Teufels Tag - Andrew Michael Hurley - E-Book

Teufels Tag E-Book

Andrew Michael Hurley

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Beschreibung

"Eine beeindruckend ungemütliche Lektüre." Times Literary Supplement Viel hat sich nicht verändert, seit John das kleine Tal in den englischen Endlands verlassen hat, um als Lehrer in der Stadt zu leben. Noch immer werden jeden Herbst die Schafe aus dem Moorland zusammengetrieben und noch immer begeht man den Devil's Day. Für die Kinder sind die Rituale und Feierlichkeiten ein großer Spaß, die Älteren wissen noch, was im Jahre 1913 passiert ist, als man den Teufel einmal nicht davongejagt hat. Erst kam ein Blizzard, dann fuhr der Teufel in Mensch und Tier, ließ die Alten an blutigem Husten ersticken und Jüngere erfrieren. Zuletzt war Johns Großvater für die Einhaltung der Bräuche zuständig, doch jetzt ist er tot. Als John mit seiner schwangeren Ehefrau zur Beerdigung anreist, steht der Devil's Day kurz bevor und merkwürdige Vorfälle häufen sich.   "Der neue Meister des Bedrohlichen. Dieser gruselige Nachfolger von Loney unterstreicht, dass sein Autor jemand ist, den man auf dem Schirm haben sollte." Sunday Times "Ein großartig geschriebener Roman, der den Leser rätselnd und verstört zurücklässt. Spannend!" Metro "Hurleys meisterlicher zweiter Roman bestätigt nachdrücklich die Verheißung seines preisgekrönten Debüts." Mail on Sunday "Hurley ist ein hervorragender Erzähler. Er führt dich ins Moor, ins Auge eines Schneesturms, dabei kleine Andeutungen hinterlassend, unheimliche Hinweise auf Teufeleien und dämonische Besessenheit. Dann wechselt er die Richtung, wühlt in den Spuren im Schnee, schnellt dir neue Schurkereien entgegen und lässt dich nachts in den Hügeln zurück." The Times "Die nebulöse Präsenz des Teufels ist so greifbar heraufbeschworen in diesem Roman, dass ich mich manchmal kaum getraut habe aufzusehen, aus Angst er könnte mich vom Stuhl neben mir aus angrinsen." Literary Review "Beunruhigend und atmosphärisch, die Schönheit dieses Romans liegt in seiner Trostlosigkeit." The Lady "Dieser makellos geschriebene Roman schließt sich wie eine feuchte Hand um Ihre Kehle." Daily Mail "Das ist eine Geschichte mit Sog. Das lebendige, sich steigernde Gefühl des Bösen ist eng verwoben mit den Annahmen darüber, wie die dargestellte Art zu leben ist, diese offenbar zeitlose Beziehung zwischen Landbewohnern und Moor." Guardian  "Er beschreibt auf wunderschöne Weise eine trostlose Landschaft und das Gefühl, dass etwas Teuflisches und Unerkennbares in den Mooren ist, zwischen den Hügeln und auf den Pfaden." Sunday Express "Der Nachfolger von Loney verbindet Mythen, Landschaft und Horrorelemente mit unheimlicher Wirkung." Financial Times "Hurley ist ein sehr guter Autor, mit Interessen, die ihn leicht abseits des Mainstreams positionieren, ein Abstand, der ihn extrem interessant macht." John Boyne, Irish Times  

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Teufels Tag

Der Autor

Andrew Michael Hurley, geboren 1975, lebt nach Stationen in Manchester und London in Lancashire, wo er Englische Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. 2016 wurde sein Roman Loney, ebenfalls im Ullstein Verlag lieferbar, mit dem Costa Award für das beste Debüt des Jahres ausgezeichnet.Yasemin Dinçer, geboren 1983 in Frankfurt am Main, studierte, lebt und arbeitet seit 2009 als freie Übersetzerin in Berlin. Sie übersetzte u. a. Bücher von Paula McLain, David Harvey und Andrea Busfield aus dem Englischen.

Das Buch

Viel hat sich nicht verändert, seit John das kleine Tal in den englischen Endlands verlassen hat, um als Lehrer in der Stadt zu leben. Noch immer werden jeden Herbst die Schafe aus dem Moor zusammengetrieben, und noch immer begeht man den Devil’s Day. Für die Kinder sind die Rituale und Feierlichkeiten ein großer Spaß, die Älteren wissen noch, was im Jahre 1913 passiert ist, als man den Teufel einmal nicht davongejagt hat. Erst kam ein Blizzard, dann fuhr der Teufel in Mensch und Tier, ließ die Alten an blutigem Husten ersticken und Jüngere erfrieren. Zuletzt war Johns Großvater für die Einhaltung der Bräuche zuständig, doch jetzt ist er tot. Als John mit seiner schwangeren Ehefrau zur Beerdigung anreist, steht der Devil’s Day kurz bevor und merkwürdige Vorfälle häufen sich.

»Der neue Meister des Bedrohlichen.«Sunday Times

Andrew Michael Hurley

Teufels Tag

Roman

Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer

Ullstein

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Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Devil’s Day bei John Murray, London.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

ISBN 978-3-8437-1863-9© Andrew Michael Hurley 2017Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung und Motiv: © Rudolf Linn, KölnAutorenfoto: © Johnny BeanE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Der Schneesturm

Briardale Moss

Die Endlands

Beerdigung

Das Moor

Devil’s Day

Der Abtrieb

Frühling

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Der Schneesturm

Widmung

Für Jo, Ben und Tom

Motto

Das Leben der Hirten lieferte das beste Beispiel für eine ehrliche Kameradschaft.

George Puttenham – Arte of the English Poesie

So schnell wie der Wind, und schon ist es geschehn,Der Teufel von mir will zu dir übergehn.Und erst wenn ich seh, ich bin wieder allein,Dann weiß ich, der Teufel und ich waren eins.

Ein alter Reim aus den Endlands

Briardale Moss

Nein, erzähl mir eine andere Geschichte, sagt Adam. Die kenne ich schon.

Alle Geschichten aus dem Tal beginnen unweigerlich mit dem Teufel, entgegne ich.

Aber es muss doch welche geben, die ich noch nicht gehört habe, beharrt er. Du kennst Hunderte davon.

In den letzten paar Jahren habe ich mir einen Ruf als Geschichtenerzähler erworben, genau wie der Gaffer, mein Großvater. Allerdings gibt es einige Geschichten, die Adam nicht würde hören wollen. Die ich besser für mich behalte.

Komm schon, bettelt er. Erzähl mir eine aus der Zeit, als du so alt warst wie ich.

Später, sage ich. Wir sind schließlich hergekommen, um Schnepfen zu schießen, oder etwa nicht?

Er nickt auf seine seltsame Weise und streichelt Jenny mit einer Hand über den Rücken, während er mit der anderen meine Hand fest umklammert.

Du musst loslassen, Adam, ermahne ich ihn. Sonst können wir gar nichts tun.

Er lockert seinen Griff, bleibt jedoch dicht an meiner Seite, in Riechweite, und neigt den Kopf so, dass er das Schwappen des Sumpfwassers hören kann.

Es ist ein kalter Frühlingsabend, und der letzte Rest Tageslicht verschwindet langsam aus dem Moss, gleitet aus dem Tal hinauf auf die Hochmoore, weicht westwärts zurück in Richtung Meer. Die Abenddämmerung hat den Bergrücken bereits die Farbe genommen und das Geräusch des Wassers in Fiendsdale Clough anschwellen lassen. Irgendwo in der Dunkelheit strömt der Fluss gegen die Ufer, die er während der Stürme Anfang des letzten Monats geschaffen hat, und schlängelt sich bis hinein in die schwarze Masse von Sullom Wood. Die Luft fühlt sich an wie gehäutet. Aber Adam ist ein guter Junge und hat kein Wort darüber verloren. Wie alle Jungs in seinem Alter ist er stolz auf seine Tapferkeit. Etwas durchstehen zu können, ohne Tränen zu vergießen, ist eine Auszeichnung, die alle Söhne vor ihren Vätern tragen wollen. Aber ich weiß, dass er mich um Geschichten bittet, weil er abgelenkt werden möchte. Ich weiß, dass er sein Bestes gibt, seine Angst davor, so nah am Wasser zu sein, nicht zu zeigen.

Erinnerst du dich noch daran, was du zu tun hast?, frage ich, während ich erst eine, dann eine weitere Patrone in die Browning stecke, die Dadda mir vererbt hat. Die Doppelflinte mit dem Walnussschaft.

Jetzt?, fragt Adam.

Ich sage dir, wann.

Noch ein paar Jahre, dann hätte ich ihm beibringen sollen, wie man im Moss schießt. Ich selbst habe mit zwölf geschossen. Waldschnepfen und Tauben und Fasane. Sachen, die wir essen konnten. Adam wird natürlich niemals ein Gewehr abfeuern, aber das heißt nicht, dass er sich nicht nützlich machen kann. Er kann immer noch die Vögel aus ihren Verstecken aufscheuchen, er kann mein Treiber sein.

Mit dem Kolben an der Schulter vergrößere ich den Abstand zwischen uns, und als er meine Stimme weiter entfernt hört als erwartet, weiter entfernt, als ihm lieb ist, sagt er: Daddy, und streckt seine Hand nach mir aus.

Ich bin immer noch da, beruhige ich ihn. Dir passiert nichts. Du befindest dich noch nicht einmal in der Nähe des Wassers. Tu, was ich dir gesagt habe. Na los.

Er hält sein Gesicht noch einen Augenblick in meine Richtung gewandt und beginnt dann, in die Hände zu klatschen.

Eine Laune der Akustik lässt das Geräusch klingen, als käme es von den Bergrücken, sodass es uns die Vögel aus dem Unterholz entgegentreibt. Diesen Trick hat mir Dadda beigebracht, dem er vom Gaffer überliefert wurde, der ihn wiederum von seinem alten Herrn gelernt hat, und dieser von seinem, und so weiter, immer weiter zurück. Um ehrlich zu sein, würde es mich nicht überraschen, wenn schon seit Jahrhunderten Väter und Söhne hierherkämen, um sich in der Dämmerung zu verstecken und aus dem Schlagen der Flügel ihr Abendessen herauszuschießen.

Lauter, fordere ich, Adam nickt, und sogleich lässt das Echo die Krickenten und Austernfischer aus dem seichten Gewässer aufsteigen und klagend über unsere Köpfe eilen. Ein Reiher klettert gemächlich empor, dann platzen die Schnepfen aus den Binsen und schlängeln sich tief über dem Sumpfland, wobei ihr Spiegelbild im Wasser zu kleinen braunen Sensen verzerrt wird. Ich richte die Gewehrläufe etwas vor sie, verliere eine, die mit den sich verdunkelnden Schatten verschmilzt, und hole die andere mit dem zweiten Schuss herunter, als sie sich vor dem Weiß der Ebereschen in der Nähe des Tores zu erkennen gibt. Adams Schultern zucken beim Knall des Gewehrs, und die Schnepfe schreckt mitten im Flug auf und fällt in hohem Bogen irgendwo auf das Feld, das wir in diesem Jahr haben brach liegen lassen.

Halt sie fest, weise ich ihn an, und er packt Jenny fester am Halsband, ehe sie davonjagen kann, um den Vogel aufzusammeln. Sie muss sich ihre schlechtesten Instinkte abtrainieren.

Lass sie Sitz machen, Adam, sage ich, klappe das Gewehr auf und schüttele die leeren Patronenhülsen heraus. Sie muss wissen, wer das Sagen hat.

Er fährt ihr mit der Hand über den Rücken und drückt ihr das Hinterteil nach unten. Mit einem Mal wird es noch dunkler, und ein stärkerer Windstoß biegt das Schilfrohr. Das Moss kräuselt sich. Jenny blinzelt und wartet.

Jetzt schick sie los, sage ich, und Adam macht das Geräusch, das ich ihm beigebracht habe, ein lautes Zungenschnalzen, und lässt Jenny laufen. Sie prescht davon, windet sich unter dem Weidentor hindurch, ganz berauscht von dem Geruch, und bringt den Vogel völlig zerfetzt zurück.

Adam kann sie hören und riechen, und sie presst ihre Stirn in seine Handfläche.

Lass los, befiehlt er ihr und berührt den Vogel in ihrem Maul. Als sie nicht gehorcht, versucht er, ihr die Finger zwischen die Zähne zu schieben.

Nein, sage ich. Auf die Nase.

Er drückt ihr eine Hand gegen die Wange und versetzt ihr mit der anderen einen zögerlichen Klaps, der sie jedoch nur knurren lässt.

Härter, sage ich. Sonst wird sie es nie lernen.

Ein kräftiger Schlag auf die Schnauze, und sie tut, was man ihr sagt. Beim nächsten Mal wird sie sich an den Schmerz erinnern. Sie wird ihn schon erwarten, wenn Adam nur die Hand erhebt, und das Maul öffnen, sobald er es ihr befiehlt. Sie ist ein schlaues Mädchen. Alles in allem sanft und gutmütig. Eher aus Enthusiasmus als aus Boshaftigkeit hat sie die Schnepfe geköpft.

Lass sie für die Dohlen zurück, Adam, sage ich. Wir haben genug.

Hand in Hand und bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt folgen wir langsam dem Weg zurück zum Bauernhof, während Jenny vorausrennt, wartet, weiterrennt, hin- und hergerissen zwischen ihrem Gehorsam mir gegenüber und ihrem Bedürfnis, die Grenzen ihres Territoriums zu erschnüffeln. Adam trägt Daddas alte lederne Jagdtasche über der Schulter und kann es sich nicht verkneifen, seine Finger hineinzustecken und die Stockenten zu berühren, die ich zuvor geschossen habe. An ihren Federn klebt noch immer der Geruch ihres Blutes und der Geruch des Wassers. Wenn wir zurück auf dem Hof sind, werden wir die Kugeln herausholen und die Tiere über Nacht in die Spülküche hängen. Und dann habe ich Adam versprochen, ihm beizubringen, wie man sie ausweidet und für den Ofen vorbereitet.

Ist es jetzt dunkel?, fragt er. Es fühlt sich kälter an.

Fast, erwidere ich. Mam hat die Lichter angezündet.

Sind schon Sterne zu sehen?, möchte er wissen.

Ein paar, antworte ich. Orion. Der Große Wagen.

Er kennt ihre Umrisse. Ich habe seine Hand gehalten und sie mit seinem Finger nachgezogen.

Ist der Mond rund oder schmal?, fragt er.

Rund, sage ich. Vollkommen rund.

Ein aufgedunsenes, erstauntes Gesicht, wie das eines Toten unter Wasser.

Wo ist er?, hakt er nach.

Hinter uns, erkläre ich. Er steigt über den Drei Schwestern auf. Er verlängert unsere Schatten.

An einem anderen Abend hätte er noch ein Dutzend weitere Fragen gestellt, aber er ist müde, und jeder seiner Schritte über den Kies ist ungelenk, und zwar mit Absicht. Er würde es nicht zugeben, aber er möchte, dass ich ihn trage. Zumindest, bis wir den Asphalt erreicht haben.

Hier, sage ich, und drücke ihm das Gewehr in die Hand, um ihn abzulenken.

Er hängt es sich aufgeklappt über den Arm, obwohl es für ihn so schwer ist wie ein Paar Bleirohre, dreht das Gesicht meiner Stimme zu und grinst. Trotz allem hegt er keinen Zweifel daran, dass dies alles ist, was er sich wünscht. Im Augenblick seiner Geburt gehörte der Hof bereits ihm, genau wie er mir gehörte, als meine Mam mich auf die Welt brachte. Er spürt seine Großväter hinter sich und stellt sich seine Söhne vor, die vor ihm gehen. In seinem Alter ging es mir ganz genauso. Aber danach bin ich vom Weg abgekommen.

Dann erzähl mir eine Geschichte, sagt er. Erzähl mir eine über den Gaffer, nicht über den Teufel. Wir haben noch Zeit für eine, nicht wahr?

Das Problem dabei ist, dass in den Endlands eine Geschichte das Erzählen einer weiteren erfordert, und dann noch einer, und in jeder von ihnen spielt der Teufel seine Rolle.

Die Endlands

Ich hatte immer gewusst, dass der Tod des Gaffers plötzlich kommen würde, wie wenn eine Glühbirne durchbrennt und das Glas schwärzt. Dennoch war ich, als Dadda eines Abends anrief, um mir die Nachricht zu übermitteln, unwillkürlich schockiert darüber, dass er fort war. Schockiert und gefühlt auf einmal sehr weit entfernt von unserem Hof.

Damals lebte ich in Suffolk, war frisch verheiratet und unterrichtete an einer Jungenschule am Rande der Fens. Es war schwierig, öfter als zwei-, dreimal im Jahr zurück in die Endlands zu fahren, also packte ich meist dann mit an, wenn ein weiterer Helfer gerade am dringendsten benötigt wurde: beim Lammen zu Ostern, oder zur Ernte im Sommer, oder in der Herbstzeit, wenn die Schafe von den Hochmooren heruntergetrieben wurden. Als Dadda ein paar Tage vor den Oktoberferien anrief, waren Kat und ich tatsächlich gerade beim Packen gewesen, um hinaufzufahren und beim Abtrieb zu helfen. Und das würden wir natürlich immer noch tun, nur würde zuerst eine Beerdigung stattfinden.

So unglücklich die Umstände auch waren, freute Kat sich darauf, den Ort zu sehen, an dem ich aufgewachsen war. Da es dem Kindergarten in den Ferien stets an Personal mangelte, hatte sie mich noch nie zuvor in die Endlands begleiten können und die anderen Bauernfamilien, die Dyers und die Beasleys, erst einmal getroffen, am Tag unserer Hochzeit in jenem Juni. Wenn ich es recht bedenke, kannte sie Dadda damals auch noch nicht besonders gut. Nach unserer Verlobung waren wir ein paarmal hoch nach Derbyshire gefahren, um uns mit ihm zu treffen, wenn er gerade dort war, um ein paar Schafe zu verkaufen, aber es hatte sich immer nur um eine schnelle Tasse Tee und ein Sandwich zwischen den Auktionen gehandelt, und er und Kat waren nicht über Small Talk über den Hof oder über ihre Eltern hinausgekommen.

Er hatte sich zwar nicht dazu geäußert, aber er schien sie recht gernzuhaben. Nicht dass ich seinen Segen erbeten oder benötigt hätte. Nun, da ich die Endlands verlassen hatte, war die Wahl meiner Ehefrau für den Hof nicht mehr von Belang. Doch zumindest hatte er sich die Mühe gemacht, sie kennenzulernen.

Der Gaffer war natürlich nie mitgekommen, und Kat bekam ihn zum ersten Mal im Standesamt zu Gesicht. Doch als ich ihr erzählte, dass er gestorben sei, war sie so bestürzt wie jeder im Tal und fragte mich während der gesamten Zugfahrt nach ihm aus, voller Enttäuschung darüber, ihn nun niemals besser kennenlernen zu können.

»Tut mir leid, wenn ich dich bombardiert habe«, sagte sie, als wir bei der letzten Station mit einem dumpfen Geräusch zum Stehen kamen. »Ich bin einfach bloß neugierig.«

»Na ja, mach das nur nicht mit Dadda«, warnte ich sie. »Er wird nicht über ihn reden wollen. Er wird einfach nur ganz normal weitermachen wollen.«

»Ich weiß«, meinte Kat. »Ich habe das schon einmal durchgemacht.«

»Das hier ist etwas anderes«, entgegnete ich.

»Verleugnung ist nichts Ungewöhnliches, John«, beharrte sie, als wir auf den Bahnsteig hinaustraten. »Die kleine Emma Carter hat mindestens sechs Monate lang über ihren Vater gesprochen, als wäre er noch am Leben.«

Etwa ein Jahr zuvor war der Vater eines der Kinder in ihrem Kindergarten gestorben, und Kat hatte alles getan, um der Familie zu helfen, mit dem Verlust zurechtzukommen. Sie hatte sie bei der Organisation der Beerdigung unterstützt und für Mrs Carter Briefe an die Versicherung und die Bank geschrieben, doch vor allem hatte sie sich um die Arbeiten im Haushalt gekümmert, die in Trauerzeiten oft vernachlässigt wurden. Sie sorgte dafür, dass das Haus sauber war und dass alle gut aßen, sie brachte den Müll raus und fütterte die Katzen.

Sie hatte die Carters auf unsere Hochzeit eingeladen, diese waren aber anscheinend noch nicht ganz bereit gewesen für große gesellige Zusammenkünfte und hatten stattdessen eine Karte geschickt. Ein handgemachtes Ding, für dessen Zustellung der Briefträger klopfen musste. Ich war als Strichmännchen mit Zylinder gezeichnet worden, Kat hatte Flügel und einen Heiligenschein.

Im Vorfeld der Hochzeit war Kat jeden Tag mit zwei, drei neuen Kreationen nach Hause gekommen, die die Kinder ihr mitgebracht und deren Pfeifenreiniger und Glitzer und Voile-Streifen sich unterwegs gelöst hatten. Sie zeigten alle mehr oder weniger dasselbe – eine Kirche, Konfetti und eine große gelbe Sonne –, auf einem jedoch sah man ein kleines Mädchen weinen, während Kat und ich Händchen hielten.

»Was ist denn mit ihr los?«, fragte ich.

»Oh Gott, das ist Olivia Brown«, sagte Kat und blickte vom Zwiebelschneiden auf. »Ich musste mich heute Morgen eine halbe Stunde lang bemühen, ihr zu versichern, dass du mich nicht von hier fortbringen wirst.«

Insbesondere Mädchen wurden bei ihr wahnsinnig besitzergreifend, nachdem sie zuerst von ihrem hübschen Aussehen angezogen wurden, dann von ihrer schwesterlichen Zuneigung. Auf Kats Knie setzten sie sich, um zu weinen, in ihren Ärmel schnäuzten sie sich, ihr Haar flochten sie mit ihren marmeladeverklebten Fingern, an ihre Hände klammerten sie sich, wenn es Zeit war, nach Hause zu gehen.

Kinder rückten Kat rasch und intuitiv in den Mittelpunkt ihres Lebens, und auch wenn sie viel älter war als jene, um die Kat sich im Kindergarten kümmerte, hatte Grace Dyer bei unserer Hochzeitsfeier dasselbe getan. Sie war Liz’ und Jeffs einziges Kind, zu jener Zeit tatsächlich das einzige Kind in den Endlands, und hängte sich im Nu an jeden, der ihr auch nur ein winziges bisschen Aufmerksamkeit schenkte. Den ganzen Abend über war sie Kat wie ein Schatten gefolgt. Sie hatten miteinander getanzt, die Luftballons hochgekickt, mit zwei Strohhalmen in einer Limonade dagesessen und einander ins Ohr geschrien, wenn die Musik zu laut war. Und als Kat genug von ihren Schuhen hatte und stattdessen auf verführerische Weise barfuß ging, durfte Grace sie für den Rest des Abends tragen, bis wir zum Hotel in der Nähe des Flughafens aufbrachen. Als sich alle vor dem »King’s Head« auf der Straße versammelten, um uns zu verabschieden, war Grace diejenige, die am längsten winkte, während das Taxi davonfuhr.

»Ich hoffe, sie ist nicht zu enttäuscht«, sagte Kat. »Ich habe versucht, es ihr behutsam klarzumachen.«

»Was denn?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, weshalb«, erwiderte Kat, »aber das arme Ding schien zu glauben, wir würden nun, da wir verheiratet sind, auf den Hof deines Vaters ziehen.«

»Was hast du zu ihr gesagt?«, wollte ich wissen.

»Dass wir sie besuchen kommen, sobald wir können«, meinte Kat. »Was sollte ich denn sonst sagen?«

»Du weißt aber schon, dass sie dich beim Wort nehmen wird.«

»Das macht mir nichts aus«, behauptete Kat. »Sie ist einsam.«

»Wie ich höre, macht sie es sich selbst nicht unbedingt leicht«, gab ich zu bedenken. »Sie ist nicht gut darin, dauerhafte Freundschaften aufzubauen.«

»Wie sie mir erzählt hat, wird sie in der Schule gehänselt«, erwiderte Kat.

»Sie weiß sich anscheinend zu wehren.«

»Sei nicht gemein, John. Dir ist doch dasselbe geschehen«, sagte sie. »Du weißt, wie schrecklich so etwas sein kann.«

Sie blickte aus dem Rückfenster und zupfte mit dem Daumen an den Zacken des Plastikkamms, den Grace ihr gegeben hatte. Es war ein Geschenk, das in den Endlands alle frisch verheirateten Frauen bekamen. Wenn Kat ihr Haar in der Hochzeitsnacht frei von Knoten halten konnte, würde sie noch vor dem Herbstmond schwanger sein.

»Ich dachte, wir wollten noch eine Weile warten?«, bemerkte ich und wies mit dem Kinn auf ihre Hand.

»Ich glaube nicht, dass Grace das zulassen wird«, erwiderte Kat schmunzelnd. »Sie will unbedingt, dass ich ein Baby bekomme.«

»Nur, damit sie etwas zum Spielen hat, wenn wir sie besuchen.«

Kat winkte ein letztes Mal, als das Taxi um eine Kurve fuhr. »Na ja, wieso auch nicht? Sie ist ein Schätzchen«, stellte sie fest. »Ich werde sie vermissen.«

Und das hatte sie.

Sie hatte Grace eine Postkarte aus Spanien geschickt und auf der langen, schweißtreibenden Busfahrt nach Granada entschieden, dass sie ihr bei ihrer nächsten Begegnung das Medaillon schenken würde, das sie an unserem Hochzeitstag getragen hatte – »etwas Altes«, das ihr ihre Mutter überreicht hatte, ehe sie sich im Standesamt auf ihren Platz setzte.

Doch nun brachte sie ein noch viel besseres Geschenk mit in die Endlands, und sie freute sich ganz besonders darauf, Grace die Neuigkeiten mitzuteilen.

Kats Eltern waren natürlich außer sich vor Freude gewesen, vor allem Barbara, aber ich hatte sie gewarnt, nicht zu erwarten, dass Dadda auf dieselbe Weise reagieren würde. Er würde keine Namen vorschlagen oder Pläne schmieden, das Gästezimmer mit Dschungeltieren zu bemalen.

Hier an der Endstation hingen die Wolken niedrig über den Hügeln, die hinter den Geschäften und Häuserreihen aufragten, und ein kalter Wind fuhr durch die Straße. Clitheroe war vom Tal aus die nächste Stadt, und im Sommer kamen Besucher hierher, um sich die Burg anzuschauen oder am Fluss entlangzuspazieren, doch in dieser Jahreszeit, zwischen dem Bimmeln des Eiswagens und der Weihnachtsbeleuchtung, lag eine Trostlosigkeit über dem Ort, vor der es kein Entkommen gab.

Kat saß mit ihrem kleinen Reisekoffer zwischen den Beinen auf einer Bank und hob die Zeitung auf, die neben ihr lag. Die Schlagzeile berichtete über zwei Kinder, die in einer Sozialwohnsiedlung in Burnley von Hunden angegriffen worden waren, das jüngere von ihnen erst ein Jahr alt. Auf dem Foto, das die erste Seite ausfüllte, hielt das kleine Mädchen ihren Bruder auf dem Knie, ihr Kinn auf seinem Kopf, während er mit einem Plastikdinosaurier spielte. Demzufolge, was ich entziffern konnte, schien die Polizei davon auszugehen, dass die Hunde absichtlich auf sie gehetzt worden waren.

Ohne etwas zu sagen, faltete Kat die Zeitung zusammen und legte sie dorthin zurück, wo sie sie gefunden hatte. Sie blickte die Straße hinunter und legte sich die Hand auf den Bauch. Nach und nach wurde es real.

Mit sechs Wochen war er – Kat wusste, dass es ein Junge werden würde – noch nicht größer als eine Erbse, hatte aber bereits so etwas wie Augen, eine Wirbelsäule, fleischige Knospen, aus denen Arme und Beine werden würden. In ein paar Monaten würde sie die ersten Bewegungen in sich spüren, und dann würde es nicht mehr lange dauern, ehe das Baby sich mit Fersen und Fäusten Geltung verschaffte.

Wir warteten, bis die Bahnhofsuhr die halbe Stunde überschritten hatte, und ich wollte gerade vorschlagen, um das Gebäude herum zur Bushaltestelle zu laufen und nachzusehen, ob es noch eine Verbindung hinaus ins Tal gab, als ich Daddas Land Rover die Straße heraufkommen hörte.

Ein kurzer Lichtstrahl, dann schwenkte er hinter eine Reihe von Taxen, während der Motor versuchte, unter der Haube hervorzuruckeln. Dadda besaß die Karre seit Jahren. Sie war älter als ich und pfiff aus dem letzten Loch, wie einer von jenen armen spanischen Packeseln, die Kat und ich gesehen hatten, wie sie übergewichtige Touristen hinauf zur Alhambra schleppten. Ein zersprungener Frontscheinwerfer wurde mit Tesafilm zusammengehalten, und die blaue Lackierung, die mich an Aktenschränke erinnerte, warf an den Rändern Blasen. Die Sparsamkeit hatte Dadda stets fest im Griff gehabt, und er mochte seinen Schrotthaufen zwar mit Ersatzteilen von Abbot’s zusammenflicken, würde ihn jedoch nicht ersetzen.

»Entschuldigt«, sagte er, als ich die Heckklappe öffnete. »Ich war bei Halewood’s. Du weißt ja, wie er ist. Man geht wegen einer Sache rein, und er versucht, einem zwei andre zu verkaufen. Ist genügend Platz?«

»Gerade so«, antwortete ich und quetschte meine Reisetasche und Kats Koffer zwischen die verbeulten Werkzeugkästen, allerlei Stiefel und Handschuhe, leere Futtersäcke, Ketten und Seile. Inmitten des Gerümpels saß wie immer der Mistgeruch, als wäre er ein zusätzlicher Passagier, und Kat tat, als würde sie ihn nicht bemerken, während sie sich neben mich hineinzwängte und die Tür beim dritten Versuch zubekam.

»Wie geht es dir, Tom?«, fragte sie und beugte sich über mich, um Dadda die Hand zu schütteln.

Sie kannte ihn besser, als sie behauptete, und wusste, dass eine Umarmung ihn in Verlegenheit gebracht hätte. In solchen Dingen war sie gut, Kat. Gut darin, Menschen zu durchschauen, zu wissen, wie man dafür sorgte, dass sie sich wohlfühlten.

»Bei mir ist alles in Ordnung, sobald es dem Bock besser geht«, antwortete er.

»Er ist also immer noch nicht gesund?«, hakte ich nach.

»Ich denke, er ist auf dem Weg der Besserung«, berichtete Dadda. »Aber es ist schwer zu sagen. Leith meint, ich solle ihn im Auge behalten.«

Und ich hatte keinen Zweifel, dass er genau das getan hatte, so wie ich Dadda kannte, wahrscheinlich einmal pro Stunde.

»Mum und Dad senden ihr Beileid«, sagte Kat. »Es tat ihnen so leid, das vom Gaffer zu hören. Er hat uns wirklich den Hochzeitstag gerettet.«

Allerdings erst, nachdem er ein paar Pints intus und aufgehört hatte zu schmollen. Dann war er nicht mehr zu stoppen gewesen. Noch um zwei Uhr morgens, als das Barpersonal bereits um die Gäste herum aufräumte, waren dank ihm alle am Singen gewesen. Er sei ein echtes Unikum, hatten die Leute gesagt. Jemand, den sie nicht so bald vergessen würden.

»Aye, na ja, die Menschen gehen halt, wenn’s an der Zeit ist«, erwiderte Dadda. »Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«

Er warf einen Blick in den Rückspiegel und lenkte den Wagen dann vom Bordstein weg, während Kat mich ansah. Er war genauso, wie wir beide es erwartet hatten, und ich war froh darüber. Wäre er weinerlich und redselig gewesen, hätte ich nicht gewusst, was ich tun sollte.

Wir überquerten den Ribble über die Edisford Bridge und fuhren auf der langen, geraden Straße in Richtung Tal. Der Herbst war hier bereits in vollem Gange, und auf der stoppeligen Erde der Heuwiesen, die darauf warteten, gepflügt zu werden, wimmelte es von Krähen. Ahorn und Buchen fielen bei jedem Windstoß ein wenig mehr auseinander. Stehendes Wasser kräuselte sich. Jedes Feld war zurückgestutzt worden auf den ersten entscheidenden Schritt der Bewirtschaftung, und die Furchen der alten Wölbäcker erstreckten sich bis zu den Hecken und Buschwäldern.

Dies war die Landschaft, in die meine Gedanken wanderten, wenn ich in Churchmeads hinten im Klassenzimmer stand und mich nach den Ferien sehnte. Vor dem Tod des Gaffers war ich bereits seit einer Weile rastlos gewesen. Ich war nicht gerade unglücklich mit dem, was ich tat, denn die Jungs waren insgesamt angenehm und lernten eifrig, aber ich erwischte mich nun öfter bei Gedanken an die Endlands, als ich es gewohnt war. Ich war von dort fortgegangen, als ich kaum älter war als meine Jungs im dreizehnten Schuljahr, und während ich sie auf dem Schulhof belauschte, wie sie mit ihren erfundenen Eroberungen von Mädchen aus der Queen Mary’s angaben, oder beobachtete, wie sie sich im Debattierclub Pickel ausdrückten, hatte sich bei mir das Gefühl eingeschlichen, diese Entscheidung getroffen zu haben, als ich noch überhaupt keine Ahnung vom Leben hatte. Wie jeder Jugendliche hatte ich es nicht erwarten können, dem Nest so schnell wie möglich zu entfliehen, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, dass ich dafür unter Umständen einen Preis würde zahlen müssen. Aber als junger Mann hat man gewisse Vorrechte, nicht wahr? Egoismus. Ignoranz. Kurzsichtigkeit.

Falls Kat jemals ein ähnliches Verlangen verspürt hatte, ihren eigenen Weg zu gehen, so hatte sie es besser unterdrückt als ich. Sie war in Suffolk fest verwurzelt, genauer gesagt in ihrem kleinen Winkel von Suffolk. Sie stammte zwar nicht ursprünglich von dort (sie war in Harrow geboren worden, wo ihr Vater Vertretungspfarrer in der Holy Trinity gewesen war), hatte aber in Dunwick gelebt, seit sie elf war, und betrachtete die Felder mit ihren Constable-Quellwolken als ihre Heimat. Ihr gefiel es, dass sie dort sehen könne, sagte sie. Es sei nicht gut für England, dass so viel davon eingezäunt war.

Die klare Sicht ließ sich an der Anzahl der Kirchen ermessen, die wir vom Schlafzimmerfenster aus benennen konnten. Bei Regen erkannten wir lediglich den Sitz des Reverends auf der anderen Seite des Dorfes, aber an guten Tagen konnte unser Blick bis zum Feuersteinturm von St Hubert’s schweifen, hinter dem der Horizont grau war, wo die ebene Erde ins ebene Meer überging.

Wenn die Sintflut käme, sagte ich, wären wir den Wellen ausgeliefert. Aber sie habe bereits Pläne geschmiedet, das Haus auf Pfählen zu erhöhen, erwiderte sie. Das werde nichts nutzen, entgegnete ich. Seit dem Schmelzen der Eisdecke, erklärte ich ihr, kippe das Land von einem Drehpunkt irgendwo in der Nähe von Derby aus, wobei der Norden ansteige und der Süden sinke. In zwanzig Jahren werde ich zur Arbeit rudern, sagte ich. Wir wandern lieber aus, solange wir noch können.

Ich nehme an, ihr war klar, dass die Scherze eine tiefer liegende Bedeutung verbargen, auch wenn sie mich niemals fragte, ob ich glücklich sei. Wahrscheinlich, weil sie wusste, wie die Antwort lauten würde.

Wann immer wir über das Tal sprachen, war es für Kat stets die Kulisse für einen Teil meines Lebens, der endgültig vorüber war. Etwas, das so eigentümlich und zauberhaft war wie die Vergangenheit. Ein Ort, an dem sie für alle Zeit eine Besucherin wäre, und glücklich darüber. Keiner, an dem sie sich vorstellte, jemals tatsächlich zu leben. Ich vertraute jedoch darauf, dass sie ihre Meinung ändern würde, wenn sie die Endlands das erste Mal mit eigenen Augen sah. Sie würde erkennen, dass die Gegend so kostbar war wie das Baby, das sie bei der nächsten Ernte im Arm halten würde.

Auf der ruhigen Landstraße gab Dadda Gas und klopfte mit seinem Ehering gegen das Lenkrad.

»Schau mal, ob du mein Feuerzeug findest, John«, sagte er, und als ich die alten Rechnungen und Einkaufstüten auf dem Armaturenbrett durchwühlte, stieß ich auf die Schachtel mit Hohlspitzgeschossen, die er bei Halewood’s gekauft hatte.

»Herrgott, Dadda«, rief ich. »Was willst du denn mit denen schießen?«

»Ich habe Hirsche auf dem Moor gesehen«, erklärte er.

»Hirsche?«, fragte ich. »Bist du sicher? Ich dachte, die wären längst fort.«

Ich hatte seit dem Sommer, in dem ich die Dorfschule verließ, keine Hirsche mehr gesehen.

»Was ist denn schlimm daran, Hirsche auf dem Moor zu haben?«, fragte Kat. »Das verstehe ich nicht.«

»Sie dürfen nicht mit den Schafen in Kontakt kommen, Liebes«, erklärte Dadda. »Sie übertragen Krankheiten. Ich habe schon ein krankes Tier. Ich brauche nicht noch mehr davon.«

»Und was machst du dann?«, wollte Kat wissen. »Sie davonjagen?«

Dadda nahm das Feuerzeug von mir entgegen, das ich unter einem alten Päckchen Eukalyptus-Hustenbonbons gefunden hatte.

»Ich fürchte, es muss ein bisschen was Dauerhafteres sein, meine Liebe«, erwiderte er.

»Du meinst, du tötest sie?«

»Aye«, bestätigte Dadda. »Unserer Erfahrung nach funktioniert das am besten.«

»Gehören sie denn niemandem?«, fragte Kat.

»Und wenn schon?«, gab Dadda zurück. »Verschwinden müssen sie trotzdem.«

Er schaltete und schlug sich dann beim Husten mit der Faust gegen das Brustbein. Also hatten sich seine Lungen wieder gemeldet. Der Husten kehrte jedes Jahr um diese Zeit zurück, wie die isländischen Gänse, die sich auf dem Briardale Moss versammelten.

»Mit diesem Husten gehst du aber nicht hinauf aufs Moor, oder?«, fragte ich.

»Das klingt wirklich übel, Tom«, pflichtete Kat bei.

»Ich hatte schon Schlimmeres und hab’s überlebt«, brummte Dadda.

»Trotzdem«, beharrte ich. »Du solltest lieber zum Arzt gehen. Du könntest doch sicher einen Termin morgen früh bekommen, vor der Beerdigung, oder nicht?«

»Ich habe zu viel zu tun«, wehrte er ab.

»Nun, vielleicht könnte John anrufen«, schlug Kat vor. »Er könnte den Arzt bitten, stattdessen zu dir zu kommen.«

Dadda warf ihr einen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Er mochte Ärzte nicht besonders. Hatte es nie getan. Der einzige Arzt, der in letzter Zeit einen Fuß auf den Hof gesetzt hatte, war jener gewesen, der den Gaffer für tot erklärt hatte.

»Mir geht’s gut«, versicherte er und zündete die Selbstgedrehte an, die hinter seinem Ohr gesteckt hatte.

Sein Haar und sein Gesicht hatten schon immer nach Tabak gerochen. Nach Tabak und Stroh und jener süßlichen Mischung aus feuchtem Ölzeug und Schweiß. Der Geruch war tief in ihn eingedrungen, und selbst wenn Dadda sich Hände und Gesicht mit dem Stück Karbolseife neben der Küchenspüle abschrubbte, dauerte es nicht lange, bis er wieder an seine Hautoberfläche stieg. Ich war stets überzeugt davon gewesen, dass ich ihn in einem überfüllten Raum innerhalb von einer Minute erschnuppert hätte.

Das Führerhaus füllte sich mit Rauch, und er hustete sich heiser, ehe er das Fenster herunterkurbelte. Er rauchte immer zu viel, aber um diese Jahreszeit schien er permanent eine Selbstgedrehte parat zu haben. Im Oktober begann der Fortpflanzungszyklus, und die Zukunft der Herde hing von so vielen Faktoren ab, die größtenteils außerhalb seiner Kontrolle lagen: Die Schafe mussten Frühling und Sommer überlebt haben, ohne im Sumpf zu versinken oder sich irgendwelche Krankheiten zuzuziehen, das Heu musste in der Scheune gereift sein, der Bock musste scharf und die Aue musste willig sein. Probleme, die er aus dem Weg schaffen konnte – wie etwa das Rotwild –, wurden so schnell wie möglich angepackt.

Er gab erneut ein bellendes Husten von sich, und Kat stieß mich an. Weitere Überredungsversuche, sich an einen Arzt zu wenden, hätten jedoch nichts bewirkt. Das Tal ließ friedfertige Menschen stur werden, so wie es alternde Menschen noch älter machte. Ganz besonders im Herbst.

Ich habe es selbst in diesen letzten paar Jahren am Devil’s Day und beim Abtrieb gemerkt. Adam lacht mich aus, wenn meine Schulter knackt, und nennt mich Opa. Ich mache mir Sorgen um die Knorpel. Ich lese die Etiketten auf den Tuben mit Salbe in der Hoffnung, dass sie ihre Versprechen einlösen. Es gibt Schmerzen und Leiden, die immer wieder zurückkehren, als wollten sie irgendetwas von mir. Beim Gaffer war es ganz genauso gewesen.

Als ich klein war, ließen Kälte und Feuchtigkeit seine Beine manchmal so steif werden, dass er im Bett bleiben musste und man mich mit heißem gesüßten Tee zu ihm hinaufschickte, den er mit einem Schluck Scotch aus der Flasche unter seinem Kopfkissen versetzte.

»Gib mal deine Hand, Johnny, mein Junge«, sagte er, als er sah, wie ich nach seiner Verletzung Ausschau hielt, und klemmte sich die Kippe in den Mundwinkel, während er sein Hemd aus der Hose zog.

»Fühl mal«, forderte er mich auf und drückte meine Finger gegen seine Hüfte. Wenn er das Bein bewegte, knirschten Gelenkkopf und -pfanne, als wäre Sand dazwischengeraten.

»Was ist da passiert?«, fragte ich.

»Ein Bock hat es gebrochen«, erklärte er mit im Mundwinkel wackelnder Kippe. »Der hatte einen Schädel wie eine verfluchte Abrissbirne. Einen Bock darfst du niemals aus den Augen lassen, Johnny, mein Junge.«

Der Gaffer hatte mehr abbekommen als irgendjemand sonst im Tal. Nicht notwendigerweise durch Leichtsinn, obgleich auch ein, zwei Narben die Resultate lautstarker Nächte im »Croppers’ Arms« waren, sondern weil er noch einer Generation angehörte, die mehr mit den Händen arbeitete als mit Maschinen. Er fällte die Eschen im Buschwald mit einer Axt. Er benutzte die Handscheren, die sein Vater, Joe Pentecost, einst verwendet hatte und deren Klingen noch nach hundert Jahren steif federten. Und schon bald nach seiner Hochzeit musste er seinen Ehering an der rechten Hand tragen, nachdem der größte Teil seines heiligen Fingers, wie er ihn nannte, von einer der übellaunigen Säue der Beasleys abgebissen worden war.

Der Lauf der Natur hatte den Ring irgendwann wieder zum Vorschein gebracht (wenn auch nicht die Fingerknöchel), und er hatte ihn unter dem Wasserhahn auf dem Hof abgespült und wieder übergestreift.

»Das ist ja schrecklich«, sagte ich.

»Deine Großmutter hätte noch Schlimmeres angestellt als das Schwein, wenn ich ihn nicht gefunden hätte«, erklärte er.

Ich hatte Oma Alice nie kennengelernt, da sie lange vor meiner Geburt starb, aber nach allem, was ich gehört hatte, war sie die Einzige, die den Versuch unternahm, den Gaffer an der kurzen Leine zu halten. Eine echte Hochlandfrau. So hart wie Horn.

»Du wirst auch einmal solche Hände haben, Johnny, mein Junge«, sagte der Gaffer. »Und wenn du sie dir anschaust, wirst du sagen können, dass du hart gearbeitet hast.«

Das wünschte ich mir mehr als alles andere. Ich wollte Hände, die sich von denen der Kinder unten im Dorf unterschieden. Ich wollte Finger ohne Nägel, Schwielen entlang meiner Herzlinie, einen Daumen, der beim Bewegen knallte wie eine Spielzeugpistole, Knochen, die Geschichten erzählen konnten. Bis ich auf die Oberschule kam, hatte ich bereits drei gute Narben: eine zwischen Zeigefinger und Daumen, eine über meiner Augenbraue von Lennie Sturzakers Faust und eine am Ellbogen, die ich nur im Spiegel sehen konnte.

Kat blickte aus dem Fenster, während sie mit dem Daumen über die Schwielen fuhr. Sie hatte meine Hände immer gemocht. Kurz nach unserer ersten Begegnung hatte sie sie Millimeter für Millimeter untersucht wie eine Handleserin und hatte in den Falten und Verletzungen irgendetwas gefunden, das ihr eine glückliche Zukunft versprach.

Für heutige Verhältnisse schienen wir wohl ziemlich schnell geheiratet zu haben: Weniger als achtzehn Monate verstrichen zwischen unserer ersten betrunkenen Begegnung auf Amanda Stewards dreißigstem Geburtstag bis zum Austauschen der Ringe. Aber es fühlte sich damals nicht überstürzt an, und wenn irgendeiner unserer Freunde anderer Ansicht war, so behielt er es für sich. Es schien für uns einfach keinen Grund zum Warten zu geben. Ein oder zwei weitere Jahre hätten uns nicht sicherer werden lassen in dem, was wir wollten. In den letzten paar Monaten war mir allerdings irgendwann Kats Blick aufgefallen, wenn wir zufällig an einer Hochzeit vorbeikamen. Denselben Blick, mit dem sie nun, als wir durch den kleinen Weiler Whitewell fuhren, zusah, wie jemand vor dem überdachten Kirchhoftor Konfetti und Blätter davonfegte.

»Wie hübsch«, sagte sie.

Diesen Tonfall des Bedauerns hatte sie von ihrer Mutter übernommen, die die gesamte Zeremonie damit verbracht hatte, sich zum Lächeln zu zwingen, während sie daran dachte, dass Kat – um Himmels willen, die Tochter eines Pfarrers – begleitet vom Anschwellen der Orgelmusik und vom Echo alter Steine zum Altar von St Leonard’s hätte schreiten sollen, statt sich mir in einem Rathaus neben dem Co-op hinzugeben.

Natürlich glaubte sie, ich wäre bei der ganzen Angelegenheit der verderbliche Einfluss gewesen, und konnte (oder wollte) nicht sehen, dass auch sie selbst dazu beigetragen haben mochte.

Kaum hatten wir unsere Verlobung verkündet, hatte Barbara begonnen, den Hochzeitstag zu planen, und um zumindest teilweise die Kontrolle zurückzuerlangen, hatte Kat ihr eines Tages am Abendbrottisch erklärt, dass sie sich keine Gedanken mehr um die Auswahl der Kirchenlieder oder Bibelstellen zu machen brauche, da wir uns bereits mit dem Standesbeamten im Rathaus in Verbindung gesetzt und ein Zeitfenster für den fünften Juni reserviert hätten. Ein Zeitfenster? Das Wort blieb Barbara im Hals stecken. Wir hatten ein Zeitfenster reserviert? Es klang, als hätten wir anstelle der Hochzeit eine Stunde Skiunterricht gebucht.

Sie weinte sich durch das Clafoutis, das sie zum Nachtisch gemacht hatte, und dann während der nächsten sechs Monate immer wieder, bis das Taxi sie und den Reverend abholte, um sie zum Standesamt zu bringen. Nach außen versicherte Kat bis zuletzt, dies sei genau das, was sie wollte, doch als wir auf den Lederbänken darauf warteten, dass wir an der Reihe waren, konnte ich ihren Wunsch spüren, sie hätte nicht ausgerechnet diesen Kampf ausfechten wollen. Um ehrlich zu sein, denke ich, sie hätte alles dafür gegeben, in einer Kirche zu heiraten. Spitze, Glocken, ein Chor in Halskrausen. Das volle Programm.

»Du und Mrs Pentecost habt in der Kirche geheiratet, nicht wahr?«, fragte sie Dadda.

»Aye, meine Liebe«, antwortete er.

»Im Dorf?«

»In St Michael’s, aye«, bestätigte Dadda.

»John hat mir Bilder von seiner Mum gezeigt«, fuhr Kat fort. »Sie war wunderschön.«

Das war sie nicht. Nicht schön im eigentlichen Sinne. Aber Dadda verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln und richtete dann den Blick wieder auf die Straße.

Kat wollte noch etwas hinzufügen, verstummte jedoch plötzlich, als wir aus dem Schatten der Bäume fuhren und zu unserer Linken die Schlucht sichtbar wurde. Außer einer hauchdünnen Absperrung aus Draht und Wollbüscheln gab es nichts, das einen Wagen davon abhalten würde, in den weißen Strom hinunterzustürzen. Dadda war diese Strecke jedoch bereits bei jedem Wetter, zu jeder Tages- und Nachtzeit gefahren, und nahm die Kurven völlig unbeeindruckt von dem Abgrund.

Je höher wir stiegen, desto stärker wehte der Wind, und ich spürte, wie Kats Griff um meine Hand fester wurde. Als wir Syke House erreichten, das düstere Herrenhaus aus rotem Backstein, das zurückgesetzt von der Landstraße inmitten von Rosskastanien stand, war der Wind zu einem Sturm angewachsen und fegte Äste und Blätter über die Cutting, wie die Straße ab hier genannt wurde.

Für etwa drei Meilen wand sie sich nordwärts durch die Hügel, bis sie Wyresdale erreichte und von dort aus abfiel in Richtung weiterer Marktflecken und der Nebenstraßen, die zu den Häfen an der Küste führten. Eine Route für Packpferde, die seit Jahrhunderten bestand, auch wenn der Abschnitt durch die Hügel rau und schlammig war.

»Ach, aber Menschen sind wie Wasser, Johnny, mein Junge«, hatte der Gaffer gesagt. »Sie werden sich immer einen Weg hindurch suchen. Ganz gleich, was sich unter ihren Füßen befindet.«

Die Straße war stets dem Wetter ausgesetzt gewesen, und er erinnerte sich noch an jene Zeit, als die Cutting nicht mehr als ein Feldweg gewesen war, der im Herbst weich wie Butter wurde und im Sommer Staub aufwirbeln ließ, der ihr Dahinschlängeln in einem dichten braunen Nebel anzeigte. Bereits nach einem kurzen Regenschauer strömte die oberste Schicht davon wie ein Fluss, und die Pferde mussten sich meilenweit bis zu den Knien versunken voranschleppen und ihre Wagen wie Schlitten hinter sich herziehen. In den schlimmsten Wintern konnte das Tal tagelang abgeschnitten sein. Nach dem Schneesturm dauerte es Wochen, ehe irgendjemand hinein- oder herauskam. Bis dahin war das, was dort geschehen war, was der Teufel getan hatte, bereits zu einer Legende geworden.

Bis zum heutigen Tag zeigt kein Straßenschild das Dorf Underclough oder die paar Häuser der Endlands an. Wer ins Briardale Valley kommt, der weiß, wo sie sind, und wenn ein Fremder um eine Wegbeschreibung bittet, dann wird ihm erklärt, er solle zwischen dem Schlachthof und den drei Buchen abbiegen, die diesen Teil der Straße dauerhaft in Schatten hüllen.

Jede von ihnen war bestimmt fünfundzwanzig bis dreißig Meter hoch, massig und verdreht, sogar schon zu Joe Pentecosts Zeiten alt, wie der Gaffer mir stets erklärte. Er hatte ihnen auch Namen gegeben.

»Aber wenn ich sie dir einmal in den Kopf setze, Johnny, mein Junge, dann darfst du sie nicht mehr dort rauslassen«, ermahnte er mich. »In solchen Sachen sind Bäume eigen.«

Ich hatte mein Wort gehalten. Ich hatte sie niemandem verraten. Nicht Dadda. Nicht Kat. Ich habe sie noch nicht einmal Adam verraten, der sich mit seinen zehn Jahren, dem Alter des neugierigen Nachbohrens, an diesem Wissen ergötzen würde. Vielleicht würden die Namen etwas heraufbeschwören, das ihm dabei helfen mochte, sie sich vorzustellen. Ich meine, was glaubt er, wie ein Baum aussieht? Wie kann er sich ihre Höhe ausmalen? Ich habe ihn einmal hochgehoben und auf einen Ast gesetzt, von wo aus er gelauscht hat, wie der Wind durch die obersten Zweige wehte, aber für ihn könnte der Baumstamm, den er berührt, ebenso gut bis in die Wolken emporsteigen, wie die Bohnenstange im Märchen.

Von der Einmündung in das Tal sind es noch mindestens zwei Meilen bis Underclough, und zunächst ist nicht viel zu sehen. Hier und dort eine kaputte Mauer. Der hölzerne Anhänger, der seit Jahren vor sich hin fault. Es ist so wenig los, dass ein Wiesel in aller Ruhe die Straße überqueren kann. Das Gras und das Farnkraut werden niemals geschnitten oder gestutzt und jedes Jahr dichter, gemeinsam mit den Brombeersträuchern und dem Riedgras.

Kat blickte aus dem Fenster, während die Wolken über die Felsen zogen wie der Rauch eines Schlachtfelds und dabei die Stechpalmenbüsche und die Ebereschen, die in den Spalten wuchsen, verhüllten und wieder zum Vorschein brachten. Es regnete zuerst nadelfeine Tropfen, dann strohhalmdicke, und Dadda ließ die Scheibenwischer in einem zitternden Bogen loslegen.

Die Landstraße näherte sich dem Fluss Briar, der reißend aufblitzte, und hielt sich dann den ganzen Weg bis zum Dorf nah am Ufer. Als die ersten Gebäude auftauchten, konnte ich Kats Enttäuschung spüren. Sie hatte sich wahrscheinlich vorgestellt, Underclough würde sich in das Tal schmiegen und nicht dunkel und beengt daliegen wie etwas, das tief unten in einem Sack steckte. Sie hatte auch nicht erwartet, dass es so überwuchert sein würde, oder so laut vom Wasser, oder dass die Bergrücken darüber zu steil wären, als dass irgendetwas einen langen Schatten werfen könnte.

»Es ist wirklich ganz hübsch, nicht wahr?«, fragte sie, obwohl sie für Dadda nicht höflich zu sein brauchte. Er hätte als Erster zugegeben, dass der Ort heruntergekommen und gottverlassen war. Der Weg war mittlerweile voller Schlaglöcher und mit Gras überwachsen, und die alte Wollmühle auf der anderen Seite des Flusses – Arncliffe’s für alle im Tal – stand seit der Kindheit des Gaffers leer. Sie hatte einst als bescheidenes Hausgewerbe begonnen, und auch wenn das Hinzufügen von Weberhütten und einem zusätzlichen Stockwerk durch nachfolgende Generationen sie in das größte Gebäude Undercloughs verwandelt hatte, sah sie unter den Bergrücken immer noch klein aus.

»Oh, das ist aber wirklich schade«, rief Kat aus, als sie über den Fluss spähte. »Ich hätte die Mühle zu gern in Betrieb gesehen.«

Dafür war sie allerdings über achtzig Jahre zu spät gekommen. Die Hütten hatten seit dem Ersten Weltkrieg nichts mehr produziert, als sie meterweise khakifarbene Serge und dicke, robuste Decken für die Militärkrankenhäuser ausgespuckt hatten. In den folgenden Jahren, als die Hälfte der Arbeiterschaft tot war und die Länder des Empires über billigere Arbeitskräfte und eigene Webstühle verfügten, geriet die Firma, der die Mühle gehörte, in eine Krise und ging Konkurs. Irgendwann in den Zwanzigern war das Dach eingestürzt und der Giebel, in den der Name Arncliffe eingraviert war, lag in Trümmern auf dem Boden.

Seitdem hat die Mühle meines Wissens ein halbes Dutzend Mal den Besitzer gewechselt, und hin und wieder gab es Pläne, das Grundstück einzuebnen und Häuser darauf zu errichten. Oder, als es in jüngerer Zeit modern wurde, in Industrieruinen zu wohnen, das existierende Gebäude in Wohnungen umzuwandeln. Doch nichts davon wird je in die Tat umgesetzt, und Jahr um Jahr verfällt es mehr. All seine Fenster sind nun mit Stahlplatten vernagelt, doch als damals der Gaffer starb, waren sie offen den Elementen ausgesetzt, nachdem die Kinder aus dem Dorf eins nach dem anderen eingeworfen hatten.

Unter seiner drohend aufragenden Präsenz hatte der Fluss die Farbe von Whisky und war an den Ufern bedeckt von Nesseln und Bärenklau, die wie jedes Jahr im Sommer außer Kontrolle geraten waren und den Mühlgraben überwuchert hatten. Das Bauwerk aus Backstein war nun im Verfall begriffen und von grünem Moos überzogen, hatte jedoch einst einen Teil des Wassers abgezweigt und steil hinabfallen lassen, um damit das Rad anzutreiben, das zwar noch intakt war, an dem sich nun allerdings lediglich die Abfälle sammelten, die der Fluss anschwemmte oder was die Dorfbewohner hineinwarfen. Jahrzehnte des Verschlammens hatten den Wasserspiegel ansteigen lassen, sodass die Stufen rasch in einer abgestandenen Brühe verschwanden, in der Zweige und Blätter, Bierdosen und Chipstüten hin und her schwappten. Ich hatte mich stets vom Fluss bei Arncliffe’s ferngehalten. Wenn man einmal hineinfiele, hätte man Mühe, wieder herauszukommen. Hände und Füße würden am glitschigen Mauerwerk keinen Halt finden. Und mit seinem letzten Atemzug würde man den Mund voll mit Zigarettenkippen und Hundescheiße bekommen.

Ich hatte Kat nichts davon erzählt – warum sollte sie es auch wissen wollen? –, aber in jenem Sommer, als ich die Grundschule verließ, wurde dort eines Nachmittags Lennie Sturzaker im Unrat treibend gefunden.

Gemeinsam mit vielen anderen meiner Klassenkameraden hatte er in der New Row gelebt, einer Häuserzeile aus achtzehn Arbeiterhäusern auf dieser Seite des Flusses. Wie alles, was hier im Tal gebaut worden war, bestanden die Häuser aus braunen, rußigen Backsteinen, die sich durch die feuchte Luft noch dunkler färbten. Allerdings waren die Arncliffes fortschrittlich eingestellt gewesen und hatten hinter jedem Häuschen einen kleinen Garten eingeplant, damit die Mühlenarbeiter ihr eigenes Gemüse anbauen und einen Obstbaum einpflanzen konnten. Ein paar der Flächen wurden noch immer auf diese Weise genutzt, viele waren jedoch ungepflegt oder mit Steinplatten bedeckt, und zwar anscheinend nur, um rostenden Motorrädern und kaputten Öfen einen festen Untergrund zu bieten.

Ein permanenter Geruch nach Kohlefeuern hing hier in der Luft, und der Rauch aus den Schornsteinen stieg durch den Regen auf und verfing sich als aschiger Nebel in den Bäumen. An Tagen wie diesen wurden die Straßenlaternen früh angezündet, und die Leute blieben in ihren Häusern, überließen das Dorf den Dohlen, die seit jeher in großer Anzahl hier nisteten und noch mehr Lärm machten als der Fluss.

Ein paar von ihnen flatterten nun von der Brücke auf, als Dadda auf sie zufuhr, und flogen davon bis zum Dach von Beckfoot’s. Mit ihrem Erkerschaufenster und ihrem hammelfarbenen Glanzanstrich hatte sich die Metzgerei kaum verändert seit jener Zeit, als ich den Gaffer dorthin begleitete, wenn er Fasane oder Schnepfen zu verkaufen hatte. Er bekam nie besonders viel für die Vögel, gerade genug für ein paar Runden Gin Rummy am Samstagabend im Pub, aber es war eine gute Ausrede, um bei Alun Beckfoot nachzubohren, was es mit dem Dorfklatsch auf sich hatte, der seinen Weg hinunter in die Endlands gefunden hatte. Wer dieses oder jenes getan hatte. Wer im »Cropper’s Arms« gesehen worden war. Wer aus dem letzten Loch pfiff. Wer sich immer in der Hausnummer acht aufhielt, wenn ihr Ehemann Nachtschicht hatte. Wenn sie mir während ihres Gespräches einen Blick zuwarfen, war dies der Hinweis darauf, dass ich nicht zuhören sollte, und so wanderte ich ans andere Ende der Ladentheke, um zu beobachten, wie die Beckfoot-Brüder im Vorbereitungsraum hinter den durchsichtigen Plastikstreifen hackten und schnitten. Sie taten alles in einer solchen Geschwindigkeit, dass kaum zu verstehen war, wie sie es auch nur eine Minute lang hinbekamen, sich nichts Lebenswichtiges abzusäbeln. Doch nie sah ich ein Mitglied der Familie Beckfoot blutend oder mit einem Verband. Insbesondere Alun hatte Hände, die nicht aussahen, als hätten sie sich jemals auch nur in der Nähe eines Fleischerbeils oder einer Knochensäge befunden. Im Grunde hatte er Frauenhände. Blass und unbehaart, mit schlanken Fingern, die besser zu einem Klavierspieler gepasst hätten. Ihre Makellosigkeit war angesichts seiner Sehschwäche ganz besonders erstaunlich. Aber ich schätze, ein tollpatschiger Metzger bleibt wohl einfach nicht allzu lange Metzger – und vielleicht hatte ihn sein Leiden dazu gebracht, mit den Messern doppelt aufzupassen.

»Er hat das Lamm für Devil’s Day bekommen, nicht wahr?«, fragte ich, während ich beobachtete, wie Beckfoot das Schild an seiner Tür von GEÖFFNET zu GESCHLOSSEN umdrehte, und Dadda nickte.

»Aye«, sagte er. »Der Gaffer hat es letzte Woche runtergebracht.«

»Ich hatte noch nie vom Devil’s Day gehört, bevor ich John kennenlernte«, bemerkte Kat gegenüber Dadda.

»Nun ja, nein, wie denn auch«, erwiderte er.

»Und wie ich höre, spielt Bill dann auf der Geige«, fügte Kat lächelnd hinzu. »Aus irgendeinem Grund kann ich ihn mir nicht dabei vorstellen.«

»Von uns allen wird erwartet, dass wir etwas vortragen«, sagte ich.

»Auch von mir?«, fragte Kat.

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Der Schneesturm

Eines Tages gegen Ende Oktober, vor etwas mehr als hundert Jahren, wollten die Bauern in den Endlands ihre Schafe von den Hochmooren zusammentreiben, wie sie es jeden Herbst taten. Doch in diesem Jahr, während die Hirten ein widerspenstiges Lämmerpaar aus dem Torfmoor zogen, tötete der Teufel eine der Auen und riss ihr den Schafpelz ab, um sich unbemerkt unter die Herde zu mischen.

Auf den Bauernhöfen im Tal huschte er dann von einem Haus zum nächsten, und da er zu listig war, um sich fangen zu lassen, offenbarte er sich nur in all dem, was er befiel. Er war die Made im Auge des guten Hundes, der Krebs, der die Keimdrüsen des Schafbocks verfaulen ließ, das Blut in der Milch für das Baby.

Die Geschichten drangen langsam durch das Tal bis zu den Bewohnern des Dorfes Underclough vor, die weder überrascht noch entsetzt darüber waren, dass jener heidnische Haufen in den Endlands vom Owd Feller heimgesucht wurde, unterdessen jedoch ihren Pfarrer aufforderten, etwas zu ihrem eigenen Schutz zu unternehmen. Aber dieser war alt und gebrechlich und wollte sich nicht allein mit dem Teufel anlegen, weshalb er den Bischof um einen Assistenten bat und damit einen Stellvertreter meinte.

Der Priester, der dann mit seinem Kruzifix und seinem Weihwasserwedel erschien, war ein junger Mann, der seinem Ruf voller Skepsis folgte. Er beschloss, sich als Missionar zu verstehen, als Lichtbringer in diesem dunklen Tal. Diese Leute waren nicht besser als die leichtgläubigen Wilden in den Kolonien, die Geister in allem sahen, was sie umgab, von den Wolken bis zum Staub. Sie verdienten sein Mitleid.

Aber als er die Tiere vor seinen Augen verenden und das Blut aus der Brustwarze der Amme tropfen sah, da geriet sein Mut ins Wanken, und der Teufel brachte einen Schneesturm in das Tal, der tagelang andauerte.

Die kleinen Häuser im Dorf erstickten unter Schneewehen, die bis zu den Fenstern anstiegen, und die Holz- und Torfvorräte, die für den gesamten Winter hätten reichen sollen, waren schnell verbraucht. Von der eingeschüchterten Kirche auf der anderen Seite der Brücke ging kein Licht aus, und auf dem Friedhof wurden die Toten ein zweites Mal begraben, als eine größere Woge Schnee ins Tal hinab und über das Ackerland fegte. Mensch und Tier waren gezwungen, sich um dieselbe Wärme zu scharen. Ferkel und Jagdhunde schliefen auf den Kaminvorlegern. Der Widder dampfte in der Küche.

Die Tage wurden spät hell und endeten schnell, und die ersten Menschen starben. Zunächst die älteren Leute, die sich ihre Lungen in tomatenhautähnlichen Fetzen aus dem Leib husteten, dann die Kinder, die im Fieber verglühten.

Am schlimmsten, am allerschlimmsten war ihren Berichten zufolge jedoch, dass man unmöglich vorhersagen konnte, wen der Teufel als Nächstes heimsuchen würde. Er hinterließ keine Fußstapfen im Schnee, er klopfte nicht an die Tür. Es war, wie sie sagten, als wäre er die Luft an sich. Das Zeug, das sie einatmeten.

Die Dorfbewohner von Underclough gaben den Bauern in den Endlands die Schuld, und die Bauern begannen sich zu fragen, ob sie das Unheil tatsächlich selbst über sich gebracht hatten, ob es irgendein Zeichen gegeben hatte, das sie übersehen hatten und das nun eiterte wie eine offene Wunde. War nicht im Sommer eines Abends eine Dohle in das Haus der Curwens geflogen und hatte sich an den Wänden selbst zu Tode geschlagen? Hatten die Dyers-Kinder nicht auf dem Friedhof gesehen, wie ein Hase Knochen ausgrub? Dann war da noch jener warme Samstag im September gewesen, als Joe Pentecost, betrunken von Sherry und Stolz, sein Glas hatte fallen lassen, während er beim Hochzeitsessen seiner Tochter die Tischrede hielt. Sie hatten ihn alle ausgelacht, hatten ihm seinen Augenblick der Tollpatschigkeit verziehen und sich nichts dabei gedacht. Nun jedoch stritten sie über jenes Ritual, das das Unglück gemeinsam mit dem verschütteten Wein fortgewischt hätte. Allerdings konnte sich niemand mehr daran erinnern, was zu tun war, ihnen kamen lediglich Fragmente alter, mahnender Geschichten in den Sinn, die sie dazu brachten, ihre Katzen hinaus in den Schnee zu werfen und Salz auf ihre Treppenstufen zu streuen.

Was sie auch taten, am Ende bewirkte es nur wenig. In jenem Herbst starben auf den Höfen und im Dorf dreizehn Menschen. Ihre Leichname wurden in Decken gewickelt und in Scheunen und Hinterhöfen gelagert, bis sie in eine Erde hinabgelassen werden konnten, die weich genug war, um sie aufzunehmen.