erwartete die Rückkehr seines Herrn und Freundes. Der war vor über zwölf Jahren Hals über Kopf aufgebrochen, um in Rom sein Glück zu machen. Wie man sich erzählte, war es ihm gelungen.

Nartzalus, so hieß der kleine Mann, machte schon seit Tagen alle Leute in dem Haus und in der Stadt verrückt, weil er immer wieder ausrief: „Er kommt bald. Er kommt sicher bald.“ Jeder glaubte es ihm, denn man war sich sicher, dass er kommen würde.

„Nartzalus, ich weiß“, sagte seine Frau Nona jeden Morgen, wenn er nach dem Aufstehen als erstes sagte: „Er kommt sicher bald.“

„Ich glaub‘s dir ja“, sagte der Sklave des Weinhändlers, mit dem sie seit Jahren Geschäfte machten. „Es ist auch gar nicht so eilig. Wir können auch noch nächste Woche die Bedingungen eurer diesjährigen Weinlieferung klären, wenn er wieder da ist.“

„Nun übertreib‘s mal nicht!“, sagte Speratus, der Freigelassene im Haus eines Reeders, zu ihm. „Du scheinst ja kein anderes Thema zu haben. Ich möchte von dir jetzt nur wissen, wie viele Amphoren mit Getreide ihr in diesem Jahr noch nach Rom verschiffen wollt. Das müsstest du doch wissen.“

„Selbstverständlich weiß ich das, schließlich führe ich im Moment die Geschäfte unseres Hauses“, antwortete Nartzalus mit unüberhörbarem Stolz.

Einem seiner Freunde, mit denen er sich an manchen Abenden zum Brettspiel in einer der Tavernen traf, platzte der Kragen: „Mein lieber Nartzalus, mein alter Freund! Hast du kein anderes Thema mehr. Konzentriere dich lieber auf das Spiel, sonst macht das keinen Spaß mehr.“

Aber Nartzalus konnte sich nicht konzentrieren. Er war wie aus dem Häuschen. Alle seine Freunde waren froh, als es endlich so weit war.

Die Rückkehr des Tertullian von Rom in seine Heimatstadt Karthago war dort seit einiger Zeit das Gesprächsthema der Stadt. Man redete darüber auf dem Forum, dem Marktplatz, am Hafen, in den Bädern und im Hause des Marcus Septimius Asper, dessen Asche man vor sieben Tagen in einer Urne auf einem Friedhof vor den Mauern beigesetzt hatte. Man wartete auf die Ankunft seines Sohnes, des erfolgreichen, redegewandten Anwalts, damit er sein beträchtliches Erbe antrete und die Verantwortung für das Haus, die Besitzungen im Süden, die Sklaven und Klienten und selbstverständlich für seine Mutter übernehme. Man freute sich auf ein großzügiges Fest nach der angemessenen Trauerzeit. Tertullian war seinen Freunden als ein lebensfroher Mann in Erinnerung, der seinen Wohlstand zu genießen verstand und andere daran teilhaben ließ. Man erwartete Ähnliches wie damals, als Apuleius3 zurück nach Karthago gekommen war und in den folgenden Jahren Gebildete wie Ungebildete mit seinen Reden unterhielt. Der sich zum Sacerdos Provinciae4 wählen ließ, Feste veranstaltete und in seinen Lobreden Karthago als die himmlische Muse Afrikas pries, die Muse der Togaträger. Eine solche ruhmreiche Zeit stand der Stadt wieder bevor, dessen war man sich sicher.

Aber niemand erkannte zunächst den Mann, der im Sommer des dritten Jahres des Kaisers Septimius Severus, als Decimus Clodius Septimius sich zum Herrscher über den Westen des Reiches erklärt hatte, das Schiff im Handelshafen Karthagos verließ. Vielleicht lag es daran, dass er über der Tunika nicht die Toga trug, sondern das einfache traditionelle Gewand der Nordafrikaner. Das erinnerte eher an den Mantel eines armen Philosophen als an die Bekleidung eines wohlhabenden römischen Bürgers.

Das Haus des Marcus Septimius Asper, Tertullians Vaters, lag im Osten der Stadt und erstreckte sich über ein ganzes Viertel. Asper hatte den Platz geschickt gewählt. Es lag auf der einen Seite am Cardo Maximus5. Säulen aus rosa Marmor säumten den Eingang und waren für die Karthager das Erkennungszeichen seines Hauses, wenn an den Festtagen die lärmenden Massen vom Forum zum Theater zogen. Die Straße auf der gegenüberliegenden Seite verlief ein deutliches Stück niedriger, sodass man aus den Fenstern des oberen Stockwerks und vom Dach einen wunderschönen Blick auf das Meer hatte. Es war im Prinzip nicht anders gebaut als die anderen großen Häuser des römischen Karthagos, aber Asper war einer der Ersten gewesen, der sein Haus mit Mosaiken verzieren ließ. Das eine zeigte sein Landgut in der Nähe von Theveste, ein weiteres Jagdszenen, ein drittes einen Gladiatorenkampf. Stolz war er auf das Mosaik im Atrium, das ihn in seiner Uniform als Centurio darstellte und seine Männer mit Lanze und Schwert. Marcus Septimius Asper hatte treu den jährlich wechselnden Prokonsuln gedient, war für die erfolgreichen Feldzüge in den Süden gegen die Berber mit Land und noch mehr Land belohnt worden, hatte seinen Wohlstand vermehrt und war schließlich mit seinem Vermögen in den Stand der Ritter6 aufgenommen worden. Das Haus des Marcus Septimius Asper kannte jeder in Karthago und auch seinen Sohn, den Quintus Septimius Florens Tertullianus.

Der hatte – am Hafen angekommen – einen Boten in sein Elternhaus geschickt, damit man ihn abholte. Schon vom Schiff aus hatte Tertullian gesehen, wie sehr sich Karthago in den fast dreizehn Jahren seiner Abwesenheit verändert hatte. Die Insula7 neben seinem Vaterhaus war bebaut worden, die freie Fläche zum Theater hin, auf der er als Kind gespielt hatte, war großzügigen Villen gewichen. Auch im Westen waren die Mietshäuser in die Höhe geschossen. In der Mitte der Stadt thronte, schon von weitem sichtbar, das Forum auf den Bysra Hügel. Karthago war reich und wetteiferte mit Alexandria um den zweiten Platz im Imperium nach Rom. Der Hafen war mit Schiffen überfüllt, auf der Reede warteten gut drei Dutzend weitere dickbäuchige Handelsschiffe darauf, Getreide und Fässer mit Olivenöl laden zu können. Diese Kornkammer des Reiches hatte viele reich gemacht, auch Tertullians Vater, den er so gerne noch einmal gesehen hätte.

Nartzalus erkannte ihn sofort. Dieser kleine drahtige Mann mit der dunklen Hautfarbe und den gekräuselten Haaren, der, kaum war er von dem Karren heruntergesprungen, schon auf ihn loslief, hatte ihn wie einen Freund seit der Kindheit begleitet. Marcus Septimius Asper brachte seine Eltern von einem seiner Feldzüge an den Rand der Wüste als Sklaven mit. Er war kaum jünger als Tertullian, und sie waren fast wie Brüder aufgewachsen, so das denn geht bei Herrn und Sklave, Römer und Numidier. Nartzalus wollte Tertullian um den Hals fallen, hielt sich aber im letzten Moment zurück.

„Nartzalus, mein Bruder!“ Tertullian breitete die Arme aus.

„Quintus! Wie schön, dass du endlich da bist.“

„Wie geht es meiner Mutter?“

„Sie wartet auf dich. Alle warten auf dich.“ Nartzalus hielt inne. „Du hast dich verändert. Dieser dichte Bart! Dieser Umhang. Aber gesund siehst du aus. Ein Mann bist du geworden.“

„Und du siehst aus wie ein numidischer Familienvater, der seinen kleinen Sohn gefüttert hat.“ Tertullian zeigte auf den Breifleck auf Nartzalus‘ Tunika.

„Tochter, bitte. Quinta8 ist mein drittes Kind.“

„Und dann nennst du sie Quinta?“

„Ich wusste nicht, ob es noch fünf werden, da habe ich die dritte schon einmal Quinta genannt, damit auf jeden Fall eines meiner Kinder so heißt wie du.“

„Mit dem Latein hast du es immer noch nicht so, scheint es mir.“

„Du irrst. Ich bin nahezu perfekt. Dein Vater hat mich als Schreiber ausbilden lassen.“ Er kratzte sich ein wenig verlegen am Kopf. „Aber weißt du, ihr Römer, auch ihr hier in Afrika, nehmt manches einfach zu ernst. Warum soll man nicht sein drittes Kind Quinta nennen dürfen? Würde ich mein fünftes Kind so nennen und zwei würden mir sterben, dann hieße schließlich doch das dritte Kind Quinta, oder nicht?“

„Du hast dich nicht geändert. Du biegst dir immer noch die Welt so zurecht wie, du sie haben möchtest.“

„Das finde ich besser, als wenn die Welt mich so zurechtbiegt, wie sie mich haben möchte.“ Nartzalus schaute sich um. „Wo ist deine Frau, Quintus?

„Auf dem Schiff. Sie wollte nicht in das Gedränge hier auf dem Kai.“

„Ich möchte sie endlich kennenlernen.“

„Du wirst sie gleich kennenlernen.“

„Und eure Kinder?“

„Keine Kinder.“

„Immer noch keine?“

„Immer noch keine. Und es werden wohl auch keine mehr. Der Herr hat’s nicht gegeben.“

Nartzalus hörte eine Traurigkeit aus diesen Worten, die er an Tertullian nicht kannte. Der war immer der Mittelpunkt, die strahlende Mitte seines Freundeskreises gewesen. Hatte nichts so ganz ernst genommen, denn was heute nicht gelang, das konnte morgen gelingen, oder es war die Mühe nicht wert.

Tertullian wandte sich um und ging auf das hinter ihm liegende Schiff zu. Jetzt sah Nartzalus die große blonde Frau, die auf dem Deck in der Nähe jenes Stegs stand, auf dem leere Holzfässer herunter gerollt wurden. Tertullian reichte ihr die Hand und führte sie zu Nartzalus.

„Donata, meine Frau – Nartzalus, von dem ich dir schon so viel erzählt habe.“

Donata streckte Nartzalus ihre Hand entgegen, der mit dieser Geste zunächst nichts anzufangen wusste. Er nahm sie vorsichtig und verbeugte sich. „Salve Donata.“

„Ich freue mich, mit dir den ersten Freund meines Mannes in seiner Heimatstadt kennenzulernen. Friede sei mit dir.“

Nartzalus meinte eine kleine Traurigkeit in ihrem Lächeln zu bemerken. Aber der Anlass der Reise war auch kein fröhlicher. „Ich freue mich, die Frau kennenzulernen, die das Herz meines Freundes Quintus für sich gewonnen hat.“ Er schaute sich um. „Die Sänftenträger müssten gleich da sein“, beeilte sich Nartzalus zu sagen. „Habt nur noch ein wenig Geduld.“

„Geduld ist nicht gerade meine Stärke, das weißt du“, antwortete Tertullian. „Ich möchte sowieso lieber zu Fuß gehen. Der Weg hat sich wohl nicht verändert.“

„Aber für Donata wird es beschwerlich den Hügel hinauf in dieser Hitze. Außerdem werden ihre Kleider schmutzig werden bei all dem Staub und Dreck hier in der Stadt.“

„Um meine Kleider brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Nartzalus“, antwortete Donata. „Nach dieser Schiffsreise haben die sowieso nicht mehr ihre ursprüngliche Farbe. Aber ich bin froh, wenn ich nicht durch das Gedränge laufen muss.“

Nartzalus kümmerte sich um das Gepäck, die Bücher, die Geschenke. Die Sänfte kam, Donata stieg ein, die Träger setzen sich in Bewegung. Tertullian machte sich auf den Weg.

Er ging in seine Kindheit und Jugend zurück. Wie oft war er hier im Handelshafen gewesen, hatte zugeschaut wie die Schiffe aus Spanien und Italien ausgeladen wurden, Amphore um Amphore, um sie dann später wieder mit neuen Waren für Italien zu beladen. Getreide, Wein, Olivenöl, wilde Tiere, schwarze Sklaven – Afrika lieferte Rom, was es brauchte für seinen Luxus, für Brot und Spiele, für die Versorgung der Legionen. Das meiste, das aus Afrika kam, wurde über diesen Hafen abgewickelt. Denn Händler waren die Karthager seit alten punischen Zeiten, oft verkannt und unterschätzt und vielleicht gerade deshalb immer wieder reich geworden.

Was auf von den Schiffen abgeladen wurde, verschwand auf Ochsen- oder Eselskarren, dem Rücken von Sklaven und Tagelöhnern, in den großen Lagerhäusern und hatte irgendeinen in den Häusern hinter dem Forum ein Stück reicher gemacht. In dem Gewühl fanden sich Menschen aus allen Teilen des Römischen Reiches und darüber hinaus, alle Hautfarben, alle Augenformen, alle Körpergrößen, jeglicher Körperbau. Karthago war ein Schmelztiegel und sein Handelshafen in besonderer Weise.

Den Lärm und den Gestank hatte Tertullian früher nicht so empfunden wie an diesem Tag nach fast dreizehn Jahren in anderen Teilen der Welt. Er wandte sich nach Norden hin zum Kriegshafen, gleich anschließend an den Handelshafen, denn Geld und Gewalt lagen in Karthago nahe beieinander. Die Freiheit der Märkte wurde mit derselben Gewalt geschützt mit der neue Märkte erobert wurden. Sein Vater war ein Teil dieser Maschinerie gewesen und das hatte ihn reich gemacht. Reich war nun sein Sohn, und der Anblick der Quellen seines Reichtums, Handel und militärische Gewalt, weckten in ihm zwiespältige Gefühle. Ganz anders als damals, als er als kleiner Junge stolz mit seinem Vater, dem Equester9 Marcus Septimius Asper in ihre Lagerhäuser am Handelshafen und zu den Kameraden im Kriegshafen gegangen war.

Tertullian war ein anderer geworden und er würde den Grund seiner Veränderung nicht lange vor seiner Mutter verbergen können. Dass sein Vater es nicht mehr erfuhr, machte manches einfacher.

Die Kerker der Galeerensklaven waren das Letzte, was Tertullian beim Verlassen des Kriegshafens sah, als er sich am Meer entlang in Richtung Antoniusthermen bewegte. Er wollte nicht durch die engen Gassen hindurch bis zu dem die Stadt der Länge nach durchschneidenden Cardo Maximus gehen. Er wollte noch ein wenig die schönen Seiten Karthagos genießen. In die Viertel der armen Leute mit ihren stickigen, dunklen Mietshäusern würde es ihn früh genug verschlagen. Vier Straßen weiter traf er auf den Decumanus10, die andere Hauptstraße der Stadt. Er wandte sich nach links zur Stadtmitte hin und war von dem Blick auf das hoch gelegene Forum mit seinen Säulenhallen überwältigt. Wie oft war er diese Straße vom Forum hinunter zum Meer gegangen. Selten allein so wie heute, meist mit Freunden, als Kind mit seinen Eltern, dann an den hohen Festtagen in der lärmenden und singenden Menschenmasse, wenn die Feste zu Ehren der Göttin Juno Caelestis oder des Gottes Saturn, zu Ehren des Kaisers oder eines Mitglieds seiner Familie ausklangen und man den Abend und einen guten Teil der Nacht am Strand verbrachte.

Da waren die Bilder seiner Kindheit und Jugend: das Kapitol, der Haupttempel der Stadt, geweiht dem Jupiter, der Juno und der Minerva. Es stand alles bestimmend am oberen Ende des Forums. Als Kind hatte es für ihn nichts Größeres auf der Welt gegeben, als diese sieben mächtigen Säulen am Eingang des Tempels. Zwischen ihnen sahen die Priester in ihren langen Gewändern wie Puppen aus. Die Treppen zu ersteigen, erschien unmöglich, die Götterstatuen flößten Furcht ein. Nie hatte er glauben können, dass diese Mächte allein das Blut der Opfertiere und den Rauch der verbrannten Innereien zu besänftigen seien. Als man ihm erzählte, dass in alten Zeiten die Einwohner Karthagos ihre erstgeborenen Kinder den Göttern im Feuer opferten, erschreckte ihn das. Nachdem seine Mutter ihm das erzählt hatte, weigerte er sich für einige Wochen mit seinem Vater in die Nähe des Kapitols zu gehen, weil er dachte, dass auch dieser gestrenge Soldat vielleicht im Stande wäre, sein Kind den Priestern zu übergeben, damit sie es erwürgten und in das Feuer einer der Altäre legten.

Auf der linken Seite des Platzes stand die Kurie, in der die politischen Geschicke der Stadt entschieden wurden. Sein Vater hatte es bis dort hineingeschafft, war dort Mitglied, ein Dekurio, geworden, einer der angesehenen reichen Leute Karthagos. Auch ihn würde man bald fragen, ob er dazu gehören wolle – gegen eine eindrucksvolle Spende an die Stadt. Vielleicht würden sie auch den Bau eines neuen öffentlichen Gebäudes erwarten oder zwei Tage Brot und Spiele. Wie würden sie reagieren, falls er all das ablehnte?

Aus dem Gebäude neben der Kurie kamen einige junge Männer. Sie sahen aus wie er und seine Freunde damals, als sie Rhetorik studierten, in der Bibliothek die Reden Ciceros und Senecas nachlasen und davon träumten, berühmte Redner zu werden, so wie zu jener Zeit Apuleius, zu dessen Vorträgen die Massen ins Odeon strömten.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Forums stand die Gerichtsbasilika. Mit ihr war eine der letzten Erinnerungen an seine Heimatstadt verbunden. Damals hatte man sechs Frauen und sieben Männer aus Scili vor den Prokonsul Saturninus gebracht. „Ihr könnt die Gnade unseres Herrn, des Kaisers, verdienen, indem ihr wieder Vernunft annehmt.“ Diese Worte hatte Tertullian nie vergessen. Vernunft annehmen. Damals hatte er dem Prokonsul zugestimmt. Heute würde er sagen: Welche Arroganz! Saturninus wollte ihnen noch eine Chance geben, aber dafür mussten sie alles aufgeben, was ihnen wichtig war – und Vernunft annehmen! Was hatte das mit Vernunft zu tun? Saturninus meinte es gut. Er wollte ihnen Bedenkzeit geben. Er ließ sie nicht foltern. Am Ende war sein Urteil milde und tödlich zugleich. Es war am frühen Morgen gewesen, die Sonne brach sich den Weg durch den Decumanus, der Giebel der Gerichtsbasilika erhielt eine goldene Aura als Saturninus aufstand und den Richterspruch von der Wachstafel verlas: „Speratus, Kittinus, Vestia, Sekunda und die übrigen, welche bekannt hatten, dass sie nach christlichem Brauch leben wollen, sollen mit dem Schwert hingerichtet werden, weil sie, als ihnen die Möglichkeit gegeben wurde, zur Satzung der Römer zurückzukehren, hartnäckig geblieben sind.“ Es waren Soldaten aus der Legion von Tertullians Vaters gewesen, die die Männer und Frauen aus Scili in den Norden der Stadt, in die Nähe des Amphitheaters abführten, gefolgt von einer johlenden Menge, die Blut sehen und Blut riechen wollte. Die Menschen war ihm zuwider gewesen – das Urteil hatte er als gerecht empfunden.

Tertullian liebte Karthago, die Stadt, in der er aufgewachsen war, mit der zusammen seine Familie reich geworden war, die ihm all die Genüsse des Lebens geboten hatte, die ihm jetzt so widerlich erschienen. Denn er war ein anderer geworden in Rom.

Er setzte sich auf die Stufen der Kurie neben eine Säule. Vielleicht hatte er ein wenig Zeit und niemand würde ihn erkennen. Die vielen Kinder waren ihm früher nie aufgefallen. Nicht die, die mit Säcken beladen die Waren der Getreidehändler auslieferten, nicht die, die Amphoren mit Öl oder Wein schleppten, nicht die, die sich in ihren dreckigen und zerrissenen Tuniken in den Ecken herumdrückten und von den Soldaten verscheucht wurden. Er hatte immer nur die Kinder gesehen, die mit ihren Schreibtafeln unter dem Arm, vom Elementarunterricht kommend, lachend über das Forum liefen und sich an den Ständen mit Süßigkeiten etwas mitnahmen. Er konnte sich auch an keines der Gesichter der Männer erinnern, die schon immer über das Forum und durch die Straßen Karthagos gelaufen waren, um das Holz für die Herde der Villen im Theaterviertel herbeizuschleppen, den Abfall auf die Halden vor die Stadtmauern zu bringen und all die Handgriffe erledigten, die es brauchte, damit man in einer reichen Stadt gut leben konnte.

Er erinnerte sich nur an die Gesichter der Togaträger, ihrer Frauen und Kinder, die über das Forum liefen, um ihren Geschäften nachzugehen, um vor dem Kapitol ein Opfer zu bestellen, um zu sehen und um gesehen zu werden. Daran hatte sich nichts geändert. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis sein Blick auf eine Frau fiel, deren Schmuck in der Sonne glänzte: die Brosche auf ihrer Brust, das Halsband, die Ohrringe, die Armreifen, die Fußkettchen alles aus Gold. Gold, an dem das Blut und die Tränen anderer Menschen klebten. „Gold und Silber, die beiden vorzüglichsten Mittel des weltlichen Schmucks, was sind sie?“, sagte er leise vor sich hin. „Nichts anderes als Erde! Erde allerdings von etwas edlerer Art.“ Er spürte den Zorn in sich aufsteigen beim Anblick dieser hübschen jungen Frau, die meinte, durch das Gold noch schöner zu werden. Gold, diese Erde etwas edlerer Art. In den mörderischen Schmelzhütten war sie durch die zu den Bergwerken Verurteilten bei ihrer Zwangsarbeit mit Tränen benetzt worden, hatte ihren erdigen Charakter im Feuer zurückgelassen und sich aus einem Gegenstand der Marter in ein Mittel des Schmucks verwandelt, aus einem Werkzeug der Todesqual in ein solches der Opulenz, aus einem der Schmach in ein solches der Ehre. Eines Tages würde er das alles aufschreiben.

Wie würde seine Donata es in dieser Stadt der Eitelkeit aushalten? Würde sie sich davon fernhalten wollen? Würde sie es können? Oder würde sie der Putzsucht der reichen Frauen Karthagos verfallen?

Die Ankunft der Sänfte im Hause des verstorbenen Marcus Septimius Asper war nicht unbemerkt geblieben. Das Gebäude stand seit Tagen unter Beobachtung. Irgendeiner der Klienten11 seines Vaters war immer in der Nähe des Hauses am Cardo Maximus, seit man die Ankunft des Tertullian erwartete. Man hatte ihn zunächst in der Sänfte vermutet, aber als diese einfach gekleidete unbekannte Frau ausstieg und von Nartzalus ins Haus geführt wurde, ahnte man, dass das erwartete Ereignis noch bevorstand.

Tertullian war ganz in Gedanken bei den vielen neuen Gebäuden am Cardo, die seit seiner Abfahrt nach Rom vor über zwölf Jahren gebaut worden waren, als er die Menschentraube vor seinem Vaterhaus erblickte. Eine wahrlich bunte Mischung von Menschen war das. Viele Arme der Stadt, die jeden Morgen vor das Haus zu kommen pflegten, um sich eine Gabe für den Tag abzuholen: Geld, Getreide, Früchte, Reste vom Festmahl des Vorabends. Tertullian erkannte aber auch eine Gruppe von Arbeitern, derer sich sein Vater immer wieder bedient hatte, kleine Händler, mit denen er zusammenarbeitete, Menschen verschiedener Hautfarben, unterschiedlicher Rassen und Kleidung, eine Mischung so bunt wie die Bevölkerung von Karthago mit seinen Berbern, Numidiern, Phöniziern, Menschen aus Italien, Spanien, dem südlichen Gallien und Kleinasien. Karthago war ein Schmelztiegel für Menschen aus allen Teilen des Römischen Reiches, solchen, die seit Jahrhunderten hier im Norden Afrikas lebten, und solchen, die Handel und Seefahrt hierher verschlagen hatten.

Sie erkannten ihn spät. Wohl weniger, weil er sich so verändert hatte. Eher schon, weil sie einen Mann in Toga, begleitet von einigen Sklaven, die ihm den Weg freimachten, erwartet hatten.

„Heil dir, Tertullianus!“ Die Begrüßung erklang erst zaghaft und dann immer lauter, während er sich den Weg durch die Menge bahnte. Tertullian wusste, was sie von ihm erwarteten, aber er war es nicht mehr gewohnt, die Rolle des vermögenden Equester zu spielen, von dem viele sich ihren Lebensunterhalt erhofften. Geld sollte er verteilen, sich gleich am ersten Tag seine Klientel sichern, die ihn als einen wohlhabenden und freigiebigen Mann in der Stadt bekannt machen würde, ihm auf dem Forum applaudierten und die vielen kleinen wichtigen Dienste erwiesen, derer es bedurfte, um den Weg seines Vaters auf der Karriereleiter fortsetzen zu können.

Tertullian fühlte sich fehl am Platz, alles in ihm zog sich zusammen. Er war auf so etwas nicht vorbereitet und er wollte diese Rolle auch nicht spielen. Nartzalus kam ihm zu Hilfe. Der hatte die Ovationen gehört und war vor die Tür getreten. Er stimmte in das „Heil dir, Tertullianus!“ ein und verteilte das erwartete Geld, bis die Menge sich zerstreute, um am nächsten Morgen wieder vor der Tür zu stehen.

Dieses Haus hatte sein Vater kurz nach Tertullians Geburt gebaut. An die alte Wohnung auf dem Landgut im Bagradatal erinnerte er sich kaum noch. Sie waren nur zwei oder drei Mal dorthin zurückgekommen, nachdem sie nach Karthago umgezogen waren. Um das Landgut und das Haus würde er sich in Zukunft kümmern müssen. Hier war er aufgewachsen, hier war er unterrichtet worden und hatte mit Nartzalus im Atrium gespielt, hier hatte er die süßen Stunden der Abenddämmerung im Garten verdöst, bei den Festen seiner Eltern erstaunt den Erwachsenen zugehört, als Sechsjähriger in der Küche seinen ersten verbotenen Becher mit Wein getrunken und als Zwanzigjähriger seinen Rausch nach den durchfeierten Nächten mit seinen Freunden ausgeschlafen. Hier hatte er von Salvia, der Liebe seiner Jugend, geträumt und hier hatte er nach jener Nacht mit ihr beschlossen, sein Glück in Rom zu suchen. Gefunden hatte er in Rom beides, seinen beruflichen Erfolg und ein neues Leben.

Nartzalus hatte ihm die Menschen vor der Tür vom Hals geschafft und ihn ins Haus geführt. Eine angenehme Kühle umfing ihn und vertraute Gerüche. Vom Garten her wehte der Duft des Lavendel und eines großen Buchsstrauchs herein. Er hörte die Stimmen zweier Frauen und ging zu dem schattigen Sitzplatz mit dem Brunnen, an dem seine Mutter schon früher am liebsten die letzte Stunde vor der Mittagshitze verbracht hatte. Saturnina hatte ihre Schwiegertochter zuvor erst einmal zu Gesicht bekommen und schien sich gut mit ihr zu unterhalten. Tertullian sah ihr den Schmerz und die durchwachten Nächte der letzten Wochen an. Ihre Haare waren nicht so sorgfältig gefärbt, wie er es kannte, und ihr Lächeln schien müde.

Die beiden Frauen hatten von dem Auflauf vor dem Haus nichts bemerkt. Erst als Tertullian an den Tisch mit den Früchten, den reich verzierten Gläsern und dem Eiswasser herantrat, erhoben sie sich und Saturnina fiel ihrem Sohn in die Arme.

„Es ist gut, dass du so schnell gekommen bist, mein Sohn! Wir alle brauchen dich hier.“

Saturnina war eine großgewachsene Frau Ende fünfzig. Ihre schlanke Gestalt und die leicht gekräuselten Haare waren ein Erbe eines beduinischen Großvaters. Ihre Familie stammte aus Utica und war dort schon seit dreihundert Jahren beheimatet gewesen, bevor Saturnina mit dem römischen Centurio erst auf das Landgut und dann in das aufblühende Karthago gezogen war. Sie war fest verwurzelt in den Traditionen des nördlichen Afrikas. Ihre Eltern hatten sie nach dem Hauptgott des alten Karthagos, dem Baal Hammon, benannt, der seit der Neugründung der Stadt durch die Römer unter dem Namen Saturnus weiter verehrt wurde. Sie selbst hing aus tiefster Seele der alten Göttin Tanit an, die mit ihrem neuen Namen Juno Caelestis hieß, die Ewige, die allmächtige Herrin und große Göttin. Als ihr römischer Mann das neue Haus am Theaterhügel bauen ließ, hatte sie ihn gebeten, ihr einen Raum für die Verehrung ihrer Gottheit zur Verfügung zu stellen. Hier hatte sie die meiste Zeit seit dem Tod ihres Mannes verbracht, wenn sie nicht zum großen Tempel der Göttin weiter unten in der Stadt gegangen war. Juno Caelestis, die himmlische, war die Quelle allen Lebens, die Göttin der Fruchtbarkeit, die Dea Nutrix, die ihr Kraft zu einem neuen Anfang in der Trauer geben konnte.

Saturnina hatte es immer verstanden, mit dem oft zornigen Temperament ihres Sohnes umzugehen. Die ungestüme Tatkraft, die sein Vater bei seiner Arbeit als Soldat an den Tag gelegt hatte, äußerte sich bei Tertullian seit seiner Jugend als eine schier nicht zu bändigende Heftigkeit in der Auseinandersetzung des Heranwachsenden mit allen, die anderer Meinung waren als er. Wie oft hatte sie seinen Vater beschwichtigen müssen, der die verbale Streitlust seines Sohnes als Angriff auf seine väterliche Autorität auffasste? Wie oft war sie bei seinem Rhetoriklehrer gewesen, der sich darüber beklagte, dass Tertullian Rhetorik weniger als Kunst der schönen Rede denn als Methode der scharfzüngigen Auseinandersetzung zu verstehen schien? Wie oft hatte sie ihren Sohn gebremst, wenn er bei einem der Feste in ihrem Haus die Gäste in endlose Diskussionen zu verstricken drohte? Aber dennoch war ihr dieses Kind, das die Himmlische ihr geschenkt hatte, und das ihr von allen ihren Kindern geblieben war, das Liebste auf der Welt. Nun würde sie ihn dringlicher brauchen denn je, denn er musste die Geschäfte seines Vaters weiterführen, von denen sie alle lebten.

„Wir werden gleich heute anfangen, Mutter“, sagte Tertullian beruhigend. „Aber erst einmal wollen Donata und ich uns ein wenig ausruhen, und dann möchte ich mit euch an Vaters Grab gehen.“

Tertullian ist seinen Pflichten als Sohn und Hausvater über lange Zeit mit Sorgfalt nachgekommen. Erst später, in den Monaten und Jahren nach deiner Geburt, geriet sein Leben aus den Fugen. Wir lebten damals mit seiner Familie und den anderen Sklaven zusammen in diesem großen Haus am Cardo Maximus. Er war streng und großzügig wie sein Vater. Keiner sollte es bei ihm schlecht haben. Er wusste Treue und Zuverlässigkeit zu schätzen. Er versuchte, niemanden zu überfordern, auch wenn Geduld nicht seine größte Tugend war. Aber wenn er einmal in seinem Zorn einen von uns angeschrien oder gar hatte bestrafen lassen, dann kam er spätestens am nächsten Tag, fragte nach, was denn der Grund für das Fehlverhalten gewesen sei, sprach ermahnende, aber freundliche Worte und wagte es sogar, sich zu entschuldigen, falls er einmal falsch gehandelt hatte. Das schwächte seine Autorität keineswegs, sondern verband uns eher noch stärker mit ihm. Wir Kinder hatten es besonders gut. Wenn wir lärmend durch die Gänge des Hauses oder des Gartens liefen, lächelte er uns meist an. Wenn wir es allzu laut trieben und ihn bei seiner Arbeit störten, sagte er es uns mit freundlichen Worten. Er schien Kinder zu lieben, obwohl er selbst keine hatte. Wenn ein Kind seiner Haussklaven Geburtstag hatte, machte er ihm ein kleines Geschenk. Ich habe noch bis heute die Würfel, die ich von ihm zu meinem achten Geburtstag bekommen habe. Für die Kinder der anderen Sklaven außerhalb des Hauses ließ er die Geschenke durch die jeweiligen Aufseher überbringen. Er kannte sicher nicht alle, die für ihn arbeiteten und erst recht nicht deren Kinder. Aber er wollte für alle gut sorgen. Kinder stehen Gott in besonderer Weise nahe, hat er einmal gesagt.

Was er gar nicht leiden konnte, war die Lüge. Er selbst sagte nie die Unwahrheit. Auf jeden Fall habe ich es nie erlebt und auch nie davon gehört. Das machte es ihm sicher manchmal schwer. Aber dafür galt er auch als ein sehr zuverlässiger Geschäftspartner. Jedoch trieb ihn die ganzen Jahre die Frage um, ob in manchen Situationen das Schweigen nicht der Lüge gleich komme. Wenn die Wahrheit gesagt werden musste – oder wie er es oft ausdrückte – wenn sie bekannt werden musste, war es dann nicht letztlich eine Lüge, wenn man die Wahrheit verschwieg? Da war er ganz anders als mein Vater Nartzalus. Der hielt es lieber mit der alten Weisheit unserer afrikanischen Heimat, dass Schweigen oft viel wertvoller sein kann als Reden.

Mein Vater war wirklich ein lebenslustiger Mensch. Dieses sonnige Gemüt war ihm wohl mit in die Wiege gelegt worden. Denn leicht war sein Leben nicht. Zwar hatte er bereits mich, sein drittes Kind, Quinta genannt, aber es kamen nach mir noch vier andere auf die Welt, von denen nur eines starb. Am Ende waren wir also sechs und er musste bei der Namensgebung wieder auf einheimische Namen ausweichen.

2 Siehe zu den einzelnen Kapiteln auch die Nachbemerkungen ab Seite 307.

3 Berühmter Redner und Schriftsteller, geb. 125 n. Chr., gest. ca. 180 n. Chr.

4 Hohes Amt des Kaiserkultes.

5 Ost-westliche Zentralstraße einer römischen Siedlung, die sich in der Mitte des Ortes mit der nord-südlichen, dem Decumanus, schneidet und zum Forum erweitert.

6 Lateinisch equester, nach dem Kaiserhaus und den Senatoren der dritte Stand.

7 Ein durch die rechtwinklig verlaufenden Straßen umgebenes Grundstück.

8 Zu deutsch “die Fünfte”, Kinder wurden oft durchgezählt.

9 Siehe Anmerkung 5.

10 Siehe Anmerkung 4.

11 Wirtschaftlich abhängige Menschen, die im Gegenzug politische Unterstützung gewähren.

2 Nartzalus

„Wie geht es Tertullian?“, fragte Nona, als Nartzalus zu ihr in den Raum kam, der ihnen zum Kochen, Essen und Wohnen diente. Zwei Räume hatte die Familie in dem großen Haus des Marcus Septimius Asper zur Verfügung gestellt bekommen. Dies und der direkte Zugang zum Garten konnten als Auszeichnung verstanden werden.

Die Familie meines Vaters stammte aus einer Oase im Süden der Provinz Africa Proconsularis. Mit ein wenig Ackerbau und vor allem mit dem Fernhandel über die Sahara hinweg hatten sie dort über Jahrhunderte hinweg ihr Dasein bestritten. Als Nartzalus noch ein Kind war, erzählte man ihm, dass sie vor langer Zeit aus einem anderen Land dorthin gekommen seien, nicht freiwillig, sondern als Sklaven der Beduinen, denen sie auf ihren Karawanenzügen zu Diensten sein mussten. Man könne das auch an der Farbe ihrer Haut sehen, wurde ihnen immer wieder gesagt. Eine so dunkle Haut habe kein Mensch, der aus dem Norden Afrikas stamme. So dunkel, so schwarz seien nur die Menschen im Süden. Nartzalus war nie im Süden gewesen, aber sein Vater hatte ihm erzählt, dass er dort am Fluss Nigris schwarze Menschen wie sie getroffen hatte.

Nartzalus war auf dem Landgut des Marcus Septimius Asper im Bagradatal geboren worden als Kind zweier schwarzer Sklaven, die Marcus Septimius als Geschenk des Prokonsuls für die Teilnahme an einer Strafexpedition gegen die Beduinen erhalten hatte. Über Jahrhunderte hinweg hatte Nartzalus‘ Vater zusammen mit den anderen schwarzen Bauern der Oase die Beduinen zweimal im Jahr auf deren lange Reise in den Süden begleiten müssen. Sie kümmerten sich um die Tiere und trugen auf dem Rückweg einen Teil der Lasten. Elfenbein, Gold, Weihrauch, edle Hölzer und wilde Tiere, vor allem Affen brachten sie mit. Wochenlang ging es auf den alten Wegen durch die Sahara. Gluthitze am Tag, Eiseskälte in der Nacht, Sandstürme, in denen man sich verirren konnte und die den Sand in jede Ritze des Körpers trieben, und die Überfälle feindlicher Stämme. Die Frauen feierten jedes Mal ein Fest, wenn ihre Männer wieder zu Hause waren.

Als Nartzalus Vater noch ein junger Mann gewesen war, überfielen die Beduinen ihrer Oase ein Dorf im Süden der römischen Provinz. Drei Wochen später überfielen sie ein zweites Dorf. Wenige Tage später waren die römischen Soldaten da. Die meisten der Beduinen flohen in die Wüste und entkamen den Römern. Die Bauern hatten keine Reittiere und wurden gefangen genommen. Man wollte den Beduinen die Lebensgrundlage entziehen, indem man ihnen ihre Arbeitskräfte nahm. Machtkalkül einer Weltmacht. Die schwarzen Bauern wurden als Belohnung an die tüchtigsten Offiziere verteilt oder auf dem Sklavenmarkt Karthagos verkauft.

Nartzalus Eltern hatten Glück, man riss das Paar nicht auseinander. Marcus Septimius Asper erwies sich als ein strenger, aber nicht zur Willkür neigender Dominus. Er erkannte bald die organisatorischen Fähigkeiten von Nartzalus Vater und übertrug ihm die Abwicklung des Getreidetransports auf den Markt und in den Hafen von Karthago. So machte der sich jede Woche einmal mit ein, zwei oder fünf Ochsenkarren auf den Weg vom Landgut am Fluss in die große Stadt und brachte die Erträge des Bodens zu den Großhändlern in der Nähe des Marktes oder in den Handelshafen zu den Schiffen, die in Richtung Rom abfuhren. Auf dem Rückweg brachte er mit, was auf dem Lande fehlte. Doch konnte man fast alles selbst herstellen, was man brauchte – den Wein, das Öl, die Töpferwaren. Für die Reparaturen der Werkzeuge hatte man sogar einen Schmied auf dem weitläufigen Gelände. Aber einiges gab es nur in der Stadt.

Von seinem Vater hatte Nartzalus das ausgeglichene, meist fröhliche Gemüt und die Intelligenz geerbt. Marcus Septimius Asper hatte ihn zusammen mit seinem eigenen Sohn im Lesen und Schreiben unterrichten lassen, und weil er sich zunehmend geschickt anstellte, ihn nach dem Tod seines alten Schreibers zu dessen Nachfolger bestimmt. Nartzalus war damals schon fast zwanzig Jahre alt, aber er stürzte sich mit einer ungeheuren Energie und Freude in diese Aufgabe, lernte die Kurzschrift, bemühte sich, wenn auch mit deutlich weniger Erfolg, um das Griechische, die Sprache der Gebildeten und vieler Händler aus dem Osten, und war bald nur noch mit Griffel und Wachstafel versehen anzutreffen. Oft saß er bis in die Nacht in der Schreibstube beim Licht zweier Öllämpchen und übertrug die Notizen von den gebündelten Wachstafeln sorgfältig auf Papyrus oder Pergament, um seinem Herrn am nächsten Morgen die Urkunden zur Unterschrift vorzulegen.

„Er ist bei seiner Mutter. Er hat sich verändert. Hat einen Bart. Ist ein Mann geworden. Er scheint das Leben immer noch viel zu ernst zu nehmen.“ Nartzalus umarmte seine Frau von hinten und drückte ihr einen Kuss in den Nacken. „Er hat es halt nicht so gut wie ich – mit dieser Frau.“

„Nartzalus, wieder dieser Charme eines alternden Mannes!“

„Wieso alternder Mann. Mit fünfunddreißig ist man doch noch nicht alternd!?“

„Erstens altert man immer und zweitens näherst du dich in meinen Augen bereits dem Greisenalter.“

Nartzalus Frau Nona war ungefähr zehn Jahre jünger als er. Marcus Septimius Asper hatte seinen Schreiber im Alter von Fünfundzwanzig aus dem Sklavenstand entlassen, ihm einen kleinen Geldbetrag und ein Zimmer in seinem Haus überlassen. Nartzalus stellte ihm nach bereits vier Wochen Nona als seine zukünftige Frau vor und bat nach der Geburt des ersten Kinds um einen zweiten Raum. Nona war genau genommen eine entfernte Verwandte von ihm. Auf jeden Fall stammten ihre Vorfahren aus demselben Dorf wie seine. Als Marcus Septimius die strahlenden Augen seines Schreibers sah, als dieser ihm Nona als seine Braut vorstellt, konnte er nicht umhin, einen seiner Klienten, wobei er einen redegewandten aussuchte, mit einem großzügigen Geschenk in das Haus des Dominus der Nona zu schicken und um dessen Zustimmung zu der Heirat zu bitten. Durchaus erfolgreich, denn wer schlug schon einem Mitglied der Kurie eine Bitte ab, wenn sie mit so überzeugenden Argumenten wie einem fein ziselierten Silbertablett vorgetragen wurde. Also zog Nona ins Haus des Marcus Septimius und gebar in den nächsten Jahren drei Kinder, deren Haut genauso dunkel war wie die ihrer Eltern.

„Und wie ist seine Frau? Gefällt sie Dir?“, fragte Nona mit leicht spöttelndem Unterton.

„Sie ist eine Römerin und sieht aus wie eine Römerin. Obwohl – man könnte meinen, sie stamme weiter aus dem Norden. Helle Haare, blasse Haut. Auf jeden Fall wird die Haut hier in der Sonne bald dunkler werden. Wenn auch nicht so schön dunkel wie deine.“ Nartzalus schloss seine nicht gerade vielsagende Beschreibung ab und gab seiner Frau einen zweiten Kuss in den Nacken.

„Du scheinst mir irgendwie nicht ausgelastet zu sein, mein Lieber“, antwortete Nona und entzog sich seiner Umarmung. „Gibt es nicht mehr über sie zu sagen?“

„Mehr weiß ich nicht. Du wirst sie doch bald selbst sehen.“ Nartzalus nahm einen der Teigfladen und riss kleine Stücke davon ab, die er sich nachdenklich in den Mund schob. „Wie wird es jetzt wohl hier im Haus werden? Ob er mich als Schreiber behält? Ob es wieder so rauschende Feste geben wird wie damals zu seinem zwanzigsten Geburtstag? Ob er mich wieder mitnimmt zu den Vorstellungen im Theater?“

„Ich finde, da gehörst du gar nicht hin, mein Lieber! Obszöne Reden und halb nackte Frauen, das scheint euch Männern Spaß zu machen. Warum geht ihr sonst ins Theater.“

„Kultur, Bildung, was sonst?“

„Die Zeiten sind doch wohl schon eine Weile vorbei, als das Theater etwas mit Kultur zu tun hatte. Männer in Frauenkleidern, das findet ihr lustig. Und wenn die Damen vom horizontalen Gewerbe auf der Bühne ihre Dienste anpreisen, dann macht euch das wohl an. Ein Schauspiel, bei dem nicht zumindest der nackte Oberkörper einer Frau zu sehen ist, das wird doch ausgebuht.“

„Es gibt ja auch das Amphitheater!“

„Ja, Tiere, die abgemetzelt werden, Gladiatoren, die sich gegenseitig umbringen. Wenn der Sand nicht rot vom Blut ist, dann kann der Spender der Spiele seine politische Karriere vergessen. Blut und Tod wollen die Leute sehen. Ich finde das schrecklich.“

„Ja, du zartbesaitete Frau. Anderen Frauen scheint das zu gefallen.“

„Und vielen Männern gefällt es nicht. Klugen Männern!“

Nartzalus hatte verstanden. An diesem Punkt waren sie schon oft aneinandergeraten. Er hat es immer irgendwie reizvoll gefunden, mit der Masse in den Theatern zu johlen. Sie hielt sich da grundsätzlich zurück.

Tertullian muss in seiner Jugend sehr lebenslustig gewesen sein, auch wenn man später davon nichts mehr merkte. Er war für seine Freunde ein Vorbild – redegewandt, witzig, immer bereit, einmal über die Stränge zu schlagen. Manchmal war er nahezu verschwenderisch. Was er sich leisten konnte, war doch sein Vater einer der reichsten Männer Karthagos. Der sah es nicht immer gerne, wenn sein Sohn sich mit seinen Freunden in Karthago und an den Stränden des Mittelmeeres herumtrieb. Aber Tertullian war ein guter Schüler, besser als alle seine Freunde, und also ließ ihn sein Vater gewähren und hoffte, dass sich sein Temperament mit den Jahren beruhigen würde. Aber vermutlich hätte er nie gedacht, dass Tertullian so verändert aus Rom zurückkäme. Auch seine Freunde waren überrascht. Besonders Marcus Vibius, der ihn immer bewundert hatte.

3 Besuch des Marcus Vibius

Die Stunde der Morgendämmerung des nächsten Tages hatte Tertullian im Arbeitszimmer seines Vaters verbracht. Marcus Septimius Asper war ein Mensch von großer Disziplin gewesen, dessen Geschäfte immer geordnet waren. Tertullian hatte als Kind und junger Mann dieses Zimmer jedes Mal mit einer gewissen Ehrfurcht betreten. Die Regale voller Rollen und Kodizes12 waren stets wohl geordnet, auf dem Tisch lag nur das Notwendigste, der Platz für den Schreiber aufgeräumt, die Truhe mit den Münzen verschlossen. Die Krankheit seines Vaters musste sich schon einige Zeit angekündigt haben. Tertullian fand den Raum nicht in der gewohnten Ordnung vor. Hinzu kam der Stapel von Briefen, die Nartzalus auf der Truhe nach einem nicht auf den ersten Blick ersichtlichen System abgelegt hatte. Es wartete viel Arbeit auf ihn.

Tertullian hatte eine erste Durchsicht der Briefe vorgenommen, als Nartzalus die Ankunft des Marcus Vibius ankündigte. Der Mann, der im Atrium wartetet, war ungefähr im selben Alter wie Tertullian, aber ein deutliches Stück kleiner. Er war mit einer reich verzierten Toga bekleidet, hinter ihm warteten in gehörigem Abstand zwei Sklaven, der eine mit einem Stock, offenbar zu seinem Schutz, der andere trug einen Gegenstand, den Tertullian auf Anhieb nicht erkennen konnte.

„Sei mir willkommen“, begrüßte er seinen Gast. „Es freut mich, dass du als erster meiner alten Freunde gekommen bist, um mich zu begrüßen. Es ist mir eine Ehre, Marcus.“

„Es ist mir eine Ehre, Tertullian“, antwortete Marcus mit einer angedeuteten Verbeugung, „dich, den Freund meiner Jugend und den Sohn des in unserer Stadt hochgeschätzten Marcus Septimius Asper begrüßen zu können.“

„Genug der Höflichkeiten, komm herein, nimm Platz. Lass uns den Tag mit einem gemeinsamen Essen beginnen.“ Tertullian zeigte auf einen Nebenraum des Speisesaales.

„Zuvor will ich dir dieses Begrüßungsgeschenk übergeben, lieber Tertullian. Ich bin so froh, dass du wieder unter uns bist.“

Der Sklave trat näher. Marcus nahm ihm das Geschenk aus den Händen und überreichte es Tertullian. Es war ein goldener Trinkbecher, schöner und wertvoller als alles, was sich im Haushalt Tertullians fand.

„Marcus, das ist ein Geschenk von einer Großzügigkeit, der ich nichts entgegenzusetzen habe“, sagte er, nachdem er den Becher von allen Seiten betrachtet hatte.

„Dieses Geschenk ist Ausdruck meiner Wiedersehensfreude, nicht meiner Erwartungen“, gab Marcus etwas zu schnell zurück. „Ein Zeichen der alten Verbundenheit unserer Familien.“

Tertullian ging nicht darauf ein. Er übergab den Becher Nartzalus und bat Marcus noch einmal an den Esstisch. Als die beiden saßen, nahm er das Gespräch wieder auf. „Marcus, ich habe von dir nichts mehr gehört, seit ich damals nach Rom gegangen bin. Umso erfreuter bin ich, dass du mich heute als Erster besuchst. Erzähle, was hat sich hier alles zugetragen? Wie geht es den anderen von unseren Freunden? Wie geht es dir?“

„Mir geht es sehr gut. Ich bin ein reicher Mann und habe große Pläne.“

„Das freut mich. Wie hast du das geschafft? Und was sind deine Pläne?“

„Nun, die Geschäfte laufen gut in Karthago, unsere Provinz blüht auf. Wir haben Ägypten an Bedeutung abgehängt. Über uns steht nur noch Rom. Jetzt haben wir auch noch einen afrikanischen Kaiser, wir haben es geschafft.“

„Das lass besser niemanden in Rom hören, kann ich dir sagen", warf Tertullian lächelnd ein. „Dort schaut man mit sehr kritischem Blick in den Süden. Es ist immer besser, die Römer in der Gewissheit zu lassen, man sei ihr treuer Diener, wenn man nicht die Senatoren misstrauisch machen will.“

„Du musst es ja wissen. Nach fast dreizehn Jahren im Zentrum der Macht müsstest du eigentlich selbst fast ein Römer geworden sein.“ Marcus zögerte ein wenig. „Allerdings von deinem Aussehen her bist du alles andere als ein Römer. Dieses altertümliche Gewand. Da sehe ich in meiner Toga ja römischer aus als du.“

„Wenn ich es richtig beurteilen kann, trägst du die neuste Mode, Marcus. Du würdest damit sogar auf dem Forum in Rom neidvolle Blicke ernten.“

„Man tut, was man kann, und möglichst noch mehr. Karthago ist eine Stadt der Eitelkeiten, das hat schon der Dichter Apuleius bemerkt. Wer es zu etwas bringen will, der muss einen auffallenden Lebensstil vorweisen. Die Toga nach der neusten Mode ist nur ein Teil davon.“ Es war eine leichte Unsicherheit in Marcus Blick, als er fortfuhr. „Und ich will es zu etwas bringen.“ Er zögerte. „Dabei hoffe ich auf deine Hilfe, Tertullian, mein alter Freund.“

Tertullian antwortete nicht.

„Ich will in die Kurie“, platzte es aus Marcus heraus. „Das nötige Geld habe ich schon lange zusammen. Ich habe ein Recht darauf, zu den Hundert zu gehören.“ Einen Moment hielt er inne.

„Und du kannst mir dabei helfen, Tertullian.“

„Wie stellst du dir das vor?“, fragte Tertullian vorsichtig.

„Dein Vater war Dekurio. Eure Familie gehört zum Stand der Equester. Alle Ritter kommen in die Kurie, wenn sie wollen. Sie werden dich bald bitten, die Nachfolge deines Vaters anzutreten. Wenn du dann Mitglied bist, dann kannst du mich auf den nächsten frei werdenden Platz nachholen. Das wird ein leichtes Spiel.“

Tertullian konnte Marcus nicht sagen, dass er auf keinen Fall die Nachfolge seines Vaters antreten werde. Sein alter Freund widerte ihn mit seinem unerträglichen Ehrgeiz an – und zugleich tat er ihm leid. Nicht die alte Verbundenheit aus der Jugend hatte ihn zu ihm geführt, sondern die Hoffnung auf den nächsten Karriereschritt, das Verlangen des Neureichen nach der Aufnahme in die Gesellschaft des Adels, der Traum von der Kurie und vielleicht vom Ritterstand. Reichtum macht nicht glücklich, wenn man nicht mitspielen darf in der besseren Gesellschaft. Wie hohl war dieses Imperium, das den Menschen nicht mehr bot, als die Hoffnung auf Besitz und Anerkennung, und das mit der Gier der Menschen spielte. Er wollte das alles aussprechen, aber er riss sich zusammen.

„Reden wir später noch einmal darüber, mein lieber Marcus“, sagte er beschwichtigend und wechselte das Thema. „Was macht deine Familie? Wie geht es deinen Eltern? Du hast doch sicher eine Frau und Kinder, oder?“

„Salvia hat mir drei Kinder geboren, eine Tochter und zwei Söhne.“

„Salvia? Welche Salvia?“

„Du kennst sie aus unserer Jugend. Von den Festen im Haus des Lucius Flavius. Von den Ferien auf dem Landgut des Quintus Calpurnius, von unseren gemeinsamen Besuchen im Theater und der Arena. Du wirst dich doch an sie erinnern, Freund Tertullian.“

Er erinnerte sich. Nicht nur an die Feste und Theaterbesuche. Auch an die Abende am Strand mit Salvia, an die gemeinsame Fahrt nach Utica, an viele schöne Stunden. „Du hast recht, Marcus. Selbstverständlich erinnere ich mich. Diese Salvia also“, sagte er irritiert. „Grüße sie von mir“, fuhr er ein wenig abwesend fort. „Und grüße deine Kinder von mir!“

„Du kannst sie gerne einmal kennenlernen. Perpetua ist zwölf Jahre alt und so schön wie ihre Mutter. Ihre Brüder sind zwei und drei Jahre jünger. Komme einmal zu uns und bringe deine Frau mit. Du hast in Rom geheiratet, erzählt man sich.“

„Ich habe Donata in Rom kennengelernt und geheiratet. Kinder aber haben wir leider keine.“ Tertullian hielt einen Moment inne. „Wir kommen gerne einmal zu euch. Wo wohnst Du jetzt.“